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Viertes Kapitel

Für ein paar der Guineen, die vom Erlös der zehnten Perle ihres Halsbandes übriggeblieben waren, hatte sich Orlando eine vollständige Ausrüstung solcher Kleidung gekauft, wie sie damals von den Frauen getragen wurde. Und im Kleid einer jungen Engländerin von Stand saß sie also nun an Deck der ›Verliebten Lady‹. Es ist seltsam, aber darum nicht minder wahr, daß sie bis zu diesem Augenblick ihrem Geschlecht kaum einen einzigen Gedanken gewidmet hatte. Vielleicht hatten die türkischen Beinkleider, die sie seit ihrer Verwandlung trug, dazu beigetragen, ihre Gedanken von diesen Dingen abzulenken; und bei den Zigeunern unterscheiden sich die Männer sehr wenig von den Frauen, wenn man von einer oder zwei – allerdings bedeutsamen – Besonderheiten absieht. Wie dem auch sei – erst als ihre Beine sich im Gewickel von Röcken verfingen und der Kapitän sich mit höchster Höflichkeit erbot, für sie ein Sonnensegel an Deck spannen zu lassen, erkannte sie jäh die Lasten und Vorrechte ihres neuen Zustandes. Aber dies jähe Zusammenzucken hatte nicht die Ursache, die man hier wohl erwarten möchte.

Das soll heißen: es wurde nicht schlechtweg und ausschließlich verursacht durch den Gedanken an ihre Keuschheit und wie diese zu bewahren sei. Unter alltäglichen Umständen hätte eine junge Frau, allein, daran und nur daran gedacht; das ganze Gebäude des weiblichen Regimes ist ja nur auf dieses Fundament gegründet; die Keuschheit ist der Frauen Juwel, ist der Mittelpunkt ihrer Kraft; sie opfern ihr Äußerstes, um sie zu schützen, und sie sterben, wenn sie ihrer beraubt werden. Aber wenn man dreißig Jahre lang oder so ein Mann gewesen ist, noch dazu Gesandter, wenn man eine Königin in den Armen gehalten hat und, sofern wir den Gerüchten glauben dürfen, auch eine oder zwei Damen von minder hohem Rang, wenn man eine Rosina Pepita geheiratet hat – und so weiter und so weiter, dann zuckt man deswegen vielleicht nicht mehr ganz so heftig zusammen. Orlandos Schreck hatte denn auch ziemlich verwickelte Ursachen, die sich nicht mit drei Worten schildern lassen. Und es hat ihr nie im Leben jemand den Vorwurf gemacht, daß sie eine von jenen Vorschnellen sei, für die jede Frage in einer Minute gelöst und erledigt ist. Sie brauchte denn auch die ganze Länge ihrer Reise, um mit der Betrachtung über die Bedeutung dieses Schrecks zu Ende zu kommen. Wir wollen ihr auf ihrem Gedankenwege folgen.

›Beim Himmel!‹ dachte sie, als sie sich von ihrem Schreck erholt hatte und sich behaglich unter ihrem Sonnensegel streckte, ›das ist ein angenehmes, faules Leben, soviel ist einmal sicher. Aber‹, dachte sie und schnellte die Beine auf, ›diese Röcke, die einem da um die Hacken hängen, sind eine rechte Plage. Der Stoff allerdings (geblümte Paduaseide) ist entzückend; etwas Hübscheres kann's gar nicht geben. Ich habe auch gar nicht gewußt, daß meine Haut (hier legte sie die Hand aufs Knie) so vorteilhaft aussieht. Aber – könnte ich in diesen Kleidern über Bord springen und schwimmen? Nein! Da müßte ich mir schon unter den Blaujacken einen Beschützer suchen. Wäre dir das unlieb, Orlando? Na – wäre dir das unlieb?‹ So sann sie, woraus man ersieht, daß sie hier in der glatten Abwicklung ihrer Gedankensträhne auf den ersten Knoten stieß.

Es wurde Dinnerzeit, bevor sie ihn gelöst hatte; und auch dann tat sie es nicht selbst, sondern der Kapitän, Nicholas Benedict Bartolus, ein Seemann von vornehmer Erscheinung, tat es für sie, indem er sie mit einer Scheibe Salzfleisch versorgte.

»Auch ein wenig von dem Fett, Ma'am?« fragte er. »Lassen Sie mich Ihnen ein bißchen abschneiden, ein ganz kleines Stückchen, so groß wie Ihr Fingernagel.« Bei diesen Worten ging ein köstliches Erschauern durch ihren Körper. Vögel sangen; Gießbäche stürzten rauschend nieder. Es war die gleiche unbeschreibbare Lust wie damals, als sie zum ersten Male Sasha gesehen hatte, vor Hunderten von Jahren. Damals war sie der Verfolger gewesen; jetzt war sie die Verfolgte. Wem ist die größere Entzückung geschenkt, dem Mann oder der Frau? Und – ist es nicht am Ende bei beiden die gleiche? Nein, dachte sie, dies ist die größere Lust (sie lehnte dankend ab): ihn abzuweisen und sein Stirnrunzeln zu sehen. Nun ja, wenn er es denn unbedingt wollte, so durfte er ihr das kleinste, das allerwinzigste Stückchen geben. Dies war nun das Köstlichste von allem: nachzugeben und ihn lächeln zu sehen. ›Denn nichts‹, so dachte sie, als sie ihren Liegestuhl an Deck wieder einnahm und ihr Gedankenspiel fortsetzte, ›ist himmlischeres Glück, als Widerstand zu leisten und nachzugeben; nachzugeben und Widerstand zu leisten. Es reißt unsere Seele zu einem Entzücken hin, dem kein anderes gleichkommt. So daß ich noch keineswegs sicher bin‹, fuhr sie fort, ›ob ich mich nicht doch über Bord stürzen werde, nur um des Vergnügens willen, mich von einer Blaujacke retten zu lassen.‹

(Es muß hier daran erinnert werden, daß sie einem Kinde glich, das von einem herrlichen Garten oder einem Spielzeugschrank Besitz ergreift; gereifte Frauen, die ihr ganzes Leben lang freien Zutritt dazu hatten, können mit solchen Gedankengängen natürlich nichts anfangen.)

»Aber wie nannten wir jungen Burschen damals im Cockpit der ›Marie Rose‹ ein Frauenzimmer, das über Bord sprang, bloß um des Vergnügens willen, sich von einem Janmaat retten zu lassen?« sagte sie. »Wir hatten doch ein Wort dafür –? Ah, richtig, jetzt hab ich's –.« (Aber wir müssen darauf verzichten, dieses Wort hier anzuführen; es war eine ganz grobe Ungehörigkeit und klang sonderbar aus dem Munde einer Dame.) »Gütiger Himmel!« rief sie dann zum Abschluß ihrer Gedankenreihe, »da muß ich nun also wohl anfangen, auf die Meinung des anderen Geschlechts Rücksicht zu nehmen, so gräßlich mir das auch sein mag? Wenn ich Röcke trage, wenn ich nicht schwimmen kann, wenn ich mich von einem Janmaat retten lassen muß – bei Gott!« rief sie, »dann muß ich's eben.« Und nun verfiel sie in Trübsinn. Sie war von aufrichtigem Wesen, alle Doppeldeutigkeit war ihr zuwider, und sie haßte das Lügen. Nun sollte sie, schien es, auf Umwegen und mit Winkelzügen arbeiten müssen. Ja, so dachte sie, wenn alles dies – die geblümte Paduaseide, das Vergnügen, von einem Matrosen gerettet zu werden – nur auf listigen Umwegen zu erlangen war, dann mußte sie eben wohl solche Umwege gehen. Es fiel ihr ein, daß sie als junger Mann nachdrücklich gefordert hatte, eine Frau müsse gehorsam, züchtig, mit Wohlgerüchen besprengt und köstlich gekleidet sein. »Nun muß ich solche Forderungen am eigenen Leibe büßen«, sagte sie sich, »denn die Frauen sind (soweit ich es nach meiner kurzen Erfahrung in diesem Geschlecht beurteilen kann) an und für sich keineswegs gehorsam, züchtig, wohlriechend und köstlich gekleidet. Sie können diese Reize, ohne die sie von den Freuden dieses Daseins gänzlich ausgeschlossen sind, nur durch die strengste und langweiligste Schulung erlangen. Da ist zum Beispiel das Frisieren«, dachte sie; »damit allein schon wird mir jeden Morgen eine Stunde verlorengehen; da ist die Musterung im Spiegel – wieder eine Stunde; da ist das Hakenschließen und das Schnüren; Waschen und Pudern; da ist der ständige Wechsel von Seide zu Spitze und von Spitze zu Paduaseide; und das Züchtigsein, jahraus, jahrein –« Hier schnellte sie ungeduldig den Fuß empor und zeigte ein paar Zoll von der Wade. Ein Matrose droben am Mast, der zufällig gerade heruntersah, erschrak so heftig über den Anblick, daß er fehltrat und sich mit knapper Not vorm Stürzen retten konnte. ›Wenn der Anblick meiner Knöchel für einen anständigen Kerl, der ohne Zweifel Weib und Kinder zu ernähren hat, den Tod bedeutet, so muß ich sie schon aus purer Menschlichkeit bedeckt halten‹, dachte Orlando. Dabei zählte die Schönheit ihrer Beine zu ihren Hauptreizen. ›Sonderbar haben wir Menschen die Welt zugerichtet‹, dachte sie, ›wenn die höchste Schönheit einer Frau versteckt und bedeckt werden muß, bloß damit ein Matrose nicht von der Mastspitze fällt.‹ Und ›daß die Pest den Unsinn hole!‹ dachte sie weiter, als sie zum ersten Male das wahrnahm, was man ihr normalerweise schon in der Kindheit beigebracht hätte: die geheiligten Pflichten, die den Frauen aufgetragen sind.

›Und das ist der letzte Fluch, den ich jemals werde von mir geben dürfen‹, dachte sie, ›wenn ich erst einmal den Fuß auf englischen Boden gesetzt habe. Und ich werde niemals mehr einem Manne über den Schädel hauen oder ihm ins Gesicht sagen dürfen, daß er lügt, niemals mehr mein Schwert ziehen und ihn damit durchbohren, niemals mehr inmitten meiner Pairs sitzen oder eine Krone tragen oder in einem Festzug schreiten oder einen Mann zum Tode verurteilen oder ein Heer führen oder auf einem Schlachtroß in Whitehall paradieren oder zweiundsiebzig verschiedene Medaillen auf der Brust tragen. Habe ich erst einmal den Fuß auf englischen Boden gesetzt, so darf ich nur noch Tee eingießen und die Herren der Schöpfung fragen, wie es ihnen schmeckt. Etwas Zucker gefällig –? Etwas Sahne gefällig –?‹ Indessen sie diese Fragen mit gezierter Betonung aussprach, erkannte sie mit Entsetzen, was für eine niedrige Meinung sie jetzt von dem anderen, dem männlichen Geschlecht bekam, dem anzugehören früher einmal ihr Stolz gewesen war. ›Von der Mastspitze zu fallen‹, dachte sie, ›bloß weil man die Knöchel einer Frau gesehen hat; sich herauszustaffieren, als wäre man der große Verschwörer Guy Fawkes, und dann durch die Straßen zu stelzen, um sich von den Weibern lobpreisen zu lassen; die Frau von allem Wissen abzusperren, damit sie einen nicht auslachen soll; der Sklave des zartesten Püppchens in Röcken zu sein und doch einherzustolzieren, als wäret ihr die Herren der Schöpfung –! Himmel!‹ dachte sie, ›was für Narren macht man aus uns – was für Narren sind wir doch!‹ Hier könnte eine gewisse Doppeldeutigkeit ihrer Ausdrucksweise den Eindruck erwecken, daß sie beide Geschlechter gleichermaßen bekrittelte, so, als gehörte sie selbst zu keinem von beiden; und wirklich schien es denn auch in diesen Wochen, als pendele sie; sie war Mann; sie war Frau; sie kannte die Geheimnisse, hatte teil an den Schwächen beider. Es war das die wirrste und wirbeligste Gemütsverfassung, die sich erdenken läßt. Die Bequemlichkeit des Nichtwissens war ihr, so schien es, gänzlich versagt. Sie war eine Feder im Sturm. So ist es nicht weiter sonderbar, daß sie immer das eine Geschlecht dem anderen gegenüberstellte und immer das eine vom Standpunkt des anderen voll der kläglichsten Fehler fand, und da sie nicht wußte, zu welchem sie nun eigentlich gehörte, so ist es nicht weiter verwunderlich, daß sie dem Weinen nahe war und am liebsten nach der Türkei zurückgekehrt und wieder Zigeunerin geworden wäre. Da aber fiel der Anker mit einem lauten Platsch in Wasser; die Segel kamen taumelnd aufs Deck herab; und sie sah (sie war so tief in ihre Gedanken versunken gewesen, daß sie seit mehreren Tagen überhaupt nichts mehr wahrgenommen hatte), daß das Schiff an der Küste Italiens ankerte. Der Kapitän schickte unverweilt einen Matrosen und ließ um die Ehre ihrer Begleitung bitten, wenn er in der Pinasse an Land führe.

Als sie am anderen Morgen wieder an Bord kam, streckte sie sich auf ihrem Liegestuhl unter dem Sonnensegel aus und ordnete die Röcke und Unterröcke mit der sittsamsten Sorgfalt um ihre Knöchel.

›Mögen wir auch im Vergleich mit dem andern Geschlecht arm und unwissend sein‹, dachte sie in Fortsetzung der Gedankenreihe, die sie gestern unvollendet gelassen hatte, ›mögen sie auch mit allen Waffen gerüstet sein, während sie uns sogar die Kenntnis des Alphabets vorenthalten (aus diesen Einleitungsworten geht deutlich hervor, daß in der Nacht etwas geschehen war, das sie mit einem Ruck näher an das weibliche Geschlecht heranbefördert hatte, denn sie sprach jetzt mehr vom Standpunkt der Frau als von dem des Mannes, jedenfalls aber im Ton einer gewissen Zufriedenheit) – ›eines können sie nicht ändern: sie fallen von der Mastspitze.‹ Hier gähnte sie herzhaft und schlief ein. Als sie erwachte, segelte das Schiff vor einer günstigen Brise nahe am Ufer dahin, so dicht, daß es aussah, als hindere nur das Dazwischenliegen eines großen Felsens oder einer mächtigen, knorrigen Ölbaumwurzel die kleinen Städte am Gestade daran, ins Wasser zu gleiten. Millionen von Bäumen, schwer von Früchten, strömten den Orangenduft aus, den der Wind Orlando zutrug. Eine Schar von blauen Delphinen mit wirbelnden Schwänzen umkreiste mit hohen Luftsprüngen das Schiff. Orlando streckte die Arme empor (Arme, soviel hatte sie schon gelernt, sind von weniger verhängnisvoller Wirkung als Beine) und dankte dem Himmel dafür, daß sie nicht auf einem Streitroß in Whitehall paradieren, ja nicht einmal einen Mann zum Tode verurteilen mußte. »Besser ist es«, überlegte sie, »mit Armut und Unwissenheit bekleidet zu sein, die des weiblichen Geschlechtes dunkle Gewandung sind; besser, die Beherrschung und strenge Beaufsichtigung der Welt anderen zu überlassen, besser, sich frei zu wissen von kriegerischem Ehrgeiz, von Machtliebe und allen den anderen Begierden des Mannes, wenn man sich so mit freierer Freude den köstlichsten Entzückungen hingeben kann, die der Menschengeist kennt«, sagte sie laut, wie es bei starker Erregung ihre Gewohnheit war; »und das sind: beschauliche Betrachtung, Einsamkeit, Liebe.«

»Ich danke Gott, daß ich eine Frau bin!« rief sie und wollte sich eben so recht dem närrischen Stolz auf ihr Geschlecht hingeben – närrisch: denn es kann weder beim Mann noch bei der Frau etwas Peinlicheres geben – als sie auch schon ins Stocken geriet über diesem einzigen Wort, das allen unseren Bemühungen, ihm den rechten Platz zu sichern, zum Trotz an das Ende des letzten Satzes geraten ist: Liebe. »Liebe«, sagte Orlando. Sogleich – das ist nun einmal ihre ungestüme Art – nahm die Liebe eine menschliche Gestalt an – darin sucht sie nun einmal ihren Stolz. Denn während andere Gedanken sich damit begnügen, ›abstrakt‹ zu bleiben, ist dieser eine um die Welt nicht eher zufrieden, als bis er Fleisch und Blut angenommen, sich mit Mantel und Röcken, Strumpf und Wams ausstaffiert hat. Und da alle Liebeserlebnisse Orlandos sich um Frauen gedreht hatten, so war es dank der sträflichen Langsamkeit, mit der das menschliche Körper- und Seelengerüst sich dem Brauche anpaßt, auch jetzt noch eine Frau, die sie liebte, obwohl sie nun selbst eine Frau war; und wenn das Bewußtsein, daß sie dem gleichen Geschlecht angehörte, überhaupt dabei eine Wirkung ausübte, so war es die, daß es die Gefühle, die Orlando als Mann gehabt hatte, verstärkte und vertiefte. Denn jetzt lagen tausend Andeutungen und Geheimnisse, die ihr damals unbegreiflich gewesen waren, offen vor ihr. Nun war das Dunkel, das die Geschlechter trennt und in seinem trüben Element zahllosen unreinen Dingen Unterschlupf bietet, gewichen; und wenn etwas an dem ist, was der Dichter über Wahrheit und Schönheit sagt, so gewann diese Zuneigung an Schönheit, was sie an falschem Wesen verlor. Endlich, so rief Orlando, kannte sie Sasha, wie sie wirklich war; und die flammende Begeisterung dieser Entdeckung, die eifrige Sichtung aller nun offenbarten Schätze riß sie zu solcher Entzückung und Verzückung hin, daß sie wie vom Dröhnen eines neben ihr abgefeuerten Kanonenschusses zusammenfuhr, als eine Männerstimme sagte: »Gestatten Sie, Madame!« Eine Männerhand half ihr, sich zu erheben; und dieselbe Männerhand, auf deren Mittelfinger ein Dreimaster tätowiert war, deutete zum Horizont.

»Die englische Felsenküste, Ma'am«, sagte der Kapitän und hob mit grüßender Gebärde die Hand, die hinübergedeutet hatte. Hier erschrak Orlando abermals sehr, und dieser zweite Schreck war sogar noch heftiger als jener erste.

»Jesus Christus!« rief sie.

Zu ihrem Glück war der Anblick ihres Heimatlandes nach langer Abwesenheit eine hinlängliche Entschuldigung für den Schrecken wie für den Ausruf; sonst wäre es wohl nicht leicht gewesen, dem Kapitän Bartolus die tobenden und widerstreitenden Gefühle zu erklären, die nun in ihr aufsiedeten. Wie hätte sie es ihm beibringen sollen, daß sie, die nun zitternd an seinem Arm hing, ein Herzog und Gesandter gewesen war? Wie ihm erklären, daß sie, die nun weiß und zart wie eine Lilie von den Falten der Paduaseide umhüllt war, Köpfe vom Rumpf geschlagen und mit lockeren Weibern inmitten der Schatzsäcke im Laderaum von Seeräuberschiffen gelegen hatte, an Sommerabenden, wenn bei Wapping Old Stairs die Tulpen blühten und die Bienen summten? Nicht einmal sich selbst vermochte sie zu erklären, weshalb sie so furchtbar erschrak, als die feste Hand des Kapitäns ihr die Küstenklippen der Britischen Inseln zeigte.

»Widerstand zu leisten und nachzugeben«, murmelte sie. »wie köstlich ist das; zu verfolgen und zu erobern, wie herrlich; zu schauen und zu ergründen, welch erlesene Lust!« Keines dieser also zusammengekoppelten Worte schien ihr falschen Klang zu haben; dennoch fühlte sie sich, als die kreidigen Klippen näher kamen, schuldbeladen, entehrt, unrein – was bei einem Menschen, der an solche Dinge niemals einen Gedanken gewendet hatte, seltsam genug war. Näher und näher rückten sie heran, bis die Meerfenchelsammler, die auf halber Höhe des Felsens hingen, auch dem bloßen Auge sichtbar waren. Und als sie zu ihnen hinübersah, spürte sie in ihrem Innern, aufschnellend, niederspringend, einem Kobold gleich, der im nächsten Augenblick die Gewänder raffen und davonflattern wird – spürte sie Sasha die Verlorene, Sasha die Unvergeßliche, deren wirkliches Da-Sein sie eben jetzt so überraschend erfahren hatte; spürte, wie sie hohnlächelte und spöttische Gesichter schnitt und zu den Felsen und den Meerfenchelsammlern hinüber alle nur erdenklichen geringschätzigen Gebärden machte; und als die Matrosen nun zu singen begannen: »So lebt denn wohl, ihr Damen von Spanien!« – da klangen die Worte in Orlandos traurigem Herzen wider, und sie fühlte: Wenn sie da drüben an Land ging, so bedeutete das für sie ein Leben im Überfluß, bedeutete Ansehen und hohen Rang (denn sie würde sich ja sicherlich irgendeinen hohen Herrn aufgreifen und als seine Gemahlin über halb Yorkshire herrschen); sollte es aber auch ein Erstarren im Herkömmlichen, sollte es Sklaverei bedeuten, Betrug und Verleugnung ihrer Liebe, sollte es bedeuten, daß sie ihre Glieder in Fesseln legen, den Mund spitzen und ihre Zunge anketten müßte, so wollte sie wieder kehrt machen, an Bord gehen und zu ihren Zigeunern fahren.

Indessen nun aber diese Gedanken ihr durch den Sinn hasteten, erhob sich ein Bild vor ihr wie ein Dom aus glattem weißem Marmor; und es gewann, mochte es nun Wirklichkeit sein oder Phantasie, solche Macht über ihre fieberisch erregte Einbildungskraft, daß sie sich erlöst darauf niederließ; etwa so, wie (jeder von uns kennt das Bild) ein Schwarm flügelschwirrender Libellen sich mit sichtlichem Behagen auf der Glasglocke niederläßt, die irgendeine zarte Pflanze schützt. Und die Laune der Phantasie fügte es, daß dies Gebilde jene früheste, jene über allen anderen getreue Erinnerung heraufbeschwor: den Mann mit der mächtigen Stirn in Twitchetts Wohnzimmer, den Mann, der dort gesessen und geschrieben oder vielmehr geschaut hatte, aber sicherlich nicht auf sie, denn er schien sie gar nicht zu sehen, wie sie da draußen zögernd den Schritt verhielt und in ihrem besten Staat dastand; und dabei konnte sie nicht leugnen, daß sie ein hübscher Junge gewesen war, der das Angeschautwerden wohl verdiente. Immer, wenn sie an jenen Mann dachte, verbreitete der Gedanke rings um sich eine Fläche silberner Ruhe, wie der aufgehende Mond im unruhigen Gewässer. Nun führte sie die eine Hand (die andere war noch immer in den Kapitäns Obhut) an ihren Busen, wo die Blätter ihres Gedichtes sicher geborgen ruhten. Es war nicht anders, als bewahrte sie da einen Talisman. Die beklommene Verstörtheit, die der Wechsel des Geschlechts in ihr geweckt hatte, schwand; nun dachte sie nur noch an die Glorie der Dichtkunst, und die erhabenen Verszeilen von Marlowe, Shakespeare, Ben Jonson, Milton begannen in ihr zu dröhnen und zu tönen, als wäre ihr Hirn ein Kathedralenturm, in dem ein goldener Klöppel gegen eine goldene Glocke schlug. In Wahrheit stand es so, daß die Marmorkuppel, deren erst so undeutliches Bild ihren Augen eine Poetenstirn vorgetäuscht und einen Schwarm haltlos verflatternder Gedanken in ihr aufgestört hatte, kein Phantasiegebilde, sondern Wirklichkeit war; und als das Schiff vor einer günstigen Brise die Themse hinauffuhr, wich das Vorstellungsbild mit seinem ganzen Gedankenschwarm der Wahrheit und offenbarte sich als nicht mehr und nicht weniger denn die Kuppel einer riesigen Kathedrale, die sich inmitten eines zierlichen Netzwerkes von weißen Türmchen erhob.

»Die Sankt-Pauls-Kathedrale«, sagte Kapitän Bartolus, der an ihrer Seite stand. »Der Tower von London«, fuhr er fort. »Das Greenwich Hospital, erbaut zum Andenken der Königin Maria von ihrem Gatten, Seiner hochseligen Majestät König Wilhelm dem Dritten. Westminster Abbey. Das Parlamentsgebäude.« Indessen er sprach, kamen diese berühmten Bauwerke eines nach dem anderen in Sicht. Es war ein schöner Septembermorgen. Ein unübersehbares Gewimmel von kleinen Booten schwärmte von Ufer zu Ufer. Selten hat sich dem Blick eines heimkehrenden Reisenden ein froheres, ein lebendiger bewegtes Bild geboten. Orlando lehnte sich am Bug über die Reling, in staunendes Schauen verloren. Ihre Augen waren zu lange an Wildnis und Natur gewöhnt gewesen, als daß dieser Glanz der großen Stadt sie nicht hätte bezaubern sollen. Das war nun also die Kuppel der Sankt-Pauls-Kathedrale, die Sir Christopher Wren während ihrer Abwesenheit erbaut hatte. In ihrer Nähe flammte eine Garbe goldenen Haares von einer Säule hernieder – Kapitän Bartolus war zur Stelle, um zu erklären, dies sei die Feuer-Erinnerungs-Säule, kurzweg genannt ›das Monument‹; es hätte während Orlandos Abwesenheit eine Seuche und eine Feuersbrunst gegeben, sagte er. Orlando mochte sich noch so sehr zusammennehmen – die Tränen traten ihr in die Augen; und schließlich ließ sie sie strömen, da ihr einfiel, daß zu weinen sich für Frauen ja schickt. Hier, so dachte sie, war einst das große Fest gewesen. Hier, wo die Wellen so lustig plätscherten, hatte das königliche Zelt gestanden. Hier war sie zum ersten Male Sasha begegnet. Ungefähr (sie blickte hinab in das sprühende Gefunkel des Wassers) hatte man damals die zu Eis gefrorene Bumbootfrau mit den Äpfeln im Schoß erblickt. Alles das war dahin, Glanz wie Verderbnis. Vergangen auch war jene finstere Nacht, war der furchtbare Regenschwall, waren die wütenden Wellen der Flut. Hier, wo damals gelbe Eisberge kreiselnd dahingerast waren, todbringende Fahrzeuge für eine Mannschaft angstbebender armer Schelme, schwamm nun eine Schar von Schwänen, stolz, herrlich anzusehen, mit prächtigem Schwung. Auch London selbst hatte sich völlig verwandelt, seitdem sie es zuletzt gesehen hatte. Damals, so entsann sie sich, war es ein wirres Gedränge von kleinen, schwarzen, düsterblickenden Häusern gewesen. Vom Temple Bar hatten aufgespießte Rebellenköpfe herabgegrinst. Über dem Katzenkopfpflaster brütete der Dunst von Müll und Unrat. Nun, als das Schiff an Wapping vorübersegelte, fing ihr Blick das Bild breiter und regelmäßiger Verkehrsstraßen auf. Stattliche Kutschen mit gutgefütterten Pferden davor standen vor den Türen von Häusern, deren Erker, deren Spiegelglasfenster, deren blankgeputzte Türklopfer vom Reichtum und der gemessenen Würde der Bewohner zeugten. Damen in geblümter Seide (Orlando setzte das Fernglas des Kapitäns an die Augen) wandelten auf den erhöhten Bürgersteigen dahin. Bürger in bestickten Röcken nahmen an Straßenecken unter Laternen eine Prise. Orlandos Blick erhaschte mannigfache bemalte Schilder, die im Winde schwangen, und nach dem, was darauf gemalt war, bekam sie eine flüchtige Ahnung von dem Tabak, den Stoffen, der Seide, dem Gold, den Silberwaren, den Handschuhen, den Parfüms und den tausenderlei anderen Dingen, die es drin in den Läden zu kaufen gab. Orlando stand und staunte und schaute, während das Schiff zu seinem Ankerplatz an der London Bridge segelte – schaute zu den Kaffeehäusern hinüber, wo auf den Balkonen (es war ja schönes Wetter) ehrsame Bürger in großer Zahl saßen, behaglich, Porzellangeschirr vor sich, Tonpfeifen neben sich; indessen einer von ihnen aus einem Flugblatt vorlas und oft durch das Gelächter und die Zurufe der anderen unterbrochen wurde. Waren denn das Schenken? fragte sie – waren das da Männer von Geist? Waren das am Ende gar Dichter? Kapitän Bartolus gab verbindlich Auskunft: Eben jetzt führen sie am ›Cocoa Tree‹, dem ›Kakaobaum‹, vorüber – nein, sie müßte den Kopf ein wenig mehr nach links wenden und genau der Richtung seines Zeigefingers folgen ja, so – dem ›Kakaobaum‹ also, wo man wohl Mr. Addison sehen konnte, wie er seinen Kaffee trank. Ja, richtig, da saß er. Und die beiden anderen Herren – »da drüben, Ma'am, gleich rechts von dem Laternenpfahl – der eine ist verwachsen, der andere ganz normal, so wie Sie und ich« – das waren Mr. Dryden und Mr. Pope. Hier muß sich, wie ein einziger Blick in jeden beliebigen Leitfaden der Literaturgeschichte zeigt, der Kapitän geirrt haben; da es indessen ein liebenswürdiger Irrtum war, so lassen wir ihn stehen. »Böse Brüder«, sagte der Kapitän, womit er andeuten wollte, daß sie Papisten seien; »aber sie können was, das muß man ihnen lassen«, fügte er hinzu und begab sich eilends nach achtern, um die Vorbereitungen zur Landung zu überwachen.

»Addison, Dryden, Pope«, wiederholte Orlando, als wären die Worte eine Zauberformel. Einen Herzschlag lang sah sie die hohen Berge über Brussa vor sich; im nächsten Augenblick hatte sie den Fuß auf heimatlichen Boden gesetzt.

 

Nun aber mußte Orlando erfahren, wie wenig auch der hitzigste Ansturm erregten Gefühls gegen das eiserne Antlitz des Gesetzes vermag; um wieviel härter es ist als die Steine der London Bridge, um wieviel unerbittlicher als die Mündung einer Kanone. Denn kaum war sie in ihr Heim in Blackfriars zurückgekehrt, als auch schon eine Prozession von Polizeibeamten und anderen gewichtigen Abgesandten der Gerichtsbehörden erschien, um ihr mitzuteilen, daß sie sich als Streitpartei in drei ansehnlichen Prozessen zu betrachten habe, die während ihrer Abwesenheit gegen sie angestrengt worden waren, ganz abgesehen von zahllosen kleineren Prozessen, die teils daraus hervorgingen, teils sich darauf stützten. Die hauptsächlichen Klagepunkte gegen sie waren: 1. daß sie tot sei und demzufolge keinerlei wie auch immer geartetes Eigentum besitzen könne; 2. daß sie eine Frau sei, was auf dasselbe hinauskam; 3. daß sie ein englischer Herzog sei, der eine Tänzerin namens Rosina Pepita geheiratet und von ihr drei Söhne gehabt habe, als welche nunmehr erklärten, ihr Vater wäre tot, und sie verlangten das gesamte von ihm hinterlassene Erbteil. Es war klar, daß es Zeit und Geld kosten würde, sich mit so schweren Klagegründen auseinanderzusetzen. Orlandos gesamte Liegenschaften wurden unter gerichtliche Verwaltung gestellt und ihre gesamten Rechtstitel für die Dauer der schwebenden Prozesse öffentlich als suspendiert erklärt. So befand sie sich denn in einer höchst zweifelhaften Lage, im ungewissen, ob sie lebendig oder tot, Mann oder Frau, Herzog oder ein Nichts sei, als sie zu ihrem Landsitz reiste, wo sie einer einstweiligen gerichtlichen Verfügung gemäß wohnen durfte, solange das Verfahren schwebte – inkognito, oder auch inkognita, je nachdem es sich durch das Urteil herausstellen würde.

Es war ein schöner Dezemberabend, als sie ankam; Schnee fiel, und schräge violette Schatten dunkelten: ganz so, wie sie es auf jener Hügelspitze in Brussa gesehen hatte. Das große Haus lag da, mehr eine Stadt als ein Haus, braun und purpurn, blau und rosenfarben im Schnee, und alle Schornsteine rauchten so geschäftig, als wären sie Geschöpfe voll eigenen Lebens. Sie konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken, als sie es dort vor sich sah, gelassen und wuchtig, breit auf das Wiesenland gelagert. Als die gelbe Kutsche in den Park kam und auf dem Fahrweg zwischen den Bäumen dahinrollte, hoben die Rothirsche die Köpfe wie in Erwartung, und man beobachtete, daß sie nicht die ihnen eigene Scheu zeigten, sondern der Kutsche folgten und da und dort im Hofe stehenblieben, als sie vorfuhr. Einige von ihnen schüttelten das Geweih, andere scharrten mit den Hufen, als das Trittbrett herabgelassen wurde und Orlando ausstieg. Einer, so sagen die Leute, kniete sogar wahrhaftig im Schnee vor ihr nieder. Sie hatte noch nicht Zeit gehabt, die Hand zum Klopfer zu heben, als auch schon beide Flügel der großen Haustür aufschwangen; und da standen nun mit Lichtern und Fackeln, die sie hoch emporhielten, Mrs. Grimsditch und Mr. Dupper und ein ganzer Schwarm von Dienern, sie zu begrüßen. Aber die wohlgerichtete Reihe wurde alsbald durch das Ungestüm von Canute, dem Elchhund, durchbrochen, der sich seiner Herrin mit so wilder Freude entgegenstürzte, daß er sie fast zu Boden warf; sodann durch die Aufregung der guten Mrs. Grimsditch, die Anstalten zu einem Knicks traf, aber mittendrin von Rührung überwältigt wurde und immer nur »Mylord! Mylady! Mylady! Mylord!« japsen konnte, bis Orlando sie mit einem herzlichen Kuß auf beide Backen wieder ins Gleichgewicht brachte. Sodann hub Mr. Dupper an, ein Pergament zu verlesen, aber da die Hunde kläfften, die Jäger ihre Hörner bliesen und die Hirsche, die zu all dem Durcheinander in den Hof gekommen waren, den Mond anbellten, so kam er nicht recht damit zurande, und der Schwarm zerstreute sich drinnen im Haus, nachdem alle sich um ihre Herrin geschart und, jeder auf seine Art, ihre große Freude über Orlandos Heimkehr bekundet hatten.

Keiner zeigte auch nur einen Augenblick Argwohn, daß Orlando nicht der Orlando war, den sie einst gekannt hatten. Und wenn es in den Gedanken der Menschen etwa irgendwelche Zweifel gab, so hätte das Verhalten des Wildes und der Hunde genügt, sie zu zerstreuen; denn die stumme Kreatur versteht sich bekanntlich viel besser darauf, Identität und Charakter eines Menschen zu erkennen, als wir. Außerdem, so sagte Mrs. Grimsditch, hinter ihrer Teetasse sitzend, an jenem Abend zu Mr. Dupper: wenn Seine Lordschaft nun eine Lady wäre, so hätte es gewiß niemals eine lieblichere Lady gegeben, und es käme wahrhaftig ganz und gar auf dasselbe hinaus; Mylady sähe ganz genau so gut aus wie Mylord; die beiden wären wie zwei Pfirsiche an demselben Zweig; und, so sagte Mrs. Grimsditch, zu vertraulichen Mitteilungen übergehend, sie hätte schon von jeher so ihren Verdacht gehabt (hier nickte sie sehr geheimnisvoll mit dem Kopfe), und sie wäre daher gar nicht überrascht (hier nickte sie sehr weise mit dem Kopfe), und ihr wäre es überhaupt sehr lieb so; denn da die Handtücher geflickt werden müßten und in den Vorhängen in des Kaplans Wohnzimmer unten bei den Fransen die Motten wären, so wäre es Zeit, daß eine Herrin ins Haus käme.

»Und dazu ein paar kleine Prinzen und Prinzessinnen für die Nachfolge«, fügte Mr. Dupper hinzu, da sein heiliges Amt ihm das Recht verlieh, auch in so heiklen Dingen seine Gedanken offen auszusprechen.

Während die alten Diener des Hauses in der Dienerhalle solchermaßen schwatzten, nahm Orlando einen silbernen Leuchter in die Hand und pilgerte wieder einmal durch die Hallen, die Galerien, die Höfe, die Schlafzimmer: sah wieder einmal im schwankenden Halblicht das Gesicht dieses Siegelbewahrers und jenes Großkämmerers aus der Ahnenreihe niederschauen; setzte sich in diesen Staatsstuhl, legte sich unter den Thronhimmel jenes Ruhebettes; sah zu, wie irgendein Wandteppich sich im Luftzug bewegte; betrachtete die Jäger, wie sie dahinsprengten, und die fliehende Daphne; badete ihre Hand, wie sie es schon als Kind so gern getan hatte, in dem Tümpel gelben Lichtes, das durch den heraldischen Leoparden im Fenster hereindrang (denn draußen schien hell der Mond); glitt auf den blankgebohnerten Fußbodenbrettern der Galerie dahin, die auf der anderen Seite rohe Baumstämme waren; strich hier über Seide, dort über Atlas; sah in der Phantasie die geschnitzten Delphine lebendig dahinschwimmen; bürstete ihr Haar mit der silbernen Bürste des Königs Jakob; barg ihr Gesicht in der Duftmischung, die noch genauso hergestellt wurde, wie der Eroberer es vor vielen hundert Jahren gelehrt hatte, und aus denselben Rosen; sah in den Garten hinaus und meinte die schlummernden Krokusse und Dahlien zu erblicken; sah die schlanken Nymphen weiß im Schnee leuchten und hinter ihnen schwarz die Eibenhecken stehen, wuchtig wie Häuser; sah die Orangerien und die mächtigen Mispelsträucher; – alles das sah sie, während wir es hier nur mit nüchternen Worten aufzeichnen können, und jeder Anblick und jeder Laut füllten ihr Herz mit einer solchen Lust und einem solchen Balsam der Freude, daß sie zuletzt erschöpft in die Kapelle trat und in den alten roten Armstuhl sank, in dem dereinst ihre Vorfahren den Gottesdienst zu hören pflegten. Da zündete sie sich eine Zigarre an (es war das eine Gewohnheit, die sie aus dem Osten mitgebracht hatte) und schlug das Gebetbuch auf.

Es war ein kleines, in Samt gebundenes, mit Gold geheftetes Buch, das einst Maria Stuart, die Königin von Schottland, auf dem Schafott in Händen gehalten hatte, und wenn man es mit gläubigen Augen betrachtete, so konnte man einen bräunlichen Fleck entdecken, der, so sagte man, vom Blute der Königin herrührte. Aber was für fromme Gedanken es erweckte, was für böse Leidenschaften es einschläfernd besänftigte – wer vermag das zu sagen, da von allen Gemeinschaften, die der Mensch eingeht, die mit der Gottheit die unerforschbarste ist? Der Romanschriftsteller, der Dichter, der Geschichtsschreiber, sie alle stehen zögernd und verlegen mit der Hand auf der Klinke dieser Tür; und auch der Gläubige selbst gibt uns nicht Aufschluß – denn ist er williger zu sterben als andere Menschen oder eher als sie bereit, seine Schätze mit anderen zu teilen? Hält er sich nicht genauso viele Dienstmägde und Kutschpferde wie andere auch? – und doch behauptet er, einen Glauben zu haben, der irdische Güter eitel und den Tod wünschenswert erscheinen läßt. Im Gebetbuch der Königin war nicht nur der Blutfleck, sondern auch eine Haarlocke und ein Krümchen Gebäck; zu diesen Reliquien fügte Orlando nun ein Blättchen Tabak; und so, lesend und rauchend, ließ sie sich durch die seltsame Gegensätzlichkeit dieser Menschendinge – des Haares, des Gebäcks, des Blutflecks, des Tabakblattes – in eine Stimmung nachdenklicher Betrachtung versetzen, die ihr ein den äußeren Umständen angemessenes ehrfürchtiges Aussehen verlieh, obwohl sie, heißt es, mit dem sonst üblichen Gott nichts zu schaffen hatte. Es ist aber ja auch nichts so verbreitet wie die Ansicht, daß es nur einen einzigen Gott gäbe und auch nur eine einzige Religion, nämlich die des jeweils Sprechenden; dabei kann es nichts Anmaßenderes geben als diese Meinung. Orlando hatte, scheint es, ihren durchaus eigenen Glauben. Mit der größten religiösen Inbrunst, die in dieser Welt denkbar ist, dachte sie nun über ihre Sünden nach und über die Mängel, die sich in ihr geistiges System eingeschlichen hatten. Der Buchstabe ›s‹ ist, so dachte sie, die Schlange im Paradies des Dichters. Und es waren, da half nun alles nichts, immer noch allzu viele von diesen sündenträchtigen Kriechtieren in den ersten Strophen des Gedichts ›Der Eichbaum‹. Aber das böse ›s‹ war noch gar nichts im Vergleich mit der Endung ›-end‹. Das Partizipium präsentis ist der Teufel in eigener Gestalt, dachte sie (da wir ja nun schon einmal an einer Stätte weilen, an die der Teufelsglaube gehört). Es ist, schloß sie, die erste Dichterpflicht, solchen Versuchungen nicht zu erliegen; denn da das Ohr der Vorraum der Seele ist, so vermag die Dichtung ärger zu verderben und zu zerstören als Wollust und Schießpulver. Darum, so sagte sie sich weiter, trägt der Dichter die höchste Verantwortung unter allen Menschen. Seine Worte treffen noch, wo die anderer fehlgehen. Ein einziges schlichtes Lied von Shakespeare hat mehr für die Armen und die Verderbten getan als alle Prediger und Menschenfreunde der Welt. Darum kann keine Zeit und keine Hingabe verschwendet sein, wenn sie dazu dient, das Mittel zur Kundmachung unserer Sendung klarer und verständlicher zu gestalten. Wir müssen unsere Worte formen, bis sie als zarteste Hülle über unseren Gedanken liegen. Gedanken sind göttlich – und so weiter.

Wir sehen also: Sie war nun wieder von den Grenzen ihrer persönlichen Religion umschlossen; die Zeit ihrer Abwesenheit hatte da lediglich verstärkend gewirkt, und Orlando fiel rasch der Unduldsamkeit jedes starken Glaubens anheim.

›Ich werde ein erwachsener Mensch‹, dachte sie schließlich und nahm ihre Kerze zur Hand. ›Ich verliere ein paar Illusionen‹, sagte sie und klappte Königin Marias Buch zu, ›vielleicht, um mir andere dafür anzuschaffen.‹ Und sie stieg zu den Grüften hinab, wo ihre Vorfahren lagen.

Aber selbst die Gebeine ihrer Vorfahren, des Sir Miles, des Sir Gervase und wie sie alle hießen, hatten etwas von ihrer Heiligkeit eingebüßt, seitdem Orlando die Handbewegungen gesehen hatte, die Rustum el Sadi an jenem Abend in den Bergen Asiens gemacht hatte. Irgendwie erfüllte der Gedanke, daß diese Gebeine da erst vor drei- oder vierhundert Jahren Menschen gewesen waren, mit der gleichen Möglichkeit, ihren Weg in der Welt zu machen, wie jeder beliebige Emporkömmling von heute, und daß sie ihn gemacht hatten, indem sie Häuser und Ämter, Hosenbandorden und sonstige Ordensbänder erwarben, während Dichter etwa und Männer von hohem Sinn und edelster Art die Stille des Landlebens vorzogen und dafür nun wie zur Strafe mit äußerster Armut büßen mußten, so daß sie jetzt in der Strand mit Flugschriften handelten oder auf den Feldern Schafe hüteten – irgendwie erfüllte dieser Gedanke sie mit einem Schuldgefühl. Sie dachte, indessen sie in der Krypta stand, an die ägyptischen Pyramiden und die Gebeine, die in ihrem Schutze ruhen; und in diesem Augenblick schienen ihr die riesigen, kahlen Höhen über dem Marmarameer eine schönere Wohnstatt als dieser vielzimmerige Herrensitz, in dem keinem Bett seine weiche Decke und keiner Silberschüssel ihr Silberdeckel fehlte.

›Ich werde ein erwachsener Mensch‹, dachte sie und nahm ihre Kerze zur Hand. ›Ich verliere meine Illusionen – vielleicht, um mir neue anzuschaffen.‹ Und sie schritt die lange Galerie hinab zu ihrem Schlafzimmer. Es war das, so dachte sie, ein unangenehmer und beschwerlicher Vorgang. Aber es war doch auch erstaunlich spannend, dachte sie und streckte die Beine vor dem Kaminfeuer aus (denn hier gab es keine Matrosen); und sie tat einen Blick auf ihre Vergangenheit, als beobachte sie ihr eigenes Selbst auf dem Weg durch eine Straße mit großen Gebäuden.

Wie hatte sie in ihrer Knabenzeit den tönenden Schall geliebt! Was einem wie ein Katarakt lärmender Silben über die Lippen stürzte, das war, so meinte sie damals, höchste Dichtkunst. Dann aber fiel – und das war unter dem Eindruck Sashas und ihrer Ernüchterung – in dieses wilde Gebrause ein dunkler Tropfen, der den stürmenden Schwung in träges Dahinschleichen verwandelte. Langsam hatte sich da in ihr etwas aufgetan, das unübersichtlich und vielzimmerig war und zu dessen Erforschung man eine Fackel brauchte: Prosa, nicht Verse; und sie dachte daran, mit welch leidenschaftlichem Eifer sie das Buch des Doktors Browne aus Norwich gelesen hatte – jenes Buch, das sie dort in Griffnähe liegen sah. Nach dem Erlebnis mit Greene hatte sie hier in ihrer Einsamkeit ihr geistiges Wesen so geschult, daß es Widerstandskraft bekam – oder sie hatte doch wenigstens versucht, es zu tun; denn solch ein Wachstum braucht, das weiß der Himmel, Jahre und aber Jahre. ›Von jetzt ab‹, hatte sie gesagt, ›schreibe ich zu meinem eigenen Vergnügen‹; und dann hatte sie sechsundzwanzig Bände vom Erdboden getilgt. Und doch war sie, allen ihren Reisen und Abenteuern und Grübeleien und Launen und Wandlungen zum Trotz, noch immer kein fertiger Mensch: war noch immer im Werden. Was die Zukunft bringen mochte, wußte der Himmel. Die Wandlungen dauerten unablässig an, und die Wandlungen würden vielleicht niemals aufhören. Hochragende Gedankenmauern, Bräuche, die so dauerhaft schienen wie Stein, sanken ins Nichts wie Schatten, wenn ein fremder Geist sie anrührte: und zurück blieb ein blanker Himmel, an dem neue Sterne glitzerten. Hier ging Orlando zum Fenster und öffnete es trotz der Kälte, da ein unwiderstehliches Verlangen sie trieb. Sie lehnte sich hinaus in die nächtliche Feuchte. Sie hörte einen Fuchs bellen im Wald und einen Fasan durch die Zweige streifen. Sie hörte, wie der Schnee vom Dache schurrte und plumpsend aufschlug. »Bei meinem Leben«, rief sie, »das ist doch tausendmal besser als die Türkei. Rustum«, rief sie, als stritte sie sich mit dem Zigeuner (und dies war abermals ein Beweis für die Entwicklung ihres geistigen Wesens: das sie nun die Fähigkeit besaß, eine Auseinandersetzung im Kopfe zu tragen und sie weiterzuführen – mit einem Gegner, der nicht da war, um zu widersprechen), »Rustum, du hattest unrecht. Das hier ist besser als die Türkei. Haarlocke, Kuchenkrümel, Tabakblatt – aus was für wunderlichem Kleinkram sind wir doch zusammengestückt!« sagte sie (da ihr Königin Marias Gebetbuch in den Sinn kam). »Was für eine zauberische Gaukelwelt ist unser Hirn, was für wunderbar gegensätzliche Dinge geben sich da ein Stelldichein! Im einen Augenblick möchten wir Herkunft und Rang verleugnen und trachten nach den Entzückungen der Selbstkasteiung; im nächsten Augenblick überwältigt der Duft eines alten Gartenweges unser Herz, und das Lied der Drosseln bewegt uns zu Tränen.« So war sie wieder einmal tief verwirrt durch die Vielfältigkeit der Erscheinungen, die nach Deutung verlangen und ihre Botschaft aussagen, ohne uns den Sinn dieser Botschaft auch nur anzudeuten; und sie warf ihre Zigarre aus dem Fenster und ging zu Bett.

Am anderen Morgen kam die Folgerung aus diesen Gedanken: Sie nahm Feder und Papier und machte sich von neuem an das Gedicht ›Der Eichbaum‹; denn Tinte und Papier in Fülle zur Verfügung zu haben, wenn man sich mit Beeren und Seitenrändern hat behelfen müssen, ist eine unvorstellbare Lust. So saß sie nun und strich hier in tiefster Verzweiflung einen Vers aus, schrieb dort in höchster Entzückung einen Vers hinein – als ein Schatten das Blatt verdunkelte. Hastig verbarg sie das Manuskript.

Der Hof, auf den ihr Fenster hinaussah, lag ganz in der Mitte des Schlosses; Orlando hatte Befehl gegeben, niemanden vorzulassen, da sie niemanden kannte und ihrerseits von Rechts wegen unbekannt war; so war sie zuerst über das Auftauchen des Schattens verwundert, dann entrüstet, schließlich (als sie aufblickte und den Urheber des Schattens sah) von Heiterkeit überwältigt. Denn es war ein vertrauter Schatten, ein grotesker Schatten, der Schatten keiner geringeren Persönlichkeit als der Großherzogin Harriet Griselda von Finster-Aarhorn und Scand-op-Boom in Rumänien. Da kam sie über den Hof gehoppelt, in ihrem alten schwarzen Reitkleid und Mantel, ganz genau wie früher. Nicht ein Haar an ihr hatte sich verändert. Dies also war die Frau, durch die Orlando aus England vertrieben worden war! Dies war die Brutstatt jenes Geiers der Unzucht – dies der verderbenbringende Vogel selbst! Als sie sich vorstellte, daß sie den ganzen weiten Weg in die Türkei geflüchtet war, um dieser Verführung zu entfliehen (die nun unausdenkbar schal schmeckte), lachte Orlando laut auf. Der Anblick hatte etwas unaussprechlich Komisches. Man konnte von dieser Dame (wieder mußte Orlando daran denken) nichts mit solchem Recht behaupten, wie daß sie einem riesigen Hasen ähnelte. Sie hatte die Glotzaugen, die schlaffen Backen, den hohen Kopfputz dieses Tieres. Nun blieb sie stehen, ganz genau wie ein Hase, der im Getreide sitzt und sich unbeobachtet glaubt, und starrte zum Fenster herein, während Orlando ihrerseits zum Fenster hinausstarrte. Nachdem sie einander eine Zeitlang so angestarrt hatten, blieb keine andere Wahl, als sie hereinzubitten, und alsbald tauschten die beiden Damen höfliche Redensarten aus, indessen die Großherzogin den Schnee von ihrem Mantel klopfte.

»Die Pest über die Weiber«, schimpfte Orlando vor sich hin, während sie zum Wandschrank ging, um ein Glas Wein zu holen, »sie lassen einem niemals auch nur einen Augenblick Frieden. Einen im besten Versteck aufspüren, mit Fragen ausquetschen, zudringlich werden – niemand kann das besser als sie. Habe ich nicht England verlassen, um diesem Maibaum da zu entgehen? Und nun –« Hier wandte sie sich, um der Großherzogin das Tablett zu reichen, und siehe da – an ihrer Stelle stand nun ein hochgewachsener Herr in Schwarz. Ein Haufen Frauenkleider lag hinter dem Kamingitter. Sie war allein mit einem Mann.

Als sie solchermaßen plötzlich zum Bewußtsein ihres Geschlechtes gebracht wurde, das sie völlig vergessen hatte, und des seinigen, das nun in hinlänglichen Abstand gerückt war, um gleichermaßen aufregend zu wirken, fühlte sich Orlando von Schwäche überwältigt.

»Oh!« sagte sie und führte die Hand zum Herzen, »wie habt Ihr mich erschreckt!«

»Zartes Geschöpf!« rief die Großherzogin, wobei sie sich auf ein Knie niederließ und gleichzeitig Orlando einen Schluck Wein zur Stärkung aufnötigte, »verzeiht mir den Betrug, den ich an Euch verübt habe!«

Orlando nippte an dem Glas, und der Großherzog kniete und küßte ihr die Hand.

Um es kurz zu sagen: Sie spielten zehn Minuten lang sehr lebhaft die Rollen von Mann und Frau, um dann zu einem natürlichen Gespräch überzugehen. Die Großherzogin (aber sie muß in Zukunft wohl als ›der Großherzog‹ geführt werden) – der Großherzog also erzählte seine Geschichte – daß er ein Mann wäre und immer einer gewesen wäre; daß er ein Bild Orlandos gesehen und sich hoffnungslos in sie verliebt hätte; daß er sich, um zum Ziele zu kommen, als Frau verkleidet und im Bäckerladen eingemietet hätte; daß er verzweifelt gewesen wäre, als Orlando in die Türkei flüchtete; daß er von ihrer Verwandlung vernommen hätte und herbeigeeilt wäre, um seine Dienste anzubieten (hier ließ er sein unerträgliches ›Hihi‹ und ›Haha‹ hören). Denn für ihn, so sagte der Großherzog Harry, wäre sie jetzt und auf ewig die Krone, die Königin, das strahlendste Kleinod ihres Geschlechtes. Die drei K's hätten noch mehr Verführungskraft besessen, wenn sie nicht mit ›Hihis‹ und ›Hahas‹ der sonderbarsten Art untermischt zutage gekommen wären. »Wenn das die Liebe ist«, sagte Orlando zu sich selbst, während sie den Großherzog von der anderen Seite des Kamingitters her betrachtete, und zwar nun mit den Augen der Frau, »dann hat sie etwas höchst Lächerliches an sich.«

Der Großherzog Harry fiel auf die Knie und brachte seine Werbung auf die leidenschaftlichste Art hervor. Er teilte ihr mit, daß er rund zwanzig Millionen Dukaten in einer festen Kiste in seinem Schloß aufbewahrte. Er besäße mehr Morgen Landes als der reichste Edelmann in England. Die Jagd wäre ausgezeichnet. Er könnte ihr eine Beute von Schneehühnern und Waldhühnern versprechen, mit der kein englisches noch schottisches Moor es aufnehmen könnte. Nun ja, die Fasanen hätten während einer Abwesenheit unter der Schnabelsperre zu leiden gehabt, und die Rehe hätten zu früh geworfen, aber das ließe sich ja in Ordnung bringen und würde auch in Ordnung gebracht werden – mit ihrer Hilfe, wenn sie erst zusammen in Rumänien lebten.

Indessen er sprach, quollen aus seinen beträchtlich vorspringenden Augen riesige Tränen hervor und rannen die sandfarbenen Furchenwege in seinem langen, schlaffen Gesicht hinab.

Daß Männer ebenso oft und ebenso töricht weinen wie Frauen, wußte Orlando aus ihrer eigenen Erfahrung als Mann; aber sie kam zu der Erkenntnis, daß Frauen von Rechts wegen Mißfallen bekunden sollten, wenn Männer in ihrer Gegenwart Gemütsbewegungen zeigen; infolgedessen bekundete Orlando Mißfallen.

Der Großherzog bat um Verzeihung. Er bekam sich so weit wieder in die Gewalt, daß er sagen konnte, er werde sie nun verlassen, aber morgen wiederkommen, um sich Antwort zu holen.

Das begab sich an einem Dienstag. Er kam am Mittwoch; er kam am Donnerstag; er kam am Freitag; und er kam am Samstag. Nun stand freilich am Anfang, in der Mitte und am Ende jedes Besuches eine Liebeserklärung, dazwischen aber war viel Platz für stumme Pausen. Sie saßen einander gegenüber, zu beiden Seiten des Kamins; zuweilen stieß der Großherzog die Schüreisen um; dann hob Orlando sie auf und legte sie wieder an ihren Platz. Danach kramte der Großherzog dann wohl die Erinnerung aus, wie er in Schweden einen Elch geschossen hatte, und Orlando fragte, ob es ein sehr großer Elch gewesen wäre, und der Großherzog antwortete, so groß wie das Rentier, das er in Norwegen geschossen hätte, wäre er nicht gewesen; und Orlando fragte dann wohl, ob er schon einmal einen Tiger geschossen hätte, und der Großherzog antwortete, er hätte einmal einen Albatros geschossen, und Orlando (die ihr Gähnen einigermaßen verbarg) wollte wissen, ob ein Albatros ebensogroß wäre wie ein Elefant, und der Großherzog antwortete – antwortete ohne Zweifel irgend etwas sehr Verständiges, aber Orlando hörte es nicht, denn sie betrachtete ihren Schreibtisch, sah zum Fenster hinaus oder blickte zur Tür. Danach sagte der Großherzog dann wohl: »Ich bete Euch an!« – und im selben Augenblick sagte Orlando: »Seht mal, es fängt an zu regnen!« Worauf sie beide sehr verwirrt waren, scharlachrot wurden und keine Ahnung hatten, was sie nun sagen sollten. Orlando jedenfalls war mit ihrem Latein ganz und gar am Ende, und sie sagte sich, daß sie ihn wohl schließlich hätte heiraten müssen, wenn sie sich nicht auf ein Spiel besonnen hätte, das ›Fliegen-Lu‹ genannt wurde, und in dem man mit einem sehr geringen Aufwand von Geist sehr viel Geld verlieren konnte; denn ein anderes Mittel, ihn loszuwerden, fiel ihr nicht ein. Aber es war ein einfaches Mittel, denn man brauchte dazu weiter nichts als drei Stück Zucker und eine genügende Anzahl Fliegen; und es machte die peinliche Suche nach Gesprächsstoff überflüssig und rettete sie vor dem Zwang zur Ehe. Denn nun bot der Großherzog ihr eine Wette von fünfhundert Pfund gegen einen Shilling, daß eine Fliege sich auf dieses Zuckerstück setzen würde und nicht auf jenes. So hatten sie denn für einen ganzen Vormittag Beschäftigung mit der Beobachtung der Fliegen, die natürlich in dieser Jahreszeit träge waren und oft eine ganze Stunde lang oder so an der Decke kreisten, bis endlich irgendein stattlicher Brummer seine Wahl traf und der Kampf gewonnen (oder verloren) war. Viele Hunderte von Pfunden wechselten dabei den Besitzer, denn der Großherzog, der eine richtige Spielernatur war, nahm's auf seinen Eid, dies Spiel wäre um kein Haar schlechter als das Wetten bei Pferderennen und er könnte es bis in alle Ewigkeit spielen. Orlando aber wurde der Sache bald überdrüssig.

»Wozu nützt es mir, daß ich eine hübsche junge Frau in der Blüte des Lebens bin«, fragte sie sich, »wenn ich den ganzen lieben langen Vormittag mit einem Großherzog dasitzen und Fliegen anglotzen soll?«

Sie begann den bloßen Anblick von Zucker zu verabscheuen; Fliegen machten sie schwindelig. Sie sagte sich, daß es ja wohl irgendeinen Ausweg aus dieser Klemme geben mußte, aber sie war noch nicht erfahren in den Künsten ihres Geschlechts, und da sie einem Mann nicht mehr über den Schädel hauen oder einen Degen in den Leib stoßen konnte, so fiel ihr kein besseres Mittel ein als dies: Sie fing einen Brummer, drückte sacht alles Leben aus ihm heraus (er war schon vorher halbtot, sonst hätte ihre Liebe zur unvernünftigen Kreatur das niemals gelitten) und klebte ihn mit einem Tropfen Gummiarabikum auf einem Zuckerstück fest. Während der Großherzog zur Decke starrte, vertauschte sie flink das Zuckerstück mit dem, auf das sie gewettet hatte, rief »Lu! Lu!« und behauptete, sie hätte die Wette gewonnen. Ihre Rechnung dabei war, daß der Großherzog als kundiger Sportsmann und Rennwetter den Schwindel entdecken sollte; da der Betrug beim Lu-Spiel das verruchteste aller Verbrechen ist und mancher Mann um dessentwillen aus der Gesellschaft der Menschen in die der Urwaldaffen verbannt wurde, so vertraute sie darauf, daß er männlich genug empfinden würde, um künftig jede Gemeinschaft mit ihr entrüstet zu meiden. Aber sie verkannte die Einfalt des liebenswürdigen Edelmannes. Er war ein schlechter Fliegenkenner. Ihm sah eine tote Fliege ganz genauso aus wie eine lebendige. Zwanzigmal spielte sie ihm den Streich, und er zahlte ihr 17 250 Pfund (nach unserem Gelde gerechnet 40 885 Pfund), bis Orlando ihn derart ungeheuerlich beschwindelte, daß sogar er sich nicht länger täuschen ließ. Als er endlich die Wahrheit erkannte, gab es eine peinliche Szene. Der Großherzog erhob sich zu seiner vollen Höhe. Er lief scharlachfarben an. Tränen rollten ihm übers Gesicht, eine nach der anderen. Daß sie ihm ein Vermögen abgenommen hatte, bedeutete ihm nichts – er gab es ihr von Herzen gern; daß sie ihn betrogen hatte, bedeutete ihm schon etwas – es tat ihm weh, zu denken, daß sie dessen überhaupt fähig war; aber daß sie im Lu betrogen hatte, das bedeutete ihm alles. Eine Frau zu lieben, die beim Spiel betrog – das wäre unmöglich, sagte er. Bei diesen Worten brach er vollständig zusammen. Glücklicherweise, sagte er und raffte sich ein wenig wieder auf, wären ja keine Zeugen zugegen gewesen. Sie wäre ja schließlich nur eine Frau, sagte er. Kurz, in der Ritterlichkeit seines Herzens schickte er sich an, ihr zu verzeihen und wollte das Knie beugen, um ihre Vergebung für seine heftigen Worte zu erflehen, als sie der Sache ein kurzes Ende machte: indessen er sein stolzes Haupt neigte, ließ sie eine kleine Kröte ihm zwischen Hemd und Haut gleiten.

Um ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß gesagt werden, daß ihr die Anwendung eines Degens unendlich viel lieber gewesen wäre. Kröten sind kaltfeuchte, klebrige Gegenstände, und das macht sich unerfreulich bemerkbar, wenn man sie einen ganzen Vormittag lang an sich verstecken muß. Aber wo Degen nicht gestattet sind, muß man seine Zuflucht zu Kröten nehmen. Außerdem können Kröten im Verein mit Gelächter zuweilen bewirken, was kalter Stahl nicht könnte. Sie lachte. Der Großherzog wurde rot. Sie lachte. Der Großherzog fluchte. Sie lachte. Der Großherzog schmetterte krachend die Tür ins Schloß.

»Dem Himmel sei Dank!« rief Orlando, immer noch lachend. Sie vernahm das Rollen von Wagenrädern, die in wütender Eile über den Hof ratterten. Dann hörte sie den Wagen auf der Fahrstraße davonrasseln. Schwächer und schwächer wurde das Geräusch. Nun verklang es und war weg.

»Ich bin allein«, sagte Orlando, und sie sagte es laut, weil niemand da war, der es hören konnte.

Daß auf Lärm folgende Stille tiefer ist, bedarf noch der Bestätigung durch die Wissenschaft. Aber daß man das Alleinsein stärker empfindet, wenn einem unmittelbar vorher der Hof gemacht worden ist – das werden viele Frauen beschwören. Als das Geräusch der großherzoglichen Wagenräder erstarb, empfand Orlando, daß sie mancherlei weiter und immer weiter weg entführten: einen Großherzog (sie machte sich nichts daraus), ein Vermögen (sie machte sich nichts daraus), einen Titel (sie machte sich nichts daraus), das gesicherte und gefestigte Leben im Ehestand (sie machte sich nichts daraus); aber sie vernahm, wie sich das Leben von ihr entfernte, das Leben und ein Liebhaber. »Leben und ein Liebhaber«, murmelte sie; und sie ging zum Schreibtisch, tauchte die Feder in die Tinte und schrieb:

›Leben und ein Liebhaber –‹

– eine Zeile, die sich nicht skandieren ließ und mit dem Vorhergehenden keinen Sinn ergab – etwas über die beste Art, Schafe in desinfizierender Lösung zu baden, um sie vor der Räude zu schützen. Sie las die Zeile noch einmal, errötete und wiederholte:

»Leben und ein Liebhaber –«

Dann legte sie die Feder weg, ging in ihr Schlafzimmer, stellte sich vor den Spiegel und legte sich die Perlenkette um den Hals. Es schien ihr, als kämen die Perlen bei einem Morgenkleid aus geblümter Baumwolle nicht recht zur Geltung; infolgedessen vertauschte sie es gegen eines aus taubengrauem Taft; dann gegen eines von der Farbe der Pfirsichblüte; schließlich gegen eines aus weinfarbenem Brokat. Vielleicht brauchte sie einen Hauch Puder, und wenn ihr Haar recht um die Stirn geordnet war – so –, dann sah sie wohl ganz vorteilhaft aus. Sie schlüpfte in spitze Pantöffelchen und setzte einen Smaragdring auf den Finger. »So«, sagte sie, als sie mit alledem fertig war, und sie zündete die silbernen Leuchter zu beiden Seiten des Spiegels an. Welche Frau wäre nicht von Herzen froh gewesen, wenn sie gesehen hätte, was Orlando da im Schnee brennen sah –: denn überall rings um das Spiegelglas war schneebedeckter Rasen, und sie selbst war wie ein Feuer, wie ein brennender Busch, und die Kerzenflammen um ihren Kopf waren silberne Blätter; oder nein: das Spiegelglas war grünes Wasser, und sie war eine Nixe, mit Perlen geschmückt, eine Sirene in einer Grotte, und sie sang ihr Lied empor zu den Schiffern, die sich aus ihren Booten lehnten und hernieder, hernieder sanken, sie zu umarmen; so dunkel, so licht, so hart, so lind war sie, so hinreißend verführerisch – ach, es war jammer-, jammerschade, daß keiner da war, der es in schlichtem Englisch ausdrückte und ohne Umschweife sagte: ›Verdammt noch mal, Ihr seid die verkörperte Schönheit, Madam!‹ – und das war die Wahrheit. Sogar Orlando (die durchaus keine übertriebene Selbsteinschätzung hatte) wußte das, denn sie lächelte das unwillkürliche Lächeln, das man bei Frauen sieht, wenn ihre eigene Schönheit (die ihnen gar nicht ihr eigen dünkt) Gestalt gewinnt wie ein fallender Tropfen oder ein steigender Springbrunnen und ihnen plötzlich im Spiegel gegenübersteht – dies Lächeln lächelte sie, und dann lauschte sie einen Augenblick und vernahm nichts weiter als das Rascheln der Blätter und das Gezwitscher der Spatzen, und dann seufzte sie: »Leben, ein Liebhaber!«, und dann drehte sie sich mit ungemeiner Geschwindigkeit auf dem Hacken herum; streifte hastig die Perlen vom Halse, streifte hastig den Atlas vom Leibe und stand schlank und gerade in den schmucken, schwarzseidenen Kniehosen eines landläufigen Edelmannes da; dann klingelte sie. Als der Diener kam, befahl sie ihm, sofort eine sechsspännige Kutsche vorfahren zu lassen. Sie würde durch dringende Geschäfte unverzüglich nach London gerufen. Eine knappe Stunde nach dem Aufbruch des Großherzogs fuhr auch sie davon.

Und da die Landschaft, durch die sie fuhr, das übliche englische Bild bot und hier nicht geschildert zu werden braucht, so dürfen wir die günstige Gelegenheit nutzen und, indessen Orlando fährt, die Aufmerksamkeit des Lesers ausführlicher, als es bisher in der Eile möglich war, auf eine oder zwei Bemerkungen lenken, die uns im Laufe der Erzählung hier und da in den Text geschlüpft sind. So zum Beispiel hat man es vielleicht auffällig gefunden, daß Orlando ihre Manuskripte zu verstecken pflegte, wenn sie gestört wurde; sodann, daß sie lange und angelegentlich in den Spiegel blickte; und jetzt, wo sie nach London fuhr, hätte man beobachten können, daß sie erschrak und einen Aufschrei unterdrückte, wenn die Pferde schneller galoppierten, als es ihr lieb war. Die Bescheidenheit, wenn es um ihre Schriftstellerei ging, der eitle Stolz auf ihre äußere Erscheinung, die Angst um das liebe Leben, alles das scheint darauf hinzudeuten, daß unsere vor kurzem gemachte Bemerkung, es habe zwischen dem Manne Orlando und der Frau Orlando kein Unterschied bestanden, ihre Richtigkeit zu verlieren begann. Langsam wurde sie, wie Frauen so sind, ein wenig bescheidener, was ihren Verstand betrifft, und, wie Frauen so sind, ein wenig eitler auf ihr Äußeres. Die Empfänglichkeit für gewisse Dinge begann sich durchzusetzen; für andere wieder nahm sie ab. Manche Philosophen werden sagen, daß dies mit dem Wechsel der Kleidung zusammenhänge. Kleider, sagen sie, sind eitle Nichtigkeiten, aber sie haben dennoch wichtigere Aufgaben zu erfüllen, als nur uns warm zu halten. Sie wandeln unsere Anschauung von der Welt und der Welt Anschauung von uns. Zum Beispiel: Als Kapitän Bartolus Orlandos Rock sah, ließ er sogleich ein Sonnensegel für sie spannen, drängte ihr noch eine Scheibe Fleisch auf und lud sie ein, in der Pinasse mit ihm an Land zu fahren. Diese Artigkeiten hätte er ihr gewißlich nicht erwiesen, wenn ihre Röcke nicht niedergewallt wären, sondern nach Art von Kniehosen eng ihre Beine umschlossen hätten. Und wenn man uns Artigkeiten erweist, so ziemt es sich, daß wir uns irgendwie erkenntlich zeigen. Orlando knickste; sie nahm seine Dienste an: sie ging dem guten Manne schmeichlerisch um den Bart, was sie gewißlich nicht getan hätte, wenn seine gutgeschnittenen Kniehosen Röcke und sein betreßter Rock ein Frauenmieder aus Atlas gewesen wären. So gibt es mancherlei gute Gründe für die Ansicht, daß die Kleider uns tragen und nicht wir die Kleider; wohl können wir sie so zuschneiden, daß sie unseren Arm oder unsere Brust formen –: sie aber wiederum formen unsere Herzen, unsere Hirne, unsere Zungen, wie es ihnen gefällt. So war nun an Orlando, nachdem sie eine beträchtliche Zeitlang Röcke getragen hatte, eine gewisse Wandlung festzustellen, die, wenn der Leser auf S. 122 nachschauen will, sogar in ihrem Gesicht zu finden war. Wenn wir das Bildnis des Mannes Orlando mit dem der Frau Orlando vergleichen, so werden wir, obwohl beide unzweifelhaft eine und dieselbe Person darstellen, doch gewisse Unterschiede wahrnehmen. Der Mann hat die Hand frei, um zum Schwerte zu greifen, die Frau muß sie dazu brauchen, den Atlas festzuhalten, der ihr von der Schulter gleiten will. Der Mann sieht der Welt geradeswegs ins Antlitz, als wäre sie für sein Belieben da und nach seinem Geschmacke gestaltet. Die Frau schaut sie mit einem Seitenblick an, der voll hintergründiger Gedanken, ja voll Mißtrauen ist. Hätten sie beide dieselben Kleider getragen – vielleicht wäre auch ihr Blick in die Welt der gleiche gewesen.

Dies ist die Ansicht mancher Philosophen und gelehrten Leute; wir aber neigen im allgemeinen einer anderen Meinung zu. Glücklicherweise besteht zwischen den Geschlechtern ein sehr tiefgehender Unterschied. Die Kleidung ist nur ein Sinnbild für etwas, das tief unter der Oberfläche liegt. Es war eine Wandlung in Orlando selbst, die ihre Wahl für Frauenkleidung und weibliches Geschlecht entschieden hatte. Und vielleicht drückte sie damit nur erheblich offener, als es sonst geschieht (und Offenheit war unverkennbar der innerste Kern ihres Wesens), etwas aus, das den meisten Menschen widerfährt, ohne immer so deutlichen Ausdruck zu finden. Hier sehen wir uns nämlich schon wieder in der Zwickmühle. Mögen die Geschlechter auch unterschieden sein – sie sind hinwiederum untermischt. In jedem menschlichen Wesen begibt sich ein Pendeln zwischen den beiden Geschlechtern, und oft sind es nur die Kleider, die einen Menschen weiterhin als Mann oder als Frau erscheinen lassen, während darunter ein der Außenseite durchaus entgegengesetztes Geschlecht sich birgt. Die Irrungen und Wirrungen, die sich daraus ergeben, kennen wir alle aus Erfahrung. Damit aber wollen wir die allgemeine Frage verlassen und uns nur mit der merkwürdigen Wirkung in Orlandos besonderem Falle befassen. Denn es war diese Mischung aus männlichem und weiblichem Wesen (von denen bald das eine, bald das andere die Oberhand gewann), die ihrem Verhalten oftmals eine unerwartete Wendung gab. Neugierige Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts könnten uns zum Beispiel vorhalten: Wenn Orlando wirklich eine Frau war, weshalb brauchte sie dann niemals länger als zehn Minuten zum Ankleiden? und: Waren nicht die Kleider ohne rechte Sorgfalt gewählt, und sahen sie nicht zuweilen ziemlich abgetragen aus? Auch könnten sie sagen: Orlando hat weder die förmliche Haltung eines Mannes noch seine Machtliebe. Sie ist im höchsten Maße weichherzig. Sie könnte es nicht ertragen zuzusehen, wenn ein Esel geprügelt oder eine junge Katze ersäuft würde. Und doch wiederum (sagen die Zweiflerinnen) haßte sie die Beschäftigung mit Haushaltsdingen, war in der Dämmerung aus den Federn und im Sommer vor Sonnenaufgang draußen auf den Feldern. Kein Landwirt verstand sich besser auf die Ernte als sie. Im Trinken tat sie es den Besten gleich, und sie liebte das Spiel. Sie ritt vortrefflich und fuhr sechsspännig im Galopp über die London Bridge. Andererseits: War sie auch kühn und tätig wie ein Mann, so wurde doch beobachtet, daß sie, wenn ein anderer in Gefahr war, auf höchst weibliche Art Herzklopfen bekam. Sie brach beim kleinsten Anlaß in Tränen aus. Sie besaß keinerlei geographische Kenntnisse, fand die Mathematik unausstehlich und hielt hartnäckig an manchen wunderlichen Ansichten fest, wie man sie häufiger bei Frauen als bei Männern findet – zum Beispiel an der Meinung, daß man bergab fährt, wenn man nach Süden reist. Mithin: Ob Orlando mehr Mann oder mehr Frau war, ist schwer zu sagen und kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Denn ihre Kutsche rasselte nun über das Katzenkopfpflaster. Sie war vor ihrem Heim in der Hauptstadt angelangt. Das Trittbrett wurde herabgelassen; das eiserne Gitter tat sich auf. Sie betrat das Haus ihrer Väter in Blackfriars, das noch immer, wenn dieser Teil der Stadt auch rasch aus der Mode der vornehmen Welt kam, ein behaglicher, geräumiger Wohnsitz war; die Gärten reichten bis hinab zum Fluß, und unter den Nußbäumen spazieren zu gehen, war eine Freude.

 

Hier quartierte sich nun Orlando ein und begann sogleich nach dem Umschau zu halten, das zu suchen sie hierhergekommen war – man wird sich entsinnen: Leben und einen Liebhaber. Das erstere war, wie immer, so auch hier, ein etwas unklarer Punkt; das zweite fand sie ohne die mindeste Schwierigkeit zwei Tage nach ihrer Ankunft. An einem Dienstag traf sie in der Stadt ein. Am Donnerstag machte sie einen Spaziergang in der Mall, wie es damals die Gewohnheit aller Leute von Rang und Stand war. Sie war kaum ein paar Minuten gegangen, als sie auch schon von einer kleinen Ansammlung gemeinen Volks beobachtet wurde, wie es sich da herumzutreiben pflegte, um die besseren Leute zu begaffen. Als sie an der Gruppe vorüberkam, trat ein Weib, das ein Kind an der Brust trug, einen Schritt vor, sah Orlando dreist ins Gesicht und rief laut: »Hol mich der Deubel, wenn das nich Lady Orlando is!« die anderen drängten herzu, und Orlando sah sich in wenigen Sekunden im Mittelpunkt eines glotzenden Pöbelhaufens aus Bürgersleuten und Händlersfrauen, die sämtlich die Heldin des berühmten Prozesses mit brennender Neugier anstarrten. So sehr brachte der Fall gerade die Gemüter des gemeinen Volkes in Erregung. Orlando wäre vielleicht durch das Gedränge des Pöbels in ernstliche Ungelegenheiten geraten (sie hatte vergessen, daß Damen der Gesellschaft sich üblicherweise nicht ohne Begleitung zu Fuß in der Öffentlichkeit zeigen) – wenn nicht ein hochgewachsener Herr unverweilt herzugetreten wäre und ihr den Schutz seines Armes dargeboten hätte. Es war der Großherzog. Als sie ihn erblickte, empfand sie heftigen Ärger und doch zugleich so etwas wie Erheiterung. Nicht genug, daß dieser hochherzige Edelmann ihr verziehen hatte – um zu beweisen, daß er ihr den leichtfertigen Streich mit der Kröte nicht nachtrug, hatte er ihr ein Geschmeide in der Gestalt dieses Amphibiums anfertigen lassen und drängte es ihr auf, als er ihr in die Kutsche half; wobei er abermals seinen Antrag vorbrachte.

Mochte nun der Pöbel daran schuld sein, oder der Großherzog, oder das Geschmeide – sie fuhr in der denkbar schlechtesten Laune nach Hause. War es denn unmöglich, den kleinsten Ausgang zu wagen, ohne halbtot gedrückt, mit einer aus Smaragden zusammengesetzten Kröte beschenkt und mit den Heiratsanträgen eines Großherzogs bedacht zu werden? Am anderen Tage freilich gewann die Sache ein freundlicheres Aussehen, denn da fand Orlando auf ihrem Frühstückstisch ein halbes Dutzend Briefchen von den erlauchtesten Damen des Landes – von Lady Suffolk, Lady Salisbury, Lady Chesterfield, Lady Tavistock und anderen, die in den höflichsten Worten an wechselseitige alte Familienbeziehungen erinnerten und Orlando um die Ehre persönlicher Bekanntschaft baten. Am nächsten Tage, es war ein Samstag, machte eine große Zahl dieser erlauchten Damen ihre Aufwartung. Am Dienstag um die Mittagsstunde brachten ihre Diener Karten mit Einladungen zu Abendgesellschaften, Dinners und Empfängen in allernächster Zeit; so daß Orlando unverzüglich in die Gewässer des Londoner Gesellschaftslebens geschleudert wurde, mit einem Platsch, der ordentlich Schaum gab.

Es übersteigt die Kräfte des Biographen und auch des Historikers, eine wahrheitsgetreue Schilderung der Londoner Gesellschaft zu jener wie auch zu irgendeiner anderen Zeit zu geben. Nur solche Leute, die für Wahrheit wenig Verwendung und auch wenig Achtung vor ihr haben (die Dichter und die Romanschreiber also), kann man mit einer solchen Aufgabe betrauen, denn dies ist einer der Fälle, in denen es Wahrheit überhaupt nicht gibt. In denen es überhaupt gar nichts gibt. Das Ganze ist weiter nichts als ein Ansteckungsherd, ein Blendwerk. Um deutlicher zu machen, was wir damit meinen –: Da kam Orlando etwa um drei oder vier Uhr morgens von einer dieser Abendgesellschaften heim, mit Wangen wie ein Christbaum und Augen wie Sterne. Sie löste eine Schleife, schritt ein paarmal durchs Zimmer, löste abermals eine Schleife, hielt inne und schritt abermals durchs Zimmer. Oft loderte die Sonne schon über den Schornsteinen von Southwark, bevor sie sich überreden konnte, zu Bett zu gehen; und da lag sie dann oft noch eine Stunde und länger wach und wälzte sich hin und her und zappelte und lachte und seufzte, ehe sie schließlich einschlief. Und um was dieses ganze aufgeregte Getue? Um die ›Gesellschaft‹. Und was hatte die Gesellschaft gesagt oder getan, um eine so verständige Dame in solche Aufregung zu stürzen? Klar und kurz gesagt: nichts. Orlando mochte am anderen Tage ihr Gedächtnis noch so sehr zermartern, ihr fiel niemals auch nur ein einziges Wort ein, das sich in der Erinnerung zu irgendwelcher Bedeutung hätte vergrößern lassen. Lord O. war galant gewesen. Lord A. höflich. Der Marquis de C. bezaubernd. Mr. M. unterhaltend und witzig. Aber wenn sie sich zu erinnern versuchte, worin denn nun eigentlich die Galanterie, die Höflichkeit, der Zauber, die Unterhaltsamkeit, der Witz bestanden hatten, so mußte sie schließlich annehmen, daß ihr Gedächtnis sie betrog, denn sie vermochte nicht ein einziges Beispiel zu nennen. Es war immer das gleiche. Am anderen Tag war nichts mehr da; und doch war die Erregung des Augenblicks so hinreißend groß. So sehen wir uns denn zu dem Schlusse gezwungen, daß die ›Gesellschaft‹ einem jener heißen Mischgetränke gleicht, wie tüchtige Hausfrauen sie in der Weihnachtszeit zu reichen pflegen: Ihre Würze beruht auf der richtigen Mischung und Verrührung von einem Dutzend verschiedener Zutaten. Man koste eine beliebige davon gesondert, und man wird sie fade finden. Man betrachte Lord O., Lord A., Lord C. oder Mr. M. gesondert, jeden für sich – und sie sind Nullen. Man rühre sie alle richtig durcheinander, und sie vereinigen sich zu einer Mischung von höchst berauschender Würze und verführerischem Duft. Und doch wissen sich diese berauschende Würze und dieser Duft der Analyse zu entziehen. Darum: ›Gesellschaft‹ ist zu gleicher Zeit alles und nichts. Gesellschaft ist das am mächtigsten wirkende Gebräu im Kessel dieser Welt – und Gesellschaft ist überhaupt nicht und nirgendwo vorhanden. Mit solchen Spottgeburten können nur die Dichter und die Romanschreiber umgehen; mit solchen zu Bedeutsamkeit aufgeblasenen Nichtsen sind ihre Werke vollgestopft, daß sie sich zu staunenswerter Größe blähen; und ihnen wollen wir sie mit der herzlichsten und bereitwilligsten Zufriedenheit von der Welt überlassen.

Wir wollen daher, dem Beispiel unserer Vorgänger folgend, lediglich sagen, daß die Gesellschaft zur Zeit der Königin Anne in unvergleichbarem Glanze strahlte. Der Zutritt zur Gesellschaft war das Ziel eines jeden Menschen aus gutem Hause. Die Eleganz der Umgangsformen stand in höchster Blüte. Väter unterrichteten ihre Söhne, Mütter ihre Töchter. Keine Erziehung (und das galt für beide Geschlechter) war vollendet, wenn sie nicht die Wissenschaft des guten Benehmens, die Kunst des Verbeugens und Knicksens, die Handhabung des Degens und des Fächers, die Pflege der Zähne, die Bewegung des Beines, die Biegsamkeit des Kniegelenks, die rechte Art, ein Zimmer zu betreten und zu verlassen und so weiter und noch tausendmal so weiter (jeder, der sich nur ein einziges Mal in der Gesellschaft bewegt hat, wird sogleich wissen, was wir meinen) – wenn sie nicht alles das einbegriff. Da Orlando durch die Art, wie sie als Knabe eine Wasserschale darreichte, den höchsten Beifall der Königin Elisabeth gewonnen hatte, so darf man wohl annehmen, daß sie hinlänglich erfahren war, um die Probe zu bestehen. Und doch ist zu sagen, daß sie eine gewisse Zerstreutheit an sich hatte, durch die sie zuzeiten linkisch wirkte; sie war imstande, an Dichtkunst zu denken, wenn sie an Taft hätte denken sollen; ihre Schritte waren vielleicht ein wenig zu lang für den Gang einer Frau, und ihre raschen, knappen Bewegungen konnten gelegentlich eine Teetasse in Gefahr bringen.

Ob nun diese leise Ungeschicklichkeit tatsächlich ausreichte, den Glanz ihrer Erscheinung zu verdunkeln, oder ob sie einen Tropfen zuviel von jenem dunklen Körpersaft geerbt hatte, der in den Adern aller aus ihrem Geschlechte floß – soviel ist gewiß, daß sie sich noch nicht drei Wochen lang in der ›Welt‹ bewegt hatte, als man sie auch schon hätte belauschen können (sofern nämlich außer ihrem Wachtelhund Pippin jemand dagewesen wäre), wie sie sich fragte: »Was zum Teufel ist eigentlich mit mir los?« Es geschah das am Dienstag, dem 16. Juni 1712; sie war gerade von einem großen Ball im Arlington House heimgekehrt; die Dämmerung stand am Himmel; und Orlando zog ihre Strümpfe aus. »Und wenn ich keiner Menschenseele mehr begegne, solange ich lebe, mir ist es gleich!« rief Orlando und brach in Tränen aus. Liebhaber hatte sie in Menge, aber das Leben, das schließlich auf seine Art doch auch von einer gewissen Bedeutung ist, entzog sich ihr. »Ist denn dies«, so fragte sie (aber es war keiner da, ihr zu antworten) – »ist denn dies«, so vollendete sie trotzdem ihren Fragesatz, »das, was die Menschen ›Leben‹ nennen?« Der Wachtelhund hob zum Zeichen seines Mitgefühls die Vorderpfote. Der Wachtelhund leckte Orlando mit seiner Zunge. Orlando streichelte den Wachtelhund mit ihrer Hand. Orlando küßte den Wachtelhund mit ihren Lippen. Kurz, es bestand zwischen ihnen das echteste und herzlichste Einvernehmen, das es zwischen einem Hunde und seiner Herrin geben kann; und doch kann nicht geleugnet werden, daß die Stummheit der Tiere ein großes Hindernis für die eigentlichen Feinheiten des Umganges bildet. Sie wedeln mit dem Schwanz; sie senken den vorderen Teil ihres Körpers und heben den hinteren; sie wälzen sich, sie springen, sie scharren, sie winseln, sie bellen, sie sabbern, sie haben alle erdenklichen und durchaus eigenen Förmlichkeiten und Fertigkeiten, aber das alles ist zu nichts nütze, denn sprechen können sie nicht. Und gerade das war, so dachte Orlando und setzte den Hund sanft auf den Boden, auch ihr Kummer mit den erlauchten Herrschaften im Arlington House. Auch sie wedeln mit dem Schwanz, beugen sich, wälzen sich, springen, scharren und sabbern, aber reden können sie nicht. »In allen diesen Monaten, seitdem ich nun in der ›Welt‹ lebe«, sagte Orlando und schleuderte einen Strumpf quer durchs Zimmer, »habe ich nichts gehört, was Pippin nicht ebensogut hätte sagen können: ›Mich friert. Ich bin glücklich. Ich bin hungrig. Ich habe eine Maus gefangen. Ich habe einen Knochen versteckt. Bitte, küß mich auf die Nase!‹« Und das war nicht genug.

Wie war sie in so kurzer Zeit vom Rausch zum Ekel gekommen? Wir wollen es hier lediglich mit der Vermutung zu erklären versuchen, daß dies geheimnisvolle Gemisch, das wir ›Gesellschaft‹ nennen, an und für sich weder gut noch schlecht ist, sondern daß es einen flüchtigen, aber mächtigen Geist in sich trägt, der uns entweder trunken macht, wenn wir ihn, wie Orlando es tat, köstlich finden, oder der uns Kopfschmerz verursacht, wenn wir ihn, wie Orlando es tat, widerwärtig finden. Daß die Gabe des Sprechenkönnens so oder so viel damit zu schaffen hat, gestatten wir uns zu bezweifeln. Oft birgt eine stumme Stunde die höchste Entzückung; glänzender Witz kann über alle Begriffe langweilig sein. Aber wir überantworten auch das den Dichtern und fahren in unserer Erzählung fort.

Orlando warf den zweiten Strumpf hinter dem ersten drein und ging in recht übler Stimmung zu Bett, entschlossen, der Gesellschaft auf ewig abzuschwören. Aber es stellte sich wieder einmal heraus, daß sie ihre Entschlüsse allzu voreilig faßte. Denn schon am anderen Morgen fand sie beim Erwachen unter den üblichen Einladungen auf ihrem Tisch eine Karte, die von einer sehr einflußreichen Dame, der Gräfin von R., stammte. Nachdem sie sich in den Nachtstunden entschlossen hatte, niemals wieder in Gesellschaft zu gehen, können wir Orlandos Verhalten – sie sandte hastdunichtgesehen einen Boten zum Hause der Gräfin von R. und ließ ausrichten, daß sie der Einladung der Frau Gräfin mit dem allergrößten Vergnügen folgen würde – nur durch die Tatsache erklären, daß sie noch immer unter der Wirkung dreier honigsüßer Worte litt, die ihr Kapitän Nicholas Benedict Bartolus ins Ohr geträufelt hatte, als die ›Verliebte Lady‹ die Themse hinaufsegelte. ›Addison, Dryden, Pope‹, hatte er gesagt, zum ›Kakaobaum‹ hinüberdeutend; und ›Addison, Dryden, Pope‹ tönte es seit dieser Stunde durch ihre Gedanken wie Zaubergeläut. Wer würde eine solche Narrheit für möglich halten? – und doch war es so. Aus der ganzen Erfahrung mit Nick Greene hatte sie nichts gelernt. Solche Namen übten auf sie noch immer den allerstärksten Reiz aus. An irgend etwas müssen wir Menschen ja vielleicht glauben, und da Orlando, wie gesagt, an die üblichen Gottheiten nicht glaubte, so schenkte sie ihre Gläubigkeit großen Männern – aber doch mit Unterschied. Seehelden, Soldaten, Staatsmänner ließen ihr Herz nicht im mindesten höher schlagen. Schon der bloße Gedanke an einen großen Schriftsteller aber steigerte sie in einen solchen Rausch des Glaubens hinein, daß sie beinahe glaubte, er müsse unsichtbar sein. Und da war sie von einem gesunden Gefühl geleitet. Man kann vielleicht nur an das ganz glauben, was man nicht sieht. Der flüchtige Anblick der drei großen Männer, den sie vom Deck des Schiffes aus gewonnen hatte, war wie ein Traumgesicht. Ja, sie zweifelte daran, daß die Tasse aus richtigem Porzellan und die Zeitung aus richtigem Papier gewesen sei. Als Lord O. eines Tages erzählte, er hätte am Abend zuvor mit Dryden gespeist, glaubte sie ihm das ganz einfach nicht. Nun stand Lady R.s Empfangssalon in dem hohen Ruf, der Vorraum zum Audienzsaal des Erhabenen zu sein; er war die Stätte, wo Männer und Frauen zusammenkamen und vor der Büste des Vergötterten (die in einer Wandnische stand) Weihrauchfässer schwangen und Hymnen sangen. Zuweilen geruhte der Gott höchstselbst für einen Augenblick anwesend zu sein. Wer Einlaß begehrte, wurde nach seiner Klugheit bewertet und beschieden, und drinnen, so hieß es, wurde nichts gesagt, das nicht voll Witzes war.

So betrat Orlando denn mit Zittern und Zagen das Zimmer. Sie fand bereits eine Gesellschaft im Halbkreis um das Feuer versammelt. Lady R., eine ältliche Dame von dunklem Teint, mit einer schwarzen Spitzenmantille auf dem Kopfe, saß in einem großen Lehnstuhl im Mittelpunkt. So konnte sie, obwohl sie ein bißchen schwerhörig war, nach beiden Seiten hin die Zügel der Unterhaltung führen. Diese beiden Seiten waren besetzt mit Herren und Damen von höchsten Rängen und Würden. Jeder der Herren, sagte man, war Premierminister gewesen, und jede der Damen, flüsterte man, war die Geliebte eines Königs gewesen. Sicher ist, daß alle miteinander Glanz verbreiteten und daß alle miteinander berühmt waren. Orlando nahm mit ehrfürchtigem Gruß stumm ihren Sitz ein – – – Nach drei Stunden knickste sie tief und entfernte sich.

Aber was – so mag uns der Leser verärgert fragen – geschah inzwischen? In drei Stunden muß eine solche Gesellschaft doch die witzigsten, die tiefsten, die hörenswertesten Dinge von der Welt gesagt haben! Ja, so mag man wohl meinen. In Wahrheit aber stellte sich heraus, daß sie gar nichts sagten. Das ist eine wunderliche Eigenart, die sie mit allen glanzvollsten Gesellschaften seit Anbeginn der Welt gemeinsam hat. Die alte Madame du Deffand und ihre Freunde redeten fünfzig Jahre lang ohne Aufhören. Und was ist bei alledem herausgekommen? Vielleicht drei witzige Aussprüche. Mithin dürfen wir ganz nach Belieben annehmen, daß entweder gar nichts gesagt wurde oder daß nichts Witziges gesagt wurde, oder daß die Zerraspelung dreier witziger Aussprüche achtzehntausendzweihundertfünfzig Abende dauerte, wobei dann natürlich auf keinen von ihnen ein irgendwie nennenswerter Anteil entfiel.

Die Wahrheit – wenn wir ein solches Wort in einem solchen Zusammenhang gebrauchen dürfen – möchte vielleicht die sein, daß alle diese Menschenansammlungen unter einem Zauber stehen. Die Gastgeberin ist dabei die Sibylle von heute. Sie ist eine Hexenmeisterin, die ihre Gäste mit einem Zauber bannt. Im einen Hause halten sie sich für glücklich; im anderen für witzig; im dritten für tief. Das ist nun ganz und gar Selbsttäuschung (womit durchaus nichts gegen Illusionen gesagt werden soll, denn sie sind die wertvollsten und notwendigsten Dinge der Welt, und wer eine Illusion zu erschaffen vermag, ist der größte Wohltäter der Menschheit), aber da, wie jedermann weiß, Illusionen beim Zusammenprall mit der Wirklichkeit in die Brüche gehen, so sind weder wirkliches Glück noch wirklicher Witz, noch wirkliche Tiefe gelitten, wo die Illusion herrscht. Hier haben wir die Erklärung, weshalb Madame du Deffand im Laufe von fünfzig Jahren nicht mehr als drei witzige Aussprüche tat. Hätte sie deren mehr getan, so wäre ihre Gesellschaft gesprengt worden. Wenn das Witzwort ihre Lippen verließ, mähte es die alltägliche Unterhaltung nieder, wie wenn eine Kanonenkugel die Veilchen und Gänseblümchen niederlegt. Als sie ihr berühmtes ›mot de Saint-Denis‹ sprach, wurde sogar das Gras versengt. Ernüchterung und Verzweiflung folgten. Kein Wort wurde laut. »Um des Himmels willen, Madame, ersparet uns ein zweites solches Wort!« riefen ihre Freunde einstimmig. Und sie gehorchte. Fast siebzehn Jahre lang sagte sie nichts Erinnernswertes, und alles ging gut. Illusion, die schöne Bettdecke, lag unzerrissen über ihrem Kreise – genau so, wie sie über dem Kreise der Lady R. lag. Die Gäste glaubten, sie wären glücklich, glaubten, sie wären witzig, glaubten, sie wären tief, und da sie selbst es glaubten, so glaubten es andere Leute noch fester; und so konnte man überall hören, daß es nichts Köstlicheres gäbe als eine solche Zusammenkunft bei Lady R.; jedermann beneidete diejenigen, die dort Zutritt hatten; die Zutritt hatten, beneideten sich selbst, weil andere sie beneideten; und so schien dessen kein Ende – bis eben doch das Ende kam, das wir hier berichten müssen.

Denn als Orlando zum dritten oder vierten Male da war, ereignete sich etwas. Sie war noch immer in dem Wahn, daß sie den geistreichsten Epigrammen der Welt lauschte – wenn auch in Wahrheit der alte General C. lediglich mit einiger Ausführlichkeit mitteilte, daß die Gicht sein linkes Bein verlassen hatte und in das rechte übergesiedelt war; während Mr. L. bei Erwähnung dieses oder jenes Namens jedesmal dazwischenfuhr: »R.? Oh! Billy R. kenne ich so gut wie mich selbst. S.? Mein bester Freund. T.? War vierzehn Tage in Yorkshire mit ihm beisammen!« – was aber (so groß ist die Macht der Illusion) wie die witzigste Wortparade, wie die tiefgründigste Bemerkung über das menschliche Leben klang und die Gesellschaft in lärmende Begeisterung versetzte. Da plötzlich tat sich die Tür auf, und es trat ein kleiner Herr ein, dessen Namen Orlando nicht verstehen konnte. Sogleich empfand sie ein merkwürdig unbehagliches Gefühl. Die anderen fühlten sich, nach ihren Gesichtern zu urteilen, nicht minder unbehaglich. Einer der Herren behauptete, es zöge. Die Marquise von C. äußerte die Befürchtung, unter dem Sofa säße eine Katze. Es war, als schlügen sie nach einem lieblichen Traum langsam die Augen auf und sähen nun nichts weiter vor sich als einen billigen Waschtisch und eine schmutzige Steppdecke. Es war, als wiche der berauschende Nebel eines köstlichen Weines langsam aus ihren Köpfen. Noch immer redete der General, und noch immer erinnerte Mr. L. sich aller Leute. Aber es wurde mehr und mehr offenbar, wie rot der Nacken des Generals war und wie kahl Mr. L.s Kopf war. Und was sie sagten – man konnte sich nichts Langweiligeres und Platteres vorstellen. Alle begannen nervös hin- und herzurücken, und wer einen Fächer hatte, gähnte dahinter. Schließlich begann Lady R. sogar mit dem ihren auf die Lehne des großen Sessels zu klopfen. Die beiden Herren verstummten.

Da sagte der kleine Herr:

Dann sagte er:

Und schließlich sagte er: Die Aussprüche sind allzu bekannt, als daß man sie hier zu wiederholen brauchte; auch finden sie sich ja alle in seinen veröffentlichten Werken.

Hier nun war, das läßt sich nicht leugnen, wirklicher Witz, wirkliches Wissen, wirkliche Tiefe. Blankes Entsetzen bemächtigte sich der Gesellschaft. Ein solcher Ausspruch war schon schlimm genug; aber gleich drei hintereinander, an ein und demselben Abend –! Das konnte keine Gesellschaft überleben.

»Mr. Pope«, sagte die alte Lady R., und ihre Stimme zitterte vor wütendem Hohn, »Sie gefallen sich in der Rolle des Witzboldes.« Mr. Pope bekam einen roten Kopf. Niemand sprach ein Wort. Wohl zwanzig Minuten saßen sie in tödlichem Schweigen. Dann erhoben sie sich, einer nach dem anderen, und schlichen aus dem Zimmer. Ob sie nach einer solchen Erfahrung jemals wiederkommen würden, war zweifelhaft. Man hörte, wie draußen die Fackelträger die ganze South Audley Street hinab nach den Kutschen riefen. Türen klappten zu, Wagen fuhren davon. Als Orlando sich auf der Treppe umsah, fand sie sich neben Mr. Pope. Sein hagerer, mißgestalteter Körper wurde von Erregungen der verschiedensten Art geschüttelt. Bosheit. Wut, Triumph, Genie, Angst schössen spitze Blitze aus seinen Augen; er zitterte wie ein Blatt im Wind. Er sah aus wie ein plattgedrückter Käfer, in dessen Stirn ein brennender Topas sitzt. Zugleich fühlte sich auch die unselige Orlando von dem wundersamsten Sturmwirbel der Erregung gepackt. Eine so vollständige Ernüchterung, wie sie ihr vor noch nicht einmal einer Stunde widerfahren war, bringt Gefühl und Gedanken in haltloses Taumeln. Alles erscheint zehnmal nackter und härter als zuvor. Ein solcher Augenblick birgt höchste Gefahr für den menschlichen Geist. In solchen Augenblicken nehmen Frauen den Nonnenschleier und Männer die Mönchskutte. In solchen Augenblicken schenken Reiche ihren Reichtum weg; und Glückliche schneiden sich mit Tranchiermessern die Kehle durch. Orlando hätte alles das ebenfalls willig getan; aber für sie gab es etwas noch Unbesonneneres, und das tat sie. Sie lud Mr. Pope ein, mit ihr zu fahren.

Denn ist es unbesonnen, ohne Waffen in die Höhle des Löwen zu gehen, unbesonnen, in einem Ruderboot auf den Atlantischen Ozean hinauszufahren, unbesonnen, auf dem Turm der Sankt-Pauls-Kathedrale auf einem Bein zu stehen, ist es doch noch unbesonnener, allein mit einem Dichter heimzufahren. Ein Dichter ist Atlantischer Ozean und Löwe in einem. Indessen uns der eine ersäuft, frißt uns der andere. Wenn wir den Zähnen lebend entrinnen, fallen wir den Wellen zum Opfer. Ein Mensch, der Illusionen zu zerstören vermag, ist beides in einem: Raubtier und Wasserflut. Illusionen sind für die Seele dasselbe wie die Luftschicht für die Erde. Nimm die zarte Lufthülle hinweg, und die Pflanze stirbt, die Farbe verblaßt: die Erde, auf der wir wandern, ist ein ausgedörrter Aschenhaufen. Auf Mergel tritt unser Fuß, und glühendheiße Steine versengen unsere Sohlen. Wahrheit ist unser Verderben. Das Leben ist ein Traum. Erwachen ist es, das uns tötet. Wer uns unserer Träume beraubt, der raubt uns unser Leben – (und so weiter, sechs Seiten lang, wenn's beliebt: aber der Stil dieser Betrachtung ist langweilig, und wir können genausogut damit aufhören).

Wenn alles das richtig wäre, so hätte Orlando nun freilich, als der Wagen vor ihrem Haus in Blackfriars vorfuhr, ein Häuflein Asche sein müssen. Daß sie, obzwar natürlich erschöpft, noch immer Fleisch und Blut war, verdankte sie ausschließlich einer Tatsache, auf die wir schon an einer früheren Stelle der Erzählung die Aufmerksamkeit gelenkt haben. Je weniger wir sehen, desto mehr glauben wir. Nun waren die Straßen zwischen Mayfair und Blackfriars zu jener Zeit nur sehr unvollkommen beleuchtet. Gewiß war die damalige Straßenbeleuchtung ein großer Fortschritt im Vergleich mit dem Elisabethanischen Zeitalter. Damals war der nächtliche Wanderer darauf angewiesen gewesen, daß ihn das Licht der Sterne oder das rote Flämmchen einer Nachtwächterlaterne vor den Sandgruben der Park Lane schützte – oder vor dem Eichenwald der Tottenham Court Road, wo die Schweine wühlten. Aber von dem heute Erreichten war der damalige Zustand doch noch weit entfernt. Laternenpfähle mit Öllampen darauf standen in Abständen von vielleicht zweihundert Yards, und dazwischen lag eine beträchtliche Strecke pechdunkler Finsternis. So fuhren Orlando und Mr. Pope zehn Minuten lang durch schwarze Nacht; und dann waren sie vielleicht eine halbe Minute lang im Licht. Dieser Wechsel erzeugte in Orlando eine sehr seltsame Stimmung. Wenn das Licht schwand, fühlte sie sich von dem köstlichsten Wohlgefühl überronnen. »Das ist wirklich und wahrhaftig eine hohe Ehre für eine junge Frau, mit Mr. Pope fahren zu dürfen«, sagte sie sich und betrachtete das Profil seiner Nase. »Ich bin die Glücklichste meines Geschlechts. Einen halben Zoll von mir entfernt – wahrhaftig, ich fühle, wie der Knoten seiner Knieschleife gegen meine Schenkel preßt – sitzt der genialste Witzkopf in Ihrer Majestät sämtlichen Ländern. Künftige Geschlechter werden mit Wißbegierde an uns denken und mich wie toll beneiden.« Hier nun kam wieder ein Laternenpfahl. »Was für ein närrisches Frauenzimmer bin ich doch!« dachte sie. »Ruhm und Glorie – so etwas gibt es ja gar nicht. Künftige Zeitalter werden weder für mich noch für Mr. Pope einen Gedanken übrig haben. Was ist das überhaupt – ein ›Zeitalter‹? Und was sind ›wir‹?« Nun kam ihr die Weiterfahrt durch Berkeley Square vor wie das Gekrabbel zweier blinder Ameisen, die, vom Zufall zueinandergeworfen, ohne irgendein zweck- und sinnhaftes Verbundensein durch eine pechfinstere Wüste tappen. Sie erschauerte. Aber nun war wieder Dunkelheit. Ihre Illusion lebte wieder auf. »Wie edel seine Stirn ist!« dachte sie (denn sie hielt einen Polsterbuckel in der Finsternis irrtümlichermaßen für Mr. Popes Stirn). »Was für ein Maß an Genie lebt darin! Wieviel Witz, Wissen und Wahrheit – was für ein reicher Schatz jener Kleinodien, gegen die wir Menschen bereitwillig unser Leben eintauschen! Dein ist das einzige Licht, das in alle Ewigkeit brennt. Ohne dich müßten die Menschen ihre irdische Pilgerfahrt in tiefster Finsternis durchmessen;« (hier sackte die Kutsche mit einem großen Plumps in eine ausgefahrene Wagenspur der Park Lane); »denn ohne das Genie wären wir verwirrt und verloren. O hehrster und hellster Glanz!« – solchermaßen redete sie das Wagenkissen an, als sie unter eine der Straßenlaternen am Berkeley Square kamen und sie den Irrtum gewahrte. Mr. Popes Stirn war nicht geräumiger als die anderer Leute. »Armseliger«, dachte sie, »wie hast du mich getäuscht! Ich habe diesen Polsterbuckel für deine Stirn gehalten. Wenn man dich bei Licht besieht – wie unedel, wie jämmerlich bist du dann! An deiner mißgestalteten und schwächlichen Erscheinung gibt es nichts Verehrenswertes, aber vieles, das Mitleid, ja tiefe Verachtung erweckt!«

Wieder waren sie im Finstern, und ihr Ärger legte sich, sobald sie vom dem Dichter nichts mehr sah als seine Knie.

»Nein, ich bin es, die geschmäht zu werden verdient«, sagte sie, als es wieder völlig dunkel um sie her war. »Denn magst du auch jämmerlich sein – bin ich nicht noch viel jämmerlicher? Du bist es, der mich nährt und schützt, du scheuchst die Bestien vor dir her, du bist der Schrecken der Wilden, du webst mir Kleider aus des Seidenwurms Gespinst und Decken aus der Wolle des Schafes. Wenn mich danach verlangt, verehren zu können – hast du mir nicht ein Bildnis von dir gegeben und es an den Himmel gesetzt? Erblicke ich nicht überall Beweise deiner Fürsorge? Wie sehr demütig, wie sehr dankbar, wie gelehrig sollte ich darum sein! So laß es denn meine höchste Freude auf Erden sein, dir zu dienen, dich zu ehren, dir zu gehorchen.«

Hier erreichten sie den großen Laternenpfahl an der Ecke, wo heute Piccadilly Circus ist. Grelles Licht traf ihre Augen, und sie gewahrte, außer ein paar heruntergekommenen Geschöpfen ihres eigenen Geschlechtes, zwei jämmerliche Zwerge in trostloser Einöde. Beide waren nackt, einsam und wehrlos. Keiner vermochte dem anderen zu helfen. Jeder hatte genug zu tun, wenn er für sich selbst sorgen wollte. Sie sah Mr. Pope gerade ins Gesicht. »Wenn du meinst, daß du mich schützen kannst, so ist das eitel«, dachte sie, »und wenn ich meine, daß ich dich verehren kann, so ist das gleichermaßen eitel. Das Licht der Wahrheit schlägt schattenlos auf uns nieder, und das Licht der Wahrheit ist für uns alle beide verflixt unbekömmlich.«

Während dieser ganzen Zeit unterhielten sie sich natürlich höchst angenehm, wie es Leute von Rang und Welt tun: über die Reizbarkeit der Königin und die Gicht des Premierministers; und die Kutsche fuhr durch Licht und Finsternis, Licht und Finsternis über den Haymarket, die Strand entlang, Fleet Street hinauf – und kam schließlich vor Orlandos Haus in Blackfriars an. Während der letzten Fahrtspanne waren die dunklen Strecken zwischen den Laternen heller und die Laternen selbst dunkler geworden – mit anderen Worten: die Sonne ging auf; und so herrschte, als sie ausstiegen, die gleichmäßige, aber alle Deutlichkeit aufhebende Beleuchtung eines Sommermorgens, in der man alles sehen, aber nichts klar unterscheiden kann. Mr. Pope half Orlando aus dem Wagen, und Orlando nötigte Mr. Pope mit höflichen Gesten, in das Haus voranzugehen. Das alles vollzog sich unter peinlichst genauer Beobachtung des vorgeschriebenen Rituals.

Aus dem Vorhergehenden darf man nun freilich nicht schließen, daß das Genie (die Krankheit des Genialseins ist jetzt auf den Britischen Inseln erloschen; der verewigte Lord Tennyson ist, sagt man, der letzte gewesen, der daran gelitten hat) – daß das Genie ständig brennt und leuchtet, denn dann vermöchten wir alles deutlich zu erblicken und verlören bei dieser Prozedur vielleicht durch Verbrennung unser Leben. Vielmehr gleicht es in seiner Wirkungsweise dem Leuchtturm, der einen Strahl entsendet und dann eine Zeitlang aussetzt; nur ist das Genie launischer in der Hervorbringung seiner Lichtwirkungen und läßt vielleicht (wie Mr. Pope es in jener Nacht tat) sechs oder sieben Strahlen rasch hintereinander aufblitzen, um dann auf ein Jahr oder für immer in Finsternis zu versinken. Infolgedessen ist es unmöglich, nach seinem Licht zu steuern, und wenn die dunkle Periode dran ist, kann man, heißt es, einen genialen Menschen von einem gewöhnlichen kaum unterscheiden.

Es war ein Glück für Orlando, daß es sich so verhält, wenn sie zuerst auch enttäuscht war; denn sie verbrachte jetzt viel Zeit in der Gesellschaft genialer Männer. Aber sie waren, wie Orlando herausfand, gar nicht so sehr viel anders als die anderen. Es stellte sich heraus, daß Addison, Pope und Swift gern Tee tranken. Sie saßen gern in Lauben. Sie sammelten Stückchen farbigen Glases. Sie waren vernarrt in Gartengrotten. Irdischer Rang war ihnen keineswegs verhaßt. Lobpreisung hörten sie von Herzen gern. Sie trugen an einem Tag pflaumenblaue Anzüge und am nächsten graue. Mr. Swift besaß ein schönes Malakkarohr. Mr. Addison parfümierte seine Taschentücher. Mr. Pope litt an Kopfschmerzen. Ein bißchen Klatsch war ihnen mitnichten unwillkommen. Auch waren sie keineswegs frei von Eifersüchteleien. (Wir zeichnen hier kunterbunt ein paar Beobachtungen auf, wie Orlando sie anstellte.) Zuerst ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie solche Kleinigkeiten überhaupt bemerkte, und legte sich ein Buch zurecht, um die denkwürdigen Aussprüche der Herren aufzuzeichnen; aber die Seiten blieben leer. Dennoch fühlte sie sich belebt und angeregt, und sie begann sogar die Einladungskarten zu großen Abendgesellschaften zu zerreißen; hielt sich die Abende frei; erkannte, daß sie sich auf die Besuche Mr. Popes. Mr. Addisons, Mr. Swifts und so weiter freute. Wenn der Leser sich hier an den ›Lockenraub‹, an den ›Spectator‹, an ›Gullivers Reisen‹ erinnern will, so wird er genau begreifen, was mit diesen geheimnisvollen Worten gesagt sein soll. Wir behaupten sogar, daß Biographen und Kritiker sich ihre ganze Arbeit sparen könnten, wenn die Leser nur nach diesem Ratschlag handeln wollten. Denn wenn wir lesen:

›Ob die Schöne achtet nicht Dianens Norm,
ein Riß entstellt der zarten Vase Form,
befleckt die Ehr, so neu, auch den Brokat,
vergißt Gebet, versäumt die Maskerad,
verliert ihr Herz, das Halsband auf dem Ball – –‹

– so kennen wir Mr. Pope, als ob wir ihn vor uns sähen: wie seine Zunge gleich einer Eidechsenzunge in flinkem Gezuck hüpfte, wie seine Augen Blitze schossen, wie seine Hände zitterten, wie er liebte, wie er log, wie er litt. Kurz: jedes Geheimnis in eines Schriftstellers Seele, jedes Erlebnis seines Daseins, jede Eigenschaft seines Geistes ist groß und deutlich in seinen Schriften abgebildet; und doch brauchen wir Kritiker und Biographen, um alles das zu erklären und auszudeuten.

Da wir nun also eine oder zwei Seiten aus dem ›Lockenraub‹ gelesen haben, wissen wir ganz genau, weshalb Orlando an jenem Nachmittag so sehr belustigt und so sehr erschrocken war, weshalb ihre Wangen so glühten und ihre Augen so hell leuchteten.

Sodann klopfte Mrs. Nelly an die Tür, um zu melden, daß Mr. Addison draußen sei, um Mylady seine Aufwartung zu machen. Worauf Mr. Pope mit schiefgezogenem Mund lächelte, sich erhob, seine Abschiedsverbeugung machte und hinaushinkte. Herein aber kam Mr. Addison. Wir wollen, während er Platz nimmt, die folgende Stelle aus dem ›Spectator‹ lesen:

›In meinen Augen ist die Frau ein schönes, märchenhaftes Tier, das mit Pelzen und Federn, Perlen und Diamanten, edlen Metallen und Seide geschmückt werden mag. Der Luchs soll ihr sein Fell zu Füßen legen, auf daß es ihr als Pelzkragen diene; Pfau, Papagei und Schwan sollen Tribut zahlen für ihren Muff; das Meer soll nach Muscheln und der Fels nach Edelsteinen durchsucht werden, die Natur soll aus allen Teilen der Schöpfung ihr Kostbarstes liefern zur Verschönerung eines Geschöpfes, das die Bekrönung ihres Werkes ist. In alldem will ich ihnen gern willfahren, aber was den Unterrock betrifft, von dem ich vorhin sprach, den kann und will ich nicht gutheißen.‹

Da haben wir nun also den Herrn auf unserer Handfläche, mitsamt seinem Dreispitz und allem. Seht noch einmal durch das Vergrößerungsglas! Ist er nicht klar und deutlich bis zur Falte im Strumpf? Liegt nicht jedes Wellengekräusel und jedes Bogenschlagen seines Witzes offen vor unseren Blicken da und sein gütiges Wesen und seine Schüchternheit und seine gesittete Höflichkeit und die Tatsache, daß er eine Gräfin heiraten und schließlich einmal als höchst angesehener Mann sterben würde? Alles das ist offenbar. Und wenn Mr. Addison sein Sprüchlein aufgesagt hat, tut einer draußen einen furchterregenden Hieb gegen die Tür, und Mr. Swift, der mit solchen unvernünftigen Umgangsformen behaftet ist, tritt unangemeldet ein. Einen Augenblick – wo haben wir ›Gullivers Reisen‹? Ah, da sind sie ja! Lesen wir einen Abschnitt aus der Reise zu den Houyhnhnms:

›Ich erfreute mich vollkommener Gesundheit des Körpers und vollkommener Gemütsruhe; ich stieß weder auf die Verräterei oder Wankelmütigkeit eines Freundes noch auf die Schädigungen durch einen geheimen oder offenen Feind. Ich hatte keine Gelegenheit zum Bestechen, Schmeicheln und Kuppeln, um mir eines großen Mannes oder seines Günstlings Gewogenheit zu verschaffen. Ich brauchte keinen Schutz gegen Betrug oder Unterdrückung; hier gab es weder einen Arzt, der meinen Körper entzwei machte, noch einen Rechtsanwalt, der mein Vermögen zerrüttete; keinen Ohrenbläser, der gegen Sold meine Worte und Handlungen bespitzelte und Anklagen gegen mich schmiedete; hier gab es keine Verhöhner, Bekrittler, Verleumder, Taschendiebe, Straßenräuber, Einbrecher, Advokaten, Zuhälter, Possenreißer, Spieler, Politiker, Spaßmacher, milzsüchtige langweilige Schwätzer – –‹

Aber halt ein, halt ein mit dem Eisenhagel deiner Worte, sonst fetzt er uns allen bei lebendigem Leibe die Haut herunter und dir selbst dazu! Nichts kann deutlicher erkennbar sein als dieser Gewaltmensch. Er ist so ungestüm und doch so sauber; so rauh und doch so gütig; er schmäht die ganze Welt und plaudert mit einem kleinen Mädchen in der Kindersprache; und er wird – wer kann daran zweifeln? – im Tollhaus sterben.

So schenkte Orlando Tee aus für sie alle; und zuweilen, bei schönem Wetter, fuhr sie sie in ihrem Wagen hinaus aufs Land und bewirtete sie mit königlicher Festlichkeit im Runden Saal, wo sie ihrer aller Bildnisse in einem Kreis aufgehängt hatte, so daß Mr. Pope nicht sagen konnte, Mr. Addison käme vor ihm, und umgekehrt. Sie waren auch alle sehr witzig (aber ihr Witz ist ja ganz und gar in ihren Büchern enthalten) und lehrten sie den wichtigsten Teil der Stilkunst, nämlich den natürlichen Klang und Gang der Stimme beim Sprechen – eine Fähigkeit und Fertigkeit, die niemand nachahmen kann, wenn er sie nicht gehört hat, auch Mr. Greene nicht, allen seinen Gaben zum Trotz; denn sie ist eine Tochter der Luft, sie bricht sich wie eine Welle an den Möbeln, sie rollt und schwindet dahin und kann niemals wieder eingefangen werden, am wenigsten von denen, die es ein halbes Jahrhundert später mit gespitzten Ohren versuchen. Dies lehrten sie Orlando, und zwar lediglich durch den Tonfall ihrer Stimmen im Gespräch; so daß Orlandos Stil sich merklich wandelte und sie damals ein paar höchst angenehm lesbare, witzige Verse und Prosaschilderungen schrieb. Und also verschwendete sie ihren Wein an sie und legte ihnen beim Dinner Banknoten unter den Teller, die sie sehr freundlich entgegennahmen, und ließ sich ihre Bücher widmen und dünkte sich bei dem Tausch hoch geehrt. Darüber verging die Zeit, und man konnte oftmals hören, wie Orlando mit einer Betonung, die den Lauscher vielleicht ein wenig argwöhnisch hätte machen können, zu sich selber sagte: »Bei meiner Seele, welch ein Leben ist das!« (Denn sie war noch immer auf der Suche nach diesem Artikel.) Aber die Verhältnisse zwangen sie bald, die Sache etwas gründlicher zu bedenken.

Eines Tages bewirtete sie Mr. Pope mit Tee. Er saß, wie jedermann aus den oben mitgeteilten Versen entnehmen kann, mit sehr klugen hellen Augen, sehr aufmerksam und ganz und gar verkrümmt in einem Stuhl ihr zur Seite.

›Himmel‹, so dachte sie, während sie die Zuckerzange aufnahm, ›wie werden die Frauen in künftigen Zeiten mich beneiden! Und doch – –‹ Hier hielt sie inne; denn Mr. Pope nahm ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Und doch (wir wollen den Gedanken für sie zu Ende denken) wenn jemand sagt: ›Wie werden künftige Geschlechter mich beneiden!‹, so kann man getrost sagen, daß er sich im gegenwärtigen Augenblick äußerst unbehaglich fühlt. War diese Art des Lebens wirklich ganz so aufregend, ganz so schmeichelhaft, ganz so großartig, wie es klingt, wenn es durch die Arbeitsmühle des Biographen gegangen ist? Zunächst einmal: Orlando hatte eine ausgesprochene Abneigung gegen Tee; sodann: der Verstand, mag er auch göttlich und tiefster Verehrung würdig sein, siedelt sich gern in den elendesten Körpergebäuden an und spielt leider oft den Kannibalen unter den anderen Eigenschaften; so daß oft dort, wo er am größten ist, das Herz, die Sinne, Großmut, Nächstenliebe, Duldsamkeit, Freundlichkeit und dergleichen kaum Raum zum Atmen haben. Und dann die hohe Meinung, die so ein Dichter von sich selber hat; und dann die niedrige Meinung, die er von anderen hat; die Feindschaften, Ränke, Neidereien und Federfechtereien, in die sie ständig verstrickt sind; und dann die Zungenfertigkeit, mit der sie das alles erzählen; und die erpresserische Dringlichkeit, mit der sie verlangen, daß man für sie Partei nimmt; alles dies (wir sagen das im Flüsterton, damit die Witzköpfe nicht mithören können), macht die Bewirtung mit Tee zu einer heikleren und schwierigeren Beschäftigung, als gemeinhin zugegeben wird. Es kommt hinzu (dies abermals im Flüsterton, damit die Frauen nicht mithören können), daß es ein kleines Geheimnis gibt, das nur von Mann zu Mann weitergesagt wird; Lord Chesterfield flüsterte es seinem Sohne zu und schärfte ihm strengste Verschwiegenheit ein: »Frauen sind weiter nichts als größere Kinder – – Ein verständiger Mann tändelt nur mit ihnen, spielt mit ihnen, läßt ihnen ihre Launen und schmeichelt ihnen!« eine Weisheit, die doch wohl irgendwie durchgesickert sein muß, da Kinder ja immer gerade das hören, was sie nicht hören sollen und da sie zuweilen sogar erwachsene Menschen werden; so daß der ganze feierliche Vorgang der Teebewirtung eine merkwürdige Sache ist. Denn eine Frau weiß sehr wohl: wenn so ein erlauchter Geist ihr auch seine Gedichte schickt, ihr Urteil preist, um ihre Kritik bittet und ihren Tee trinkt, so bedeutet das noch keineswegs, daß er ihre Meinung achtet und ihr Verständnis bewundert; ja, er wird, wenn auch der Degen ihm verwehrt ist, es keineswegs verschmähen, ihr seine Feder durch den Leib zu rennen. All das, sagen, flüstern wir, so leise wir können, ist möglichenfalls irgendwie durchgesickert, so daß die Damen vielleicht gar mit erhobenem Sahnekännchen und ausgestreckter Zuckerzange ein bißchen hin- und herrücken, ein bißchen aus dem Fenster sehen, ein bißchen gähnen und so den Zucker mit einem großen Plumps – wie Orlando es jetzt tat – in Mr. Popes Tee fallen lassen. Nie aber war ein Sterblicher dermaßen bereit, eine Beleidigung zu argwöhnen, und dermaßen rasch bei der Hand, sich dafür zu rächen, wie Mr. Pope. Er wandte sich Orlando zu und beschenkte sie unverweilt mit der Rohform einer gewissen berühmten Zeile aus der ›Wesensart der Frauen‹. Sie ist hinterher noch sehr geglättet und geschliffen worden, aber schon in der Urfassung traf sie scharf genug. Orlando nahm sie mit einem Knicks entgegen. Mr. Pope verabschiedete sich mit einer Verbeugung. Orlando schlenderte in den Nußbaumhain am Ende des Gartens hinaus, um ihre Wangen zu kühlen, denn ihr war wirklich zumute, als hätte der kleine Mann sie geschlagen. Bald tat die kühle Brise ihre Wirkung. Zu ihrem Erstaunen bereitete ihr das Gefühl des Alleinseins eine ungeheure Erleichterung. Orlando sah dem fröhlichen Volk zu, das in Booten flußaufwärts ruderte. Gewiß hat der Anblick diese oder jene Erinnerung an ihr vergangenes Leben in ihr geweckt. In tiefen Gedanken ließ sie sich unter einem schönen Weidenbaum nieder. Da saß sie, bis die Sterne am Himmel glänzten. Dann stand sie auf, wandte sich und kehrte ins Haus zurück, wo sie sich in ihr Schlafzimmer begab und die Tür hinter sich abschloß. Nun öffnete sie einen Schrank, in dem noch mancherlei Kleider hingen, die sie als eleganter junger Mann getragen hatte; daraus wählte sie einen schwarzen Samtanzug, der reich mit venezianischer Spitze besetzt war. Er war freilich ein wenig aus der Mode, aber er saß ihr wie angegossen und verlieh ihr ganz und gar das Aussehen eines vornehmen Herrn. Sie ging noch ein paarmal vor dem Spiegel hin und her, um sich zu vergewissern, daß ihre Beine in den Röcken nicht das freie Schreiten verlernt hatten, und verließ dann heimlich das Haus.

Es war ein schöner Abend Anfang April. Ein ungezähltes Heer von Sternen mischte sein Licht mit dem des Sichelmondes, die Straßenlaternen taten das ihrige hinzu, und dieses dreifache Licht stand den Menschen sehr vorteilhaft zu Gesicht und war auch für Mr. Wrens Bauschöpfungen höchst günstig. Alles erschien unendlich weich und zart; aber wenn es, sich auflösend, zerrinnen wollte, floß ein Silbertropfen hinein und gab ihm den schärferen Umriß beseelten Lebens. Geradeso sollte es mit dem Gespräch stehen, dachte Orlando (die sich närrischen Träumereien hingab); so sollte es mit der Gesellschaft, so mit der Freundschaft, so mit der Liebe stehen. Denn warum das so ist, mag der Himmel wissen – aber wenn wir gerade eben den Glauben an eine menschliche Gemeinschaft verloren haben, ist flugs eine zufällige Anhäufung von Ställen und Bäumen oder ein Heuschober mit einem Wagen als Sinnbild des Unerlangbaren da und verführt uns zu erneutem Suchen.

Es geschah am Eingang des Leicester Square, daß ihr diese Gedanken kamen. Die Gebäude hatten eine luftig leichte und doch streng geordnete Regelmäßigkeit, wie sie ihnen bei Tage fehlte. Der Himmelsbaldachin sah aus, als wäre er von meisterlich geschickter Hand in die Umrisse von Dach und Kamin hineingetuscht worden. Auf einer Bank unter einer Platane inmitten des Platzes saß eine junge Frau, in mutloser Haltung; der eine Arm hing schlaff hernieder, der andere ruhte im Schoß; und sie sah aus wie die verkörperte Anmut, Schlichtheit und Verzweiflung. Orlando zog vor ihr mit weitem Schwung den Hut, wie ein Kavalier bei einer Begegnung in der Öffentlichkeit eine vornehme Dame grüßt. Die junge Frau hob den Kopf. Er war von der zartesten und edelsten Form. Die junge Frau hob den Blick. Orlando sah, daß ihre Augen einen schimmernden Glanz hatten, wie man ihn wohl zuweilen auf Teekannen findet, selten aber in Menschenangesichtern. Durch diese silberne Glasur blickte die junge Frau zu ihm auf (denn für sie war Orlando ja ein Mann), flehend, hoffend, zitternd, voll Angst. Sie erhob sich; sie nahm seinen dargebotenen Arm. Denn – brauchen wir das wirklich noch zu betonen? – sie gehörte zu der Zunft, die abends ihre Waren glänzend aufpoliert und in der öffentlichen Auslage zur Schau stellt, um sie an den Höchstbietenden loszuschlagen. Sie führte Orlando in das Zimmer in der Gerrard Street, wo sie wohnte. Wie sie da leicht, einer Schutzsuchenden gleich, an ihrem Arme hing, erwachten in Orlando alle Gefühle, wie sie sich für einen Mann gehören. Sie sah aus, sie empfand, sie redete wie ein Mann. Und doch: da sie selbst vor so kurzer Zeit noch eine Frau gewesen war, argwöhnte sie, daß des Mädchens Schüchternheit, seine zögernden Antworten, ja, das Herumgestocher mit dem Schlüssel im Schlüsselloch, die Art, wie es den Mantel um sich schlug, die Haltung des Handgelenks – daß alles dies nur darauf abzielte, ihrer Mannheit zu gefallen. Sie stiegen die Treppe hinan, und die Mühe, die das arme Geschöpf darauf verwandt hatte, das Zimmer herauszuputzen und die Tatsache zu verhehlen, daß es ihr einziges war, vermochte Orlando nicht einen Augenblick zu täuschen. Die Täuschung erweckte ihren Ärger; die Wahrheit erweckte ihr Mitleid. Und wie das eine durch das andere hindurchschimmerte, ergab es die wunderlichste Gefühlsmischung, so daß Orlando nicht wußte, ob sie lachen oder weinen sollte. Mittlerweile knöpfte Nell – so hieß das Mädchen – ihre Handschuhe auf; verbarg sorgsam den linken Daumen, der gestopft werden mußte; zog sich dann hinter einen Wandschirm zurück, wo sie vielleicht Rot auf ihre Wangen legte, ihre Kleider in Ordnung brachte, ein frisches Tuch um den Hals band – wobei sie nach Frauenart immerzu schwatzte, um ihren Liebhaber zu unterhalten, obwohl Orlando nach dem Ton ihrer Stimme hätte schwören mögen, daß ihre Gedanken anderswo waren. Als alles fertig war, kam sie zum Vorschein, bereit – aber hier konnte Orlando das alles nicht länger ertragen. Im wunderlichsten Wirbelsturm von Ärger, Heiterkeit und Mitleid warf sie die Maske ab und gab sich als Frau zu erkennen. – Da nun brach Nell in ein so schallendes Gelächter aus, daß man es auf der anderen Straßenseite hätte hören können.

»Na, meine Liebe«, sagte sie, als sie sich ein wenig erholt hatte, »ich bin verflixt gar nicht böse über die Neuigkeit. Denn die blanke Wahrheit ist« (und es war bemerkenswert, wie rasch ihr ganzes Benehmen sich wandelte und sie ihre wehklagende, flehende Art fallen ließ, als sie entdeckte, daß ihr Besucher eine Besucherin war), »die blanke Wahrheit ist, daß ich heute abend gar nicht in der Stimmung bin, wo ich Appetit aufs andere Geschlecht habe. Ich sitze nämlich ganz schön verteufelt in der Tinte.« Worauf sie das Feuer schürte, einen Punsch braute und Orlando ihre ganze Lebensgeschichte erzählte. Da wir uns indessen augenblicklich mit Orlandos Leben beschäftigen, brauchen wir die Abenteuer der anderen Dame nicht zu berichten; doch ist gewiß, daß der Zuhörerin die Stunden niemals rascher und fröhlicher dahingeflogen waren, obwohl Mistress Nell nicht das leiseste Fünkchen ›Witz‹ hatte und bei zufälliger Erwähnung des Namens Pope wissen wollte, ob er mit dem Perückenmacher gleichen Namens aus der Jermyn Street verwandt wäre. Und doch: so groß ist der Reiz ungezwungener Art und die Verführungskraft der Schönheit, daß Orlando die Erzählung dieses armen Mädchens, sosehr ihre Rede auch mit den gemeinsten Gassenausdrücken gespickt war, wie Wein schmeckte nach allen den schönen Phrasen, an die sie gewöhnt war; und sie sah sich zu dem Schluß gezwungen, daß in dem spitzen Spott Mr. Popes, in der freundlichen Herablassung Mr. Addisons und im Geheimnis Mr. Chesterfields ein gewissen Etwas sei, das ihr den Geschmack an der Gesellschaft von Geistesgrößen verdarb, sosehr sie auch weiterhin Hochachtung von ihren Werken empfand.

Es stellte sich heraus, daß diese armen Geschöpfe (denn Neil brachte Prue herbei, und Prue holte Kitty, und Kitty holte Rose) ihre eigene ›Gesellschaft‹ hatten, zu deren Mitglied Orlando nun erwählt wurde. Jede gab nun die Abenteuer zum besten, durch die sie ›auf den jetzigen Weg gebracht worden war‹. Etliche waren die natürlichen Töchter von Grafen, und eine stand sogar des Königs höchsteigener Person ein gut Teil näher, als sie hätte sollen. Jede von ihnen, mochte sie noch so heruntergekommen und arm sein, besaß irgendeinen Ring oder ein Taschentuch, die hier die Stelle einer Stammtafel vertraten. So sammelten sie sich denn um die Punschbowle, deren Spendung Orlando großmütig übernahm, und mannigfach waren die spannenden Geschichten, die sie erzählten, und mannigfach die erheiternden Bemerkungen, die sie machten; denn es ist nicht zu leugnen: wenn Frauen unter sich sind – aber psst; sie achten immer sorgsam darauf, daß die Türen geschlossen sind und daß nicht ein Wort ihres Gesprächs der Druckerschwärze verfällt. Alles, wonach es sie verlangt, ist – aber nochmals psst! Klingt da nicht ein Männerschritt auf der Treppe? Gerade wollten wir das einzige verraten, wonach es sie verlangt, als der Herr da uns buchstäblich das Wort aus dem Munde nahm. Frauen haben überhaupt gar kein Verlangen irgendwelcher Art, behauptet besagter Herr, der in Nells Wohnzimmer kommt; sie haben nur Neigungen. Ohne Verlangen aber (sie hat ihn bedient, und er ist gegangen) hat ihr Gespräch für niemanden irgendwelchen Reiz. »Jedermann weiß«, sagt Mr. S. W., »daß Frauen, wenn ihnen die anregende Aufmunterung durch das andere Geschlecht fehlt, nichts zueinander zu sagen wissen. Wenn Frauen unter sich sind, reden sie nicht, sie kratzen.« Da sie nun also nicht miteinander reden können und da ein ununterbrochenes Kratzen nicht möglich ist, da ferner bekannt ist (Mr. T. R. hat es nachgewiesen), ›daß Frauen jedes Gefühls der Zuneigung für ihr eigenes Geschlecht unfähig sind und gegeneinander die größte Abneigung empfinden‹ – was könnte da unsere Vermutung wohl von den Frauen erwarten, wenn sie die Gesellschaft ihres eigenen Geschlechtes suchen?

Da dies nun keine Frage ist, die eines vernünftigen Mannes Aufmerksamkeit zu fesseln vermöchte, so wollen wir, die wir uns wie alle Biographen und Historiker zu unserer Freude von jeglicher Geschlechtszugehörigkeit unabhängig wissen, sie übergehen und lediglich die Tatsache festhalten, daß Orlando sich der Gesellschaft ihres eigenen Geschlechtes von Herzen freute; den Herren aber wollen wir es überlassen, zu beweisen, daß das unmöglich sei – was sie liebend gern tun werden.

Aber es stellt sich mehr und mehr als unmöglich heraus, von Orlandos Leben zu jener Zeit einen genauen und ins einzelne gehenden Bericht zu geben. Wenn wir die schlecht beleuchteten, schlecht gepflasterten, schlecht gelüfteten Höfe durchspähen und durchstöbern, die damals um Gerrard Street und Drury Lane lagen, so meinen wir hier und da ihren Anblick zu erhaschen – um ihn gleich wieder zu verlieren. Die Aufgabe wird noch erschwert durch die Tatsache, daß sie es in jenen Tagen für angebracht hielt, häufig die Kleider zu wechseln – das heißt: bald in Männer-, bald in Frauenkleidern zu gehen. So tritt sie uns oft in zeitgenössischen Memoirenbüchern als ›Lord Soundso‹ entgegen, der in Wahrheit ihr Vetter war; ihre Freigebigkeit wurde ihm angerechnet, und ihm wurden die Gedichte zugeschrieben, die tatsächlich sie verfaßt hat. Es fiel ihr, scheint es, nicht schwer, die beiden verschiedenen Rollen zu spielen, denn sie wechselte weit häufiger das Geschlecht, als es Menschen, die ihr Leben lang nur eine Kleidungsart getragen haben, fassen können; auch kann keinen Augenblick zweifelhaft sein, daß sie durch ihren Kunstgriff doppelte Ernte einbrachte; die Freuden des Lebens waren vermehrt und seine Erlebnisse vervielfacht. Sie wechselte ab zwischen der Aufrichtigkeit der Kniehosen und der Verführungskraft der Röcke und erfreute sich gleichermaßen der Liebe beider Geschlechter.

So mag man sich denn ausmalen, wie sie den Morgen in einem chinesischen Gewand von zwiegeschlechtigem Schnitt inmitten ihrer Bücher verbrachte; wie sie dann in demselben Gewand einen oder zwei Schützlinge empfing (denn sie hatte viele Dutzende von Bittstellern); dann sich im Garten erging und die Nußbäume beschnitt – eine Tätigkeit, für die Kniehosen die angemessene Tracht waren; dann ein geblümtes Taftkleid wählte, das am besten für eine Fahrt nach Richmond und den Heiratsantrag irgendeines großen Edelmannes paßte; zur Stadt zurückfuhr, wo sie dann wohl ein schnupftabakfarbenes Gewand anzog, das ihr das Aussehen eines Rechtsanwalts gab, und die Gerichtshöfe besuchte, um zu hören, wie ihre Prozesse standen – denn ihr Vermögen schmolz stündlich dahin, und die Klagesachen waren der Entscheidung augenscheinlich nicht näher, als sie es vor hundert Jahren gewesen waren. Schließlich, am Abend, geschah zumeist mit ihr eine neue Verwandlung: sie wurde von Kopf zu Fuß ein Edelmann und ging in den Straßen auf die Abenteuersuche.

Wenn sie von einem dieser Ausflüge heimkehrte – von denen damals mancherlei Geschichten erzählt wurden, zum Beispiel, daß sie sich duelliert habe, daß sie ein Schiff des Königs als Kapitän geführt habe, daß man sie nackt auf einem Balkon habe tanzen sehen, daß sie mit einer Dame der Gesellschaft in die Niederlande ausgerückt sei, wohin der Ehemann der Dame den beiden folgte; wobei wir über den Wahrheitsgehalt dieser Geschichten keinerlei Ansicht äußern wollen – wenn sie von solchen wie immer gearteten Betätigungen heimkehrte, so ging sie zuweilen mit wohlbedachter Absicht unter den Fenstern eines Kaffeehauses dahin, wo sie die literarischen Größen sehen konnte, ohne ihrerseits gesehen zu werden, und sich also nach ihren Gebärden die klugen, witzigen oder boshaften Dinge vorstellen konnte, die jene da oben sagten – ohne daß sie auch nur ein Wort davon hörte; was vielleicht von Vorteil war; und einmal stand sie eine halbe Stunde lang vor einem Hause in Bolt Court und beobachtete drei teetrinkende Schatten auf einem Fenstervorhang.

Nie hatte ein Spiel sie so ganz gefangengenommen. Am liebsten hätte sie laut gerufen: ›Bravo! Bravo!‹ Denn wahrlich, welch eine köstliches Schauspiel war das – welch eine Seite, herausgerissen aus dem dicksten Band menschlicher Lebensgeschichte! Da war der kleine Schatten mit den aufgeworfenen Lippen, der unruhig auf seinem Stuhl hin- und herrückte, unbehaglich, launisch, mit aufdringlichen Gebärden; da war der gebückte Schatten einer Frau, der einen krummen Finger in die Tasse tauchte, um zu fühlen, wie tief der Tee war, denn die Frau war blind; und da war der römerhaft aussehende Schatten, der sich in dem großen Lehnstuhl hin- und herwälzte der die Finger so seltsam verrenkte und den Kopf von einer Seite auf die andere warf und den Tee in so gewaltigen Schlucken hinunterschüttete. Dr. Johnson, Mr. Boswell, Mrs. Williams – das waren die Namen der Schatten. So versunken war sie in den Anblick, daß sie ganz darüber nachzudenken vergaß, wie sehr spätere Geschlechter sie beneiden würden; obwohl es in diesem Falle durchaus wahrscheinlich ist. Ihr war es genug, zu schauen und immer nur zu schauen. Schließlich stand Mr. Boswell auf. Er grüßte die alte Frau mit mürrischer Rauheit. Aber mit welcher Demut katzbuckelte er vor dem großen Römerschatten, der sich jetzt zu seiner vollen Höhe aufreckte und, im Stehen ein wenig auf den Sohlen schaukelnd, nun die prachtvollsten Sätze über die Lippen rollte, die je aus einem Menschenmunde gekommen sind; so wenigstens stellte Orlando sie sich vor, obwohl sie kein einziges Wort hörte von dem, was die drei teetrinkenden Schatten sagten.

Eines Nachts kam sie von einem dieser Streifzüge heim und ging hinauf in ihr Schlafzimmer. Sie zog den verschnürten Rock aus und stellte sich, in Hemd und Kniehosen, ans Fenster, um hinauszublicken. Es war etwas Erregendes in der Luft, das sie davon abhielt, sich schlafen zu legen. Ein dünner weißer Nebel lag über der Stadt, denn es war eine Frostnacht im Mittwinter, und ein großartiges Bild breitete sich vor Orlando aus. Sie sah die Sankt-Pauls-Kathedrale, den Tower, Westminster Abbey, sah alle Spitztürme und Kuppeln der Kirchen, sah den sanften Schwung der Höhen und Uferhügel, sah die prachtvoll und groß geschwungenen Kurven der Stadtgebäude und öffentlichen Plätze. Im Norden wuchsen die sanften, kahlen Höhen von Hampstead auf, im Westen leuchteten die Straßen und Plätze von Mayfair in klarem Glanze. Auf dieses helle, heitere, wohlgeordnete Bild blickten die Sterne herab, glitzernd, mit nachdrücklicher Deutlichkeit, hart, aus einem wolkenlosen Himmel. In der vollkommenen Klarheit der Luft war der Umriß eines jeden Daches, die Kappe eines jeden Schornsteins wahrnehmbar; sogar die einzelnen Steine im Katzenkopfpflaster der Straßen konnte man unterscheiden, und Orlando verglich unwillkürlich dieses Bild wohlgefügter Ordnung mit dem unregelmäßigen und wirr geballten Häuserhaufen, der unter der Regierung der Königin Elisabeth die Hauptstadt London gewesen war. Damals lag, sie entsann sich wohl, die Stadt (wenn man London überhaupt so nennen wollte) als ein unordentlich hingeworfenes Knäuel von Häusern unter den Fenstern des Hauses in Blackfriars. Die Sterne spiegelten ihr Licht in tiefen, morastigen Pfützen mitten auf den Straßen. Sah man vor der Weinschenke an der Straßenecke einen schwarzen Schatten liegen, so konnte man getrost annehmen, daß es der Leichnam eines Ermordeten war. Sie entsann sich wohl, daß sie als kleiner Junge oft, wenn die Amme sie auf dem Arme trug und mit ihr an die bleigefaßten Fenster trat, die Schreie der in solchen nächtlichen Straßenkämpfen Verwundeten gehört hatte. Gefährliches Gesindel, Männer und Weiber, torkelten in Trupps durch die Straßen, in unbeschreibbaren Umschlingungen, wüste Lieder grölend, funkelnde Juwelen in den Ohren, blitzende Messer in den Fäusten. In einer solchen Nacht sah man das undurchdringliche Dickicht der Wälder von Highgate und Hampstead in wirrem, tausendfach gezacktem und verknotetem und verkrümmtem Umriß gegen den Himmel sich abheben. Hier und da ragte auf den Hügeln rings um London ein mächtiger Galgen, an dem ein ans Kreuz genagelter Leichnam hing, auf daß er da faule oder dörre; denn Gefahr und Unsicherheit, Sinnengier und Gewalttat, Dichtergenie und niedrigster Verderbtheit lagerten als dichter Schwarm über den krummen Straßen der Elisabethanischen Zeit und summten und stanken – ja, Orlando erinnerte sich sogar jetzt noch des Gestanks in heißen Nächten – in den kleinen Zimmern und engen Gassen der Hauptstadt. Und nun – sie lehnte sich aus dem Fenster – war alles Licht, Ordnung und heitere Klarheit. Da war das ferne Rattern einer Kutsche auf dem Pflaster. Von weither tönte der Ruf des Nachtwächters: »Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen: Die Glocke wird gleich zwölfe schlagen – –« Kaum hatten die Worte seine Lippen verlassen, als auch schon der erste Schlag der Mitternacht ertönte. Nun gewahrte Orlando etwas, das ihr bisher entgangen war: hinter der Kuppel der Sankt-Pauls-Kathedrale bildete sich eine kleine Wolke. Wie die Schläge klangen, wuchs und wuchs sie, und Orlando sah, daß sie mit außerordentlicher Schnelligkeit an Schwärze und Ausdehnung zunahm. Gleichzeitig kam eine leichte Brise auf, und als der sechste Schlag erklungen war, bedeckte den ganzen östlichen Himmel eine unregelmäßige, bewegliche Dunkelheit, während der Himmel im Westen und Norden so klar blieb wie zuvor. Dann breitete sich die Wolke nach Norden aus. Höhe auf Höhe über der Stadt wurde von ihr verschlungen. Nur Mayfair, mit allen seinen funkelnden Lichtern, strahlte durch den Gegensatz noch heller als zuvor. Beim achten Schlag dehnten sich ein paar hurtige Fetzen der Wolke über Piccadilly aus. Sie schienen sich aufzufüllen und mit ungeheurer Geschwindigkeit nach Westen vorzurücken. Als der neunte, der zehnte, dann der elfte Schlag erklang, wuchs eine gewaltige Finsternis über ganz London hinweg. Beim zwölften Schlag der Mitternacht war es vollkommen dunkel. Ein wild sich wälzender Wolkenwirrwarr bedeckte die Stadt. Alles war Finsternis: alles war Zweifel: alles war Wirrnis. Das achtzehnte Jahrhundert war vorüber; das neunzehnte Jahrhundert hatte begonnen.


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