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Zweites Kapitel

Nunmehr sieht sich der Biograph vor einer Schwierigkeit, die er offen bekennt, da Bekennen besser ist denn Bemänteln. Bis hierher nämlich haben es ihm bei der Schilderung von Orlandos Leben Urkunden, und zwar persönliche wie allgemein geschichtliche, ermöglicht, die erste Pflicht eines Biographen zu erfüllen: die Pflicht nämlich, mit hartem Bemühen, ohne nach rechts oder links zu schauen, in die untilgbaren Fußstapfen der Wahrheit zu treten; sich durch Blumen nicht verlocken und durch Schatten nicht schrecken zu lassen; mit sorgsamem Bedacht voran und immer voran zu schreiten, bis wir, plumps, ins Grab fallen und auf den Leichenstein uns zu Häupten ›Finis‹ schreiben. Wir aber kommen hier an einen Vorfall, der mitten auf unserem Wege liegt, so richtig quer darüber; so daß wir ihn nicht unbeachtet lassen können. Dennoch ist er dunkel, geheimnisvoll und nicht durch Urkunden nachgewiesen; so daß es keine Erklärung dafür gibt. Bände könnten geschrieben werden, um ihn zu deuten; ganze Religionssysteme könnte man auf seiner Ausdeutung aufbauen. Unsere schlichte Pflicht ist es, die Tatsachen anzuführen, soweit sie bekannt sind, und den Leser daraus machen zu lassen, was er will.

Im Sommer nach jenem verhängnisvollen Winter, der den Großen Frost, die Überschwemmung, den Tod vieler Tausende und den gänzlichen Zusammenbruch von Orlandos Hoffnungen brachte – denn er wurde vom Hofe verbannt; auf ihm lastete die Ungnade der mächtigsten Edlen seines Zeitalters; das irische Haus der Desmonds war mit Recht aufs höchste aufgebracht; und der König hatte gerade genug Ärger mit den Iren, um sich für diesen neuen Verdruß zu bedanken – in jenem Sommer zog sich Orlando in sein großes Haus auf dem Lande zurück und lebte dort in völliger Einsamkeit. An einem Junimorgen – es war ein Samstag und der Achtzehnte des Monats – stand er um die gewohnte Zeit nicht auf, und als sein Reitknecht ihn wecken wollte, fand er seinen Herrn in tiefem Schlaf. Und es war nicht möglich, ihn zu ermuntern. Er lag wie in einem Starrkrampf, ohne wahrnehmbare Atmung: und obwohl man Hunde unter seinem Fenster bellen ließ, in seinem Zimmer beständig Zimbeln, Trommeln und Kastagnetten schlug, einen Stechginsterbusch unter sein Kopfkissen legte und ihm Senfpflaster unter die Füße klebte, erwachte er nicht, noch nahm er Nahrung zu sich oder gab überhaupt irgendein Lebenszeichen von sich, sieben volle Tage lang. Am achten Tage aber erwachte er zur gewohnten Zeit (das heißt pünktlich um ein Viertel vor acht) und warf den ganzen Schwarm jaulender Weiber und dörflicher Wahrsager aus seinem Zimmer, was ja durchaus natürlich war. Seltsam dagegen war, daß er offenbar von dem ganzen Starrkrampf nichts wußte, sondern sich ankleidete und sein Pferd holen ließ, als wäre er von einem gewöhnlichen Nachtschlummer erwacht. Und doch schloß man, daß sich in den Kammern seines Hirns irgendeine Veränderung vollzogen haben müsse: denn er betrug sich zwar völlig vernünftig und schien in seinem ganzen Gebaren ernsthafter und besonnener als früher, aber er hatte anscheinend keine lückenlose Erinnerung an sein bisheriges Leben. Wenn die Leute vom Großen Frost oder vom Schlittschuhlaufen oder vom Fest auf dem Eise sprachen, hörte er wohl zu, gab aber durch kein Zeichen zu erkennen, daß er alles das miterlebt hatte; nur strich er sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er eine Wolke wegwischen. Wenn man sich über die Ereignisse der letzten sechs Monate unterhielt, schien er nicht so sehr bekümmert als vielmehr verwirrt; man hätte meinen können, ihn plagten verschwommene Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit, oder er versuchte sich auf Geschichten zu besinnen, die ihm ein anderer erzählt hatte. Man beobachtete, daß er, wenn man Rußland erwähnte oder Prinzessinnen oder Schiffe, in ein düsteres und mißgestimmtes Sinnen verfiel; dann stand er auf und ging ans Fenster, oder er rief einen der Hunde zu sich, oder er nahm ein Messer und schnitzelte an einem Stück Zedernholz. Aber die Ärzte waren damals kaum klüger als heute; sie verordneten Ruhe und Bewegung, Hungernlassen und kräftige Ernährung, Geselligkeit und Einsamkeit; sie empfahlen ihm, den ganzen Tag im Bett zu liegen und zwischen Frühstück und Hauptmahlzeit vierzig Meilen zu reiten; sie ließen ihn die üblichen Beruhigungsmittel und Reizmittel schlucken, je nach dem Walten ihrer Phantasie verziert mit Extrakten aus Molchschleim beim Aufstehen und Auszügen aus Pfauengalle beim Schlafengehen. Nachdem sie alles das vollbracht hatten, überließen sie ihn sich selbst und äußerten die Ansicht, daß er eine Woche lang geschlafen habe.

Aber wenn es Schlaf war, so vermögen wir kaum die Frage zurückzudrängen: was ist denn nun Art und Sinn eines solchen Schlafes? Ist er Heilmaßnahme der Natur – ein Starrzustand, dazu bestimmt, die quälendsten Erinnerungen, Ereignisse, die das ganze Leben verkrüppeln und zum Kümmern bringen können, mit einer dunklen Schwinge zu streifen, ihnen so alles Herbe und Harte zu nehmen und sie – auch die schlimmsten und häßlichsten – mit Glanz und Glut zu übergolden? Muß von Zeit zu Zeit auf das lärmende Wirrsal des Lebens der Finger des Todes gelegt werden, weil es uns sonst in Fetzen zerreißen würde? Ist es so um uns bestellt, daß wir den Tod täglich in kleinen zugemessenen Mengen nehmen müssen, weil wir sonst mit dem Geschäft des Lebens nicht zurechtkämen? Und: was für seltsame Kräfte sind das, die in unser geheimstes Tun eindringen und unsere am ängstlichsten gehüteten Besitztümer verwandeln, ohne daß wir es wollen? War Orlando, erschöpft durch das Höchstmaß des Leidens, für eine Woche gestorben und dann wieder zum Leben erwacht? Und wenn es so war: von welcher Art ist dann der Tod, und von welcher Art ist das Leben? Wir haben wohl über eine halbe Stunde auf eine Beantwortung dieser Fragen gewartet, und es ist keine erfolgt; fahren wir also nun mit unserem Bericht fort.

Von da an ergab sich Orlando einem Leben der äußersten Einsamkeit. Die Gründe dafür waren seine Ungnade bei Hofe und die Heftigkeit seines Kummers; aber das waren nicht die einzigen Gründe. Denn er unternahm nichts, um sich bei Hofe zu rechtfertigen, und er lud sich selten Besuch ein, obwohl er viele Freunde hatte, die ihn mit Freuden besucht hätten. So schien es denn, als ob das Alleinsein im großen Hause seiner Väter seiner Stimmung entsprach. Freiwillig hatte er die Einsamkeit gewählt. Womit er seine Tage verbrachte, wußte niemand recht zu sagen. Die Dienerschaft (er behielt den ganzen Troß in seinem Dienst, wenn auch die Arbeit der Leute zum großen Teil darin bestand, daß sie leere Zimmer säuberten und Bettdecken glätteten, unter denen niemals jemand schlief) – die Dienerschaft beobachtete oft, wenn sie an dunklen Abenden bei Kuchen und Ale saß, ein Licht, das durch die Galerien, durch die Bankettsäle, die Treppen hinan und in die Schlafkammern sich bewegte; dann wußten die Leute, daß ihr Herr einsam durch das Haus wanderte. Niemand wagte es, ihm zu folgen, denn in dem Haus ging eine große Anzahl mannigfacher Gespenster um, und bei seiner riesigen Ausdehnung konnte man leicht irgendeine versteckte Treppe hinabstürzen oder eine Tür öffnen, die sich, wenn der Wind sie zuschlug, für ewig hinter einem schloß – Unfälle, die sich durchaus nicht selten begaben, wie die häufige Entdeckung von Menschen- und Tiergerippen in qualvoll verkrümmten Stellungen bewies. Schließlich war dann das Licht nicht mehr zu sehen, und Mrs. Grimsditch, die Wirtschafterin, sagte zu Mr. Dupper, dem Kaplan, sie hoffe, daß Seiner Lordschaft nicht irgendein schlimmer Unfall zugestoßen sei. Worauf Mr. Dupper die Ansicht äußerte, daß Seine Lordschaft ohne Zweifel an den Gräbern der Ahnen in der Kapelle, die eine halbe Meile nach Süden im Billiard Table Court stand, auf den Knien liege. Denn er müsse befürchten, sagte Mr. Dupper, daß Seiner Lordschaft Gewissen mit Sünden belastet sei; worauf Mrs. Grimsditch mit einiger Schärfe erwiderte, dies sei bei uns Menschen zumeist der Fall; und Mrs. Stewkley und Mrs. Field und die alte Amme Carpenter erhoben ihre Stimmen im Chor zur Lobpreisung Seiner Lordschaft; und die Reitknechte und die Köche und die Lakaien schworen tausend Eide, daß es ein wahrer Jammer sei, wenn ein so trefflicher Edelmann seine Tage im Hause vertrauerte, statt den Fuchs zu hetzen und den Hirsch zu jagen; und sogar die kleinen Waschmädchen und Scheuermägde, Judy und Faith und wie sie sonst hießen, die Kannen und Kuchen herumreichten, bezeugten piepsend und schnatternd die Edelmannstugenden Seiner Lordschaft: denn nirgendwo mochte man einen freundlicheren Herrn finden noch einen, der freigebiger war mit jenen kleinen Silberstücken, für die man sich eine Bandschleife kaufen oder eine Blume ins Haar stecken kann; und sogar die Mohrin, aus der man eine Christenfrau namens Grace Robinson gemacht hatte, war mit ihnen allen der Meinung, daß Seine Lordschaft ein hübscher, netter, liebenswerter Herr sei: das heißt, sie sagte das auf die einzige Art, mit der sie sich ausdrücken konnte, nämlich indem sie mit einem breiten Grinsen alle ihre Zähne auf einmal zeigte. Kurz, alle seine Diener und Dienerinnen hielten Orlando in hoher Achtung und verwünschten die fremdländische Prinzessin (die sie freilich mit einem weit häßlicheren Namen benannten), weil sie ihn in einen so traurigen Zustand gebracht hatte.

Obwohl nun freilich Mr. Duppers Meinung, daß Seine Lordschaft wohlbehalten inmitten der Gräber weile, durch Feigheit oder Liebe zum heißen Ale und durch die Abneigung gegen das Suchengehen veranlaßt war, so ist es doch sehr wohl möglich, daß Mr. Dupper recht hatte. Denn Orlando fand jetzt eine sonderbare Lust in Gedanken an Tod und Verwesung; und wenn er mit einer Wachskerze in der Hand durch die langen Galerien und Ballsäle gepilgert war und Bild auf Bild betrachtet hatte, als suche er ein vertrautes Gesicht, das er nicht finden konnte, so stieg er in den Kirchenstuhl der Familie, da saß er stundenlang mit keinem anderen lebenden Wesen zur Gesellschaft als einer Fledermaus oder einem Totenkopfschwärmer und sah zu, wie die Fahnen sich im Luftzug regten und die Mondstrahlen flirrten. Aber auch das war ihm nicht genug: er mußte in die Gruft hinabsteigen, wo seine Ahnen lagen, Sarg auf Sarg gehäuft, zehn Generationen beieinander. So selten kam ein Mensch da hinunter, daß die Ratten sich mit der Bleiarbeit der Särge Freiheiten erlaubt hatten und daß sich bald ein Schenkelknochen in Orlandos vorüberstreifendem Mantel verfing, bald sein Fuß krachend auf die herabrollende Hirnschale irgendeines alten Sir Malise, oder wie er sonst geheißen hatte, trat. Es war eine schauerliche Gruft, tief ausgeschachtet unter den Fundamenten des Hauses, als hätte der erste Lord des Geschlechtes, der mit Wilhelm dem Eroberer aus Frankreich gekommen war, dartun wollen, daß alle Pracht auf Fäulnis erbaut ist; daß unter dem Fleisch das Gerippe liegt; daß wir, die wir hier oben tanzen und singen, später drunten liegen müssen; daß der karmesinrote Samt zu Staub zerfällt; daß der Ring (hier nahm Orlando, seine Laterne senkend, einen goldenen Reif ohne Stein auf, der in eine Ecke gerollt war) seinen Rubin verliert, und daß das Auge, das so lustvoll leuchtet, einmal nicht mehr leuchten wird. »Von allen diesen Fürsten«, sagte Orlando dann wohl, indem er sich eine verzeihliche Rangerhöhung der Herrschaften gestattete, »von allen diesen Fürsten bleibt nichts übrig als ein Finger.« Und er nahm eine Gerippehand in die seine und bog die Gelenke hin und her. »Wem hat diese Hand gehört?« so fragte er weiter. »War es die rechte oder die linke? Gehörte sie einem Mann oder einer Frau, einem jungen oder einem alten Menschen? Hat sie das Schlachtroß gezügelt, oder hat sie die Nadel geführt? Hat sie die Rose gepflückt oder kalten Stahl umklammert? Hat sie –« hier aber ließ ihn seine Phantasie entweder im Stich, oder aber, was wahrscheinlicher ist, sie lieferte ihm so viele Beispiele für das, was eine Hand tun kann, daß er sich, wie es seine Gewohnheit war, um die Hauptarbeit der schaffenden Formung, die streng beschränkende Auswahl, herumdrückte und die Hand zu den übrigen Gebeinen legte. Dabei dachte er an einen Doktor aus Norwich, Thomas Browne mit Namen, durch dessen Schriften über solche Dinge er sich gewaltig angezogen fühlte.

So nahm er denn seine Laterne, überzeugte sich davon, daß die Gebeine ordentlich untergebracht waren – denn er war zwar romantisch veranlagt, hielt aber peinlich auf Ordnung und verabscheute nichts so sehr wie ein Knäuel Band auf dem Fußboden, geschweige denn den Schädel eines Ahnen, und begab sich wieder auf diese merkwürdige, trübsinnige Wanderung durch die Galerien, die augenscheinlich eine Suche nach irgend etwas unter den Gemälden war und schließlich, beim Anblick einer niederländischen Schneelandschaft von der Hand eines unbekannten Meisters, durch einen regelrechten Weinkrampf unterbrochen wurde. Denn es wollte ihn bedünken, als wäre das Leben in keiner Weise mehr des Gelebtwerdens wert. Nun dachte er nicht mehr an die Gebeine seiner Ahnen und daran, daß alles Leben auf Gräber gegründet ist; nun stand er da, von Schluchzen geschüttelt, und brannte in verlangender Sehnsucht nach einem Mädchen mit russischen Beinkleidern, mit schrägstehenden Augen, trotzig aufgeworfenen Lippen und einer Perlenschnur um den Hals. Sie war fort. Sie hatte ihn verlassen. Er würde sie niemals wiedersehen. Und darum schluchzte er. Und schluchzend fand er den Rückweg in seine Gemächer; und Mrs. Grimsditch, die seine Fenster wieder erleuchtet sah, nahm den Deckelkrug von den Lippen und sagte Gott Lob und Dank, weil Seine Lordschaft wieder wohlbehalten im Zimmer war; denn sie hätte, sagte sie, die ganze Zeit denken müssen, der Herr wäre womöglich elend umgebracht.

Orlando rückte nun seinen Stuhl zum Tische, klappte die Schriften des Sir Thomas Browne auf und machte sich daran, eine von des Doktors längsten und höchst wundersam gewundenen und gedrehten Betrachtungen zu studieren und sich in ihre kunstvolle Gliederung zu vertiefen.

Nun sind dies zwar alles Dinge, bei denen der Biograph nicht mit irgendwelchem Nutzen verweilen kann; und doch, wer als Leser seine Schuldigkeit getan hat, indem er aus hier und da verstreuten Winken und Andeutungen Wesensbegrenzung und Wesensbereich eines lebendigen Menschen richtig erschätzt; aus dem, was wir nur flüstern können, eine lebendige Stimme zu vernehmen vermag; ganz genau wahrnehmen kann, wie jener Mensch aussah, oft auch dann, wenn wir nichts darüber sagen; ohne ein hinweisendes Wort genau weiß, was er dachte – und solche Leser sind es ja schließlich, für die wir schreiben –, wer, sage ich, solchermaßen gelesen hat, für den ist es klar, daß Orlando aus mancherlei Stimmungen seltsam zusammengestückt war: aus Schwermut, aus Trägheit, aus Leidenschaft, aus Liebe zur Einsamkeit, ganz zu schweigen von all jenen Verrenkungen und Besonderheiten der Gemütsart, von denen auf der ersten Seite die Rede war, als er nach dem Schädel eines toten Mohren hieb, ihn herunterschlug, dann ihn ritterlich außer Reichweite wieder aufhängte, schließlich sich mit einem Buch auf die Fensterbank zurückzog. Die Vorliebe für Bücher erwachte früh in ihm. Als Kind wurde er oft noch um Mitternacht beim Lesen ertappt. Man nahm ihm die Kerze weg, und er fing sich Glühwürmer ein, um dennoch lesen zu können. Man nahm ihm auch die Glühwürmer weg, und er hätte mit einem Stück Zunder beinahe das ganze Haus in Brand gesetzt. Packen wir das Ganze in eine Nußschale, und überlassen wir es einem Romanschreiber, die dabei verdrückte Seide fein säuberlich wieder zu glätten –: er war ein Edelmann, der mit einem Hang zur Literatur behaftet war. Viele Leute seines Zeitalters und noch mehr seines Ranges erlagen dieser ansteckenden Krankheit nicht und behielten so die Freiheit, laufend oder reitend oder liebend in dieser Welt ihr Wesen zu treiben nach ihrem eigenen süßen Willen. Einigen von ihnen indessen drang in frühen Jahren ein Keim ins Blut, der, wie man wissen will, aus dem Blütenstaub des Asphodelos stammte und vom Winde aus Hellas und Italien herübergetragen wurde; und er war von so tödlich wirkender Art, daß er die Hand zittern machte, die zum Schlage erhoben war, den Blick des Auges trübte, das seine Beute suchte, und die Zunge stammeln ließ, wenn sie Liebesworte sprechen wollte. Es war das verhängnisvolle Wesen dieser Krankheit, daß sie ein Trugbild in den Rang der Wirklichkeit einsetzte; so daß Orlando, dem das Glück alle Besitztümer geschenkt hatte – Silbergeschirr, Linnen, Häuser, Diener, Teppiche, Betten in verschwenderischer Fülle –, nur ein Buch aufzuschlagen brauchte: und der ganze angehäufte Besitz zerstob zu Nebel. Sein steinernes Haus, das neun Morgen Landes bedeckte, verschwand; die Bedienten des Hauses, einhundertundfünfzig an der Zahl, waren wie weggeblasen; seine achtzig Reitpferde wurden unsichtbar; und es ist gar nicht möglich, hier alle die Teppiche, Sofas, Schmuckgegenstände, Porzellangeschirre, Silbersachen, Gewürzbehälter, Wärmpfannen und sonstige bewegliche Habe, oft aus gehämmertem Golde, zu erwähnen, die sich unter dem giftigen Anhauch dieser Krankheit in Nichts auflösten, als wären sie nichts weiter denn Seenebel gewesen. So stand es also um Orlando, und da saß er dann, lesend, ganz allein, ein nackter Mensch.

In seiner Einsamkeit machte nun die Krankheit rasche Fortschritte bei ihm. Er las oft bis in den frühen Morgen hinein; und wenn seine Leute kamen und seine Befehle für das Schlachten von Vieh oder für die Weizenernte haben wollten, schob er sein Buch von sich und sah sie an, als verstünde er gar nicht, was sie sagten. Das war freilich schlimm genug und ein herzbrechender Kummer für Hall, den Falkenier, und Giles, den Stallmeister, und Mrs. Grimsditch, die Schaffnerin, und Mr. Dupper, den Kaplan. Ein so trefflicher Edelmann, sagten sie, braucht keine Bücher. Er soll doch die Bücher den Lahmen und den Sterbenden lassen, sagten sie. Aber es stand ihnen noch Ärgeres bevor. Denn ist einmal ein Organismus von der Lesekrankheit ergriffen, so wird er anfällig und ist eine leichte Beute für jene andere Plage, die im Tintenfaß lauert und giftig schwärend im Federkiel sitzt. Der bejammernswerte Kranke ergibt sich dem Schreiben. Nun ist das schon schlimm genug bei einem Armen, dessen ganze Habe ein Stuhl und ein Tisch unter einem schadhaften Dache sind; aber er hat schließlich nicht viel zu verlieren. Der Zustand eines reichen Mannes dagegen, der Häuser und Vieh, Mägde, Esel und Linnen besitzt und trotzdem Bücher schreibt, verdient das höchste Mitleid. Der Genuß an allen diesen Köstlichkeiten kommt ihm abhanden; er wird durchlöchert von glühenden Eisen, zerbissen von quälendem Ungeziefer. Er würde – so bösartig ist der Krankheitskeim – jeden Penny seines Vermögens opfern, wenn er ein einziges kleines Buch schreiben und berühmt werden könnte; und es steht doch so, daß er sich mit allem Golde Perus nicht die Köstlichkeit auch nur einer einzigen wohlgeformten Zeile erkaufen kann. Infolgedessen verfällt er der Auszehrung und dem Siechtum, verspritzt sein Hirn, kehrt das Gesicht zur Wand. Es ist ihm ganz gleich, in welcher Stellung sie ihn finden. Er ist durch die Pforten des Todes gegangen und hat das höllische Feuer gespürt.

Glücklicherweise war Orlando von kräftiger Natur, und die Krankheit vermochte ihn – aus Gründen, die wir sogleich mitteilen werden – niemals ganz zu Boden zu schlagen, wie sie so viele seiner Standesgenossen zu Boden geschlagen hat. Aber er war doch recht tief von ihr getroffen, wie man aus dem folgenden ersehen wird. Wenn er nämlich eine Stunde oder so im Thomas Browne gelesen hatte und aus dem Bellen der Hirsche und dem Ruf des Nachtwächters entnahm, daß es die höchste Stunde der Nacht war und alles in tiefem Schlaf lag, ging er durchs Zimmer, zog einen silbernen Schlüssel aus der Tasche und schloß die Türen eines großen mit Einlegearbeiten verzierten Kabinettschrankes auf, der in einem Winkel stand. Darin waren etwa fünfzig Schubfächer aus Zedernholz, und jedes trug ein säuberlich von Orlandos Hand geschriebenes Papierschild. Er verweilte einen Augenblick, als wüßte er nicht recht, welches er öffnen sollte. Auf dem einen stand ›Der Tod des Ajax‹; auf einem anderen ›Die Geburt des Pyramus‹; auf wieder einem anderen ›Iphigenie in Aulis‹; und ›Der Tod des Hippolytus‹; und ›Meleager‹; und ›Die Heimkehr des Odysseus‹ – kurz, man hätte kaum ein einziges Fach finden mögen, das nicht den Namen irgendeiner mythologischen Persönlichkeit an einem kritischen Punkt ihrer Laufbahn trug. In jedem Schubfach lag ein Schriftstück von beträchtlichem Umfang, ganz und gar von Orlandos Hand geschrieben. Es ist nämlich zu sagen, daß Orlando schon seit vielen Jahren von der Krankheit befallen war. Nie hatte ein Junge mit solcher Inbrunst um Äpfel gebettelt wie er um Papier, oder um Zuckerwerk wie er um Tinte. Von Gespräch und Spiel hatte er sich hinweggestohlen, um sich hinter Vorhängen, im Kaplanskämmerchen oder in dem Kleiderverschlag hinter dem Schlafzimmer seiner Mutter zu verkriechen, wo ein großes Loch im Boden war und es entsetzlich nach Starenkot stank – und da hockte er dann, in der einen Hand ein Tintenfaß, in der anderen eine Feder, eine Papierrolle auf den Knien. Auf solche Art hatte er, noch ehe er fünfundzwanzig Jahre alt wurde, ungefähr siebenundvierzig Theaterstücke, Historien, Romane und Versdichtungen geschrieben; diese in Prosa, jene in Versen, manche auf Französisch, andere wieder auf Italienisch, alle miteinander romantisch und alle miteinander lang. Eine dieser Dichtungen hatte er auch drucken lassen, bei John Ball, im Hause ›Feathers and Coronet‹, gegenüber St. Paul's Cross, Cheapside; aber wenn auch der Anblick des Buches ihn mit höchstem Entzücken erfüllte, hatte er doch niemals gewagt, es einem Menschen zu zeigen, nicht einmal seiner Mutter; denn zu schreiben und gar noch das Geschriebene zu veröffentlichen galt, das wußte er, bei einem Edelmann für unauslöschliche Schande.

Wie es damit auch stehe – jetzt, mitten in der Nacht, da er allein war, entnahm er diesem Behältnis ein dickes Schriftstück, benannt ›Xenophila. Ein Trauerspiel‹ oder mit einem Titel ähnlicher Art; dazu ein dünnes, schlicht und einfach ›Der Eichbaum‹ benannt (es war das der einzige kurze Titel in der ganzen Manuskriptsammlung); dann begab er sich an das Tintenfaß, nahm die Feder zur Hand und vollführte mit ihr wieder einmal jene schlenkernden Bewegungen, mit denen die dem Schreiblaster Frönenden ihre Kulthandlungen einzuleiten pflegen. Aber er hielt inne.

Da diese Pause in der Geschichte seines Lebens von allerhöchster Bedeutung war, bedeutungsvoller jedenfalls als manche Handlungen, die Menschen in die Knie zwingen und das Wasser der Flüsse mit Blut röten, so ziemt es uns, zu fragen, weshalb er innehielt, und diese Frage nach gebührender Überlegung damit zu beantworten, daß es etwa aus folgendem Grunde geschah: Die Natur, die uns so allerlei merkwürdige Streiche spielt und uns in so ungleichem Stoffverhältnis aus Lehm und Diamanten, aus Regenbogen und Granit gefertigt hat und diese Mischung oft in ein denkbar unpassendes Gehäuse steckt, so daß der Dichter ein Fleischergesicht bekommt und der Fleischer ein Dichtergesicht; die Natur, die sich am Spiel mit Verworrenheit und Geheimnis ergötzt, so daß wir selbst im gegenwärtigen Augenblick (das will sagen: am 1. November 1927) nicht wissen, weshalb wir die Treppe hinaufgehen oder wieder herunterkommen, und unsere alltäglichen Bewegungen der Fahrt eines Schiffes auf einem unbekannten Meer gleichen, wenn die Matrosen auf der Mastspitze mit ihren Gläsern den Horizont absuchen und fragen: »Ist dort nun Land – oder ist da keines?« – worauf wir, wenn wir Propheten sind, mit »Ja« antworten, und wenn wir wahrheitsliebend sind, mit »Nein«; die Natur, die für so vielerlei Dinge verantwortlich ist, von der unhandlichen Länge dieses Satzes ganz abgesehen, hat die Last aller dieser Mühe und Wirrsal noch schwerer gemacht und unsere peinlichen Schwierigkeiten noch vergrößert: Sie hat uns nämlich nicht nur eine wahre Lumpenpuppe aus abenteuerlichen Flicken in unsere irdische Hülse gesteckt, wobei ein Stück von einer Polizistenhose unmittelbar neben einem Stück von Königin Alexandras Brautschleier sitzt – sie hat es noch obendrein wahrhaftig so gefügt, daß dieses ganze Sammelsurium nur mit einem einzigen Stich lose zusammengenäht ist. Die Näherin, und eine launische dazu, ist die Erinnerung. Die Erinnerung führt ihre Nadel, ein und aus, auf und ab, hin und her. Wir wissen nicht, was als nächstes kommt oder was darauf folgt. So kann denn die alltäglichste Bewegung von der Welt, etwa wenn man an einem Tische sitzt und das Schreibzeug zu sich her zieht, tausend wunderliche, kunterbunte Fetzen in Bewegung bringen, helle und dunkle, daß sie baumeln und wogen und pendeln und flattern wie die aufgehängte Wäsche einer vierzehnköpfigen Familie im stürmischen Wind. Unsere allereinfachsten Handlungen sind keine geradlinigen, schlichten, biedersinnigen Verrichtungen mehr, deren kein Mensch sich zu schämen braucht, sondern werden mit einem rauschenden Schwingengeflatter, mit einem Aufleuchten und Erlöschen von Lichtern ins Werk gesetzt. So geschah es denn, daß Orlando, als er seine Feder in die Tinte tauchte, das spöttische Gesicht der verlorenen Prinzessin vor sich sah und sich alsbald eine Million Fragen vorlegte, die wie in Galle getauchte Pfeile brannten. Wohin war sie gefahren – und warum hatte sie ihn verlassen? War der Gesandte ihr Oheim oder ihr Liebhaber? War sie mit ihm im Komplott? Hatte man sie gezwungen? War sie verheiratet? War sie tot? – alle diese Fragepfeile jagten ihm dermaßen ihr Gift ins Blut, daß er, wie um seinem wilden Schmerz irgendwie Luft zu machen, die Feder tief ins Tintenfaß stieß. Die Tinte spritzte über den Tisch; ein Vorgang, der – erkläre man es, wie man will (wahrscheinlich kann man es überhaupt nicht erklären, denn die Erinnerung ist eben unerklärbar) – das Gesicht der Prinzessin sogleich durch ein Gesicht ganz anderer Art ersetzte. Aber, so fragte er sich, wessen Gesicht war nun das? Und er mußte etwa eine halbe Minute warten und dieses neue Bildnis betrachten, welches das alte überdeckte, wie wenn in der Laterna magica ein Einschiebbild durch das andere halb schon sichtbar ist – bis er sich die Antwort geben konnte: »Das ist das Gesicht des ziemlich fetten, schäbig gekleideten Mannes, der in Twitchetts Zimmer saß, vor so vielen Jahren, als die alte Queen Bess zum Abendessen hier war; und« – so fuhr Orlando fort, indem er nach einem anderen jener bunten Fetzen griff –, »ich sah ihn, als er am Tisch saß und als ich auf meinem Wege zum Festsaal ins Zimmer spähte; und« – sagte Orlando – »er hatte die putzwunderlichsten Augen, die je ein Mensch im Kopfe gehabt hat; aber wer zum Teufel war er?« fragte Orlando, denn hier ergänzte die Erinnerung das Bildnis und fügte zu Stirn und Augen erst eine grobe, fettbefleckte Halskrause, dann ein braunes Wams und schließlich ein Paar plumper Stiefel, wie sie die Stadtbewohner in Cheapside trugen. »Kein Edelmann; keiner von uns«, sagte Orlando (was er niemals laut geäußert haben würde, denn er war der höflichste Herr, der sich denken läßt; aber es zeigt sich doch, was für einen Einfluß erlauchte Geburt auf die Gesinnung hat, und nebenbei auch, wie schwierig es für einen Edelmann ist, Schriftsteller zu sein); »ein Dichter, möchte ich annehmen.«

Eigentlich hatte die Erinnerung ihn ja nun hinlänglich durcheinandergebracht, und von Rechts wegen hätte sie jetzt das ganze Bilderwerk gänzlich tilgen – oder aber etwas ganz Blödsinniges und Ausgefallenes aufbringen sollen, etwa einen Hund, der eine Katze jagte, oder ein altes Weib, das in ein rotbaumwollenes Taschentuch trompetete; so daß Orlando es verzweifelt aufgegeben hätte, mit ihren Kapriolen Schritt zu halten, und mit seiner Feder ernstlich auf das Papier losgegangen wäre. (Denn wenn wir die Entschlußkraft dazu haben, können wir die liederliche Dirne Erinnerung mitsamt ihrem Pack und Pöbel aus dem Hause werfen.) Aber Orlando hielt inne. Immer noch hielt ihm die Erinnerung das Bild eines schäbig gekleideten Mannes mit großen, lichten Augen entgegen. Immer noch betrachtete er dieses Bild, immer noch verweilte er. Diese Pausen sind es, die unser Verderben wirken. In ihnen geschieht es, daß Aufruhr sich in die Festung schleicht und unsere Truppen sich rebellisch erheben. Schon einmal hatte er eine solche Pause gemacht, und damals war die Liebe mit ihrer gräßlichen Rotte eingebrochen, mit ihren Schalmeien, ihren Zimbeln und ihren Trophäen, von den Schultern gerissenen Köpfen, deren Locken vom Blute trieften. Die Liebe hatte ihn alle Qualen der Verdammten leiden lassen. Nun hielt er abermals inne, und in die also entstehende Bresche sprangen: Ehrbegier, die alte Vettel, und Poesie, die Hexe, und Ruhmsucht, die Dirne; und sie reichten sich die Hände und machten sein Herz zu ihrem Tanzplatze. Aufrecht stand er in der Einsamkeit seines Zimmers und gelobte, daß er der erste Dichter seines Stammes sein und seinen Namen mit unsterblichem Glanze krönen werde. Er sagte, indem er die Namen und Heldentaten seiner Ahnen aufzählte, daß Sir Boris die Ungläubigen bekämpft und getötet hatte; Sir Gawain die Türken; Sir Miles die Polen; Sir Andrew die Franken; Sir Richard die Österreicher; Sir Jordan die Franzosen; und Sir Herbert die Spanier. Aber von all diesem Töten und Schlachtenschlagen, dem Bechern und Lieben, dem Verschwenden und Reiten und Jagen und Tafeln – was blieb davon? Ein Totenschädel; ein Finger. Dahingegen, so sagte er, indessen er sich der Schrift des Sir Thomas Browne zuwandte, die offen vor ihm auf dem Tisch lag – und abermals hielt er inne. Wie eine zauberische Beschwörung, die aus allen Ecken des Raumes aufstieg, aus dem Nachtwind und dem Mondlicht, tönte und hallte die göttliche Melodie dieser Worte, die wir, damit sie nicht die Form unseres Buches in Gefahr bringen, liegen lassen wollen, wo sie liegen – bestattet, nicht tot; eher würde man sagen: einbalsamiert, so frisch ist ihre Farbe, so gesund ihr Atem. Und Orlando, der dies gewirkte Werk mit den Taten seiner Vorfahren verglich, rief laut, daß sie Staub und Asche, dieser Mann und seine Worte aber unsterblich seien.

Indessen merkte er schon bald, daß die Schlachten, die Sir Miles und die anderen gegen gewappnete Ritter gewagt hatten, um ein Königreich zu gewinnen, nicht halb so schwer waren wie die Kämpfe, die er nun mit der englischen Sprache führte, um Unsterblichkeit zu gewinnen. Jeder, der nur einigermaßen mit den Mühen des Dichtens vertraut ist, wird darauf verzichten können, daß ihm die Geschichte im einzelnen berichtet wird: wie Orlando schrieb und das Geschriebene ihn gut dünkte: wie er es dann las und es ihn elend dünkte; wie er darin herumbesserte und die Blätter zerriß, kürzte, hinzufügte, in taumelndem Rausch war, verzweifelte, nach einer guten Nacht einen bösen Morgen hatte, Einfälle packte und sie wieder verlor, sein Buch in deutlicher Gestalt erblickte und es wieder verschwinden sah, beim Essen in die Rollen seiner handelnden Personen schlüpfte; beim Spazierengehen laut redete, was sie zu reden hatten, bald weinte, bald lachte, zwischen gegensätzlichen Stilen pendelte, bald das Heroische und Erhabene bevorzugte, bald das Schlichte und Einfache, bald das Tempetal, bald die Felder Kents oder Cornwalls und sich niemals darüber klarwerden konnte, ob er das göttlichste Genie oder der größte Narr der Welt war.

Diese Frage aber wollte er beantwortet haben, und deshalb entschloß er sich nach vielen Monaten fieberhaften Mühens, das seit Jahren währende Alleinsein aufzugeben und wieder mit der Welt da draußen Verbindung zu nehmen. Er hatte in London einen Freund, einen gewissen Giles Isham aus Norfolk, der, obzwar von adeliger Geburt, mit Schriftstellern Umgang hatte und ihn gewiß mit irgendeinem Mitglied dieser gesegneten, ja geheiligten Brüderschaft in Verbindung bringen konnte. Mit Orlando stand es nämlich zu dieser Zeit so, daß er jeden Menschen, der ein Buch geschrieben und es gar gedruckt bekommen hatte, von einem Glanze umgeben sah, der allen Glanz der Geburt und des Standes verdunkelte. Diese erhabenen Gedanken mußten, so bildete er sich ein, sogar die leibliche Erscheinung derer verwandeln, die von ihnen erfüllt waren. Sie mußten eine Strahlenkrone haben, wo andere Haare hatten, ihr Atem mußte Weihrauch sein, und Rosen mußten zwischen ihren Lippen wachsen – was sicherlich weder von ihm selbst noch von Mr. Dupper behauptet werden konnte. Er vermochte sich kein größeres Glück zu erdenken, als hinter einem Vorhang sitzen und dem Gespräch dieser Auserwählten zuhören zu dürfen. Und wenn er sich ein solches kühnes und reiches Gespräch nur vorstellte, so erschien ihm das, worüber er und seine Freunde bei Hofe zu reden pflegten – ein Hund, ein Pferd, eine Frau, ein Kartenspiel –, in der Erinnerung barbarisch bis zum Ekel. Er besann sich mit Stolz darauf, daß sie ihn immer einen ›Bücherwurm‹ genannt und wegen seiner Vorliebe für Einsamkeit und Bücher verspottet hatten. Für hübsche Redensarten hatte er nie besonderes Geschick bewiesen. Vielmehr stand er stocksteif da, wurde rot und machte Schritte wie ein Grenadier im Salon einer Dame. Zweimal war er aus lauter Zerstreutheit vom Pferd gefallen. Eines Tages hatte er, als er über einen Reim sann, Lady Winchilseas Fächer zerbrochen. Indessen er sich diese und andere Beispiele für seine Untauglichkeit zum gesellschaftlichen Leben eifrig ins Gedächtnis zurückrief, packte ihn eine unsägliche Hoffnung: Konnte nicht all die Wirrnis seiner Jugend, sein linkisches Ungeschick, sein häufiges Erröten, seine langen einsamen Streifereien und seine Liebe zur Natur – konnte nicht alles dies der Beweis dafür sein, daß er mehr zur geheiligten Brüderschaft als zur Adelsklasse gehörte, mehr Schriftsteller als Edelmann war? Zum ersten Male seit der Nacht der großen Flut war er glücklich.

Nunmehr beauftragte er Mr. Isham aus Norfolk, dem Mr. Nicholas Greene, Clifford's Inn, ein Schriftstück zu überbringen, in welchem Orlandos Bewunderung für seine Werke bekundet war (denn Nick Greene war ein zu jener Zeit sehr berühmter Schriftsteller), sowie sein, Orlandos, Verlangen, Mr. Greenes Bekanntschaft zu machen, welchen Wunsch er freilich kaum auszusprechen wage; denn er habe keinerlei Gegengabe zu bieten; wenn sich aber Mr. Nicholas Greene herbeilassen wolle, ihn zu besuchen, so würde ihn zu jeder Stunde, die Mr. Greene freundlichst bestimmen würde, eine vierspännige Kutsche an der Ecke der Fetter Lane erwarten und ihn sicher zum Hause Orlandos bringen. Man mag sich die dann folgenden Redewendungen selbst ergänzen – und sich Orlandos Entzücken vorstellen, als nach nicht langer Zeit Mr. Greene mitteilte, daß er die Einladung Seiner Lordschaft annehme, sodann in besagter Kutsche Platz nahm und am Montag, dem einundzwanzigsten April punkt sieben Uhr in der Halle im Süden des Hauptgebäudes abgesetzt wurde.

Viele Könige, Königinnen und Gesandte waren hier empfangen worden; Richter hatten hier in ihrem Hermelin gestanden. Die lieblichsten Ladies des Landes waren hierhergekommen; und die härtesten Krieger. Banner hingen da, die auf den Schlachtfeldern von Flodden und Agincourt geflattert hatten. Da war eine prunkende Schaustellung der bemalten Wappenschilde mit ihren Löwen und ihren Leoparden und ihren Adelskronen. Da waren die langen Tafeln, auf denen das Gold- und Silbergeschirr stand; und da waren die gewaltigen Kamine aus schönverziertem italienischem Marmor, in denen allabendlich ein ganzer Eichbaum mit seinen Millionen von Blättern und seinen Krähen- und Zaunkönignestern zu Asche verbrannt wurde. Nun stand da Nicholas Greene, der Dichter, schlicht gekleidet, mit Schlapphut und schwarzem Wams, eine kleine Reisetasche in der Hand.

Daß Orlando, als er ihm zur Begrüßung entgegeneilte, ein wenig enttäuscht war, konnte nicht ausbleiben. Der Dichter war von etwa mittlerer Größe; dürftig von Gestalt; mager und ein wenig gekrümmt. Als er beim Eintreten über die Bulldogge stolperte, biß ihn der Hund. Außerdem war Orlando trotz all seiner Menschenkenntnis in peinlichstem Zweifel, wie er ihn gesellschaftlich einordnen sollte. Es war so ein gewisses Etwas an ihm, das weder zum Dienerstand noch zum niederen Landadel noch zum Edelmann passen wollte. Der Kopf mit der runden Stirn und der schnabelartig gekrümmten Nase war wohlgeformt, aber er hatte ein fliehendes Kinn. Die Augen waren von hellem Glanz, aber die Lippen hingen schlaff herab und sabberten. Der Ausdruck des Gesichtes im Ganzen aber war in der Tat beunruhigend. Da war nichts von jener vornehmen Gelassenheit, die das Gesicht eines adeligen Menschen zu einem so schönen Anblick macht; auch lag nichts darin von der würdevollen Dienstwilligkeit eines gutgezüchteten Dienergesichtes; es war ein narbenzerrissenes, faltengefurchtes, verkniffenes Gesicht. Ja, das war nun ein Dichter – aber er sah aus, als wäre ihm das Schmähen besser vertraut als das Schmeicheln; das Keifen besser als das Kosen; das mühselige Rennen besser als das Reiten; das Rackern besser als das Rasten; das Hassen besser als das Lieben. Dies alles wurde zudem erwiesen durch die Raschheit seiner Bewegungen und durch etwas Aufglühendes und Argwöhnisches in seinem Blick. Orlando war ein wenig bestürzt. Aber sie setzten sich zum Essen nieder.

Hier nun geschah es, daß Orlando, der diese Dinge sonst als etwas Selbstverständliches hinnahm, sich zum ersten Male auf unerklärliche Art der Zahl seiner Diener und des Glanzes seiner Tafel schämte. Noch seltsamer: er besann sich mit Stolz – im allgemeinen war ihm der Gedanke abscheulich – auf jene Urgroßmutter Moll, welche die Kühe gemolken hatte. Er war eben im Begriff, irgendwie auf diese Frau aus niederem Stand und auf ihre Milcheimer anzuspielen, als der Dichter ihm mit einer Eröffnung zuvorkam. Wenn man so sähe, sagte Nick Greene, wie gemein in England der Name Greene geworden war, so käme es einem recht wunderlich vor, daß die Greenes schon mit Wilhelm dem Eroberer herübergekommen sein und zum höchsten Adel Frankreichs gehört haben sollten; und doch wäre dem so. Leider wäre es mit den Greenes abwärts gegangen, und sie hätten kaum etwas anderes hinterlassen als ihren Namen, den sie dem Städtchen Greenwich vererbten. Auf die Art redete er weiter: von verlorenen Schlössern, von Wappenschilden, von Vettern, die als Baronets im Norden lebten, von Wechselheiraten mit vornehmen Familien im Westen, und von den verschiedenen Schreibweisen (manche schrieben den Namen mit einem e am Ende, manche ohne e). Das währte, bis das Wildbret auf der Tafel stand. Dann brachte Orlando es zuwege, etwas über Großmutter Moll und ihre Kühe zu sagen, und als das Wildgeflügel vor ihnen stand, hatte er sein Herz ein wenig von seiner Last erleichtert. Aber erst als sie dem Malvasier tüchtig zugesprochen hatten, wagte Orlando das zu erwähnen, was ihm nun einmal wichtiger schien als die Greenes oder die Greens oder die Kühe: das geheiligte Gebiet der Dichtkunst. Bei der ersten Erwähnung des Wortes schon loderte Feuer in den Augen des Dichters; die feinen Manieren, die er zur Schau getragen hatte, fielen von ihm ab; heftig stellte er das Glas auf den Tisch und stürzte sich in eine der längsten, verworrensten, leidenschaftlichsten und bittersten Reden, die Orlando je vernommen hatte (nur von einer betrogenen Frau hatte er einmal eine schlimmere gehört); es ging darin um ein Theaterstück von ihm, einen anderen Dichter und einen Kritiker. An Aufschlüssen über das Wesen der Dichtkunst konnte Orlando daraus nur entnehmen, daß Gereimtes sich schwerer verkaufen ließ als Prosa und daß man zum Schreiben mehr Zeit brauchte, obwohl die Zeilen kürzer waren. So redete der Dichter mit vielen Abschweifungen endlos weiter, bis Orlando eine Andeutung wagte, daß er selbst auch so kühn gewesen wäre, sich im Schreiben zu versuchen; hier aber sprang der Dichter mit einem Satz vom Stuhle auf. In der Täfelung hätte eine Maus gepiepst, sagte er. Und seine Nerven wären, so setzte er auseinander, gewiß und wahrhaftig in einem solchen Zustande, daß das Piepsen einer Maus ihn für vierzehn Tage krank machen könnte. Zweifellos wimmelte das ganze Haus von solchem Ungeziefer, aber Orlando hatte nie darauf geachtet. Der Dichter gab ihm nun einen lückenlosen Bericht über seinen Gesundheitszustand in den letzten zehn oder zwölf Jahren. Es hatte sehr schlecht damit gestanden – man konnte sich nur wundern, daß er noch lebte. Den Schlagfluß hatte er gehabt und die Gicht, das Wechselfieber, die Wassersucht und alle drei Arten von Fieber hintereinander; ganz abgesehen von der Herzerweiterung, der bösen Milzsucht und der kranken Leber. Schlimmer als alles das aber war, so teilte er Orlando mit, so ein gewisses Gefühl im Rückgrat, das jeder Beschreibung spottete. Einer der Wirbel, ungefähr der dritte von oben, brannte wie Feuer; ein anderer, ungefähr der zweite von unten, war kalt wie Eis. Zuweilen war ihm beim Erwachen der Kopf schwer wie Blei; am anderen Tage wiederum war es, als ob tausend Wachskerzen in ihm brannten und als würde in seinem Kopf ein Feuerwerk losgelassen. Er könnte ein Rosenblatt durch eine Matratze hindurch fühlen, sagte er; und er könnte beinahe jede Gegend Londons am Fußgefühl der Pflastersteine erkennen. Kurz, er wäre ein so feingefertigtes und so seltsam zusammengesetztes Gehwerk (hier hob er wie mit unbewußter Bewegung die Hand, und sie war in der Tat von der edelsten Bildung, die man sich vorstellen kann), daß ihn der bloße Gedanke an die jämmerlichen fünfhundert Exemplare, die er bisher von seinem Gedicht verkauft hatte, geradezu zerschmetterte; aber das wäre, sagte er, natürlich nur auf die gegen ihn gesponnenen Ränke zurückzuführen. Alles, was er sagen könne, schloß er mit einem Fausthieb auf den Tisch, sei, die Kunst des Dichtens sei tot in England.

Orlando erwiderte, er könne sich nicht recht vorstellen, wie das möglich sei, wo doch – er schnurrte die Namen seiner Lieblingshelden herunter – Shakespeare, Marlowe, Ben Jonson, Browne, Donne – sämtlich noch schrieben oder eben erst die Feder aus der Hand gelegt hätten.

Greene lachte höhnisch. Shakespeare – ja, da müßte er zugeben, der hätte ein paar Szenen geschrieben, die recht ansehnlich wären; aber er hätte sie in der Hauptsache aus Marlowe entlehnt. Und Marlowe wäre ja ein vielversprechender Kerl gewesen – aber was könnte man von einem Jungen sagen, der starb, bevor er noch dreißig Jahre alt war? Browne –? Der versteifte sich darauf, sozusagen Poesie in Prosa zu schreiben, und solche Spielereien kriegte das Publikum sehr schnell satt. Donne wäre ein marktschreierischer Prahlhans, der seine hohle Bedeutungslosigkeit mit großen Worten aufdonnerte. Die Dummen fielen natürlich darauf hinein; aber noch keine zwölf Monate würden vergehen, und dieser ›Stil‹ wäre aus der Mode. Ben Jonson –? Ja, Ben Jonson wäre sein Freund, und er redete niemals Übles über seine Freunde.

Nein, so schloß er, das große Zeitalter der Literatur war vorüber; das große Zeitalter der Literatur war das hellenische gewesen; das Elisabethanische Zeitalter stand in jeder Beziehung tiefer als das hellenische. In solchen Zeiten hegten die Menschen einen erhabenen Ehrgeiz, den er, so sagte er, ›La Gloire‹ nennen möchte (er sprach das Wort ›Glåhr‹ aus, so daß Orlando zuerst nicht begriff, was er meinte). Heutzutage standen alle jungen Schriftsteller im Solde der Buchhändler und verzapften jeden Schund, der guten Absatz fand. Shakespeare war der Hauptübeltäter dieser Sorte, und Shakespeare bezahlte schon jetzt die Strafe dafür. Das Kennzeichen des gegenwärtigen Zeitalters, so sagte er, wären großtuerische Spiegelfechtereien und wilde Experimente; die Griechen hätten weder das eine noch das andere auch nur einen Augenblick geduldet. Es täte ihm zwar furchtbar weh, so etwas sagen zu müssen, denn er liebte die Literatur wie sein eigenes Leben – aber sagen müßte er es darum doch: daß er nichts Gutes in der Gegenwart und keine Hoffnung für die Zukunft zu erblicken vermöchte. Hier goß er sich ein weiteres Glas Wein ein.

Orlando war entsetzt über diese Gedanken; aber er konnte nicht umhin festzustellen, daß der Kritiker mitnichten niedergeschlagen aussah. Im Gegenteil: je tiefer er seine Zeit verdammte, um so behaglicher wurde ihm sichtlich zumute. Da entsänne er sich, sagte er, eines Abends in der Cock Tavern, Fleet Street; Kit Marlowe war dagewesen und noch ein paar Leute. Kit war so recht in seinem Fahrwasser, ein bißchen angetrunken, was bei ihm leicht vorkam, und in der Stimmung, dummes Zeug zu schwatzen. Er sähe ihn noch vor sich, sagte Greene, wie er glasschwenkend der Gesellschaft zutrank und, vom Schluckauf unterbrochen, loslegte: ›Hol mich der Teufel, Bill‹ (damit war Shakespeare gemeint), ›es kommt eine große Welle, und du schwimmst obendrauf.‹ Damit wollte er sagen, so erläuterte Greene, daß sie in der englischen Literatur am Rande eines großen Zeitalters ständen und daß Shakespeare ein Dichter von einiger Bedeutung werden würde. Kit Marlowe hatte Glück gehabt: Er war zwei Nächte darauf in einer trunkenen Schlägerei getötet worden und brauchte es also nicht mehr mitanzusehen, wie seine Prophezeiung sich erfüllte. »Der arme, liebe, närrische Kerl«, sagte Greene. »So was zu sagen! Ein großes Zeitalter – bei Gott, ein großes Zeitalter, das Elisabethanische!«

»Mithin, mein lieber Lord«, fuhr er fort, rückte sich behaglich im Stuhl zurecht und drehte das Weinglas zwischen den Fingern, »müssen wir uns nach besten Kräften mit alledem abfinden, die Werte der Vergangenheit hüten und pflegen und solche Schriftsteller ehren – es gibt immerhin noch ein paar davon –, die sich die Antike zum Vorbild nehmen und nicht um des Geldes willen schreiben, sondern um Glåhr zu ernten.« (›Wenn er nur eine bessere Aussprache hätte!‹ dachte Orlando.) »Glåhr«, sagte Greene, »ist die Antriebskraft edler Geister. Hätte ich ein Ruhegehalt von dreihundert Pfund jährlich, in Vierteljahrsraten auszahlbar, so lebte ich nur noch, um Glåhr zu erringen. Ich würde jeden Morgen schon im Bett Cicero lesen. Ich würde seinen Stil so treulich nachahmen, daß Sie keinen Unterschied mehr finden sollten zwischen ihm und mir. Das ist es, was ich unter edlem Stil verstehe«, sagte Greene, » das ist es, was ich unter Glåhr verstehe. Aber man muß natürlich ein Ruhegehalt haben, sonst kann man's nicht.«

Orlando hatte inzwischen die Hoffnung, mit dem Dichter über seine eigenen Arbeiten sprechen zu können, gänzlich aufgegeben; aber das wollte um so weniger besagen, als das Gespräch jetzt auf Leben und Charakter Shakespeares, Ben Jonsons und all der anderen kam, die Greene alle aus engstem Umgang kannte und von denen er tausend Anekdoten der lustigsten Art zu erzählen wußte. Nie in seinem Leben hatte Orlando dermaßen gelacht. So also sahen seine Götter aus! Die Hälfte davon trank über den Durst, und alle miteinander hatten sie ein riesiges Liebesbedürfnis. Die meisten zankten sich mit ihren Weibern; und nicht ein einziger dünkte sich zu gut, um sich nicht mit Lügen und Winkelzügen der armseligsten Art abzugeben. Wie schrieben sie ihre Dichtungen? Sie kritzelten sie in der Haustür auf die Rückseite von Wäscherechnungen, und der Kopf eines Setzerlehrlings diente ihnen als Unterlage. Auf die Art wurde ›Hamlet‹ druckfertig gemacht; und ›Lear‹; und ›Othello‹. Da brauchte man sich, sagte Greene, über die Mängel dieser Stücke freilich nicht zu wundern. Die übrige Zeit wurde mit Saufen und Fressen in Kneipen und Biergärten verbracht, wo unglaublich witzige Dinge gesagt und Streiche vollführt wurden, neben denen die wildesten Späße des Höflingsvolkes verblaßten. Alles das erzählte Greene mit einer geistvollen Schilderungskraft, die Orlando in höchstem Entzücken lauschen ließ. Nick Greene hatte ein Nachahmetalent, mit dem er Tote lebendig machen konnte, und er wußte die herrlichsten Dinge über Bücher zu sagen – vorausgesetzt, daß sie vor dreihundert Jahren geschrieben worden waren.

So verging die Zeit, und Orlando empfand für seinen Gast ein seltsames Gemisch von Zuneigung und Verachtung, von Bewunderung und Mitleid, dazu ein Gefühl, das zu unbestimmt war, um sich mit einem einzigen Worte benennen zu lassen; es hatte etwas mit Angst zu tun und etwas mit zauberhaftem Gebanntsein. Greene redete unaufhörlich von sich selbst, aber er war ein so guter Gesellschafter, daß man der Geschichte von seinem Wechselfieber bis in alle Ewigkeit hätte zuhören mögen. Und dann: Er war so witzig; er war so herrlich respektlos; er warf mit dem lieben Gott und den ›Weibern‹ herum, daß es zum Staunen war: er hatte die wunderlichsten Fertigkeiten und wahrhaft ausgefallene Einfälle; er kannte dreihundert verschiedene Salatrezepte; über das Mischen von Weinen wußte er alles, was ein Sterblicher nur wissen kann; er spielte ein halbes Dutzend Musikinstrumente; und er war der erste (und vielleicht auch der letzte), der in dem großen italienischen Kamin Käse röstete. Dagegen konnte er eine Geranie nicht von einer Nelke unterscheiden, eine Eiche nicht von einer Birke, eine Bulldogge nicht von einem Windhund, ein Schaf im zweiten Jahr nicht von einem Mutterschaf, Weizen nicht von Gerste, Ackerland nicht von Brachland; er hatte keine Ahnung von der Fruchtfolge; er glaubte, Orangen wüchsen unter der Erde und Rüben auf Bäumen; jede ›Stadtschaft‹ war ihm lieber als die allerschönste Landschaft. Über alles das und noch vieles mehr staunte Orlando, der nie im Leben einen solchen Menschen gesehen hatte. Selbst die Mägde, die den Gast voll Verachtung betrachteten, kicherten über seine Späße, und die Diener, die ihn verabscheuten, machten sich im Zimmer zu schaffen, um seine Geschichten zu hören. Es war schon so, daß das Haus nie so köstliche Stunden gesehen hatte wie nun in Nick Greenes Anwesenheit. All das stimmte Orlando sehr nachdenklich und gab ihm Anlaß, das Heute mit dem Einst zu vergleichen. Er dachte an die Art von Gesprächen, wie sie ihm zur täglichen Gewohnheit gehört hatten: über den Schlaganfall des Königs von Spanien oder das Decken einer Hündin; er erinnerte sich daran, wie die Tage zwischen den Stallungen und dem Ankleidezimmer totgeschlagen worden waren; er malte sich aus, wie die Lords schnarchend beim Weine saßen und jeden, der sie weckte, einen Hundsfott nannten. Wie regsam und stark waren sie bei körperlichen Leistungen, dachte er; wie träge und blöde in geistigen Dingen! Das waren unerfreuliche Gedanken, und da er, wenn er die beiden Welten gegeneinander aufrechnete, zu keinem sauberen Ausgleich kommen konnte, so zog er den Schluß, daß er sich da einen unraststiftenden Plagegeist ins Haus geholt hatte, der ihm niemals wieder seinen gesunden Schlaf gönnen würde.

Um genau die gleiche Stunde kam Nick Greene zu einem genau entgegengesetzten Schluß. Da lag er nun in einer frühen Morgenstunde auf den weichsten Kissen zwischen den weichsten Laken und blickte durch sein Erkerfenster auf einen Rasen hinaus, der seit drei Jahrhunderten weder Löwenzahn noch Ampfer gekannt hatte: und er meinte, wenn er nicht auf irgendeine Art entrinnen könnte, so würde es ihn hier bei lebendigem Leibe ersticken. Er stand auf und hörte die Tauben gurren; er zog sich an und hörte die Springbrunnen plätschern; und er dachte: ›Bevor ich nicht auf dem Katzenkopfpflaster der Fleet Street die Karrenräder poltern höre, werde ich keine Zeile mehr schreiben können.‹ Und als er hörte, wie nebenan der Lakai das Feuer aufschürte und den Tisch mit Silbergeschirr deckte, dachte er: ›Wenn das noch lange so weitergeht, schlafe ich ein und (hier gähnte er gewaltig) schlafe mich tot.‹

Also suchte er Orlando in seinem Zimmer auf und setzte ihm auseinander, er hätte die ganze Nacht kein Auge zutun können – der Stille wegen. (Man muß wissen, daß das Haus von einem fünfzehn Meilen breiten Parkgürtel und der Park wiederum von einer zehn Fuß hohen Mauer umgeben war.) Nichts setzte seinen Nerven dermaßen zu wie gerade Stille, sagte er. Deshalb möchte er, mit Orlandos Erlaubnis, seinen Besuch sogleich und auf der Stelle beenden. Orlando empfand bei dieser Eröffnung ein wunderliches Gemisch von Erleichterung und heftigem Bedauern. Es würde, so sagte er sich, recht langweilig sein im Hause ohne Nick Greene. Erst beim Abschied (vorher hatte er es nicht gewagt, die Sache zu erwähnen) faßte er sich ein Herz: er drückte dem Dichter mit dringlicher Gebärde sein Epos ›Der Tod des Herakles‹ in die Hand und bat ihn um seine Meinung darüber. Nick Greene nahm es; gab ein Gebrummel von sich über ›Glåhr‹ und ›Cicero‹, das Orlando kurz abschnitt, indem er versprach, das Ruhegehalt vierteljährlich zu bezahlen; worauf Greene, mit zahlreichen Bekundungen herzlicher Zuneigung, in die Kutsche sprang. Und weg war er.

Die große Halle war Orlando nie so riesenhaft vorgekommen, nie so glanzvoll und nie so leer, wie in dem Augenblick, da die Kutsche davonrollte. Er wußte, daß er es nie mehr über sich gewinnen würde, in dem italienischen Kamin Käse zu rösten. Er würde niemals soviel Geist besitzen, um über italienische Gemälde Witze reißen zu können; niemals soviel Geschick, um Punsch zu mischen, wie Punsch eben gemischt werden mußte; unzählige gute Scherzworte und Wortspiele würden ihm entgehen. Und doch – was für eine Erleichterung, sich nicht mehr im Bereich dieser zänkischen Stimme zu wissen, was für ein schwelgerisches Behagen, einmal wieder allein zu sein! Dies mußte er halb wider Willen denken, als er die Bulldogge wieder losmachte, die während dieser ganzen sechs Wochen angebunden gewesen war, weil sie den Dichter jedesmal biß, wenn sie ihn sah.

Nick Greene wurde am Nachmittag dieses Tages an der Ecke der Fetter Lane abgesetzt und fand daheim alles noch ziemlich genauso, wie er es verlassen hatte. Das will sagen: In dem einen Zimmer war Mrs. Greene eben dabei, ein Kind zu bekommen; im anderen saß Tom Fletcher und trank Branntwein. Bücher lagen über den Fußboden verstreut; das Essen – oder das, was man hier so nannte – stand auf einem Ankleidetisch, auf dem die Kinder Kuchen aus Straßenschmutz gebacken hatten. Dies aber war, so empfand Greene, die rechte Atmosphäre zum Schreiben; hier konnte er schreiben; und er schrieb. Das Thema war wie für ihn geschaffen. ›Seine Lordschaft daheim.‹ – ›Besuch bei einem Edelmann auf dem Lande.‹ So ungefähr mußte der Titel des neuen Gedichtes lauten. Er nahm die Feder, mit der einer seiner Jüngsten gerade die Katze am Ohr kitzelte, tunkte sie in den Eierbecher, der ihm als Tintenfaß diente, und hier und jetzt warf er die keckste Satire aufs Papier. Sie war gerade richtig gewürzt, daß keiner darüber im Zweifel bleiben konnte, daß der junge Lord, der hier am Spieß gebraten wurde, Orlando war; seine allerpersönlichsten und vertraulichsten Aussprüche und Handlungen, seine Schwärmereien und Narrheiten bis hin zur Farbe seiner Haare und der ›fremdländischen‹ Art, wie er das r rollte – alles war darin aufs lebendigste geschildert. Und wäre nach alledem noch irgendein Zweifel möglich gewesen, so gab Greene dem Ganzen gewissermaßen die letzte Rundung, indem er in einer kaum noch irgendwie verhüllten Form Stellen aus jener Edelmannstragödie ›Der Tod des Herakles‹ anführte, die genauso war, wie er es erwartet hatte, nämlich von unüberbietbarer Weitschweifigkeit und Schwülstigkeit.

Das Schmähgedicht, das auf Anhieb mehrere Auflagen erlebte und die Unkosten von Mrs. Greenes zehntem Wochenbett einbrachte, kam bald auch in Orlandos Hände; Freunde, die sich solcher Dinge anzunehmen pflegen, sandten es ihm. Er las es mit steinerner Ruhe vom Anfang bis zum Ende; dann klingelte er nach dem Bedienten, reichte ihm das Schriftstück mit der Feuerzange hin und trug ihm auf, es im übelstriechenden Dunghaufen des Gutes zu versenken, da, wo er am schmutzigsten sei. Dann, als der Mann sich zum Gehen wandte, rief er ihn zurück. »Nimm das schnellste Pferd aus dem Stall«, sagte er, »und reite nach Harwich, als säße der Teufel dir im Genick. In Harwich besteigst du ein nach Norwegen segelndes Schiff. Kaufe für mich aus des Königs von Norwegen eigener Meute die edelsten Elchhunde der königlichen Zucht, Rüden und Jiffen. Bringe sie ohne Verzug hierher. Denn«, so murmelte er kaum noch hörbar, indessen er sich wieder seinen Büchern zuwandte, »mit den Menschen bin ich fertig.«

Der Diener, der seine Pflichten mit vollendeter Schulung erfüllte, verbeugte sich und verschwand. Er führte seinen Auftrag so gewissenhaft aus, daß er schon nach genau drei Wochen wieder zur Stelle war, eine Koppel der edelsten Elchhunde führend, darunter eine Hündin, die noch in derselben Nacht unter dem Eßtisch einen Wurf von acht untadeligen Welpen zur Welt brachte. Orlando ließ sie in sein Schlafzimmer schaffen. »Denn«, so sagte er, »mit den Menschen bin ich fertig.« Trotz alledem ließ er das Ruhegehalt vierteljährlich auszahlen.

 

So hatte denn dieser junge Edelmann mit dreißig oder kaum mehr Jahren alles Erleben durchgemacht, das dieses Dasein zu bieten hat; und, mehr noch, er hatte die Nichtigkeit alles dieses Erlebens erfahren. Liebe und Ehrgeiz, Frauen und Dichter – alles war gleichermaßen eitel. Literatur war Blendwerk. Am Abend des Tages, als er Greenes ›Besuch bei einem Edelmann auf dem Lande‹ gelesen hatte, verbrannte er auf einem großen Scheiterhaufen fünfundsiebzig Dichtwerke; nur den ›Eichbaum‹ verschonte er, denn das war eine Knabenphantasie und ganz kurz. Allein zwei Dinge verblieben ihm noch, denen er Zutrauen und Zuneigung bewahrte: die Hunde und die Natur; ein Elchhund und ein Rosenstrauch. So war ihm die Welt in all ihrer Mannigfaltigkeit, so war ihm das Leben in all seiner Verworrenheit zusammengeschrumpft: zu diesen beiden Dingen. Hunde und ein Rosenbusch – darin war für ihn die Welt begriffen. Einer riesigen Bergeslast von Selbsttrug war er ledig geworden, und nun kam er sich vor wie nackt und bloß. Und er rief seine Hunde zu sich und streifte im Park umher.

So lange hatte er sich, schreibend und lesend, eingeschlossen gehabt, daß er darüber die Annehmlichkeiten der Natur, die doch im Juni zuweilen recht groß sind, halb vergessen hatte. Als er nun die Spitze jenes Hügels erreichte, von dem aus man an schönen Tagen halb England und ein Stückchen von Wales und Schottland dazu sehen kann, warf er sich unter seiner Lieblingseiche zu Boden und meinte: wenn er nun mit keinem Menschen, Mann oder Weib, mehr würde zu sprechen brauchen, solange er lebte; wenn nicht etwa seinen Hunden plötzlich die Gabe des Sprechens verliehen würde; wenn er niemals wieder einem Dichter oder einer Prinzessin begegnete – so würde er die Jahre, die ihm noch beschieden waren, in leidlicher Zufriedenheit verbringen können.

An diese Stelle kam er nun, Tag auf Tag, Woche auf Woche, Monat auf Monat, Jahr auf Jahr. Er sah die Buchen golden werden und die Farne sich entfalten; er sah den Mond zur Sichel werden und sich wieder runden; er sah – aber vielleicht kann der Leser sich selber die Stelle ergänzen, die hier folgen müßte und worin zu beschreiben wäre, wie jeder Baum und jede Pflanze ringsum erst grün, dann golden ist, wie die Monde aufgehen und die Sonnen sinken, wie der Frühling dem Winter folgt und der Herbst dem Sommer, wie auf die Nacht der Tag und auf den Tag die Nacht kommt, wie es zuerst ein Gewitter gibt und dann schönes Wetter, wie die Dinge zwei- oder dreihundert Jahre lang ziemlich genau so bleiben, wie sie sind, abgesehen von einem bißchen Staub und ein paar Spinnweben, mit denen ein einziges altes Weib in einer halben Stunde aufräumen kann; ein Schluß, zu dem man, wir müssen es wohl oder übel zugeben, rascher hätte gelangen können durch die schlichte Feststellung, daß ›die Zeit verging‹ (hier könnte die genaue Länge der vergangenen Zeit in Klammern angegeben werden) und daß nichts sich ereignete; gar nichts.

Leider steht es nun aber so, daß die Zeit, die Tiere und Pflanzen mit erstaunlicher Pünktlichkeit blühen und welken läßt, auf das menschliche Gehirn nicht in einer so leicht faßbaren Weise einwirkt. Obendrein wirkt das menschliche Gehirn seinerseits auf die Dauer der Zeit gleichermaßen seltsam ein. Eine Stunde kann, wenn sie erst einmal in das wunderliche Element des Menschengehirns geraten ist, auf das Fünfzig- oder Hundertfache ihrer Uhrzeitlänge gestreckt werden; andererseits kann eine Stunde auf dem Zifferblatt des Gehirns sehr wohl zur Dauer einer einzigen Sekunde schrumpfen. Dieses außergewöhnliche Mißverhältnis zwischen der Zeit auf der Uhr und der Zeit im Gehirn ist durchaus nicht so bekannt, wie es sein sollte, und verdient nähere Erforschung. Der Biograph indessen, der seine Aufmerksamkeit auf ein streng umgrenztes Gebiet zu richten hat, muß sich hier auf eine ganz einfache Feststellung beschränken: Wenn der Mensch, wie es jetzt bei Orlando der Fall war, das dreißigste Jahr erreicht hat, so kommt ihm die Zeit, die er mit Denken verbringt, ungemein lang vor; die Zeit dagegen, die er mit Handeln verbringt, ungemein kurz. So waren denn die Stunden, in denen Orlando seine Befehle ausgab und die Geschäfte seines riesigen Besitzes regelte, kurz wie ein Blitz; sobald er aber einsam auf dem Hügel unter der Eiche lag, begannen die Sekunden sich zu runden und zu schwellen, bis es schien, als würden sie niemals vergehen. Damit nicht genug – sie füllten sich mit dem seltsamsten Buntgewirr von Dingen. Denn es geschah ihm nicht nur, daß Fragen vor ihn hintraten, über die sich die weisesten der Menschen die Köpfe zerbrochen haben, zum Beispiel: Was ist Liebe? Was ist Freundschaft? Was ist Wahrheit? – sondern sobald er darüber nachzusinnen begann, stürzte sich seine ganze Vergangenheit, die ihm höchst lang und höchst bunt vorkam, in die vergehende Sekunde und schwellte sie zum dutzendfachen Umfang ihrer natürlichen Größe auf, färbte sie tausendfach und steckte den gesamten Krimskrams des Weltalls hinein.

Mit solchem Gegrübel (oder wie man es sonst nennen will) brachte er Monate und Jahre seines Lebens zu. Es hieße nicht übertreiben, wenn man sagen wollte, er wäre zuweilen nach dem Frühstück als ein Dreißigjähriger fortgegangen und abends als ein mindestens Fünfundfünfzigjähriger zum Essen heimgekommen. Manche Wochen machten ihn um hundert Jahre älter, andere wiederum nicht um mehr als drei Sekunden. Sagen wir es kurz: Wir vermögen die Dauer des menschlichen Lebens (von den Tieren wollen wir lieber gar nicht reden) nicht zu schätzen; die Aufgabe ist unerfüllbar für uns; denn in dem Augenblick, da wir sagen, es währe Ewigkeiten, fällt uns auch schon ein, daß es kürzer dauert als das Niederfallen eines Rosenblattes zur Erde. Zwei Mächte sind es, die abwechselnd und, was noch mehr Verwirrung stiftet, wiederum gleichzeitig uns unselige blöde Toren beherrschen – Kürze und lange Dauer, Flüchtigkeit und Ewigkeit; und auch Orlando stand zuweilen unter dem Einfluß der elefantenfüßigen Göttin, zuweilen unter dem der mückenflügeligen Fliege. Das Leben war, so schien es ihm, von ungeheurer Länge. Und doch, und doch – es ging dahin wie der Blitz. Aber selbst in den Zeiten, da es sich am längsten dehnte und die Augenblicke am gewaltigsten schwollen und ihm zumute war, als wandere er einsam durch Wüsten unermeßlicher Ewigkeit – selbst dann blieb ihm keine Zeit, die dicht mit Schriftzeichen bedeckten Pergamente zu entziffern, die ein dreißigjähriges Leben unter Männern und Frauen in seinem Herzen und seinem Hirn zu festgepreßten Rollenstapeln gehäuft hatte. Lange bevor er mit dem Grübeln über die Liebe fertig war (der Eichbaum hatte währenddessen seine Blätter ein dutzendmal aus den Ästen getrieben und wieder zur Erde geschüttelt), jagte der Ehrgeiz die Liebe vom Plan, aber nur, um alsbald durch die Freundschaft oder die Literatur ersetzt zu werden. Und da die erste Frage – ›Was ist Liebe?‹ – nicht beantwortet war, kam sie beim geringsten oder auch bei gar keinem Anlaß wieder herbei und drängte die anderen Fragen – ›Bücher‹ oder ›Gleichnisse‹ oder ›Was ist der Zweck unseres Lebens?‹ – an den Rand; da lagen sie dann auf der Lauer, bis sie eine Gelegenheit sahen, sich wieder auf die Walstatt zu stürzen. Dieser ganze Vorgang wurde noch dadurch gedehnt, daß er sozusagen illustriert war; und zwar überreichlich: nicht nur mit Bildern wie dem der alten Königin Elisabeth auf ihrem teppichbelegten Ruhebett, in rosenfarbenen Brokat gekleidet, eine elfenbeinerne Schnupftabaksdose in der Hand, ein Schwert mit goldenem Griff zur Seite; nein, auch mit Gerüchen (sie war stark mit Wohlgerüchen besprengt) und mit Geräuschen: an jenem Wintertag bellten im Park zu Richmond die Hirsche. So war denn der Gedanke an die Liebe ganz und gar übersät, durchtränkt, durchduftet von Schnee und Winter, von brennenden Holzfeuern, von russischen Mädchen, goldenen Schwertern und dem Gebell der Hirsche, vom Geschlabber des alten Königs Jakob und Feuerwerk und Schatzsäcken im Raum elisabethanischer Segelschiffe. Und sobald er es unternahm, irgendeinen Gegenstand in seinem Hirn vom Platze zu rücken, entdeckte er, daß er über und über mit anderem Stoff bedeckt und verwachsen war, wie eine Glasscherbe, die ein Jahr lang auf dem Meeresgrunde gelegen hat, verwachsen ist mit Gräten und Knochen und Wasserjungfern und Geldstücken und den Haaren ertrunkener Frauen.

»Beim Zeus! Schon wieder ein Gleichnis!« rief er, als er dies gesagt hatte (und es zeigt sich hier, wie regellos und auf welchen Umwegen seine Gedanken wanderten; auch erklärt es, weshalb der Eichbaum so oft grünen und gilben mußte, bevor Orlando sich über die Liebe irgendwie klar wurde). »Und wozu das alles?« fragte er sich. »Warum nicht schlichtweg mit ein paar Worten sagen – –« und dann versuchte er eine halbe Stunde lang – oder waren es zweieinhalb Jahre? – die ›paar Worte‹ zu ersinnen, mit denen er schlichtweg sagen wollte, was Liebe sei. »Ein derartiger Vergleich ist ganz offenbar schief«, grübelte er, »denn keine Wasserjungfer vermöchte auf dem Meeresgrunde zu leben, es sei denn unter höchst außergewöhnlichen Umständen. Und wenn die Literatur nicht die Braut und Bettgenossin der Wahrheit ist – was ist sie dann? Hol der Teufel den ganzen Unsinn!« schrie er. »Wozu nun wieder ›Bettgenossin‹, nachdem man schon ›Braut‹ gesagt hat? Weshalb sagen wir nicht schlichtweg, was wir meinen, und damit Schluß?«

So versuchte er's denn auf die Weise, daß er sagte: »Das Gras ist grün« und: »Der Himmel ist blau«, um so den strengen Genius der Dichtkunst zu versöhnen, den er immer noch, wenn auch aus großer Entfernung, verehren mußte. »Der Himmel ist blau«, sagte er. »Das Gras ist grün.« Dann blickte er empor und sah, daß ganz im Gegenteil der Himmel den Schleiern gleicht, die tausend Madonnen von ihrem Haar herabfallen ließen; und das Gras fliegt dahin und dunkelt wie ein Mädchenschwarm, der aus dem Zauberwald vor den Umarmungen behaarter Satyrn flieht. »Auf mein Wort«, sagte er (denn er hatte die üble Gewohnheit angenommen, laut mit sich selber zu reden), »das eine ist nicht richtiger als das andere. Beides ist so falsch wie nur möglich.« Und er verzweifelte an seiner Fähigkeit, die Frage zu lösen, was Dichtung ist und was Wahrheit ist; und er verfiel in tiefen Trübsinn.

Hier nutzen wir eine Pause in seinem Selbstgespräch, um darauf den Sinn zu richten, wie seltsam es war, diesen Orlando da an einem solchen Junitage liegen zu sehen, ausgestreckt, auf einen Ellbogen gestützt: diesen edelgebildeten Menschen mit allen seinen Kräften und Gaben, gesundem Körper, roten Wangen und geraden Gliedern; einen Mann, der sich niemals zweimal besann, wenn es galt, in einem Abenteuer den Führer zu machen oder einen Zweikampf auszufechten; wie seltsam es war, daß er der lähmenden Denksucht erlegen sein sollte. Und doch hatte sie ihn so empfindlich gemacht, daß er, sobald die Rede auf die Dichtkunst oder gar seine eigenen dichterischen Fähigkeiten kam, so scheu und schüchtern wurde wie ein kleines Mädchen hinter Mutters Haustür. Wir sind der Meinung, daß Greenes Hohn auf sein Trauerspiel ihn ebensosehr verletzte wie der Prinzessin Hohn auf seine Liebe. Aber kommen wir wieder zur Sache –:

Orlando grübelte weiter. Er sah immer noch das Gras und den Himmel an und versuchte sich vorzustellen, was wohl ein richtiger Dichter, dessen Verse in London gedruckt werden, über dieses Gras und diesen Himmel sagen würde. Die Erinnerung indessen (deren Gepflogenheiten hier bereits geschildert worden sind) hielt ihm beständig das Gesicht Nicholas Greenes vor Augen, als wäre dieser hämische Mann mit der Hängelippe, dieser nachgewiesenermaßen heimtückische Verräter, die Muse in Person, und als wäre er es, dem Orlando zu huldigen hätte. So breitete Orlando denn an diesem Sommermorgen die verschiedenartigsten Redewendungen vor ihm aus, manche schlicht und ungeschmückt, andere wieder mit Bildern verziert; aber Nick Greene schüttelte immerzu den Kopf und hohnlächelte und brummelte irgendwas über Glåhr und Cicero und den Untergang der Dichtkunst in der Gegenwart. Zu guter Letzt sprang Orlando auf die Füße (es war Winter und sehr kalt) und schwor einen der bemerkenswertesten Eide seines Lebens: denn mit diesem Eide verschrieb er sich dem strengsten Dienst, der sich erdenken läßt. »Der Teufel soll mich holen«, sagte er, »wenn ich jemals noch ein einziges Wort schreibe oder zu schreiben versuche, um Greene oder der Muse zu gefallen. Schlecht, gut oder belanglos – vom heutigen Tage an schreibe ich nur noch zu meinem eigenen Genügen und Vergnügen!« Hier machte er eine Handbewegung, als zerrisse er ein ganzes Bündel Schriftstücke und würfe die Fetzen jenem hämischen Manne mit der Hängelippe ins Gesicht. Worauf die Erinnerung sich duckte, wie ein Köter sich duckt, wenn man sich bückt, um einen Stein nach ihm zu werfen, und ihr Bild Nick Greenes eiligst verschwinden ließ; und sie ersetzte es durch – nichts: gar nichts.

Trotzdem setzte Orlando sein Grübeln fort. Und er hatte wahrhaftig reichlich Stoff zum Grübeln. Denn es waren ja nicht jene Schriftstücke allein, die er zerriß: mit ihnen zerriß er jene schön verzierte, blasonierte Urkunde, die er in der Einsamkeit seines Zimmers sich selbst zu Ehren verfertigt hatte, und in der er sich, wie der König Gesandte ernennt, zum ersten Dichter seines Geschlechtes und zum größten Dichter seines Zeitalters ernannte; in der er seiner Seele ewige Unsterblichkeit verlieh und seinem Leibe ein Grab inmitten von Lorbeeren verhieß, umhegt und geschmückt von eines Volkes liebevoller Ehrfurcht in alle Ewigkeit. Alles dies, schönklingend wie es war, zerriß er nun und warf es in den Kehrichtkasten. »Der Ruhm«, sagte er, »ist wie« (und da jetzt kein Nick Greene mehr da war, seine Rede zu hemmen, so schwelgte er nun fröhlich drauflos in Bildern, von denen wir nur eins oder zwei der sanftesten aussuchen wollen), »ist wie ein betreßter Rock, in dem man nicht die Glieder rühren kann; ein silbernes Panzerhemd, das einem das Herz beengt; ein bemalter Schild, hinter dem sich eine Vogelscheuche verbirgt« usw. usw. Die Quintessenz aller dieser Redensarten war, daß der Ruhm hindert und wie Fesseln drückt, während das unberühmte Verborgensein den Menschen einhüllt wie Nebel; das Unbekanntsein ist dunkel, unermeßlich weit und frei; das Unbekanntsein läßt die Gedanken umherschweifen, wie es ihnen gefällt. Über den, der im Unbekanntsein lebt, ist Dunkelheit ausgegossen wie ein Tau himmlischer Gnade. Niemand weiß, wohin er geht, noch woher er kommt. Er darf die Wahrheit suchen und sie aussprechen; er, nur er ist frei; er, nur er ist wahr; er, nur er lebt in Frieden. Und so versank Orlando unter dem Eichbaum, dessen aus der Erde hervorragende Wurzeln ihn eher ein bequemes denn ein unbequemes Lager dünkten, in eine Stimmung friedlicher Gelassenheit.

Lange Zeit blieb dies in seiner tiefen Versunkenheit der Inhalt seiner Gedanken: die Köstlichkeit des Unbekanntseins, die Entzückung der Gewißheit, namenlos zu sein, einer Welle zu gleichen, die zurückrinnt in den tiefen Schoß des Meeres. Unbekannt zu sein, so dachte er, befreit die Seele und das Hirn von den Plagegeistern Neid und Haß; es füllt die Adern mit den klaren Wassern des Großmutes und des Edelsinns; in seinem Schutze darf man geben und nehmen, ohne Dank und Lohn bieten und nehmen zu müssen; und dies, so meinte er, müsse die Art aller großen Dichter gewesen sein (wenn auch sein Wissen von Hellas nicht groß genug war, um ihm diese Meinung zu bestätigen); so, meinte er, müsse Shakespeare geschrieben, so müßten die Erbauer der Kirchen gebaut haben, namenlos, ohne Buhlen um Dank oder Ruhm, zufrieden mit ihrer Arbeit am Tag und einem Krug Ale am Abend. »Was für ein wundervolles Leben ist das!« dachte er und reckte seine Glieder unter der Eiche. »Und was hindert mich, seine Freuden schon jetzt, in diesem Augenblick zu genießen?« Der Gedanke traf ihn wie eine Flintenkugel. Der Ehrgeiz fiel zu Boden wie ein Bleigewicht. Frei war er von der Qual verschmähter Liebe und gegeißelter Eitelkeit, frei von allen den anderen stechenden und brennenden Schmerzen, mit denen das Nesselbett des Lebens ihn geplagt hatte, als er ruhmbegierig war, die aber einem Menschen, der des Ruhmes nicht achtete, nichts anhaben konnten. Und er öffnete die Augen, die in allen diesen Jahren weit offen gewesen waren, aber nur Gedanken gesehen hatten: und er sah drunten in der Senke sein Haus liegen.

Da lag es im frühen Sonnenlicht des Frühlings. Es sah eher wie eine Stadt aus als ein Haus, aber nicht eine regellos hierhin und dorthin gebaute Stadt, wie es dem oder jenem gerade in den Kopf kam, sondern wie von einem einzigen Baumeister nach wohlerwogenem Plan geschaffen. Höfe und Gebäude, grau, rot und pflaumenfarben, lagen da, ordentlich und sauber ausgerichtet; manche von den Höfen waren länglich, manche quadratisch; in diesem war ein Springbrunnen; in jenem ein Standbild: manche von den Gebäuden waren niedrig, andere hatten Spitzdächer; hier war eine Kapelle, dort ein Glockenturm; Flächen grünsten Grases lagen dazwischen und Gruppen von Zedern und Beete mit leuchtenden Blumen; das Ganze war umklammert vom Rund einer wuchtigen Mauer, aber es war so klug angelegt, daß jeder Teil sichtlich genügend Raum hatte, um sich behaglich zurechtzurecken; und Kräuselrauch aus unzähligen Kaminen stieg beständig in die Luft. Orlando dachte: Dies gewaltige, aber wohlgeregelte Bauwerk, das wohl tausend Menschen und vielleicht zweitausend Pferde beherbergen kann, ist erbaut worden von Handwerkern, deren Namen niemand kennt. Hier haben seit mehr Jahrhunderten, als ich zu zählen vermag, die namenlosen Geschlechter meiner namenlosen Familie gelebt. Kein einziger von allen diesen, mochten sie Richard, John, Anne, Elisabeth heißen, hat ein Gedenkzeichen hinterlassen; alle aber, wirkend und zusammenwirkend mit Spaten und Nadeln, mit Lieben und Gebären, haben dies da hinterlassen.

Nie hatte das Haus vornehmer, nie hatte es gütiger ausgesehen.

Ja – weshalb aber hatte er dann den Wunsch genährt, höher zu steigen als sie? Es dünkte ihn unsagbar eitel und anmaßend, es besser machen zu wollen als sie – mehr schaffen zu wollen als dies ihr namenloses Werk, als die Arbeit ihrer längst vermoderten Hände. Es war besser, unbekannt dahinzugehen und als Spur seines Wirkens ein Gewölbe, ein Gewächshaus, eine Wand für ein Pfirsichspalier zurückzulassen, als zu verbrennen wie ein Meteor und nichts zurückzulassen als Staub. Denn wenn man es recht bedenkt, so sagte er, indessen er mit aufglühender Liebe auf das große Haus drunten auf der grünen Rasenfläche hinabblickte, die unbekannten Lords und Ladies, die darin gelebt hatten, vergaßen nie, etwas zu erübrigen und zu hinterlassen für die kommenden Geschlechter; für das Dach, das schadhaft werden kann; für den Baum, der stürzen wird. Immer gab es in der Küche eine warme Ecke für den alten Schäfer; immer gab es Speise für die Hungrigen; immer waren ihre Becher blankgeputzt, auch wenn sie krank lagen; immer waren ihre Fenster erleuchtet, auch wenn sie im Sterben lagen. Mochten sie auch Edelherren sein – ihnen war es genug, unbekannt ins Dunkel zu gehen wie der Maulwurfsfänger und der Steinmetz. Namenlose Edelleute, vergessene Schöpfer am Bau, so nannte er sie; und die Wärme, mit der er es sagte, widerlegte ganz und gar das Urteil derer, die ihn kalt, gleichgültig, träge nannten (denn es ist wahrlich so, daß eine Eigenschaft oft auf jener Seite der Mauer liegt, während wir sie auf dieser suchen); so redete er sein Haus und sein Geschlecht mit wahrhaft herzbewegender Beredsamkeit an; aber als er zum schwungvollen Schlusse kam – und was gilt die ganze Beredsamkeit ohne schwungvollen Schluß? –, da fing er an zu stottern. Gern hätte er mit einem schönen Schnörkel geendet: so etwa, daß er in ihre Fußtapfen treten und zu ihrem Bau einen neuen Stein hinzufügen würde. Da aber der Bau schon neun Morgen Landes bedeckte, so schien es überflüssig, auch nur einen einzigen Stein hinzuzutun. Und konnte man in einem Redeschluß den Hausrat erwähnen? Konnte man da von Stühlen reden und von Tischen und von Matten, die als Bettvorleger dienen? Woran es dem Schluß der Rede fehlte, war das, was das Haus nötig hatte. Für den Augenblick ließ er seine Rede also unvollendet und eilte mit langen Schritten hügelab, entschlossen, sich von nun an der Ausstattung des Herrensitzes zu widmen. Der guten alten Mrs. Grimsditch, die nun schon recht alt geworden war, traten bei der unerwarteten Kunde, daß sie sich sogleich bei ihm einfinden solle, die Tränen in die Augen. Und dann durchwanderten die beiden das Haus.

Dem Handtuchständer im ›Königszimmer‹ (»und das war König Jamie, Mylord«, sagte Mrs. Grimsditch, womit sie andeutete, daß mancher Tag vergangen war, seitdem ein König unter ihrem Dache geschlafen hatte; jetzt aber waren die Tage der elenden Parlamentsherrschaft vorüber, und es gab wieder eine Krone in England) fehlte ein Bein; in dem kleinen Waschraum, der in das Vorzimmer des ›Herzoginnenflügels‹ führte, fehlte das Wandbrett für die Wasserkrüge; Mr. Greene mit seinem ekelhaften Pfeifenrauchen hatte einen Brandfleck auf den Teppich gemacht, den sie und Judy trotz allem Reiben nicht wieder hatten wegbekommen können. Orlando begann zu rechnen: was konnte es kosten, jedes dieser dreihundertfünfundsechzig Schlafzimmer in seinem Haus mit Rosenholzstühlen und Zedernholzschränken, mit Silberbecken, Porzellanschalen und Perserteppichen auszustatten? – und er merkte, daß das keine kleine Aufgabe sein würde; und wenn dann noch ein paar tausend Pfund seines Vermögens übrig blieben, so würde sich nicht mehr viel damit anfangen lassen – allenfalls konnte man ein paar Galerien mit Wandteppichen behängen, den Speisesaal mit schönen geschnitzten Stühlen ausstatten und für die königlichen Schlafräume Spiegel aus reinem Silber und Stühle aus dem gleichen Metall (für das er eine geradezu zügellose Vorliebe hatte) anschaffen.

Er setzte seine Pläne nun ernstlich in die Tat um, wie wir durch einen Blick in seine Rechnungsbücher klipp und klar beweisen können. Betrachten wir einmal ein Verzeichnis dessen, was er zu jener Zeit kaufte; wobei wir die am Rande aufgerechneten Zahlen weglassen:

›Für fünfzig Paar spanischer Bettdecken, desgleichen Vorhänge aus karmesinrotem und weißem Taffet; dazu weiße Volants, bestickt mit karmesinroter und weißer Seide …

Für siebenzig gelbe Atlassessel und sechzig Stühle, alle mit den dazu passenden Überzügen aus Steifleinen …

Für siebenundsechzig Tische aus Walnußholz …

Für siebzehn Dutzend Kisten, deren jedes Dutzend fünf Dutzend venezianischer Gläser enthält …

Für einhundertundzwei Matten, deren jede dreißig Ellen lang …

Für siebenundneunzig Kissen aus karmesinrotem Damast, besetzt mit durch Pergament verstärkter Silberspitze, dazu Fußschemel aus Silberstoff und dazu passende Stühle …

Für fünfzig Armleuchter, jeder für zwölf Kerzen …‹

Schon aber – das ist nun einmal die Wirkung, die solche Verzeichnisse auf uns ausüben – fangen wir an zu gähnen. Wenn wir indessen hier die Aufzählung abbrechen, so geschieht es, weil sie langweilig, nicht etwa, weil sie beendet ist. Es ging noch neunundneunzig Seiten so weiter, und die Endsumme ging hoch in die Tausende – das will, nach unserem Gelde gerechnet, sagen: in die Millionen. Und wenn er dann seine Tage mit solcher Arbeit verbracht hatte, so saß Orlando abends wohl wieder über seinen Papieren und rechnete aus, was es kosten würde, eine Million Maulwurfshaufen einzuebnen, wenn die Leute zehn Pence für die Stunde bekamen; oder: wie viele (englische) Zentner Nägel, die halbe Pinte zu fünfeinhalb Pennies gerechnet, erforderlich wären, um den Zaun rings um den Park, fünfzehn Meilen lang, auszubessern; und so weiter.

Wie gesagt: die Aufzählung ist langweilig, denn ein Schrank sieht ziemlich genau so aus wie der andere, und ein Maulwurfshaufen unterscheidet sich nicht wesentlich von einer Million anderer. Ein paar vergnügliche Reisen mußte er machen; und ein paar prächtige Abenteuer trug ihm die Sache ein. So zum Beispiel, als er in der Nähe von Brügge eine ganze Stadtbewohnerschaft von blinden Frauen an die Arbeit setzte, um Vorhänge für eine Bettstatt mit silbernem Baldachin zu sticken; und die Geschichte seines Abenteuers mit einem Mohren in Venedig, von dem er, mit Gewalt freilich, sein Lackarbeitsschränkchen kaufte, möchte sich, einer anderen Hand anvertraut, wohl des Erzählens wert erweisen. Auch entbehrte diese Arbeit keineswegs der Abwechslung; da kamen, mit Gespannen aus Sussex herbeigeschafft, mächtige Bäume, die, zersägt, einen neuen Fußboden für die Galerie bilden sollten; da kam aus Persien eine Kiste, vollgestopft mit Wolle und Sägemehl, aus der er dann schließlich einen einzigen Teller oder einen einzigen Topasring hervorholte.

Schließlich aber war alles voll; in den Galerien war kein Tisch mehr unterzubringen; auf den Tischen war kein Platz mehr für ein einziges Schränkchen; die Schränkchen faßten keine einzige Rosenschale mehr; in den Rosenschalen war kein Raum mehr für eine einzige Handvoll duftender Essenzen; es war überhaupt nirgendwo Raum für irgend etwas mehr; kurz: das Haus war fertig eingerichtet. Im Garten standen Schneeglöckchen, Krokus, Hyazinthen, Magnolien, Rosen, Lilien, Astern, Dahlien aller Arten, Birnbäume und Apfelbäume und Kirschbäume und Maulbeerbäume, dazu eine überwältigende Zahl seltener Blütensträucher, immergrüner und winterharter Bäume – standen so dicht gedrängt, daß kein Fleckchen Erde ohne seine Blume und kein Rasenfleck ohne seinen Schatten war. Zu alledem hatte Orlando wildes Geflügel mit lustigbuntem Gefieder angeschafft; dazu zwei malaiische Bären, unter deren verdrießlich rauher Außenseite, dessen war er gewiß, sich treue Herzen verbargen.

So war nun also alles fertig; und als es Abend war und die unzähligen silbernen Wandleuchter brannten und im leichten Luftzug, der immer durch die Galerien strich, die blauen und grünen Wandteppiche sich regten, so daß es aussah, als ritten die Jägergestalten lebendig daher und als flöge Daphne dahin; als das Silber blitzte und der Lack glänzte und das Holz aufglühend leuchtete; als die geschnitzten Stühle die Armlehnen ausstreckten und die Delphine, Nixen auf den Rücken, auf den Wänden dahinschwammen; als alles dies und noch viel mehr als alles dies fertig und ganz nach seinem Wunsch und Willen war, ging Orlando durch das Haus, gefolgt von seinen Elchhunden, und war zufrieden. Nun hatte er, dünkte ihn, Stoff genug, um den fehlenden Schluß seiner Rede zu ergänzen. Vielleicht wäre es gut, die ganze Rede von vorn zu beginnen. Und doch – als er prüfend die Galerien durchschritt, fühlte er, daß noch irgend etwas fehlte. Stühle und Tische, mögen sie auch noch so reich vergoldet und geschnitzt sein; Sofas, ruhend auf Löwentatzen, unter denen sich Schwanenhälse krümmen; Betten aus dem weichsten Schwanendaun – das allein und für sich allein ist nicht genug. Menschen, die darauf sitzen, Menschen, die darin liegen, vervollkommnen sie erstaunlich. Demzufolge veranstaltete Orlando nun eine lange Reihe glanzvoller Lustbarkeiten für den hohen und niederen Adel ringsum im Lande. Die dreihundertfünfundsechzig Schlafzimmer waren immer gleich einen ganzen Monat lang besetzt; die Gäste drängten sich auf den zweiundfünfzig Treppen. Dreihundert Diener trieben in den Anrichtezimmern ihr geschäftiges Wesen. Fast allnächtlich gab es Festgelage. So brachte es Orlando in sehr wenigen Jahren dahin, daß die neue Pracht abgenutzt und sein halbes Vermögen verbraucht war; aber er hatte es erreicht, daß seine Nachbarn eine gute Meinung über ihn hatten; er bekleidete wohl zwanzig Ehrenämter in der Grafschaft, und in jedem Jahr bekam er ein rundes Dutzend Bände gewidmet, die dankbare Dichter Seiner Lordschaft mit inbrünstigen Huldigungen zu Füßen legten. Denn wenn er es zu jener Zeit auch sorgsam vermied, mit Schriftstellern zu verkehren, und wenn er sich auch von Damen ausländischen Blutes fernhielt, so erwies er sich doch gegen beide, Frauen wie Dichter, verschwenderisch freigebig, und beide beteten ihn an.

Wenn dann aber das Fest auf seiner Höhe war und die Gäste schwärmten und lärmten, geschah es zumeist, daß er verschwand und sich in sein Zimmer zurückzog, ganz allein. Dort, wenn sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte und er sich vor fremden Augen sicher wußte, holte er ein altes Schreibheft hervor, zusammengeheftet mit Seidenfäden, die er aus dem Nähkasten seiner Mutter gestohlen hatte, und auf dem Deckel stand in runder Schuljungenschrift: ›Der Eichbaum, Eine Dichtung‹. Dahinein schrieb er, bis es Mitternacht schlug, und noch lange darüber hinaus. Da er aber ebenso viele Zeilen ausstrich, wie er hineinschrieb, so standen oft am Ende des Jahres weniger da als am Beginn, und es sah aus, als würde das Gedicht beim Geschriebenwerden allmählich ganz und gar verschwinden. Für den Literaturhistoriker müssen wir hier nämlich anmerken, daß sein Stil sich auf erstaunliche Art verwandelt hatte. Sein allzu üppig wuchernder Blumenreichtum war gärtnerisch gesäubert, sein Überschwang gebändigt; das Zeitalter der Prosa gefror die heißen Springquellen zu Eis. Sogar die Landschaft draußen war nicht mehr so mit Blumengewinden behängt, und selbst die Hagebuttensträucher waren nicht mehr so dornig und dicht. Vielleicht waren auch die Sinne ein wenig stumpfer geworden und Honig und Sahne für den Gaumen nicht mehr so verführerisch. Auch die bessere Entwässerung der Straßen und die bessere Beleuchtung der Häuser hatten – wer könnte daran zweifeln? – ihren Einfluß auf den Stil.

Eines Tages, als er sich gerade damit mühte, dem Heft ›Der Eichbaum. Eine Dichtung‹ ein paar Zeilen hinzuzufügen, gewahrte er mit dem Augenwinkel einen vorübergleitenden Schatten. Aber es war kein Schatten, wie er alsbald sah, sondern die Gestalt einer sehr hochgewachsenen Dame mit Reithut und Reitmantel; sie ging über den viereckigen Hof, auf den sein Zimmer hinaussah. Da dies der abgelegenste der Höfe war und er die Dame nicht kannte, so wunderte sich Orlando, wie sie wohl hier hereingekommen sein mochte. Drei Tage später tauchte die Erscheinung abermals auf; und am Mittwoch um die Mittagszeit zeigte sie sich wieder. Diesmal war Orlando entschlossen, ihr zu folgen, und sie hatte offenbar keine Scheu davor, entdeckt zu werden: denn sie verlangsamte den Schritt, als er herankam, und sah ihm gerade ins Gesicht. Jede andere Frau, die auf diese Art im Privatbezirk eines Lords ertappt worden wäre, hätte Angst gehabt; jede andere Frau mit einem solchen Gesicht, Kopfputz und Aussehen hätte ihren Mantel über die Schultern geworfen, um sich vor den Blicken zu bergen. Denn man konnte von dieser Dame nichts mit solchem Recht behaupten, wie daß sie einem Hasen ähnelte; einem verstörten, aber trotzigen Hasen; einem Hasen, über dessen Furchtsamkeit plötzlich eine ungeheure, närrische Kühnheit gesiegt hat; einem Hasen, der aufrecht sitzt und seinen Verfolger mit großen, hervorquellenden Augen anstarrt; mit aufgestellten, aber zitternden Ohren und einer frech aufwärtsgekehrten, aber zuckenden Nase. Im übrigen war dieser Hase sechs Fuß hoch und trug obendrein einen Kopfputz von etwas veralteter Form, der die Dame noch größer erscheinen ließ, als sie ohnehin war. Dieses Wesen stand vor Orlando und starrte ihn mit einem Blicke an, in dem sich Furchtsamkeit und Kühnheit höchst seltsam mischten.

Zunächst bat sie ihn mit geziemender, wenngleich etwas linkischer Höflichkeit um Entschuldigung wegen ihres Eindringens. Hierauf erhob sie sich wieder zu ihrer vollen Größe, die etwas über sechs Fuß zwei Zoll betragen haben muß, und teilte ihm des weiteren mit – aber mit einem solchen Gegacker von nervösem Kichern, mit so viel Hihi und Haha, daß Orlando meinte, sie müsse aus einem Irrenhaus entsprungen sein –, sie sei die Großherzogin Harriet Griselda von Finster-Aarhorn und Scand-op-Boom, aus Rumänien. Ihr größter Wunsch auf Erden sei es, seine Bekanntschaft zu machen, sagte sie. Und sie hätte sich draußen vor dem Parktor über einem Bäckerladen eingemietet. Sie hätte sein Bild gesehen, und es wäre das genaue Ebenbild einer Schwester von ihr, die – hier schrie sie vor Lachen – schon lange tot wäre. Sie wäre zu Besuch bei Hofe. Die Königin wäre ihre Cousine. Der König wäre ein herzensguter Kerl, aber er ginge selten nüchtern zu Bett. Hier ließ sie wieder ihr Hihi und Haha vernehmen. Kurz, es ging nicht anders, als daß Orlando sie ins Haus einlud und ihr ein Glas Wein anbot.

Drinnen gewann ihr Betragen die stolze Gemessenheit zurück, die man von einer rumänischen Großherzogin erwarten darf; und hätte sie nicht eine für eine Dame ungewöhnliche Weinkenntnis an den Tag gelegt und ein paar recht sachkundige Bemerkungen über Feuerwaffen und die Jägerbräuche in ihrer Heimat gemacht, so wäre kein rechtes Gespräch in Gang gekommen. Schließlich sprang sie auf und kündigte an, daß sie am nächsten Tage wiederkommen würde; worauf sie nach einem abermaligen gewaltig tiefen Hofknicks abging. Am anderen Tage ritt Orlando aus. Am übernächsten kehrte er den Rücken zum Fenster; am dritten zog er den Vorhang herunter. Am vierten regnete es, und da er eine Dame nicht in der Nässe stehen lassen konnte, auch sich nicht ganz und gar ungesellig fühlte, lud er sie ins Haus und fragte sie um ihre Meinung, ob eine Rüstung, die einem seiner Ahnen gehört hatte, von der Hand Jacobis oder von der Hand Topps stammte. Er war geneigt, sie Topp zuzuschreiben. Sie vertrat eine andere Meinung – welche, ist durchaus belanglos. Dagegen ist es für den Ablauf unserer Geschichte von einiger Bedeutung, daß die Großherzogin Harriet zur Erläuterung ihrer Beweisführung, die sich um die Befestigungsart der Schnallen und Scharniere drehte, die goldene Beinschiene nahm und sie prüfend an Orlandos Bein hielt.

Daß er ein Paar der edelstgeformten Beine hatte, auf denen je ein Edelmann aufrecht stand, haben wir bereits gesagt.

Vielleicht lag es an der Art, wie sie die Knöchelschnalle zuzog; oder an ihrer gebückten Stellung; oder es war Orlandos langes Einsiedlerleben; oder die natürliche Anziehungskraft der Geschlechter; oder der Burgunder; oder das Feuer – jede dieser Ursachen mag die Schuld tragen; denn sicherlich muß man auf der einen oder anderen Seite von ›Schuld‹ sprechen, wenn ein wohlerzogener Edelmann wie Orlando einer Dame in seinem Hause Gastfreundschaft gewährt, und sie ist um viele Jahre älter als er, und sie hat ein ellenlanges Gesicht und starrblickende Augen, und sie ist obendrein ein bißchen komisch angezogen, mit Überwurf und Reitmantel trotz der warmen Jahreszeit – sicherlich muß man da von ›Schuld‹ reden, wenn ein solcher Edelmann unter solchen Umständen so plötzlich und so heftig von einer derartigen Leidenschaft übermannt wird, daß er das Zimmer verlassen muß.

Aber was für eine Art von Leidenschaft, so könnte man hier mit Recht fragen, mag das gewesen sein? Und die Antwort ist janusköpfig wie die Liebe selbst. Denn die Liebe – aber lassen wir die Liebe einmal einen Augenblick aus der Erörterung und halten wir uns an den tatsächlichen Vorgang, der folgendermaßen aussah:

Als die Großherzogin Harriet Griselda sich bückte, um die Schnalle zu befestigen, vernahm Orlando plötzlich und unerklärbarerweise weit weg den Flügelschlag der Liebe. Das ferne sanfte Rauschen dieser Schwingen weckte in ihm tausend Erinnerungen an tosende Wasser, an liebliche Schönheit im Schnee und treulosen Verrat im Wasserschwall; und das Rauschen kam näher; und er wurde rot und zitterte; und er fühlte sein Herz so tief bewegt, wie er es nie mehr für möglich gehalten hätte; und schon wollte er die Hände heben und es dulden, daß sich der schöne Vogel auf seiner Schulter niederließ; als jählings – o Schreck! – ein knarrendes Kreischen erscholl, wie es die Krähen ausstoßen, wenn sie sich über den Bäumen tummeln; die Luft sich zu verfinstern schien von struppigen schwarzen Flügeln; Stimmen krächzten; Fetzen von Stroh, Zweigen und Federn niederfielen; und sich auf seinen Schultern der düsterste und gemeinste aller Vögel niederließ: der Geier. So stürzte er denn aus dem Zimmer und schickte den Diener, um die Großherzogin Harriet zu ihrer Kutsche geleiten zu lassen.

Denn die Liebe, der wir uns nun wieder zuwenden können, hat zwei Gesichter: das eine ist weiß, das andere schwarz; und zwei Körper: der eine ist glatt und weich, der andere behaart. Sie hat zwei Hände, zwei Füße, zwei Schwänze – kurz, jedes Glied ist doppelt da und in ganz und gar entgegengesetzter Form. Und doch sind sie so fest miteinander verbunden, daß man sie nicht trennen kann. In unserem Falle kehrte die Liebe dem Orlando, als sie auf ihn zuflog, ihr weißes Antlitz zu, und ihr weicher und lieblicher Leib war nach vorn gewendet. Immer näher kam sie, und die allerköstlichsten Düfte wehten vor ihr her. Plötzlich aber (vermutlich beim Anblick der Großherzogin) wirbelte sie sich herum und kehrte die andere Seite hervor; und die war schwarz, behaart, tierisch grob; es war Gier, der Geier, nicht Liebe, der Paradiesvogel, der sich, häßlich und widerlich, schwer auf seinen Schultern niederließ. Deswegen rannte er davon, deswegen schickte er den Diener.

So leicht aber läßt sich die Harpyie nicht verjagen. Denn nicht genug, daß die Großherzogin bei dem Bäcker wohnen blieb – Orlando wurde Tag und Nacht von den abscheulichsten Wahngebilden heimgesucht. Vergebens, so schien es, hatte er sein Haus mit Silber prunkvoll ausgestattet und die Wände mit Teppichen geschmückt, wenn sich jeden Augenblick ein kotbesudelter Vogel auf seinen Schreibtisch setzen konnte. Da war es, das Untier: er sah es zwischen den Stühlen umherflattern; er sah es schwerfällig durch die Galerien dahinwatscheln. Da flog es; da hockte es, kopflastig, auf einem Ofenschirm. Wenn er es hinausjagte – gleich kam es zurück und hackte gegen die Fensterscheibe, bis sie zerbrach.

Als er solchermaßen merkte, daß sein Heim unbewohnbar geworden war und daß sogleich Schritte getan werden mußten, um der Sache ein Ende zu machen, tat er, was jeder andere junge Mann an seiner Stelle getan hätte: er bat König Karl, ihn als Außerordentlichen Gesandten nach Konstantinopel zu schicken. Der König ging durch die Säle von Whitehall. Neil Gwyn hing an seinem Arm. Sie warf ihn mit Haselnüssen. Es war ein Jammer, ein wahrer Jammer, so seufzte die immer verliebte Dame, daß ein Paar solcher Beine außer Landes gehen sollte.

Aber da half nun nichts, denn die Göttinnen des Schicksals sind hart, und sie konnte nichts weiter tun, als ihm über die Schulter hinweg eine Kußhand zuwerfen, ehe Orlando an Bord ging.


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