Ernst von Wolzogen
Das Mädchen mit den Schwänen
Ernst von Wolzogen

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die heilige Maske

In Mutter Duponts Estaminet » Au coq rouge« ging es laut her am 25. Juli 1914. Es verkehrten dort nur gesetzte Leute, wie die Goldschmiede aus den großen Ateliers der Frères Tissandier. Der Stammtisch der großen Juwelierfirma Tissandier hatte im Laufe der Jahre der kleinen Wirtschaft ein in seiner Art vornehmes Gepräge gegeben, so daß sich kaum noch ein gewöhnlicher Arbeiter in die Gesellschaft der feinen Kunsthandwerker, Steindrucker, Modelleute und Zeichner verirrte. Madame Dupont hatte nach dem Tode ihres Gatten den Ruf seiner guten Küche aufrechtzuerhalten gewußt, ihre Weine waren billig und unverfälscht und ihre Sauberkeit hohen Lobes wert. Mehr als zwanzig Gäste auf einmal fanden in den beiden Räumen zu ebener Erde, die das ganze Restaurant ausmachten, nicht Platz. Und so brachte es die wackre Witwe fertig, allein zu kochen und die ganze Bedienung durch ihre einzige Tochter Angèle und den Schankkellner besorgen zu lassen.

Es ging ihr gewöhnlich selbst während des Déjeuner à la fourchette, wo meistens alle Plätze besetzt waren, recht still zu, weil die Herren Eile hatten und sich ihre beliebten politischen Auseinandersetzungen lieber auf die Stunden nach Feierabend versparten. Aber seit die Kriegserklärung Österreichs an Serbien erfolgt war, erfüllte auch um die Mittagszeit das laute Gewirr erregter Stimmen das große Vorderzimmer. Die Haltung Rußlands gegenüber der deutschen Drohung wurde lebhaft besprochen, und über die Ehrlichkeit des englischen Vermittlungsversuches gingen die Meinungen weit auseinander. Sie fühlten es alle, daß es diesmal Ernst damit würde; sie witterten die brennende Lunte an der europäischen Dynamitmine. Wohl alle waren sie Sozialisten oder radikale Republikaner; aber sie waren auch der Mehrzahl nach Familienväter und mit jener bescheidenen Sehnsucht nach Ruhe und Rente behaftet, die für den französischen Kleinbürger so bezeichnend ist. Die Durchschnittsköpfe unter ihnen machten sich zum lärmenden Echo der Pariser Straße, schleuderten mit stolzer Gebärde die Schlagworte der Sousblätter in die Debatte, während die selbständigen Geister je nach Temperament und Parteifarbe nach Rache für Siebzig dürsteten, oder aber den Krieg verfluchten, die Minister beschimpften und die Zeit für allgemeine Menschenverbrüderung und ewigen Frieden bereits gekommen erachteten. Übrigens war es auch den glühendsten Revanche-Patrioten weniger um Elsaß-Lothringen zu tun als um die deutsche Konkurrenz im eigenen Lande. Ihre kriegerische Stimmung hätte sich zur Genüge ausgetobt, wenn sie die Gelegenheit gefunden hätten, mit ihren eigenen Fäusten dabei zu sein, wenn die Bataillone deutscher Kellner, Arbeiter, Kaufleute, Lehrer, Gouvernanten und Kinderfräulein über die Grenze gejagt und ein paar Hunderte von ihren verdammten Spionen füsiliert wurden.

Die Tür zu dem kleinen Hinterzimmer, in dem nur zwei Tische zu je vier Personen gedeckt standen, war ausgehoben, und es war nur einer von diesen Tischen besetzt von drei Männern im leinenen Arbeitskittel.

Der Alte mit weißem Schnurr- und Knebelbart á la Henri IV, einer großen energischen Nase und immer noch feurig blitzenden schwarzen Augen unter buschigen Brauen war Herr Lepage, der Senior der Arbeiter der Firma Tissandier; der junge Mann neben ihm ein Russe, der zur Vervollkommnung seiner technischen Ausbildung seit zwei Jahren im Atelier Tissandier arbeitete, und der dritte ein überaus schlanker, hochgewachsener blonder Mann mit schmalen aristokratischen Händen und langen knochigen Fingern, dessen Alter schwer zu taxieren war.

»Nun, Iwan Wassiljewitsch,« wandte sich der alte Lepage an den Russen: »Sind Sie sich jetzt klar darüber, was Sie tun wollen? Werden Sie mit Ihren Landsleuten marschieren oder bei uns bleiben?«

Der junge Mann zuckte die Achseln, und über seine weichen Züge glitt ein verträumtes Lächeln. »Ich weiß noch nicht,« sagte er in scharf artikuliertem Französisch. »Wenn ich meine Einberufung erhalte und überhaupt noch eine Möglichkeit ist, nach Rußland durchzukommen, so wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben. Es ist kein Vergnügen, in Rußland Soldat zu sein. – Es ist überhaupt kein Vergnügen, Russe zu sein; aber ich hasse diese Boches, ich hasse sie ärger als der beste Franzose. Sie sind schlimmer wie die Juden. Sie fressen uns auf. Sie sind überall. Sie schöpfen den Rahm ab von unserer Milch. Sie mästen sich von unserer Gutmütigkeit und Dummheit. Sie schmeicheln uns und verachten uns. Sie bestechen unsere elenden Beamten und schwätzen uns ihre Kultur auf, nur um ihr Absatzgebiet zu erweitern, nicht um uns glücklich zu machen. Der Teufel hole sie alle zusammen! Ob ich von Paris oder von Petersburg aus nach Berlin marschiere, kann mir im übrigen gleichgültig sein.«

»Es wird einige Hindernisse auf dem Wege geben,« sagte der dürre Blonde trocken, indem er seine müden Augenlider mit der Serviette rieb.

»Aber diesmal sind wir besser gerüstet!« warf Herr Lepage ein. »Wir packen sie von drei Seiten, denn die Engländer werden ihnen ihre Küsten bombardieren, ihre ganze Flotte zerstören und ihrem Welthandel die Kehle abschnüren. Passen Sie auf, was ich Ihnen sage: Die Engländer warten schon lange auf ihre Gelegenheit. Sie sind ebenso gerüstet wie wir. Die Generalstäbe der drei Mächte haben sich untereinander verständigt. Alle drei Armeen werden nach einem Plane operieren, und wir werden die Boches einfach zerdrücken.« Dabei packte er ein Stück weißer Brotkrume, rollte es zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger zu einer Nudel und quetschte es mit einem verächtlichen » comme-ça!« zu einem flachen Scheibchen zusammen, das er herausfordernd auf den Tisch warf. »Sind Sie etwa anderer Meinung, Monsieur Georges?«

Der Blonde kaute erst bedächtig seinen Bissen auf, bevor er dem Alten erwiderte: »Ich will Ihnen was sagen, Monsieur Lepage: Sie wissen, ich kenne die Deutschen. Ich habe ihre Schulen besucht, ich bewundere ihre Kunst und ihre Wissenschaft und ich kenne ihren Geist und ihre Seele. Ihre Stärke liegt in der Organisation und im Gehorsam. Wenn man sie überzeugt, daß ihre Sache die Gerechte ist, so werden sie nicht so leicht zwischen drei Fingern zu zerdrücken sein.«

»Den Gehorsam und die Organisation haben wir doch auch,« ereiferte sich der Weißbart. »Wir haben doch gelernt seit Siebzig. Wir werden doch nicht wie damals ins Verderben gejagt durch den Ehrgeiz eines eitlen Monarchen. Wir ziehen in den Krieg, um die wahre Zivilisation gegen die barbarische Anmaßung zu verteidigen. Oder meinen Sie nicht?«

Herr Georges beschäftigte sich offenbar deswegen so angelegentlich mit seiner Frikadelle, um einer Antwort auf solch heikle Fragen auszuweichen.

Im Buffetzimmer riefen mehrere Stimmen gleichzeitig nach Mademoiselle Angèle. Die Herren waren fertig und wollten zahlen. Im Vorübergehen streckte das hübsche dunkelhaarige Mädchen seinen Kopf zum Hinterzimmer hinein und rief mit einem freundlichen Gruß seiner braunen Augen: »Daß Sie mir nicht entwischen, Herr Georges. Ich muß Sie nachher was fragen.«

»Sapristi!!« schnalzte der alte Lepage. »Um diese Eroberung beneide ich Sie ehrlich. Ein Schatz von einem Mädchen! Ein lieber Schalk sitzt ihr in den Augen, und ein gutes Hausmütterchen wird die auch abgeben. – Haben Sie eigentlich gedient, Georges?«

Der Blonde schüttelte den Kopf: »Ich habe einen Herzfehler.«

»Der Sie aber nicht hindert am lieben,« lachte der Alte. »Ein doppelt angenehmer Herzfehler in solch gefährlichen Zeiten. – Lassen Sie sich Zeit. Ich will Sie in Ihrer verliebten Zwiesprache nicht stören.«

Auch der junge Russe beeilte sich, sein Mahl zu beenden. Er blickte kaum von seinem Teller auf, bevor er den letzten Bissen verschlungen hatte. Dann aber faßte er sein Gegenüber scharf ins Auge und überraschte ihn mit der plötzlichen Frage: ob er die russische Literatur kenne und ob er sie auch bewundere wie die deutsche.

Herr Georges nickte zustimmend: »Allerdings bewundere ich sie; vielleicht noch mehr als die deutsche; aber sie ist mir unfaßlich fremd.«

»Und was halten Ihre Deutschen davon?«

»Vermutlich dasselbe wie ich. Jedenfalls haben sie sie am eifrigsten übersetzt und am feinsten analysiert.«

»Diese Barbaren?« Der Russe blinzelte schlau über den Tisch hinüber.

Herr Georges legte seine schmale, hohe Stirn in Falten und sagte milde abwehrend: »Unter gebildeten Menschen sollte man diesen populären Unfug nicht mitmachen. Wenn ein Kulturvolk das andere Barbaren schilt, beschimpft es sich selbst.«

Der Russe besann sich noch auf eine Antwort, als ein elegant gekleideter Herr in mittleren Jahren über die Schwelle trat. Es war der jüngere der beiden Brüder Tissandier, der noch unvermählt war und zuweilen, wenn er stark beschäftigt war, den Roten Hahn aufsuchte, um eine eilige Mahlzeit einzunehmen. Er hängte seinen Strohhut an den nächsten Wandhaken und setzte sich an das freie Tischchen, nachdem er seine drei Angestellten flüchtig begrüßt hatte.

Sehr bald darauf erhoben sich der alte Lepage und der Russe. Sie verließen das Zimmer, ohne Mademoiselle Angèle zu bemühen. Sie zahlten am Buffet.

Sobald sie auf der Straße waren, faßte der Russe den alten Lepage am Arm und flüsterte ihm zu: »Wissen Sie, was ich glaube?«

»Nun, was glauben Sie denn?«

»Ich glaube, ich habe eine Entdeckung gemacht. Dieser Herr Armand Georges ist ein deutscher Spion!«

Lepage lachte gemütlich: »Und Sie sind ein Narr, mein lieber Iwan Wassiljewitsch. Unser guter Georges ist ein Künstler und nebenbei ein Gelehrter. Ich weiß es, er schreibt Bücher, gute französische Bücher. Übrigens, wenn er spionieren sollte, würde er nicht in einem Goldschmiedeatelier, sondern in einer Kanonengießerei oder sonstwo arbeiten, wo es was zu spionieren gibt.«

»Aber wissen Sie, wo er wohnt?« beharrte der Russe eigensinnig. »Ich fuhr gestern abend, ohne daß er mich bemerkte, mit ihm im Métropolitain. Er stieg in Bois aus, und dann folgte ich ihm nach, weil er mir schon lange verdächtig ist. Sie müssen doch zugeben, daß er aussieht wie ein Deutscher. Wissen Sie, wo er einkehrte?«

»Es ist mir nicht bewußt,« erwiderte Lepage, »daß es im Bois de Boulogne Spionencafés gebe.«

»Mir auch nicht,« brummte der Russe. »Aber was sagen Sie dazu, daß dieser Herr Georges im Hôtel Lusignan verschwand, ohne daß ihm ein Diener aufgemacht hätte. Er öffnete die Tür mit seinem eigenen Drücker.«

»Was Sie sagen!« Der Alte blieb stehen und faßte seinen jugendlichen Genossen fest ins Auge. »Woher wissen Sie, daß es das Hôtel Lusignan war?«

»Ich habe mich beim Briefträger erkundigt. Es ist eine bescheidene kleine Villa, die dem ausgestorbenen Geschlecht der Lusignan gehörte und daher noch den Namen trägt. Aber die alte Dame, die darin wohnt, ist – eine deutsche Prinzessin!«

Der alte Lepage strich sich schmunzelnd seinen weißen Schnurrbart: »Und deshalb glauben Sie, daß unser Armand Georges ein deutscher Prinz sei? Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, er ist ein scheinheiliger Filou. Es wird ein hübsches Kammerkätzchen sein, das ihm den Schlüssel des Hôtel Lusignan anvertraut hat. In der Rue de temple verdreht er der niedlichen Angèle den Kopf. Einen verrückten Geschmack haben die Weiber! Sie scheinen auf die Blonden versessen, und es geniert sie nicht, wenn so einer mager ist wie eine verhungerte Katze.« – – –

Mittlerweile hatte im Restaurant Herr Tissandier jun. Herrn Georges an seinen Tisch gebeten und zu einem Likör eingeladen. Im Vorderzimmer war es inzwischen ziemlich leer geworden, und die beiden Männer mußten leise sprechen, um von der ab und zu gehenden Wirtstochter und dem Schankkellner nicht gehört zu werden.

Es konnte wohl nicht gut der harmlose Anisette sein, der diese Röte auf die blasse hohe Stirn des Goldschmiedes jagte. Das Gespräch mit seinem Chef hatte ihn erregt, und seine bestürzte Frage kam lauter heraus, als er es wohl beabsichtigte: »Heißt das, daß Sie mir kündigen wollen, Herr Tissandier?«

»Aber nein, aber nein, durchaus nicht, lieber Freund,« beruhigte ihn der Prinzipal. »Sie wissen, wie ich Sie schätze, vor allen Dingen Ihre Ideen. Ich bitte Sie, Ihre neuen Modelle mit dem Mistelmotiv haben ja geradezu Sensation erregt. Ich dachte im Gegenteil daran, Ihr Gehalt vom ersten Oktober ab ... Aber kann ich wissen, ob wir nicht überhaupt unsere Bude zumachen müssen? Wer kauft Schmuck in Kriegszeiten? Sie haben doch diesem Kriege selbst eine lange Dauer prophezeit. Ich wollte Sie nur darauf vorbereiten, daß Sie vielleicht von Ihrem Inkognito Unanehmlichkeiten haben könnten. Uns kann man es ja schließlich schwer nachweisen, daß wir wußten, wer Sie sind; aber Sie werden sich doch zur Musterung stellen müssen, und dann kommt es doch wahrscheinlich heraus, daß Sie Ihren deutschen Namen mit einem französischen vertauscht haben. Man wird Verdacht schöpfen, man wird fragen: wozu die Maske? Denn es ist doch schließlich keine Schande Goldschmied zu sein, zumal wenn man ein Künstler ist wie Sie.«

Herr Georges rang seine langen dünnen Finger ineinander und nagte an seiner schmalen Unterlippe. Dann sagte er leise: »Sie wissen, daß es nicht frivole Beweggründe waren, die mich veranlaßten, diese Maske vorzubinden. Aber freilich, wenn Sie an meiner Ehrlichkeit zweifeln ... Es ist eine spezifisch französische Krankheit, in gespannten Zeiten überall Spione zu wittern. Sagen Sie mir selbst, wie ich ihnen beweisen soll, daß ich keiner bin.«

»Erregen Sie sich doch nicht, bitte!« sagte Herr Tissandier mit verlegenem Lächeln. »Ich bin auf Ehrenwort der letzte, der daran denkt, Sie zu verdächtigen. – Es geschieht ja auch nur in Ihrem eigenen Interesse und in dem Ihrer verehrungswürdigen Frau Mutter, wenn ich Sie auf die möglichen Folgen Ihres Versteckspiels aufmerksam mache. Es ist doch Tatsache, daß der Name Armand Georges der Polizei unbekannt ist, nicht wahr? Wenn es nun, wovon übrigens bereits gemunkelt wird, zur Ausweisung aller Deutschen kommen sollte, so könnten Sie Ihres deutschen Namens wegen auch davon betroffen werden, denn mit dem allein werden Sie doch in den Registern geführt.«

»Unmöglich!« versetzte Georges ärgerlich. »Meine Mutter ist Französin, und ich habe das französische Bürgerrecht bei Eintritt meiner Großjährigkeit erworben. Man kann doch nicht französische Bürger ausweisen!«

»Das freilich nicht,« entgegnete Herr Tissandier: »Aber es ist doch keineswegs ausgeschlossen, daß man alle Träger deutscher Namen verdächtigt. Sie kennen uns ja, uns Franzosen: wenn die nationale Leidenschaft überkocht ...«

»O, ich verstehe,« fiel ihm Georges ins Wort: »Sie wollen mir nahelegen, meinen wirklichen Namen abzulegen und den Decknamen dafür anzunehmen. Finden Sie nicht, daß das Feigheit wäre? Es ist doch ein ehrlicher, um nicht zu sagen ruhmreicher Name, dessen ich mich nicht zu schämen brauche. Meine Vorfahren väterlicherseits haben ebenso wie meine Vorfahren mütterlicherseits in den Kreuzzügen gekämpft. Ich habe mich im vollen Besitz meiner Verstandeskräfte und aus innerster Überzeugung für mein Franzosentum entschieden, ohne daß ich deswegen die deutsche Erbschaft in meinem Blute verächtlich beiseite schieben wollte. Wenn Ihnen dieses Bekenntnis nicht genügt ... Übrigens können Sie sich ja bei dem Herrn Präsidenten nach meiner Vertrauenswürdigkeit erkundigen, wenn ich Ihnen nicht sicher bin.«

»Bei welchem Präsidenten?«

»Bei dem Präsidenten der Republik. Herr Poincaré war so liebenswürdig, mich gestern abend zu empfangen. Ich habe ihm meinen eigenartigen Fall vorgetragen, und er hat mir die beruhigendsten Zusicherungen gegeben, auch für meine arme Mutter.«

Herr Tissandier machte große Augen: »Was Sie sagen! Der Herr Präsident hat Sie persönlich ...? Ja, dann können Sie allerdings den Ereignissen mit Ruhe entgegensehen. Gestatten Sie mir, im Notfalle von dieser Mitteilung Gebrauch zu machen?«

Herr Georges zuckte die Achseln: »Ich wüßte wirklich nicht, wie Sie einen solchen Notfall konstruieren wollten. Jedenfalls bitte ich Sie, die Mitteilung vorläufig als streng vertraulich zu betrachten.«

Herr Tissandier beeilte sich, mit einer artigen Verbeugung die Zusicherung seiner Verschwiegenheit zu geben, und fügte noch überaus höflich hinzu: »Und ich bitte Sie meinerseits, unsere vielleicht übertriebene Ängstlichkeit nicht mißdeuten zu wollen. Wie gesagt, nur das lebhafte Interesse an Ihrer Person und die hohe Wertschätzung, die wir für Sie als ungemein wertvollen Mitarbeiter hegen ...«

Herr Tissandier hatte sich erhoben und seinem Gegenüber die Hand zum Abschied hingestreckt. Da reckte sich auch Armand Georges zu seiner ganzen dürren Länge auf, schlug in die dargebotene Hand ein und murmelte die angebrachten höflichen Redensarten.

Auf der Schwelle traf der junge Chef Angèle, zahlte seine Zeche und verließ mit einer artigen Verbeugung das Lokal.

Sobald er hinaus war, trat Angèle zu ihrem blonden Freunde und sagte, ein niedliches Schmollmündchen ziehend: »Sind Sie endlich für mich zu sprechen, Armand?«

»Ich kann nichts dafür,« erwiderte Georges. »Seinem Chef muß man standhalten. Das werden Sie einsehen. Dafür sind wir aber jetzt allein und ungestört. Laß uns die Gelegenheit ausnutzen. Komm, kleine Angèle, hebe dich auf die Zehenspitzen und gib mir einen Kuß!« Er breitete lächelnd die Arme nach ihr aus.

»Ich trau' mich nicht!« sagte die hübsche Wirtstochter schelmisch. »Ich weiß ja nicht, ob ein so hoher Herr überhaupt für mich erreichbar ist!«

»Dann steig auf einen Stuhl,« lachte er.

»Nein, so mein ich's nicht. Ich meine bildlich gesprochen!«

»Das heißt: in Rätseln gesprochen!«

»Also antworte mir ja oder nein. Waren Sie gestern abend in der Loge des Präsidenten in der Großen Oper, Monsieur Georges?«

»Ich? In der Loge des Präsidenten? Wer hat dir denn das aufgebunden?« So sehr sich Herr Georges bemühte, ganz unbefangen erstaunt zu erscheinen, vermochte er doch nicht zu verhindern, daß eine jähe Röte über seine hohe, blasse Stirn huschte.

Und die Kleine nahm ihn scharf ins Auge, indem sie erwiderte. »Das hat mir niemand aufgebunden, das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Sie wissen, Armand, meine Tante ist Ankleiderin bei den Solistinnen der Großen Oper. Sie schenkt mir zuweilen ein Billett. Ich saß im Parterre, und ich habe Sie ganz deutlich in der Loge des Präsidenten erkannt.«

»Aber Kind, das ist doch unmöglich? Was bildest du dir für sonderbare Dinge ein?«

»Aber nein,« beharrte die Kleine, ihn nicht aus dem Auge lassend. »Eine solche Ähnlichkeit ist doch gar nicht denkbar. Ich habe mir ein Glas von meiner Nachbarin geliehen und ich hörte, wie die Leute über Sie sprachen. Sie sagten: der blonde Riese wäre ein Herr von der Deutschen Gesandtschaft. Sie wollten es ganz bestimmt wissen. Ich glaube, ich habe gar nichts mehr von der Oper gehört. Ich habe mir den Hals nach Ihnen verrenkt, bis ich gewahr wurde, daß die Menschen hinter meinem Rücken Bemerkungen über mich zu machen anfingen.«

Georges setzte sich auf den nächsten Stuhl und zog Angèle mit sanfter Gewalt auf seine Knie: »Also, mein liebes Närrchen,« sagte er lächelnd: »Ich schwöre dir, ich bin kein Herr von der Deutschen Botschaft, noch von irgendeiner anderen. Du mußt dich getäuscht haben. Hast du nie etwas von Doppelgängern gehört? Alle großen Leute haben einen Doppelgänger. Warum soll es in der Millionenstadt Paris nicht einen zweiten Herrn geben, der 1,89 m lang und dünn wie ein Lineal ist? Komm, gib mir einen süßen Kuß und jage diese sonderbare Einbildung aus deinem Köpfchen hinaus.« Er küßte sie zärtlich und drückte ihren Kopf, ihr über das volle dunkle Haar streichend, an seine Schulter. »Bist du nun zufrieden?«

»Wenn du schwörst, muß ich dir wohl glauben,« sagte die Kleine ergeben und nestelte sich wohlig an ihn. Doch nach wenigen Sekunden zärtlicher Verlorenheit richtete sie sich wieder in die Höhe, packte ihn bei den Schultern und suchte mit ihrem forschenden Blick seine Augen: »Du hast aber doch ein Geheimnis vor mir,« begann sie leise. »Erinnerst du dich an den letzten Weihnachtsabend, wo du noch spät zu uns kamst, als eben die letzten Gäste aufbrachen? Du brachtest mir die reizende selbstgeschmiedete Brosche, und dann tranken wir eine Flasche von unserem ältesten Burgunder zusammen in unserem Wohnzimmerchen im ersten Stock. Mama saß in der Sofaecke und schlief über ihrer Handarbeit ein, und du erzähltest mir das Märchen von dem Prinzen. Weißt du noch: du nanntest ihn den Mann mit der heiligen Maske, weil er aus Liebe zu seiner Mutter in die Verbannung gehen und auf allen Glanz und Ruhm verzichten mußte. O, ich weiß fast noch jedes Wort, so rührend hast du mir das erzählt, wie der Prinz im Kittel des einfachen Arbeiters sein Brot verdienen und wie er seinen armen müden Kopf anstrengen mußte, damit seine geliebte Mutter nicht aus ihrem Traum erwachte, damit sie nicht merken sollte, daß ihr dürftiges Häuschen kein Fürstenschloß und ihre Aufwärterin keine Oberhofmeisterin und ihr Sodawasser kein Champagner sei. Und dein Prinz hatte ein kleines Mädchen aus dem Volke sehr lieb: aber er durfte es nicht heiraten, weil jeden Tag der große Umschwung kommen konnte, wo sein böser Bruder von der Revolution verjagt und er selber wieder in Pracht und Herrlichkeit auf den Thron gesetzt werden konnte, und dann hätte er seiner armen Geliebten sagen müssen: >Geh du heim zu deinen Leuten, ich kann dich nicht mitnehmen, denn jetzt muß ich eine Prinzessin heiraten.< Und er wußte doch, daß es ihr das Herz gebrochen hätte. Ich konnte mir das so gut vorstellen, wie dem armen Kinde zumute sein müßte, daß ich zu weinen anfing. Weißt du noch?«

»Ja gewiß!« erwiderte Georges, indem er wieder ihren Kopf an sich drückte. »Wie gut du alles behalten hast! Aber es war doch eben nur ein Weihnachtsmärchen, und ich verstehe nicht, was das mit meinem Doppelgänger in der Präsidentenloge zu tun haben soll?«

»O, das will ich dir sagen,« fuhr Angèle lebhaft fort. »Es ist mir die ganze Nacht im Kopf herumgegangen. Ich konnte gar nicht einschlafen. Du bist doch nun einmal so ganz anders wie alle die Männer aus den Werkstätten der Rue du Temple, die bei uns verkehren. Man braucht dich ja nur anzusehen – deine Hände besonders. Das sind doch keine Arbeiterhände! Und du hast mir ja auch selber gesagt, daß du zwei Leben führen müßtest und daß du nie daran denken dürftest, mich zu deiner kleinen Frau zu machen. Du hast mich doch auch nie aufgefordert, dich in deiner Wohnung zu besuchen.«

»Ja, einfach weil sie öde und unfreundlich ist!«

»Und es würde mir doch gerade solche Freude machen, dir deine Stube hübsch und behaglich herzurichten. Du hast doch selbst gesagt, daß ich dazu Talent besäße. Ich möchte dir so gern hübsche Sachen sticken und nähen, deine Fenster nett garnieren und dir Blumen bringen; aber du versteckst dich ordendlich ängstlich vor mir, du weichst auch meinen Fragen aus nach allen deinen Privatangelegenheiten, sogar nach deiner Mutter.«

Armand seufzte und blickte an dem Mädchen vorbei zum Fenster hinaus. Er zog die Brauen zusammen, so daß sich eine dicke nachdenkliche Falte bildete, die sich auf seiner hohen weißen Stirn verlor. Angèle wollte ihm mit ihren Fingern diese Falte zärtlich glätten; da faßte er ihre Hand, nahm sie zwischen die seinen und sagte rasch entschlossen: »Also, liebes Kind, ich will dir die Wahrheit sagen. Sie wird dir schmerzlich sein – darum habe ich so lange damit gezögert. Also – ich wohne bei meiner Mutter. Nun wirst du verstehen, warum ich dich nicht zu mir einladen konnte. Meine gute Mama hat einmal bessere Tage gesehen; unsere Familie ist verarmt. Aber sie kann sich immer noch nicht an den Gedanken gewöhnen, daß wir nun auch in allen Stücken die Konsequenzen ziehen, das heißt, eben nach dem Zuschnitte armer Leute leben und sonstige Vorurteile abstreifen müßten. Sie lebt von Hoffnungen und Träumen, die alte Dame, und ich bringe es nicht übers Herz, sie immer wieder mit der rauhen Wirklichkeit zu erschrecken. Kalte Wassergüße sind nichts für alte Leute; sie glaubt immer noch an große Erbschaften und märchenhafte Überraschungen.«

»Ach so! Jetzt verstehe ich,« sagte Angèle nach kurzem Schweigen tief betrübt: »Dann geschieht es auch wohl deiner Mutter zuliebe, daß du dich nicht verheiratest, wie du gern möchtest? Sie ha wohl große Pläne mit dir? Sie meint gewiß, für dich wäre eine Prinzessin noch gerade gut genug.«

»Erraten,« versetzte Armand und drückte das Mädchen zart an sich.

»Ich kann es ja deiner Mutter gar nicht einmal übelnehmen,« sagte Angèle mit einem bitteren Lächeln: »wenn es auch freilich für mich ...« Sie scheuchte den Gedanken mit einer Handbewegung fort und fuhr unvermittelt in einem ganz anderen Tone fort: »Du, ich muß dir was sagen: Dein russischer Kollege hat's auf mich abgesehen.«

»Was? Iwan Wassiljewitsch?«

Sie nickte: »Du kommst ja so selten des Abends zu uns, und das hat er sich zunutze gemacht. Seit Wochen schon nimmt er jeden Abend sein Dinner bei uns ein und bleibt hartnäckig sitzen, bis die letzten Gäste fortgegangen sind. Er machte mir Augen, so deutlich, daß es mir nicht entgehen konnte; aber ich tat doch, als merkte ich nichts, denn der Mann ist mir nicht besonders sympathisch. Immerhin – als Wirtstochter darf man gegen so gute Kunden nicht unhöflich sein. Ich konnte es also nicht gut vermeiden, ihm zuzuhören, als er dieser Tage zu reden anfing: er fühlte sich so schrecklich vereinsamt und wollte doch nicht in sein Vaterland zurück. Am liebsten möchte er ganz Franzose werden, wenn sich eine Französin fände ... Na, und so weiter. Ich versuchte auszuweichen; aber da fragte er mich schließlich geradezu, ob ich nicht selber diese Französin sein wollte, er könnte mich anständig ernähren, und Mutter sollte das Geschäft verkaufen und zu uns ziehen. Wenn ich nichts dawider hätte, wollte er gleich mit Mutter reden. Er war sehr aufgeregt, und seine traurigen Augen funkelten mich so flehend an, daß er mir leid tat. Da hielt ich es für das Richtige, ihm die Wahrheit zu sagen.«

»Oh! Hast du ihm meinen Namen genannt?«

»Ach nein, das war gar nicht nötig. Ich sagte bloß, daß mein Herz nicht mehr frei wäre, da wußte er schon Bescheid und begann auf dich zu schimpfen. Ich war ordentlich froh darüber, denn das machte es mir leicht, mich von ihm zurückzuziehen.«

Zwischen Armands Brauen erschien wieder die dicke Falte. Er zog Angèle an sich und streichelte ihr dunkles Köpfchen: »Mein armes Kind! Du sollst aber nicht meinetwegen ... Du weißt, wie lieb ich dich habe; aber du sollst dir auch meinetwegen nichts zerstören, was vielleicht doch zu deinem Glück ausschlagen könnte. Du sollst dich nicht gebunden fühlen.«

Da hob sie den Kopf und sah ihn mit wehmütigem Lächeln voll an: »Das kannst du mir doch nicht mehr verbieten. Jawohl, mein armer Armand, wenn du mir auch noch so finstere Stirn machst – ich verlege mich lieber aufs Warten, als daß ich mich um eine Versorgung umtue bei einem, den ich nicht mag.«

Der Regulator im Nebenzimmer schlug Eins. Da preßte Armand sein liebes Mädchen heftig an sich und schob sie nach einem hastigen Kusse von sich fort: »Mein Gott, was bin ich für ein pflichtvergessener Mensch! Die Tissandiers werden mir kündigen. Adieu für heute.«

Er griff nach seinem Hut und wollte davonlaufen, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen. Doch sie war mit ein paar raschen Schritten an seiner Seite und flüsterte ihm zu, während sie ihn bis zur Glastür begleitete: »Gelt, du läßt dir nichts merken gegen den Russen. Ich habe so Angst, er könnte Streit suchen oder dir sonst was antun wollen. Sieh dich vor, du!«


WENIGE Tage später. Das Ultimatum Deutschlands an Rußland und die Erklärung der Kriegsbereitschaft durch den Deutschen Kaiser waren durch Extrablätter in Paris bekannt geworden. Man wußte, jetzt war der Krieg unvermeidlich. Kein Mensch glaubte an den Ernst der diplomatischen Vermittlungsversuche des englischen Ministerpräsidenten. Chanteclair, der gallische Hahn, saß auf dem Dachfirst von Notre-Dame, schlug mit den Flügeln, reckte den Hals und krähte mit höchster Anstrengung seinen alten Schlachtruf über sein liebes, aufgeregtes Paris hin: »Die Rache ist im Anmarsch! – La revanche est en marche!« Und eine zeitgemäße Losung gab er obendrein zum besten: » À bas les boches!«

Die Gassenbuben griffen den Ruf auf, und die Camelots rannten damit durch die Straßen. Wie knatternde Wimpel im Sturm, so schlug der neue Schlachtruf den braven Bürgern um die Ohren, die neuigkeitslüstern vor den Caféhäusern saßen und auf den Boulevards ziellos herumspazierten. Auf dem Ostbahnhof drängten sich Scharen von Deutschen, die noch vor Toresschluß die Heimat erreichen wollten. Hier und da hatte es schon Krawalle mit derben Püffen und zerbrochenen Fensterscheiben gegeben; aber noch vermochte die Polizei den Apachen und sonstigen gewohnheitsmäßigen Lärmmachern das Handwerk zu legen und die groben Ausschreitungen vorzubeugen. Bis in die tiefe Nacht hinein herrschte auf den Straßen ein Gewimmel und Gewoge, wie sonst kaum zu den lebendigsten Tagesstunden, und zumal vor dem Kriegsministerium, dessen Fenster fast sämtlich erhellt waren, staute sich die Menge und drängte sich an die das Gebäude verlassenden Offiziere und Ordonnanzen heran, um von ihnen womöglich das Neuste zu erfahren.

Unter denen, die sich bis nahe an den Haupteingang des Kriegsministeriums durchgedrängt hatten, war auch der Soldarbeiter Iwan Wassiljewitsch Tscherbischeff. Er war stundenlang auf den Beinen gewesen, um sich zu vergewissern, wie er sich als ungedienter Ausländer im militärpflichtigen Alter zu verhalten habe. Das Russische Generalkonsulat hatte ihn an die französischen Behörden verwiesen, und die hatten ihn von einer Amtsstelle zu der anderen geschickt. Das Ergebnis war, daß er so klug blieb wie zuvor, das heißt, daß er in Paris zu bleiben beschloß, bis die russische Militärbehörde ihm einen Stellungsbefehl zukommen ließ. Wenn ihn ein solcher überhaupt erreichte, war es immer noch fraglich, ob die Möglichkeit, ihm nachzukommen, vorhanden sein würde – wenn nicht etwa Russen und Franzosen sich in solcher Geschwindigkeit die Hand reichten, daß er nur von Paris nach Berlin zu fahren brauchte, um bei seinen Landsleuten zu sein. Iwan Wassiljewitsch hatte sich des öfteren stärken müssen, um den Strapazen der weiten Wanderung von Kanzlei zu Kanzlei gewachsen zu sein. Er hatte sich in verschiedenen besseren Lokalen mit freigebigen französischen Patrioten auf alkoholischer Unterlage verbrüdert und die Bande der Entente fester geschmiedet. Schließlich hatte er sich von dem Strom der schlaflosen Vaterlandsretter vor das Kriegsministerium tragen lassen.

Eben war in den vordersten Reihen der Belagerer die Parole ausgegeben worden, doch lieber nach einem der großen Zeitungspaläste zu ziehen, weil man dort viel eher das Neueste erfahren könne als aus dem amtlich verschlossenen Munde der Offiziere und Ordonnanzen. Auch der junge Russe hatte genug davon, sich die Beine in den Leib zu stehen und wollte eben kehrtmachen, um sich den Abziehenden anzuschließen, als er aus dem Portal des Kriegsministeriums seinen Arbeitsgenossen Armand Georges heraustreten sah. Eine Täuschung schien ihm so gut wie ausgeschlossen, denn gerade unter dem elektrischen Kandelaber lüpfte der hagere blonde Herr seinen Zylinderhut grüßend vor einem ihn begleitenden Offizier, und seine charakteristischen Züge waren in dieser Beleuchtung einfach unverkennbar.

In seiner Aufregung packte Iwan Wassiljewitsch seinen Nachbarn, einen eleganten jungen Menschen, der wie ein Verkäufer in einem feinen Geschäfte aussah, am Arm und raunte ihm ins Ohr: »Sie, mein Herr, schauen Sie sich den langen Blonden da genau an! Wollen Sie sich ein Verdienst erwerben um Ihr Vaterland, so helfen Sie mir den Menschen verfolgen. Wir dürfen seine Spur nicht verlieren; vielleicht gelingt es uns, einen Verräter zu entlarven.«

»Ich bin dabei,« versetzte der junge Mann eifrig: »aber Sie müssen mir sagen, worum es sich handelt.«

Und dicht am Ohr des Zufallsgenossen flüsterte der Russe: »Es ist ein deutscher Prinz, der sich unter falschem Namen schon jahrelang in Paris versteckt hält. Was hat der im Kriegsministerium zu suchen?«

»Sapristi!« sagte der kleine Franzose. »Das ist kitzlig. Also los, los!«

Und die beiden Verbündeten brachen sich rücksichtslos mit den Ellenbogen Bahn, um in die freie Gasse zu gelangen, die die Polizei für den Verkehr mit dem Kriegsministerium offen hielt. Doch ihre Rücksichtslosigkeit sollte sie nicht zum Ziele führen, denn sie hatten kaum die Menschenmauer im Rücken, als sie den verdächtigen Deutschen in Begleitung des Offiziers ein Dienstauto besteigen sahen. Sie hörten nur noch, wie im Wechsel höflicher Redensarten der Offizier Herrn Armand Georges »mein Prinz« anredete und ihm versicherte, daß ihm der kleine Umweg durchaus nichts ausmache. Dann fuhr das Auto davon, und ehe die beiden Verfolger sich noch darüber einig waren, ob sie die Kosten für ein Mietauto daran wenden wollten, war der verdächtige Prinz schon längst außer Sicht.


WENIGE Minuten nach Mitternacht betrat Armand Georges das bescheidene Häuschen, das den stolzen Namen »Hôtel Lusignan« trug. Sobald er die Haustüre hinter sich geschlossen hatte, strich er ein Wachskerzchen an; und bei dessen schwachem, flackernden Lichte tauchten von den alten dunklen Gobelins, die alle vier Wände des weiten Vorraums von dem Holzpaneel bis zu der Plafondeinrahmung hinauf lückenlos verhüllten, die verblaßten bunten Gestalten der Schäfer und Schäferinnen, Kavaliere und Damen aus der galanten Zeit gespenstisch aus dem Schatten hervor. Eine schmale Treppe führte ohne Biegung in das erste Stockwerk hinauf, und Armand hatte eben erst deren unterste Stufe betreten, als eben eine Tür ging und gleich darauf eine kleine alte Dame in einem unansehnlichen Flanellschlafrock, eine Petroleumlampe emporhaltend, auf der obersten Stufe sichtbar wurde.

»Aber liebe Mama!« schalt Armand mit rücksichtsvoll gedämpfter Stimme hinauf und blies sein Kerzchen aus: »Das ist doch wirklich unrecht von dir, so lange aufzubleiben.« Er eilte die Stufen hinauf, nahm der alten Dame die Lampe aus der Hand und berührte mit den Lippen ihr welkes Haar, das sie immer noch hoch toupiert à la princesse trug.

Sie ergriff seine freie Hand und versetzte ihr einen zärtlichen Klaps: »Ja, glaubst du vielleicht, ich könnte ruhig schlafen,« sagte sie mit schwacher, gewohnheitsmäßig weinerlicher Stimme, »wenn ich weiß, daß vielleicht über deine Zukunft in diesen Stunden entschieden wird? Komm, Armand, komm schnell hinein und erzähle. Ich vergehe vor Ungeduld.«

Armand leuchtete seiner Mutter ins Zimmer hinein, zog die Tür hinter sich zu und stellte die dürftige Lampe auf den runden Tisch vor dem Sofa. Es war ein mäßig großer, ziemlich hoher Raum, mit einem üppigen breiten Atelierfenster darin, das durch einen verschlossenen Zugvorhang von gelbem Satin verhüllt war. An den Wänden hingen große, stark nachgedunkelte Familienportraits, neben dem großen Marmorkamin stand ein billiges eisernes Öfchen, und die wenigen Polsterstühle sowie die Kommode und der Schreibtisch waren offenbar Überbleibsel aus der längst vergangenen Glanzzeit des Hauses, die aber dringend einer neuen Politur oder eines neuen Überzugs bedurften. Immerhin, das Alter und der gediegene Stil verlieh allen diesen wackligen, fadenscheinigen und selbst verschlissenen Möbelstücken so viel Würde, daß der ganze Raum doch einen vornehmen Eindruck machte.

Die alte Prinzessin schmiegte sich in ihre Sofaecke und bedeutete mit einer ungeduldigen Geste ihrem Sohne, sich an ihre Seite zu setzen: »Also komm, sag' doch schnell! Was wollte das Kriegsministerium von dir?«

Armand zog es vor, stehen zu bleiben. Er tupfte sich mit seinem Taschentuch Schweißperlen von der hohen Stirn, seufzte tief auf, und dann sagte er, beide Hände auf den Tisch legend und sich zu seiner Mutter hinüberbeugend: »Also, Mama, das war die peinlichste Erfahrung meines Lebens. Der Zusammenhang war sehr einfach. Der Präsident hat dem Kriegsminister meinen eigenartigen Fall erzählt, und das hat diesen genialen Herrn auf die Idee gebracht, meine unglücklich komplizierte Lage zu seinem Vorteil auszunutzen. Unsere Unterredung währte kaum zehn Minuten – nachdem ich vorher nahezu anderthalb Stunden hatte antichambrieren dürfen. Das mag allerdings unvermeidlich gewesen sein, gerade an einem so ereignisreichen Tage wie heute; aber die gute Lebensart hätte den Herrn Kriegsminister doch wenigstens ein paar Worte der Entschuldigung finden lassen sollen. Aber dieser Herr Kriegsminister in Zivil – er sieht übrigens ebenso unkriegerisch wie undiplomatisch aus – hielt es nicht einmal für nötig, sich zur Begrüßung vom Sessel zu erheben. Bei meinem Eintritt lachte er mir nur herablassend zu, und dann suchte er unter seinen Notizen, was er sich für die Audienz vorgemerkt hatte. >Ich habe das Vergnügen mit äh ...? Ah, ganz recht: Prinz Ravensberg. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, mein Prinz. Der Herr Präsident hat mir gesagt, daß Sie darauf brennen, der Republik den Beweis zu liefern, daß Sie dem Zwiespalt Ihrer Geburt zum Trotz mit Leib und Seele Franzose sind.< Er las diesen schönen Satz fließend von seinem Notizblock ab, jedenfalls hatte er ihn sich als wirksame rhetorische Eröffnung aufstenographiert. – Ich murmelte eine Bestätigung, worauf der Herr Kriegsminister, ohne mich anzuschauen, im Tone eines Beamten, der Eile hat, einen Fall zu erledigen, mir den Vorschlag machte, nach Deutschland zu gehen, mich dort bei meiner Verwandtschaft anzubiedern und die hohen Beziehungen meiner Familie dazu benutzen, alle wichtigen Neuigkeiten über den militärischen Aufmarsch, Truppenverschiebungen usw. zu erfahren und an Mittelspersonen weiterzugeben, die sich bei mir durch einen Ausweis des Kriegsministeriums legitimieren würden.«

»Soll das heißen, daß er dir nicht traut?« rief die Prinzessin, ihre müden Augen weit öffnend vor Entrüstung.

»Allerdings, das auch nebenbei,« versetzte Armand grimmig. »Spionendienste mutet mir dieser Herr zu, und zwar in der allererniedrigendsten Form. Ich habe aus meiner Entrüstung kein Hehl gemacht. Ich glaube, ich bin sogar sehr deutlich gewesen. Da ließ sich der Herr Kriegsminister herab, mich dahin zu belehren, daß die Spionage, zumal in Kriegszeiten, ein nichts weniger als verächtlicher militärischer Dienstzweig sei, zu welchem nur die intelligentesten und unerschrockensten Leute verwendet würden.«

»Aber das ist doch auch so!« sagte die kleine Dame, und in ihren Mienen zeigte sich deutlich die Anstrengung scharfen Denkens.

Armand strich sich seufzend über die Stirn. »Gewiß ist das an sich ganz recht,« gab er zu: »aber du mußt mir doch nachfühlen können, Mama, daß in meinem besonderen Falle die Übernahme einer solchen Aufgabe eine glatte Gemeinheit wäre.«

»Nein, das sehe ich nicht ein,« versetzte die Prinzessin eigensinnig. »Du bist doch diesen brutalen Deutschen nichts schuldig. Wie hat dein Vater an mir gehandelt und dein Bruder an dir?! Dein Vater hat mir das Leben verbittert, wie er nur konnte, und nicht einmal so viel Achtung vor meinen Gefühlen gehabt, daß er das unmäßige Trinken sich abgewöhnte – bis ich es nicht mehr aushalten konnte und ihn verließ. Und dein Bruder hat es durch seine Intrigen fertiggebracht, daß der Fürst dich enterbte und mich ohne jegliche Unterstützung dieser schmählichen Dürftigkeit überließ. Du hast es doch wirklich nicht nötig, ein Land zu schonen, dem solche schlechte Menschen angehören – oder bereust du es jetzt etwa, daß du damals mit mir gegangen und Franzose geworden bist?«

Armand machte einen Gang durchs Zimmer, bevor er sich auf einen der wackligen Lehnsessel im Stile Ludwigs XVI. niederließ und sich zu einer Entgegnung sammelte. »So einfach liegt die Sache doch nicht, liebe Mama,« begann er nach einer kleinen Weile zu sprechen: »Ich bitte dich zu bedenken, daß ich zunächst einmal damals noch nicht in der Lage war, frei zwischen meinen beiden Vaterländern zu wählen. Ich war ein Kind, und du hast mich auf deine Flucht mitgenommen, ohne mich zu fragen. Bitte, das soll kein Vorwurf sein. Ich weiß, ich war ein zärtliches Kind und hing an dir viel mehr als am Vater. Ich hätte mich für dich entschieden, auch wenn ich die Wahl gehabt hätte. Daß ich dann im Laufe der Jahre allmählich in ein ganz echtes Franzosentum hineingewachsen bin, war eine natürliche Sache. Inzwischen bin ich aber doch ein denkender Mensch geworden und habe mir durch meine Studien ein eigenes Urteil erworben. Über dein Verhältnis zu meinem Vater darf ich mir allerdings kein Urteil erlauben, denn ich kenne ja nur deine Auffassung eures Verhältnisses und habe seine Verteidigung nie gehört. Auch von meinem Bruder weiß ich nichts anderes, als was du mir von ihm erzählt hast, denn er selber hat es ja bequemer gefunden, meine Annäherungsversuche nicht zu beachten.«

»Ich dächte doch, daß meine Meinung über deinen Vater und Viktor dir genügen könnten,« warf die Prinzessin gekränkt ein. »Oder glaubst du vielleicht, daß ich dich belüge?«

Armand hob abwehrend die Rechte: »Aber Mama! Ich achte selbstverständlich deine Gefühle und bin auch überzeugt, daß du von deinem Standpunkt aus ganz recht hast in deiner Beurteilung; aber es ist doch auch eine unbestreitbare Tatsache, daß es bei ehelichen Zerwürfnissen ein objektives Recht oder Unrecht überhaupt nicht gibt. Der Fürst wird eben nicht der Mann gewesen sein, mit dem du glücklich werden konntest. Vielleicht wäre eine andere Frau mit ihm sehr zufrieden gewesen, und umgekehrt er mit einer anderen. Jedenfalls habe ich die Frage nach Recht oder Unrecht nicht zu entscheiden. Und daß Viktor unter dem Einfluß des Vaters gegen uns beide eingenommen wurde, ist ebenso selbstverständlich, wie daß ich unter deinem Einfluß zum Franzosen wurde und mich über meinen Bruder entrüstete. Dagegen glaube ich über Fragen der Geschichte, der Politik, der Völkerkunde usw. allerdings einige Urteilsberechtigung zu besitzen. Und dieses unbefangene Urteil sagt mir, daß in diesem Kriege das gute Recht auf seiten Deutschlands ist.«

»Aber Armand!« entsetzte sich die alte Dame. »Wie kannst du so was sagen! Bist du kein Lusignan? Wie darfst du mit diesen Pendulenräubern von 1870 sympathisieren, die uns Elsaß-Lothringen genommen haben, mit diesen brutalen, geschmacklosen Menschen, die sich in der ganzen Welt einnisten und uns Franzosen überall um unseren Einfluß und unsere Vorteile bringen wollen.«

Hinter seiner vorgehaltenen Hand lächelte der Prinz über die Entrüstung seiner Frau Mutter. Dennoch machte er ganz ernsthaft den Versuch, sie davon zu überzeugen, daß Deutschland diesmal wenigstens nicht der grimmige Angreifer, sondern daß es vielmehr in der Hauptsache der Ärger der Engländer über die deutsche Handelskonkurrenz und deren Furcht vor dem Verlust ihrer unbedingten Überlegenheit zur See sei, was den Weltbrand entfachte und die im Grunde weniger interessanten Russen und Franzosen mit hineingerissen habe. »Du wirst es erleben, Mama,« schloß er seine Ausführungen, »daß noch alle Kulturvölker in diesen furchtbaren Krieg mit hineingezogen werden, und daß wir Franzosen neben soundso vielen anderen düpierten Völkern dazu verurteilt sein werden, für England die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Aber daß ich diese allgemeinen Zusammenhänge begreife, schließt durchaus noch nicht ein, daß ich, wie du meinst, in allen Stücken mit Deutschland sympathisiere oder daß ich gar ihm den Sieg über uns wünschen sollte.«

Die alte Dame hatte während der langen Rede ihres Sohnes schon mehrmals ziemlich ungeniert gegähnt. Als er endlich schwieg, hob sie nur bedauernd die Schultern und sagte leichthin: »Von Politik mag ich ja wohl nichts verstehen. Ich halte mich an mein Gefühl – dafür bin ich eine Frau. Und mein Gefühl ist auf seiten meines Vaterlandes, trotzdem mir seine republikanischen Einrichtungen, seine Gottlosigkeit und noch so manches andere daran odiös sind. Wenn du ebenso mit deinem ganzen Gefühl bei Frankreich wärst, mein lieber Armand, so würdest du deine gelehrten Spekulationen jetzt ganz beiseite tun und dich rückhaltlos in den Dienst des Vaterlandes stellen. Hast du wirklich dem Kriegsminister eine glatte Absage gegeben?«

»Er hat mir vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit bewilligt,« erwiderte Armand ruhig. »Aber ich weiß ganz genau, daß ich nach vierundzwanzig Stunden nicht anders denken werde wie jetzt. Für Schurkereien bin ich nicht zu haben.«

Eine jähe Röte huschte über die bleiche Stirn der Prinzessin, und ihre welken Lippen arbeiteten aufgeregt. Sie erhob sich von ihrem Sofaplatz und nickte, während sie um den Tisch herum der Tür zuschritt, ihrem Sohne flüchtig zu. »Ich möchte jetzt schlafen gehen,« stieß sie mit verhaltener Erregung hervor.

Er sprang auf die Füße, um ihr, wie er es von Kindheit auf gewöhnt war, die Hand zu küssen.

Aber die alte Dame verbarg rasch ihre Rechte auf den Rücken und fuhr zornig auf: »Nur das eine möchte ich dir noch sagen, Armand: Du bist sehr bereit, Handlungen für schurkisch zu erklären, aus denen andere Männer sich eine Ehre machen würden – und zwar nicht die schlechtesten Männer. Du könntest ebensogut alle Diplomaten für Schurken erklären. Ich finde nur, es wäre besser, wenn du dich ebenso rasch entschlossen zeigtest, günstige Gelegenheiten zu ergreifen, um deiner armen Mutter und dir selbst zu einem menschenwürdigen Dasein zu verhelfen. Ich muß dir gestehen, es ist mir unfaßlich, wie ein Prinz Ravensberg, noch dazu mit dem Blute der Lusignans in den Adern, so weit zu imponieren, daß sie ihm eine Stellung einräumen müssen, die seinem Rang und seinen bedeutenden Fähigkeiten entspricht. Du hättest schon längst in der diplomatischen Laufbahn oder in der militärischen einen Rang erreichen müssen, der ...«

»Du vergißt, Mama,« warf Armand leise seufzend ein, »dazu fehlt mir das Geld.«

»Ach was!« erhitzte sich die Prinzessin. »Ich weiß nur, daß alles besser gewesen wäre als diese elende Handwerkerei mit der Feder und mit dem Modellierholz. Damit hast du dir nur deine Gesundheit ruiniert, und ich ...«

»Mama!«

»Ich weiß, was du sagen willst; undankbar willst du mich schelten. Ich will nicht undankbar sein, ich will zugeben, daß du der beste und aufopferndste Sohn bist; aber es fehlt dir an Entschlossenheit, die gute Gelegenheit beim Schopf zu fassen. Dein Bruder Viktor mag als Charakter noch so anfechtbar sein; das eine weiß ich: er besitzt die männliche Energie, die dir mangelt. Er hat es mit seinen vierzig Jahren bereits zum Regimentskommandeur gebracht, und ich bin überzeugt, er an deiner Stelle würde auch in Frankreich und ohne Geld eine Stellung zu erreichen gewußt haben, wie sie seinem Namen gebührt.«

Die kleine Dame reckte sich auf und schaute herausfordernd zu ihrem großen Sohne empor; da aber Armand kein Wort zu einer Verteidigung hervorbrachte, hob sie ironisch ihre starken, immer noch schwarzen Brauen, streckte ihm die Hand entgegen und sagte seufzend: »Nun, ich mache dir ja keinen Vorwurf. Die Menschen sind eben, wie sie sind. Schlafe dich aus und versuche morgen über den Vorschlag des Ministers ruhig nachzudenken. Gute Nacht.«

Wortlos, aber respektvoll wie immer, küßte der Prinz seiner Mutter die Hand und leuchtete ihr mit der Lampe bis in ihr Schlafzimmer.


AM anderen Tage erfolgte die Erklärung der französischen Mobilmachung. An allen Straßenecken erschienen Anschläge mit den Bekanntmachungen über die Einberufung der verschiedenen Jahrgänge zu den Waffen, über die Sperrung des Fracht- und Personenverkehrs nach dem Auslande, über die Spionengefahr und das Verhalten der Bevölkerung in den wichtigsten wirtschaftlichen Fragen. Vor allen diesen Anschlägen drängte sich eine dichte Menge. Militärautos rasten durch die Straßen. Nach den Bahnhöfen ziehende Truppen wurden mit lauten Zurufen begrüßt und von zahllosen Menschen begleitet. Vor den Zeitungsredaktionen hatte die Polizei Mühe, in die dicht gedrängte Menschenmauer, die die Bekanntgabe der neuesten Depeschen erwartete, eine Gasse für den Verkehr offen zu halten, und in den überfüllten Cafés überbrüllten die Zeitungsausrufer selbst das Stimmengewirr der allgemeinen aufgeregten Hin- und Herrede. Ganz Paris war trunken; aber nicht vom Wein, sondern vom heimlichen Grauen der schicksalsschweren Stunde. Und die Temperamente äußerten sich in diesem seltsamen Rausch mit noch übertriebenerer Deutlichkeit, als wenn der Alkohol an den Schleiern und Masken der manierlichen Zurückhaltung gezerrt hätte. Die heimlichen Zweifler, die bedächtigen Wissenden suchten wenigstens für diese ersten Stunden des patriotischen Rausches die flüsternden Stimmen ihres Innern im tollen Lärm der Straße zu ersticken, und selbst die stumpfsten, schwerfälligsten Philister gaben sich alle Mühe, durch ihre Nüchternheit nicht aufzufallen. Sicherlich waren die bewußten Heuchler und die ungeschickten Affen der Begeisterung den ehrlichen Trunkenen gegenüber in recht erheblicher Minderheit.

Französischer als irgendein Franzose gebärdete sich an diesem tollen Tage Iwan Wassiljewitsch Tscherbischeff. Er hatte seinen Rausch erst sehr spät verschlafen gehabt und, da die Eröffnungsstunde doch einmal versäumt war, es nicht mehr für der Mühe wert erachtet, sich überhaupt noch in das Atelier Tissandier zu begeben. Als Vertreter der großen verbündeten Nation hielt er es für seine Pflicht, an diesem weltgeschichtlichen 1. August keinen Katzenjammer aufkommen zu lassen, und bewirkte dies dadurch, daß er schon seinem ersten Frühstück einige Gläschen Kognak beigab, die denn auch ihren Zweck vollkommen erfüllten. Iwan Wassiljewitsch suchte das dichteste Gedränge und das lauteste Geschrei auf; und wenn er sich in die jauchzende Kinderschar mischte, die vor einem mit klingendem Spiel ausrückenden Regimente einhersprang, so marschierte er an der Spitze der Zivilisation; und wenn er sich an dem Bombardement eines deutschen Geschäftes oder der lauten Verhöhnung polizeilich abgeführter Deutscher beteiligte, so steifte er der lateinischen Rasse den Arm zum herkulischen Keulenschwung gegen die germanische Hydra.

Immerhin hatte er in de Vormittagsstunden noch so viel Besinnung, um sich nicht nur zwecklos in den Straßen herumzutreiben, sondern auch mit Nachdruck sein Vorhaben zu fördern, den verhaßten Nebenbuhler als deutschen Spion zu entlarven. Er erkundigte sich zunächst im Polizeirevier des Templeviertels nach dem Goldarbeiter Armand Georges; und da ein solcher dort unbekannt war, sprach er beim Hauptmeldeamt vor. Zufällig befanden sich mehrere Personen jenes Namens in den Listen; aber ihr Alter und ihre Beschäftigung paßten nicht auf den langen blonden Arbeitsgenossen Iwans. Er ließ sich die Mühe und die Kosten nicht verdrießen, noch vor dem Mittagsmahl mit der Untergrundbahn nach dem Bois hinauszufahren und das Polizeirevier aufzusuchen, welches für das Hôtel Lusignan zuständig war. Dort war ihm die Auskunft zuteil geworden, daß im Hôtel Lusignan die geschiedene Gattin des deutschen Fürsten Ravensberg mit ihrem Sohne Georg Hermann und einer alten Dienerin wohne. Im Munde des französischen Beamten klangen die deutschen Namen ganz deutlich als »Georges Armand,« und der erhitzte Russe konnte sich nicht enthalten, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und laut zu rufen: » Le voilà – da haben wir ihn ja: Georges 'Erman! Kehren Sie das um und sprechen Sie es noch etwas französischer aus, dann haben Sie den Goldarbeiter Armand Georges aus der Rue du Temple.«

Alle drei in dem Raum arbeitenden Beamten drehten neugierig die Köpfe nach dem aufgeregten Schreier, und aus seinem Verschlage kam der Wachtmeister heraus und fragte rasch: »Was wollen Sie damit sagen, mein Herr?«

»Damit will ich sagen, daß dieser deutsche Prinz ein verdammter Spion ist!« rief Iwan Wassiljewitsch, sich in die Brust werfend, mit funkelnden Augen.

Der Wachtmeister winkte einem der Sergeanten, und die beiden Polizisten steckten flüsternd die Köpfe zusammen. Dann strich der Wachtmeister lächelnd seinen stattlichen Schnurrbart und wandte sich wieder an den Russen:

»Entschuldigen Sie, mein Herr, Ihre Beschuldigung klingt sehr unwahrscheinlich, denn Seine Hoheit, der Prinz, ist unzweifelhaft ebenso wie seine Mutter französischer Bürger. Es ist der Polizei bekannt, daß er sich als Literat betätigt und sehr geschätzte französische Bücher schreibt, ferner, daß er sich in sehr dürftigen Verhältnissen befindet, weil er von seinen deutschen Verwandten vollständig im Stiche gelassen wurde, seit er, und zwar noch als Knabe, mit seiner Frau Mutter nach Paris übersiedelte. Übrigens verhindert die Herrschaften diese Dürftigkeit keineswegs, in den vornehmsten französischen Familien zu verkehren. Der Prinz geht sogar im Elysée aus und ein. Ich selbst habe ihn vor einigen Tagen, als ich Dienst in der Großen Oper hatte, in der Loge des Präsidenten bemerkt.«

»Um so gefährlicher ist der Mensch!« beharrte der Russe mit glühendem Eifer. »Weshalb in Teufels Namen sollte er sich denn als Goldarbeiter verkleiden und einen falschen Namen annehmen, wenn er dieser Maske nicht zu heimlichen Zwecken bedürfte?«

Der Wachtmeister lächelte immer noch: »Es würde nichts schaden, wenn Sie Ihre Stimme weniger anstrengen wollten, Herr ... Wollen Sie mir gefälligst Ihren Namen und Ihre Wohnung angeben.«

Er notierte selber die Angaben Tscherbischeffs und fuhr dann mit einer höflichen Verbeugung fort: »Ah, Sie sind Russe, mein Herr, und Sie arbeiten auch im Atelier Tissandier. Nun, dann werden Sie uns ja eine Personalbeschreibung Ihres Arbeitsgenossen Armand Georges liefern können?«

»Gewiß,« erwiderte Tscherbischeff. »Der sogenannte Armand Georges ist auffallend hager. Ich schätze seine Länge auf mindestens 1,80 m, Kopf schmal und hoch, besonders die Stirn; ziemlich große, schmale Nase, blondes, glattes, seitlich gescheiteltes Haar, blonder Schnurrbart nach englischer Mode. Von den Augen kann ich nicht gewiß sagen, ob sie blau oder grau sind. Als besondere Kennzeichen möchte ich seine langen dürren Hände und seine Manier, die Brauen zusammenzuziehen anführen, wobei sich auf der Stirn eine steile Querfalte bildet.

Die sämtlichen Polizisten hatten mit Spannung zugehört und wechselten Blicke des Erstaunens mit ihrem Vorgesetzten. Der Wachtmeister machte plötzlich eine sehr ernste Miene und sagte etwas zögernd: »Hm! Die Beschreibung – allerdings ... da dürfte kaum noch ein Zweifel sein ... In der Tat, sehr merkwürdig. Um so merkwürdiger, als vor einer halben Stunde erst das Kriegsministerium antelegraphiert hat ...«

»Ah, wahrhaftig?« unterbrach ihn der Russe triumphierend. »Gestern nacht habe ich mit eigenen Augen den Goldarbeiter Armand Georges das Gebäude des Kriegsministeriums verlassen und mit einem jungen Ordonnanzoffizier im Auto davonfahren sehen. Das dürfte zwischen halb und dreiviertel Zwölf gewesen sein.«

Der Wachtmeister notierte auch diese Aussage und verabschiedete alsdann Herrn Tscherbischeff mit höflichem Danke für seinen bundesbrüderlichen Eifer, der Sache Frankreichs zu dienen. Er werde nicht verfehlen, gegebenenfalls den Herrn Kriegsminister auf seine Person aufmerksam zu machen.

Stolz erhobenen Hauptes verließ Iwan Wassiljewitsch das Amtszimmer und fuhr wieder mit der Untergrundbahn nach dem Temple-Viertel zurück, um sein gewohntes Déjeuner im Coq rouge nicht zu versäumen.

Als er in die Nähe des Restaurants kam, sah er die ganze Straße erfüllt von einem Menschenauflauf, der sich um eine schwer mit Großgepäck beladene Droschke herum gebildet hatte und mit wüstem Geschrei den Kutscher am Weiterfahren zu verhindern suchte. Tscherbischeff machte lange Beine und erkundigte sich bei einem der lautesten Schreier am Außenrande des Menschenknäuls, was es gebe.

»Deutsche sind's! Ausrücken wollen sie!« versetzte der angeredete wüste Schlingel. Und im nächsten Augenblick warf er sich mit vorgebeugtem Kopf wie ein Stier gegen die Menschenmauer, um weiter nach vorn durchzudringen, indem er dabei aus Leibeskräften schrie: » Conspuez les boches!«

Gelle Pfiffe sprangen wie helle Spritzer aus der drohenden Woge des allgemeinen Geschreis auf. Über den Köpfen der Menge sah man die Gestalt des Kutschers, der auf dem Bocke stehend auf sein Pferd lospeitschte und mit Flüchen die frechen Burschen bedrohte, die sich seinem Gaul ins Riemenzeug gehängt hatten. Im nächsten Augenblick erschallte ein allgemeines Gelächter und kreischende Beifallsrufe: ein Kerl war auf die Radnabe gestiegen und hatte den Kutscher von hinten am Rockkragen mit einem Ruck so plötzlich auf den Sitz gerissen, daß ihm der weiß lackierte Hut vom Kopfe fiel. Und dann gab es wieder ein allgemeines Bravo, als es den Burschen, die sich vorn um den Wagen drängten, gelang, die augenblickliche Hilflosigkeit des Kutschers zu benutzen und das Pferd abzusträngen.

Jetzt schwang sich ein gewandter Turner dem Tier auf den Rücken, während zahlreiche Arme es aus der Gabel herauszerrten. In seiner Angst versuchte der friedliche Droschkengaul zu steigen, und da ihm das nicht gelang, feuerte er hinten aus, um sich des frechen Reiters zu entledigen. Dieses Schauspiel erregte neues Geschrei und Gelächter. An allen Fenstern erschienen neugierige Zuschauer, aus den Seitengassen strömte noch mehr aufgeregtes Volk zusammen – aber ein Sergeant de ville, ein Schutzmann, war weit und breit nicht zu sehen.

Die Insassen des Wagens konnte Iwan Wassiljewitsch von seinem Standort nicht erkennen; wohl aber konnte er aus dem Menschenknäuel, der wie eine Pyramide über den offenen Wagen hinaufwuchs, und am ängstlichen Gekreisch von Frauenstimmen aus der Mitte dieser Menschenpyramide schließen, daß die Lage der Insassen gefährlich zu werden begann. Plötzlich brach die Pyramide in sich zusammen, und ein allgemeines Triumphgeschrei zeigte an, daß es dem Pöbel gelungen war, die armen Deutschen aus dem Wagen herauszuzerren. Schimpfworte flogen hageldicht, und bis in die äußerste Reihe des Menschenwalles reckten sich geballte Fäuste in die Luft, bereit, die glühende Vaterlandsliebe ihrer Inhaber auf dem Rücken der wehrlosen Opfer auszutoben.

Wenige Sekunden später ging eine neue Bewegung durch die Menge, ein Schwanken von dem Kern nach außen, wie wenn gewaltsam ein Keil hineingetrieben worden wäre. In das Wehegeschrei der Gequetschten mischten sich laute Zurufe, denen sich wieder Verwünschungen und Drohungen entgegenbäumten. Für eine ganz kurze Spanne Zeit waren aber doch aus dem Mittelpunkt des Knäuels heraus einige mahnende Worte einer hohen angestrengten Stimme zu vernehmen.

»Schämt euch doch, gegen wehrlose Frauen ...« Mehr vermochte der Russe nicht zu verstehen; aber die Stimme kam ihm bekannt vor. Es gelang ihm, dicht an die Mauer des Hauses gedrückt, das an den Coq rouge angrenzte, sich etwa zwanzig Schritte vorzuarbeiten und einen erhöhten Standpunkt auf der Querstange eines eisernen Schutzgeländers vor einem Schaufenster zu gewinnen, wobei er sich ungeniert auf die Schultern einer dicken Bürgerin stützte, die just vor ihm stand. Nun konnte der kleine Russe über die Köpfe hinwegsehen und erkannte in dem Gedränge und Geschiebe zwischen der angehaltenen Droschke und der Tür des Coq rouge deutlich seinen alten Arbeitsgenossen Herrn Lepage und seinen verhaßten Nebenbuhler Armand Georges. Die beiden Männer hatten eine Dame, der man den Hut vom Kopfe gerissen, sowie ein hübsches, blasses, blondes Mädchen und einen etwa zwölfjährigen zarten Knaben zwischen sich genommen und waren bemüht, mit ihren freien Ellenbogen ihnen eine Gasse zum Eingang des Estaminets zu bahnen. So aus nächster Nähe vermochte Iwan Wassiljewitsch auch einzelne Sätze aus dem leidenschaftlichen Stimmengewirr herauszuhören. Herr Lepage warnte vor Hausfriedensbruch und seinen schweren Folgen.

Der Prinz schrie so laut er konnte: »Aber Madame ist doch Französin! Seid doch vernünftig!« während aus dem Gedränge der Nächststehenden der Ruf zu verstehen war: »Man hat sie Deutsch sprechen hören! Sie sollten interniert werden und wollten fliehen!«

Nur noch zwei Schritte trennten die kleine Gruppe der Beschimpften und ihrer Beschützer von der Tür des Wirtshauses, als der Russe mit Aufgebot seiner ganzen Stimmkraft über die Köpfe hinwegrief: »Glaubt ihm nicht, Mitbürger! Ich kenne ihn, den langen Blonden! Er ist ein deutscher Spion!«

Die dicke Bürgerin wandte sich so plötzlich nach dem Schreier hinter ihrem Rücken um, daß er seine Stütze verlor und ihr vornüber um den Hals fiel. Gelächter der Umstehende, brausende »Hört! hört«-Rufe von nah und fern – und ehe sich Tscherbischeff dessen versah, war er von ein paar kräftigen Armen gepackt und auf die Schultern zweier Männer in Arbeitskitteln gehoben worden. »Reden, reden!« rief man ihm von allen Seiten zu. »Wer ist ein Spion? Wo ist ein Spion?«

»Da! Eben verschwindet er in der Tür! Der lange Blonde war's. Laßt ihn nicht entwischen! Ich komme eben von der Polizei; sie ist ihm schon auf der Spur. Er hat sich als Goldarbeiter bei Tissandier eingeschlichen; aber er ist ein deutscher Prinz! Das Kriegsministerium fahndet nach ihm. Drauf, Mitbürger! Drauf! Laßt euch nichts vorreden! Wer ihn faßt, kriegt eine hohe Belohnung!«

Ein wildes Geheul war die Antwort. Besinnungslos drängte der tolle Haufe auf den Eingang des Wirtshauses zu, und im Nu war die von innen verriegelte Tür eingedrückt.

Während draußen auf der Straße der Russe das Volk aufwiegelte, hatte drinnen in der großen Wirtsstube die arme beschimpfte Dame den neugierig zusammengeströmten Gästen mit fliegendem Atem erzählt, sie sei die Gattin eines bereits geflüchteten Deutschen und habe die behördliche Erlaubnis bekommen, mit ihrem Kinde zu ihren Verwandten nach der Touraine zu reisen. Das blonde Fräulein sei eine Verwandte ihres Mannes, die sich nicht habe entschließen können, ihre gute Pariser Stelle rechtzeitig aufzugeben; nun habe sie sie mit sich nehmen wollen. Unglücklicherweise habe das Fräulein beim Einsteigen in den Wagen mit ihrem Knaben Deutsch gesprochen, Vorübergehende hätten es gehört, und daraus sei der ganze gefährliche Krawall entstanden. Die Dame war noch kaum mit ihrem Bericht zu Ende, als schon Fußtritte gegen die Eingangstür dröhnten. Da rief Armand Georges der Wirtin, die hinter dem Schanktisch hervorgeeilt war, zu: »Schnell, schnell, Madame: verbergen Sie die Leute in ihrem Zimmer!«

Aber die Gute Frau hatte vor Angst schon fast die Besinnung verloren. Sie hielt sich beide Hände vor die Ohren und jammerte: »O, mein Gott, mein Gott! Sie werden mir alles zertrümmern. Ich werde ruiniert. Helfen Sie mir doch! Lasen Sie niemanden herein!«

»Telephonieren Sie lieber nach der Polizei!« schrie Herr Lepage sie an, während der Prinz Angèle herbeiwinkte und sie beschwor, ihm zuliebe die armen Verfolgten in den Oberstock hinaufzugeleiten und dort zu verstecken; alles übrige möge sie ihm überlassen.

Wortlos nickte Angèle ihm zu, ergriff den Knaben bei der Hand und zog ihn eiligst mit sich fort in den Vorraum hinter der Schenke, von wo die Treppe in den ersten Stock hinaufführte. Die zerzauste Dame und das deutsche Fräulein hasteten hinter ihr drein. Und als die Tür der wütenden Bearbeitung von draußen nachgab, waren die drei bereits verschwunden.

Da mit der jammernden Wirtin nichts anzufangen war, eilte der alte Lepage nach dem Fernsprecher, um die Polizei herbeizurufen, während etliche beherzte Männer unter den Gästen sich um Armand Georges scharten, um sich dem Ansturm der frechen Eindringlinge entgegenzustellen.

Wüstes Geschrei, aus dem nichts außer dem Kampfruf »Deutscher Spion!« herauszuhören war, erfüllte den niedrigen Raum und drohte ihn auseinanderzusprengen. Eine Verständigung war nicht mehr möglich. Es kam zum Handgemenge, Stühle wurden hochgeschwungen, Flaschen und Gläser als Wurfgeschosse benutzt. Armand Georges verspürte einen schmerzhaften Anprall gegen seine Stirn, das heiße Blut rann ihm über die Augen, er griff nach einem Halt und verlor das Bewußtsein.


ETWA zwei Stunden nach dem Auftritt im Roten Hahn öffnete im Hôtel Lusignan die alte Wirtschafterin der Prinzessin Ravensberg die Haustür und lugte mißtrauisch durch den engen Spalt hinaus, wer zu dieser sonst stillen Zeit, in der die Prinzessin zu schlummern pflegte, die alte Zugschelle in Bewegung gesetzt habe. Ein ihr unbekanntes junges Mädchen sah sie vor sich stehen, ein schlankes, zierlich gebautes Persönchen in einem hellen Waschkleid und einem mit Blumen garnierten Topfhütchen, unter dem üppig gewelltes schwarzes Haar hervorquoll. Die zarten Wangen waren vom raschen Lauf gerötet, und die großen dunklen Augen glänzten vor Erregung. Madame Guiche vergrößerte den Spalt ein wenig und fragte nach dem Begehren der jungen Dame.

»Ich muß sogleich die Frau Prinzessin sprechen,« keuchte das Fräulein, indem sie ihre Hand gegen den Busen drückte, um ihr fliegendes Herz zu beruhigen.

»Ja, ich weiß doch nicht,« zögerte Madame Guiche immer noch bedenklich, »es ist die Stunde, wo Frau Prinzessin zu ruhen pflegt.«

Das Fräulein trat ungeduldig auf der Steinplatte hin und her und fuhr sich mit ihrem Tüchlein über die feuchte Stirn.

»Das tut mir leid; aber ich muß Sie doch bitten, die Prinzessin zu wecken. Es handelt sich um einen Unglücksfall, der Herrn Armand Georges zugestoßen ist.«

»Armand Georges?« wiederholte Madame Guiche, und ihr Faltengesicht war ganz mißtrauische Zurückweisung: »Wir kennen hier niemanden dieses Namens.«

»Doch, doch! Die Frau Prinzessin wird ihn schon kennen. Der Rote-Kreuz-Wagen kann jede Minute hier vorfahren, und es ist ein Sergeant von der Polizei dabei. Ich bin mit der Untergrundbahn gekommen, um die Dame vorzubereiten, damit sie nicht zu sehr erschrickt.«

Jetzt wuchs die Neugierde der alten Wirtschafterin dem Mißtrauen über den Kopf und indem sie die Tür so weit öffnete, daß das Fräulein eintreten konnte, fragte sie, wen sie melden solle.

»Sagen Sie einfach,« erwiderte das Mädchen ungeduldig, »es sei jemand da mit einer eiligen Botschaft von ... mein Gott! aus dem Atelier Tissandier, Sie wissen doch.«

»Tissandier?« Das alte Weiblein riß seine runden matten Hühneraugen entsetzt auf und starrte der Besucherin hilflos ins Gesicht. »Tissandier? Das ist, wo der Prinz zuweilen hingeht, um seine Modelle ausführen zu lassen. Großer Gott! Sie wollen doch nicht etwa sagen, mein Fräulein, daß unserem Prinzen etwas zugestoßen ist?«

»Aber ja, das will ich sagen. Halten Sie mich doch bitte nicht auf. Übrigens brauchen Sie sich nicht aufzuregen – es hat keine Gefahr mehr. Melden Sie mich nur schnell und lassen Sie Ihre Aufregung nicht merken, Madame.«

Der entschiedene Ton der jungen Dame bewog Madame Guiche endlich, sich in Bewegung zu setzen und die steile, schmale Treppe hinaufzusteigen, so rasch ihre zitternden Beine ihr das gestatteten. Aber sie hatte kaum die dritte Stufe hinter sich, als oben die Prinzessin selber sich über das Treppengeländer beugte und mit ängstlicher Kurzatmigkeit hinunterfragte, was es denn da zu flüstern gebe und ob jemand zu ihr wolle.

Da lief das junge Mädchen mit jugendlicher Behendigkeit die Treppe hinauf und sagte, bevor Madame Guiche noch zu Worte gekommen war: »Die Frau Prinzessin wird mir verzeihen, daß ich zu dieser ungelegenen Stunde hier eindringe. Ich bin Angèle Dupont, die Tochter der Wirtin zum Roten Hahn, wo der Herr Prinz sein Gabelfrühstück einzunehmen pflegt. Frau Prinzessin haben vielleicht von mir gehört.«

»Nicht daß ich wüßte, mein Fräulein,« erwiderte die alte Dame zerstreut, indem sie ihr Lorgnon vor die Augen hob, um das knicksende Mädchen zu mustern. »Sie wollten, soviel ich gehört habe, so freundlich sein, eine Botschaft von meinem Sohne ...«

»Allerdings,« sagte Angèle, der einladenden Handbewegung der Prinzessin nach dem offenen Wohnzimmer Folge leistend. Sie machte jedoch von der Erlaubnis, Platz zu nehmen, keinen Gebrauch, sondern brachte ihre Sache stehenden Fußes vor, sobald die alte Dame die Tür hinter sich zugezogen hatte. »Es ist nämlich in unserem Lokal ein bedauernswerter Exzeß vorgekommen. Der Prinz hatte sich ritterlich der Familie eines geflüchteten Deutschen angenommen, und der Mob verfolgte ihn in unsere Wirtschaft. In dem Tumult ist er bös verwundet worden.«

»Mein Gott! Was ist ihm geschehen?« rief die Prinzessin tonlos, in dem sie sich in den nächsten Sessel fallen ließ. »Bös verwundet? Sagen Sie mir die ganze Wahrheit.«

»Das heißt, es sah anfangs sehr bös aus,« beeilte sich Angèle die arme Prinzessin zu beruhigen. Sie legte ihr dabei unwillkürlich die Hand auf die Schulter und streichelte sie leise. »Aber sobald die Polizei die Ruhe hergestellt und den Hauptkrakeeler verhaftet hatte, ließen wir den Arzt von der Unfallstation kommen, und der konnte glücklicherweise leicht feststellen, daß die Verwundung keine ernsten Folgen haben würde. Monsieur Georges, ich wollte sagen, der Herr Prinz ist auch inzwischen wieder zu sich gekommen.«

»O Gott, o Gott! Um was für eine Wunde handelt es sich denn?«

»Es ist ein großer Riß an der Stirn; aber keine Knochenverletzung, meint der Arzt. Die Blutung war nur so fürchterlich, weil eine Hauptader zerschnitten wurde. Aber jetzt brauchen sich Frau Prinzessin nicht mehr zu beunruhigen, die Blutung ist gestillt und der Verband angelegt. Der Ambulanzwagen kann jeden Augenblick hier vorfahren. Ich habe geglaubt, in Ihrem Sinne zu handeln, Frau Prinzessin, indem ich darauf drang, daß man den Verletzten nicht in das Krankenhaus, sondern zu seiner Frau Mutter bringen sollte, wo er doch wohl die beste Pflege fände. Ich habe mich der Polizei gegenüber für Ihren Herrn Sohn verbürgt.

»Was hatte denn die Polizei dabei zu tun?«

»Ach Gott! weil ihn doch ein böser Mensch als Spion denunziert hat.«

»Meinen Sohn, den Prinzen? Ah, das ist doch ...«

»Es ist lächerlich, nicht wahr, Frau Prinzessin?« fiel Angèle der entrüsteten alten Dame ins Wort. »Es war ein neidischer Kamerad bei Tissandiers; aber er wird seine Strafe schon bekommen. – Da, ein Wagen. Das könnte vielleicht schon die Ambulanz sein. Wenn Frau Prinzessin mir vielleicht gestatten möchten, hier zu bleiben und dem Doktor bei der kleinen Operation zu helfen ... o bitte, bitte, eine ganz leichte Operation, nur eine kleine Naht der Stirnhaut.«

»Aber ja, liebe Kleine, gewiß, gewiß!« jammerte die Prinzessin kläglich. »Bleiben Sie nur bei uns; Sie werden mir eine rechte Hilfe sein ... Wie heißen Sie doch? ... Da, wahrhaftig! es hält ein Wagen vor der Tür. Ich bitte Sie, mein Kind, helfen Sie mir auf die Füße. Mein Gott, mein Gott! Diese Aufregung – ich kann nicht mehr. Vielen, vielen Dank meine liebe Kleine.« Und sie tappte mit der Hand nach Angèles Kopf und streichelte ihr zitternd über die Wange. Dann ließ sie sich von dem Mädchen aufhelfen und hinausbegleiten.

Wenige Minuten später tappte der Verwundete schweren Schrittes, von zwei Sanitätsleuten gestützt, die Stufen hinauf, denn es hatte sich als unmöglich erwiesen, ihn auf der Tragbahre die schmale Treppe hinaufzubringen.

Die alte Dame beugte sich über das Geländer und versuchte, ihn mit unbekümmerten Worten zu begrüßen; doch der Anblick seines verbundenen Kopfes, seines leichenblassen Gesichtes und des mühevollen Aufstieges überwältigten sie dermaßen, daß sie kein Wort hervorzubringen vermochte. Die Tränen stürzten ihr aus den Augen, und sie mußte sich auf die zuckenden Lippen beißen, um jeden Laut der Klage und des Schreckens zu unterdrücken.

Als der Prinz vor seiner Mutter stand, streckte er ihr die Hand entgegen und sagte, sich zu einem schwachen Lächeln zwingend: »Es ist nichts, Mama, wirklich nichts.« Doch im Augenblick, als er die zitternde Hand der Mutter in der seinen fühlte, wurde ihm schwarz vor den Augen, und er sank ohnmächtig in die Arme seiner beiden Begleiter zurück. Die kleine Anstrengung des Treppensteigens war zu viel für ihn gewesen.

Die Sanitätsleute schleppten ihn in sein Schlafzimmer und brachten ihn zu Bett, wobei ihnen Angèle flink und umsichtig zur Hand ging, denn Madame Guiche war ebenso kopflos vor Schreck wie die Prinzessin-Mutter selber. Die beiden alten Damen standen seufzend und weinend herum und vermochten sich nicht durch die kleinste Handreichung nützlich zu machen.

Inzwischen war auch der Polizeiarzt mit seiner großen Handtasche hinzugekommen. Er fragte die Prinzessin, ob sie vielleicht vorziehe, die Operation von ihrem Hausarzt besorgen zu lassen, und als sie dies kopfschüttelnd ablehnte, streifte der Arzt sofort seinen Leinenkittel über und legte sich sein Operationsbesteck, Verbandgaze und Desinfektionslösungen zurecht. Der Anblick dieser Vorbereitungen entlockte den beiden alten Damen neue Tränenströme, Seufzer und jammernde Fragen, so daß der energische Doktor sie mit angemessenen Trostworten höflich hinauskomplimentierte: »Ich habe ja alles, was ich brauche,« sagt er. »Die Operation ist eine Kleinigkeit, und in ein paar Tagen spreche ich wieder vor, wenn Sie gestatten, um die Klammern aus der Narbe zu nehmen. Inzwischen werden Sie schwerlich einen Arzt brauchen, denn Fieber dürfte kaum eintreten. Aber es wäre gut, wenn das tapfere kleine Fräulein Dupont zur Pflege dabeibleiben könnte, bis der Herr sich von seinem starken Blutverlust erholt hat.«

Sobald die beiden alten Frauen hinaus waren, machte sich der Arzt ans Werk, heftete die Wundränder mit Klammern zusammen, legte einen frischen Verband an und empfahl sich, nachdem er Angèle die nötigen Anweisungen zum Messen der Temperatur und für die zu beachtenden Vorsichtsmaßregeln gegeben hatte. In einer Viertelstunde war alles geschehen, und er fuhr mit dem Ambulanzwagen wieder davon.

Es dämmerte bereits, als der Prinz aus langem erquickenden Schlaf aufwachte. Angèle, die auf einem Stuhle vor dem Bette saß, beugte sich über ihn. Er starrte sie groß an, schloß und öffnete mehrmals die Augen und versuchte sich aufzurichten. Sie drückte ihn an den Schultern leise in die Kissen zurück und sagte freundlich lächelnd: »Bleiben Sie ruhig liegen, Sie sollen sich nicht anstrengen. Haben Sie einen Wunsch?«

»Wo bin ich eigentlich?« versetzte der Prinz mit schwacher Stimme, indem er seinen Blick flackernd herumschweifen ließ.

»Zu Hause sind Sie; bei Ihrer Frau Mama.«

»Aber mein Gott – das verstehe ich nicht! Das bist du doch, Angèle. Wie kommst du daher, liebe kleine Angèle?«

Er duzte sie gegen seine Gewohnheit, und in seiner Stimme lag so viel Zärtlichkeit, daß Angèle am liebsten vor Freude geweint hätte. Sie legte geschwind den Finger auf den Mund und versuchte dem Liebsten durch eine Kopfbewegung über ihre Schulter hinweg anzudeuten, daß die Mutter im Zimmer sei.

Die Prinzessin war in dem großen alten Polstersessel, in welchem sie das Erwachen ihres Sohnes hatte erwarten wollen, selbst ein wenig eingenickt, aber bei dem leisen Klang der Stimmen sofort munter geworden. Sie begab sich eilig an das Bett und beglückwünschte in einem Ton, der sorglos und heiter klingen sollte, ihren Sohn zu seinem langen Genesungsschlaf.

Der Prinz führte die Hand seiner Mutter an die Lippen und sagte: »Guten Abend, Mama. Habe ich dir einen großen Schreck eingejagt? – Es war eine dumme Geschichte; aber ich konnte wirklich nicht anders handeln. Nun, Fräulein Dupont wird dir wahrscheinlich ausführlich berichtet haben. Sie muß mir auch berichten, was eigentlich mit mir vorgegangen ist, den ich weiß wahrhaftig gar nichts mehr. Vielleicht bin ich der erste französische Verwundete in diesem Kriege – und das Merkwürdige ist, daß mich – ein Russe zur Strecke gebracht hat. – Oder war es vielleicht nicht dieser bösartige Tscherbischeff?« wandte er sich an Angèle.

»Das weiß ich auch nicht, mein Prinz,« sagte die Kleine verlegen, »ich kam ja erst dazu, als die Polizei schon da war und Herrn Tscherbischeff festgenommen hatte.«

»Und die beiden Damen mit dem Knaben? Wissen Sie, ob sie in Sicherheit sind?«

»Ich denke doch. Das heißt, um die Wahrheit zu sagen: ich fand Mama ohnmächtig vor Schreck hinter dem Buffet liegen und mußte die fremden Damen bitten, sich ihrer anzunehmen, ehe ich Ihnen auf die Unfallstation folgte. Gelt, Sie sind mir auch nicht böse, wenn ich Sie jetzt verlasse, mein Prinz; ich muß doch schauen, ob meine arme Mutter auch keinen Schaden davongetragen hat. Aber wenn ich Ihnen noch irgendeinen Dienst leisten kann ...?«

»Nein, gehen Sie nur. Ich habe kein Recht, Sie hier länger festzuhalten. Eine Krankenmahlzeit kann mir Madame Guiche auch besorgen; ich habe nämlich furchtbaren Hunger.«

»O, das ist gut, das ist so gut!« rief die Prinzessin eifrig »Dann wirst du wieder zu Kräften kommen, mein lieber Armand. Ich werde der Guiche sagen, sie soll dir gleich ein zartes Beefsteak braten.« Damit eilte sie geschäftig hinaus.

Sobald die Tür hinter der Prinzessin ins Schloß gefallen war, richtete Armand sich empor und ergriff mit beiden Händen Angèles Arme. Matt zurücksinkend zog er sie an sich.

Sie küßte ihn flüchtig und versuchte sich sanft aus seiner Umarmung zu befreien: »Nicht so stürmisch, mein Prinz,« schmollte sie zärtlich.

»Mein Prinz?« wiederholte er mehrere Male und starrte sie ungläubig an. »Wie bist du hinter mein Geheimnis gekommen? Ich hätte nicht gedacht, daß meine liebe kleine Angèle mich jemals so anreden würde.«

»Ich erzähle es Ihnen später,« flüsterte Angèle. »Sie sollen sich jetzt nicht erregen. Sie sollen essen, schlafen und folgsam sein, dann komme ich morgen wieder und schaue mich nach Ihrem Befinden um.«

Er ließ ihre Arme nicht los: »Süße Angèle! Wenn du doch bei mir bleiben könntest. – Nun hast du mich noch mehr zu deinem Schuldner gemacht – und ich habe dir doch schon so viel abzubitten.«

»Abzubitten?«

»Ja. Weil ich dich doch belogen habe, oder vielmehr, weil ich ... Aber vielleicht verstehst du jetzt doch, warum ich mich nicht traute, vor dir meine Maske abzulegen.«

Sie nickte ihm seufzend zu und suchte ihre überquellenden Augen seinem Blicke zu verbergen.

»Du begreifst also,« sagte er gerührt. »Nicht wahr, ich konnte das meiner Mutter nicht zumuten – und dir vielleicht noch weniger: ein Prinz von Habenichts, ich bitte dich!«

Sie richtete sich auf und befreite sich, indem sie seine Finger von ihren Armen löste. »Gute Nacht!« sagte sie zärtlich. »Ich komme morgen wieder und dann sind Sie frisch und stark und wir schwatzen nach Herzenslust.« Sie winkte ihm noch eine Kußhand zu und dann verließ sie leichten Schrittes das Schlafzimmer.


AM nächsten Morgen erwachte Armand zur gewohnten frühen Stunde. Er fühlte sich so ausgeruht, daß er schon daran dachte, in sein Atelier hinauszufahren, denn die Schnittwunde war zwar noch recht unangenehm fühlbar, doch der Kopf dünkte ihn frei und seine Denkfähigkeit wieder völlig auf der Höhe. Aber schon beim Waschen überkam ihn wieder ein leichtes Schwindelgefühl, so daß ihm nichts übrigblieb, als sich wieder auf sein Bett auszustrecken und geduldig abzuwarten, bis es Madame Guiche gefällig sein würde, ihm den Morgenkaffee zu bringen. Aber die alte Guiche war, seitdem er die Kinderschuhe ausgezogen hatte, nicht mehr in seinem Schlafzimmer gewesen, wenn er zu Bett lag, und so mußte er sich bis um neun Uhr gedulden, zu welcher Zeit seine Mutter ihr Frühstück einzunehmen pflegte. Während der drei Stunden Wartezeit hatten sich seine Gedanken fast ausschließlich mit Angèle beschäftigt. Wie mußte ihn das Mädchen liebhaben, daß es imstande war, alles im Stiche zu lassen, um ihm zu helfen – und das in derselben Stunde, in der ihr die Erkenntnis aufging, daß er sie getäuscht habe und daß sie nicht mehr hoffen dürfe, jemals die Seine zu werden. Freilich konnte er sich sagen, daß er ihr niemals Versprechungen gemacht und andeutungsweise die Unmöglichkeit einer Heirat mindestens hatte ahnen lassen; aber er Stachel des Vorwurfs steckte in seinem Gewissen und schmerzte ihn mehr als die böse Stirnwunde.

Seine Mutter brachte ihm das dürftige Frühstück selbst und war sichtlich enttäuscht, daß er ihr nicht gestattete, ihn wie ein kleines Kind zu füttern. Sie schalt ihn, weil er sich aufrecht setzte und gar nach dem Stuhle herüberbeugte, auf den sie das Geschirr gestellt hatte.

»Du mutest dir zu viel zu, Armand,« sagte sie mit dem Finger drohend. »Das kleine Fräulein würde dir das vermutlich nicht gestatten. Von ihr hättest du dich wohl ohne Widerspruch füttern lassen. Wie hieß sie doch, die hübsche Kleine? – So, so, Angèle Dupont. Warum hast du mir nie von ihr gesprochen? Ist sie deine Geliebte?«

Er ließ sich in die Kissen zurücksinken und dachte eine kleine Weile nach, bevor er der Mutter antwortete.

»Meine Geliebte? Nein, das ist sie doch nicht. Nicht in dem Sinne wenigstens, wie du es meinst. Vielleicht habe ich sie zu lieb dazu – ich weiß selbst nicht, wie ich mir meine Gefühle erklären soll. Sie ist meine Freundin, mein Trost in meiner Einsamkeit, und sie wäre mir sogar gut genug zum Heiraten – wenn nicht eben meine unglückliche Doppelexistenz wäre mit ihrer gegenwärtigen Not und ihren ehrgeizigen Zukunftsträumen. Aber ich habe ihr keine unerfüllbaren Hoffnungen gemacht.«

»O, du brauchst dich nicht zu entschuldigen,« sagte die Prinzessin mit einem wunderlichen Lächeln um ihre wehleidigen Lippen. »Glaubst du, daß ich dir eine Geliebte nicht gönnen würde? Das Mädchen hat mir einen sehr angenehmen Eindruck gemacht, und wenn sie wirklich so ganz uneigennützig ... sie wäre dann doch eine große Ausnahme, denn diese kleinen Grisetten pflegen doch sehr auf ihren Vorteil bedacht zu sein, wenn sie mit vornehmen jungen Männern Verhältnisse anfangen.«

»Sie hat erst gestern erfahren, wer ich bin,«sagte Armand etwas peinlich berührt.

Die Prinzessin riß ihre müden Augen weit auf: »Wirklich? Hm. Wie unangenehm, daß wir in dieser demütigenden Dürftigkeit existieren müssen. Man muß froh sein, wenn sich gar niemand um uns bekümmert. Es ist wahrhaftig schändlich, daß wir nicht einmal imstande sind, Liebesdienste, die uns erwiesen werden, entsprechend zu belohnen.«

Der Prinz warf sich gequält herum. Die Wunde schmerzte ihn, weil ihm das Blut vor Ärger zu Kopfe gestiegen war, und er stöhnte leise: »Ich bitte dich, Mama, laß das Thema fallen. Wenn du Fräulein Dupont so mißverstehst, dann wird es besser sein, sie zu bitten, daß sie sich nicht mehr um mich bemühen möge. Es ist ja auch wahr: ich bedarf ja gar keiner Pflege. Ich bleibe einfach noch ein paar Tage zu Hause und dann gehe ich wieder meinem Geschäft nach.«

»Nein, das erlaube ich dir auf keinen Fall,« ereiferte sich die Mutter. »Du darfst überhaupt nicht mehr zu diesen Tissandiers zurück, wo diese rohen Menschen sind. Denke bloß, wenn der Russe wieder mit dir Streit suchte!«

»Liebe Mama,« versetzte der Prinz mit ernster Eindringlichkeit, »wir können beide Gott danken, wenn die Tissandiers mir nicht kündigen.«

»Nein, nein, nein!« beharrte die alte Dame eigensinnig. »Ich dulde es auf keinen Fall mehr. Ich bestehe darauf, daß du deine Verbindungen mit dem Präsidenten und mit dem Kriegsminister ausnutzest, um eine Stellung zu erlangen, die deinem Rang und deinen Fähigkeiten entsprechend ist. Ich will jetzt nicht in dich dringen; aber – du wirst es dir schon noch überlegen.«

»Wenn du die Zumutung, Spionendienste zu leisten, meinst – diese Sache ist erledigt. Nach unserer Unterredung vorgestern nacht konntest du doch nichts anderes von mir erwarten, Mama. Ich habe am anderen Morgen dem jungen Ordonnanzoffizier, der so freundlich gewesen war, mich in seinem Auto nach Hause zu fahren, die Gründe meiner Ablehnung kurz dargelegt.«

Die Prinzessin schlug die Hände zusammen, machte ihr betrübtestes Gesicht und schüttelte seufzend den Kopf: »Aber, mein Sohn, ich begreife nicht – fehlt dir denn jeder Ehrgeiz?«

»Durchaus nicht,« versetzte Armand, indem er an seiner Mutter vorbei nach dem hellen Fenster starrte. »Ich habe sogar einen brennenden Ehrgeiz; aber den würdest du nicht verstehen.«

»Pah!« machte die Prinzessin und blähte beleidigt ihre welken Wangen. »Vermutlich bin ich zu dumm dazu, nicht wahr? Besteht dein brennender Ehrgeiz vielleicht darin, daß du eine eigene Boutique als Goldschmied aufmachen möchtest und die kleine Wirtstocher heiraten? Oder willst du vielleicht damit sagen, daß ich dir im Wege sei? Habe ich dir nicht immer gesagt, du solltest nicht deine Gesundheit ruinieren durch diese elende Tagelöhnerarbeit? Ich mache doch gar keine Ansprüche. Du kannst mir doch wirklich nicht vorwerfen, daß ich dir zuviel koste. Meine Zinsen haben doch immer noch so viel abgeworfen, daß ich davon das Haus erhalten und meine und Madame Guiches kleine Bedürfnisse bestreiten konnte.«

Armand wandte mit einem tiefen Seufzen seinen Blick vom Fenster ab und der Mutter zu, die sich mit dem Taschentuch über die nassen Augen fuhr. »Das ist ein Irrtum, arme kleine Mama,« sagte er tonlos. »Es scheint mir leider nötig, dich darüber aufzuklären, denn man kann nicht wissen, was uns der Krieg noch für schwere Sorgen bringen wird, und da mußt du doch über deine Geldverhältnisse Bescheid wissen.«

Die Prinzessin starrte ihren Sohn entsetzt an: »Du willst doch nicht etwa sagen, daß meine Papiere ...«

»Deine Papiere sind schon seit drei Jahren so gut wie völlig wertlos. Das war der eigentliche Grund, der mich bewog, meine kunstgewerblichen Ideen zu verwerfen. Der Firma Tissandier verdanken wir drei unsere Existenz.«

Wieder schlug die alte Dame stöhnend die Hände zusammen; aber weit entfernt, die Großtat opferwilliger Sohnesliebe anzuerkennen, rief sie mit jammernder Klage aus: »Und unter solchen Umständen weigerst du dich, die glänzende Gelegenheit zu ergreifen, die dir das Kriegsministerium angeboten hat?«

Armands Gesicht verzerrte sich vor Schmerz und er griff sich unwillkürlich mit beiden Händen an den Kopf. »Du bist ungerecht, Mama,« sagte er gequält. »Das sind Dinge, die nur Männer verstehen. Reden wir nicht mehr davon.«

In diesem Augenblick wurde an der Tür geklopft und auf das »Herein« der Prinzessin steckte Madame Guiche ihren Arm durch den Spalt und winkte mit einem blauen Stadttelegramm in der Hand.

Die Prinzessin nahm es ihr ab und riß es ungeduldig auf. Sie wiegte den greisen Kopf hin und her: »Tetete! Welches Unglück! Es ist von dem kleinen Fräulein. Wird es dich auch nicht zu sehr aufregen, mein armer Armand?«

Der Prinz verneinte mit einer ungeduldigen Handbewegung und seine Mutter las, ans Fenster tretend, ihm das Telegramm vor: »Kommen heute unmöglich. Mutter nach gestrigem Schreck Gehirnschlag. Lebensgefahr. Angèle.«

Wortlos suchte Armand die Schreckensbotschaft in sich zu verarbeiten. Plötzlich fuhr er auf, richtete sich auf den Ellenbogen empor und rief laut nach Madame Guiche; aber die hörte nicht mehr. Und so bat er seine Mutter, sie möge doch ihre alte Haushälterin sofort nach dem Coq rouge schicken, um nähere Nachrichten einzuholen.

»Aber liebes Kind,« erwiderte die Prinzessin, schier mitleidig lächelnd, »du weißt doch, die gute Guiche fährt nicht mit der Untergrundbahn. Sie hat es doch heilig verschworen seit dem großen Unglück, und ehe sie mit der Trambahn hin- und wieder zurückkommt, vergehen mehrere Stunden – vorausgesetzt, daß sie überhaupt bis zur Rue de Temple gelangt. Und wir können doch nicht wegen dieser Gastwirtin auf unser Diner verzichten.«

Der Prinz seufzte gottergeben, und dann bat er die Mutter um Schreibzeug. Er wollte ein paar Trostworte an Angèle schreiben und sie beruhigen, daß er ihrer Pflege nicht bedürfe, da es ihm schon wieder ausgezeichnet gehe.

Das war nun freilich eine dicke fromme Lüge, denn in Wahrheit hatte ihm dieses Gespräch mit der Mutter dermaßen aufgeregt, daß die Wunde heftig schmerzte und jener Schwindel aus Schwäche ihn bei dem bloßen Versuch aufrecht zu sitzen nötigte, das Briefschreiben vorläufig noch aufzuschieben. Es war gut, daß die Mutter sich wenigstens seinem Wunsche, eine Stunde allein gelassen zu werden, nicht widersetzte.


DIE Stunde war noch nicht verstrichen, als Madame Guiche in höchster Aufregung die Treppe hinaufgekeucht kam und die Prinzessin in ihrem Wohnzimmer mit dem Schreckensruf überfiel: »Man will den Prinzen verhaften.«

Der alten Dame fuhr das Entsetzen dermaßen in die Beine, daß sie nicht von ihrem Stuhle aufzustehen vermochte: »Bist du verrückt, Guiche! Welch eine Idee?«

Aber die alte Guiche ereiferte sich und flüsterte mit weit aufgerissenen Augen so rasch sie konnte: »Doch, doch! Es hält ein Auto vor der Tür und auf dem Bock sitzt ein Soldat mit einem Gewehr. Der junge Offizier hat mich nach dem Prinzen gefragt. Ich habe ihm gesagt, er läge krank zu Bett; aber da hat mich der Offizier angefahren: das sei ihm ganz egal, er müsse den Prinzen dienstlich sprechen. Es gebe keine Ausflüchte. Er ist mir auf dem Fuß gefolgt. Draußen steht er.

»Mein Gott, mein Gott! Was ist das nun wieder?« stöhnte die Prinzessin. Und dann winkte sie die Guiche herbei, ließ sich von ihr aufhelfen und verließ auf sie gestützt das Zimmer.

Der Leutnant – es war derselbe, der den Prinzen unlängst in seinem Auto vom Kriegsministerium heimgefahren hatte – stand wirklich schon draußen im Gang. Er grüßte höflich und sagte: »Ich habe wohl die Ehre mit der Frau Prinzessin von Ravensberg. Ich bedaure unendlich, daß ich gezwungen bin, Madame so zu überfallen; aber ich habe mich eines dienstlichen Auftrags zu entledigen.«

Die alte Dame versuchte sich Haltung und ihrer schwachen Stimme Festigkeit zu geben, indem sie erwiderte: »Tun Sie Ihre Pflicht, mein Herr; aber ich darf Sie wohl darauf aufmerksam machen, daß mein Sohn gestern einen schlimmen Unfall erlitten hat und noch sehr matt vom Blutverlust ist. Sie gestatten wohl, daß ich ihn vorbereite?«

Mit höflicher Bestimmtheit versetzte der Offizier: »Wir sind bereits unterrichtet von dem Unfall im Coq rouge. Wir wissen auch, daß die Verletzung ungefährlicher Natur ist. Eine Vorbereitung kann ich zu meinem Bedauern nicht gestatten; aber Frau Prinzessin brauchen keine Sorge zu haben, ich werde mit möglichster Schonung verfahren.«

Die Prinzessin biß sich auf die zuckenden Lippen und unterdrückte mühsam den entrüsteten Widerspruch, der ihr auf der Zunge lag. Sie wies nach der zunächstliegenden Tür und sagte: »Bitte, hier ist das Zimmer meines Sohnes.«

Der Leutnant grüßte militärisch, klopfte an und verschwand auf das laute »Herein« von drinnen im Schlafzimmer des Prinzen, die Tür sofort hinter sich ins Schloß drückend.

Madame Guiche schickte sich an, an der Tür zu horchen; aber die Prinzessin hatte bei einem zufälligen Blick nach unten bemerkt, daß am Fuß der Treppe wirklich ein Soldat mit Gewehr stand. Da zupfte sie ihre alte Haushälterin am Ärmel und zog sie mit sich fort in ihr Zimmer. Sie ließ aber die Tür offen und blieb mit Madame Guiche auf der Schwelle stehen.

Armand hatte inzwischen den eintretenden Offizier mit den Worten empfangen: »Ah, sind Sie es wirklich, Herr Leutnant Gondinet? Ich glaubte Ihre Stimme zu erkennen. Was bringen Sie mir? Gibt sich der Herr Kriegsminister mit meiner Antwort nicht zufrieden? Bitte nehmen Sie doch Platz.«

Der Offizier folgte der Aufforderung, indem er sich auf den Stuhl am Bett setzte. »Es tut mir sehr leid,« begann er, »daß ich Sie in Ihrer gegenwärtigen Verfassung belästigen muß; aber ich habe den Befehl erhalten, Sie sofort um einige notwendige Aufklärungen zu bitten.«

»Meinen Sie etwa den überfall im Roten Hahn? Diese unsinnige Beschuldigung der Spionage? Hat man den Kriegsminister etwa damit behelligt?«

»Allerdings. Die Polizei hat dem Kriegsministerium direkt Bericht erstattet. Es war ein merkwürdiges Zusammentreffen von ... ich will nicht sagen Verdachtsmomenten, denn ich bin natürlich weit entfernt davon ... Aber Sie werden einsehen, daß das Kriegsministerium nicht umhin konnte, den Anschuldigungen auf den Grund zu gehen. Uns wurde nämlich von der Polizei mitgeteilt, daß Sie, mein Prinz, unter dem Namen Armand Georges seit mehreren Jahren bereits in der Firma Tissandier als Goldschmied arbeiten, und da kam am selben Tage die Auslage des Russen Tscherbischeff hinzu, der Sie direkt der Spionage für Deutschland bezichtigte. Er stützte sich besonders auf seine Wahrnehmung, daß Sie im Kriegsministerium aus und ein gingen. Insofern war ja für uns selbstverständlich die Auflage hinfällig; aber die vielfach bezeugte Tatsache, daß Sie kurz vor dem Zusammenbruch in die Wirtschaft für eine deutsche Familie eingetreten sind ...«

Der Prinz bekam einen roten Kopf und unterbrach den Sprecher unwillig: »Es wird einem rechtliebenden, anständigen Manne doch noch erlaubt sein, rohen Pöbelausschreitungen entgegenzutreten. Der Mob wollte sich an wehrlosen Frauen und einem Kinde vergreifen. Die Mutter war dazu noch Französin. Sie sehen, Herr Leutnant, meine Donquichotterie ist mir teuer genug zu stehen gekommen. Will man mir obendrein noch den Prozeß machen? Dann müßte man ja an der altberühmten französischen Ritterlichkeit zweifeln.

Der junge Offizier lächelte verlegen: »O, das wäre ... Ich glaube nicht, daß Sie wegen dieser Geschichte irgendwelche Unannehmlichkeiten haben werden. Wenn Sie die Güte haben wollen, mir den Hergang in kurzen Worten zu erzählen, will ich es gern auf mich nehmen, diese Angelegenheit für Sie ins Reine zu bringen, ohne daß man Sie in Ihrem gegenwärtigen Zustand weiter behelligt.« Der junge Offizier zog ein Taschenbuch heraus und notierte sich die knappe klare Aussage des Prinzen, der ihm auch nicht verschwieg, daß sein russischer Arbeitsgenosse aus Eifersucht gehandelt habe.

Wie Leutnant Gondinet mit seiner Niederschrift fertig war, verbeugte er sich dankend und sagte: »Ich glaube, das wird vollständig genügen. Im übrigen kann ich Ihnen ja sagen, daß wir auch bei den Gebrüdern Tissandier Auskunft eingeholt haben, die durchaus zu Ihren Gunsten lautete. Ich meine, wir können diesen Teil meines Auftrags als erledigt ansehen. – Unglücklicherweise ist aber da ein Brief in unsere Hände gekommen, der ...« Er griff in die Klappe seines Taschenbuches und zog ein Schreiben hervor, dessen Umschlag mehrere amtliche Stempel aufwies: »Sie werden unsere Berechtigung, die Post aus dem feindlichen Ausland zu beschlagnahmen, wohl nicht bestreiten. Dieser Brief hier wurde in Deutschland vielleicht nur um wenige Stunden zu spät aufgegeben, sonst wäre er noch uneröffnet in Ihre Hände gelangt. So hat sich die Beförderung um mehrere Tage verzögert, weil das Zensurpersonal nicht ausreichte, die ungeheure Anhäufung von Briefen an der Grenze rasch genug zu bewältigen.«

Armand seufzte gequält. Sein Kopf schmerzte ihn und die lange Einleitung machte ihn ungeduldig. Er ließ sich in die Kissen zurücksinken und sagte in müdem, ruhigem Tone: »Also bitte: was hat es mit diesem Briefe auf sich. Mein Verkehr mit Deutschland ist ausschließlich literarischer Natur; ich übersetze viel und stehe daher mit mehreren Verlegern in Verbindung. Es kann also nur auf einem Mißverständnis beruhen, wenn man etwas Verdächtiges zu finden meint.«

»Pardon,« versetzte Leutnant Gondinet höflich, »in diesem Fall ist der Irrtum doch auf Ihrer Seite, mein Prinz. Dieser Brief hier stammt nämlich nicht von einem Verleger, sondern von Ihrem – Herrn Bruder, dem Prinzen Viktor Ravensberg. Bitte wollen Sie sich überzeugen.«

Armand griff hastig nach dem dargereichten Schreiben, entnahm es dem Umschlag und raffte sich wieder in sitzende Stellung empor. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Anrede tatsächlich ihm galt und die Unterschrift die seines Bruders Viktor war, lachte er bitter auf: »Seit zehn Jahren das erste Lebenszeichen von diesem teuren Bruder! Ich versichre Sie, Leutnant Gondinet, die Brücke zwischen uns war vollständig abgebrochen, seit ich mich als Franzose naturalisieren ließ.«

Der junge Offizier nickte zustimmend: »Ich weiß. Das geht aus diesem Brief unzweifelhaft hervor. Leider bin ich der deutschen Sprache nicht mächtig. Ich habe hier eine Übersetzung zur Hand, die in unserem Bureau angefertigt wurde. Wenn ich bitten darf, so übersetzen Sie mir den Text ins Französische, damit ich ihn mit unserer Übersetzung vergleichen kann. – O, ich fürchte, die Unterredung strengt Sie zu sehr an. Haben Sie Schmerzen?«

»Ja, allerdings,« sagte der Prinz matt zurücksinkend. »Ich kann an diesen Bruder nicht denken, ohne mich aufzuregen. Aber es geht schon vorüber, wenn Sie mir nur ein paar Minuten ...«

»O bitte, bitte sehr. Ruhen Sie sich nur aus, mein Prinz. Ich darf Sie leider nicht allein lassen, bevor ich meinen Auftrag erfüllt habe; aber kümmern Sie sich nicht um mich. Ich habe Zeit.«

Kaum fünf Minuten lang lag Armand unbeweglich auf dem Rücken ausgestreckt, da schlug er die Augen mit einem Seufzer wieder auf, richtete sich in die Höhe und las den Brief durch. Als er damit zu Ende gekommen war, stützte er den Kopf schwer in die Hand und sann eine Weile mit gequältem Gesichtsausdruck nach. Er schien die Anwesenheit des jungen Offiziers ganz vergessen zu haben. Erst als dieser sich erhob und wieder seinen Platz auf dem Stuhle am Bett einnahm, schreckte er aus seiner Versunkenheit auf und erklärte sich bereit, den Brief Satz für Satz zu übersetzen.

Prinz Viktor Ravensberg schrieb:


Lieber Bruder!

Wir erwarten täglich, ja stündlich die französische Kriegserklärung. Mir, als dem Haupt der Familie, ist es ein unerträglicher Gedanke, daß ein Ravensberg in diesem unzweifelhaft furchtbarsten Kriege, der jemals wider Deutschland heraufbeschworen wurde, auf der Seite unserer Feinde stehen sollte. Ich weiß nicht, wie du dich innerlich mit der Tatsache abgefunden hast, daß du durch Annahme der französischen Staatsangehörigkeit dich deines Erbrechts und aller mit dem Range eines Prinzen unseres Hauses verbundenen Vorrechte verlustig gemacht hast. Da du mir seit zehn Jahren nicht mehr geschrieben hast, muß ich wohl annehmen, daß du einen unversöhnlichen Groll gegen mich hegst und meine durch unser Hausgesetz gebotene Handlungsweise als eigennützig ansiehst. Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß dem nicht so ist. Von unserer Mutter will ich schweigen. Sie hat nicht nur unseren Vater, sondern überhaupt allem deutschen Wesen immer so völlig verständnislos gegenübergestanden, daß auch die Jahre ihr schwerlich zu einer anderen Auffassung unseres Standpunktes verholfen haben werden. Dich aber, mein Bruder, der du doch deutsches Blut in den Adern hast und, wie ich höre, durch Übersetzung deutscher Bücher dich um das Verständnis für deutsches Wesen in Frankreich bemüht hast, dich kann ich unmöglich endgültig aufgeben. Ich beschwöre dich also bei dem Andenken unseres Vaters und bei deinem deutschen, fürstlichen Geblüt: kehre in dein Vaterland zurück, ehe es zu spät ist. Du sollst nicht nur in den Benutz deines dir zustehenden Vermögens kommen, sondern ich will auch meine Verbindungen ausnutzen, um dir eine deinen Neigungen und Talenten entsprechende Stellung zu verschaffen. Ich will dich keineswegs überreden, gegen dein Adoptivland die Waffen zu ergreifen; aber ich kann auch als Chef unseres Hauses nicht dulden, daß du etwa auf französischer Seite gegen uns kämpfen solltest. Ich habe die Ehre, Oberst eines preußischen Kavallerie-Regimentes zu sein (der X. Husaren). Denke dir die Möglichkeit aus, daß wir einander auf dem Schlachtfelde begegneten, daß du vielleicht gar von meinen Truppen getötet werden könntest! Ich beschwöre dich: komme dieser Möglichkeit zuvor, indem du sofort zurückkehrst. Ich hoffe zu Gott, daß noch kein Fahneneid dein Gewissen binden möge. Durch deine genaue Kenntnis Frankreichs, französischer Verhältnisse und französischen Wesens könntest du dich auch als Richtkombattant um dein eigentliches Vaterland verdient machen.

Noch eins: wenn unsere Mutter nicht dazu zu bringen sein sollte, in einem Kloster oder sonstwo sichere Zuflucht in Frankreich zu suchen, so bringe sie in Gottes Namen mit. Wir werden unser möglichstes tun, um ihre Gefühle zu schonen. Sollte es schon zu spät sein, um mir eine direkte Benachrichtigung zugehen zu lassen, so mache von den hierunter angegebenen holländischen und schweizer Adressen Gebrauch. Nochmals: das Vaterland ruft! Tue deine Pflicht als Deutscher und Edelmann und sei versichert, daß dich herzlich willkommen heißen wird

dein treu besorgter Bruder

Viktor.


Leutnant Gondinet steckte sein Manuskript wieder in die Tasche und verbeugte sich dankend: »Die Übersetzung stimmt so ziemlich,« sagte er sich erhebend. »Sie werden begreifen, mein Prinz, daß wir unsere Maßnahmen treffen müssen gegen die Möglichkeit Ihres Entweichens nach Deutschland, denn Ihr Herr Bruder hat vollkommen recht mit seiner Annahme, daß Sie sich drüben durch Ihre Kenntnis französischer Verhältnisse sehr nützlich machen könnten – ganz abgesehen von dem doch immerhin naheliegenden Verdachtsmoment, daß Ihre Maske als Goldschmied Spionagezwecken gedient haben könnte.«

»Meine Maske?« versetzte Armand bitter lächelnd. »Sie trauen mir also immer noch nicht? Nun, dann lassen Sie sich sagen, daß ich diese Nebenexistenz als Armand Georges nur meiner Mutter zuliebe geführt habe. Sie hat bis heute in dem Wahn gelebt, daß sie die Bedürfnisse ihres Haushaltes von den Zinsen ihres Vermögens bestritten habe. Dieses Vermögen existiert nicht mehr. Ich fand den grausamen Mut nicht, ihr die Wahrheit zu sagen, und konnte ihr auf ihre alten Tage nicht zumuten, auf den letzten Rest von äußerlicher Vornehmheit zu verzichten, den sie als geborene Prinzessin Lusignan als ihr Lebenselement empfinden mußte. Die Verwertung meiner künstlerischen Begabung im Goldschmiedehandwerk bot mir die einzige Möglichkeit, das Notwendigste sicher und pünktlich herbeizuschaffen. Darum nahm ich die Stellung bei der Firma Tissandier an. Meine Mutter ließ ich in dem Glauben, daß ich an diese Herren nur zuweilen künstlerische Entwürfe für gutes Geld verkaufte und daß ich meine Tage mit literarischen Studien in den Bibliotheken verbrächte. Ich will kein Rühmens von den Nerven aufreibenden Anstrengungen machen, die es mich gekostet hat, alle diese Jahre hindurch die fromme Täuschung aufrechtzuerhalten und die Klagen meiner Mutter über die traurige Dürftigkeit unseres Lebens über mich ergehen zu lassen; aber ich darf die Maske, die ich so lange getragen habe, doch vielleicht eine heilige Maske nennen.«

Der junge Offizier versuchte vergebens seine Bewegung zu verbergen. Er streckte dem Kranken seine Rechte entgegen und sagte mit leicht bebender Stimme: »Selbstverständlich schenke ich Ihren Worten unbedingten Glauben, mein Prinz; aber ich habe hier leider keine Entscheidungen zu treffen, sondern nur einem Befehle zu gehorchen.«

»Heißt das, daß Sie mich verhaften sollen?«

»Das gerade nicht,« sagte Leutnant Gondinet verlegen zur Seite blickend. »In Ihrem gegenwärtigen Zustande wäre es wohl das richtige , Sie in einem Militärlazarett bis zu Ihrer völligen Wiederherstellung unterzubringen. Unter Aufsicht müßten Sie allerdings bleiben, bis ...«

»So!?« unterbrach ihn der Prinz lebhaft: »Unter Aufsicht muß ich bleiben? Auch wenn ich Ihnen hiermit auf Ehrenwort erkläre, daß ich nicht beabsichtige, dem Wunsche meines Bruders zu folgen?«

Der Leutnant zuckte bedauernd die Achseln.

»Dann will ich Ihnen was sagen: mein Entschluß ist gefaßt. Ich werde mich sofort zur Musterung stellen und als Rekrut in das Heer eintreten, gleichgültig wie und wo man mich verwenden will.«

»Bravo, mein Prinz!« rief der Leutnant mit leuchtenden Augen. »Ich will den Herrn Minister von Ihrem Entschluß in Kenntnis setzen und man wird Ihnen sicher mit keinem häßlichen Verdacht mehr zu nahe treten. – Sind Sie imstande aufzustehen und mit mir sogleich im Auto nach dem Lazarett zu fahren?«

Armand seufzte ergeben: »Wenn es sein muß, auch das. Ich fürchte nur, meine Mutter wird glauben, daß Sie mich als Arrestanten abführen.«

»O, das läßt sich machen,« rief Leutnant Gondinet. »Ich schicke den Begleitmann einfach nach Hause. Das will ich ruhig auf meine Kappe nehmen. Wenn Sie mit mir allein fahren, wird jedes Aufsehen vermieden. Sie könnten vielleicht Ihrer Frau Mutter sagen: Sie zögen es vor, sich im Lazarett behandeln zu lassen. Soviel ich gesehen habe, sind nur die zwei alten Damen hier im Hause – da klingt das ja ganz vernünftig.«

»Um so mehr, als das junge Mädchen, das meine Pflege übernehmen wollte, mir eben abgeschrieben hat,« stimmte Armand bei.

Leutnant Gondinet berichtete der Prinzessin, was er mit ihrem Sohne vereinbart habe, und bemühte sich, sie durch liebenswürdige Redensarten zu beruhigen. Dann schickte er den Begleitmann weg und half selber dem Prinzen beim Anziehen. Eine Viertelstunde später rollte das Dienstauto davon und vom Fenster des ersten Stockes aus blickten die Prinzessin und Madame Guiche ihm nach und winkten mit ihren feuchten Tränentüchlein dem hinaufschauenden Armand ihr Lebewohl zu.


GEGEN Ende September des Jahres 1914 erhielt das Pariser Reserveregiment, bei dem Prinz Georg Hermann Ravensberg unter seinem Decknamen Armand Georges als Rekrut eingestellt worden war, den Marschbefehl. Am frühen Morgen sollte die Verlobung auf dem Bahnhof St.-Lazare erfolgen, und am Nachmittag vorher bekamen die Mannschaften Stadturlaub zum Abschiednehmen.

Bereits um sieben Uhr abends hatte der Gemeine Armand Georges alle seine Angelegenheiten erledigt. Seine Mutter hatte er schon am Anfang des Monats glücklich überredet, sich nach der Provence in ein ehemaliges Nonnenkloster zurückzuziehen, das seit der Säkularisierung als Damenstift fortbestand. Madame Guiche, die Unzertrennliche, war ihr dorthin gefolgt. Sie hatte das kleine Vermögen, das sie besaß, willig dazu hergegeben, um die Einkaufssumme für ihre Herrin vorzulegen. Außerdem hatte Armand von den wertvollen Altertümern, die sich noch im Hotel Lusignan befunden, zu Gelde gemacht, was irgend bedenklich war, dann hatte er das Haus abgeschlossen und ein Vermittlungsgeschäft beauftragt, einen Mieter dafür zu suchen. Im Falle ein solcher nicht gefunden werden könnte, sollte das Hotel für Lazarettzwecke zur Verfügung gestellt werden. Seine Bücher, Manuskripte, Bilder und künstlerischen Entwürfe hatte er seinem Verleger in Verwahrung gegeben und einen seiner literarischen Freunde gebeten, im Falle seines Todes die Herausgabe seines dichterischen Nachlasses zu besorgen. Auch von den wenigen, noch nicht eingezogenen Arbeitsgenossen in Atelier Tissandier hatte er sich verabschiedet und von den Inhabern der Firma die Zusicherung erhalten, daß er jederzeit wiedereintreten könne.

Ein Gang nur noch, ein schwerer Gang war noch zu tun. Er aß in einem Restaurant, wo niemand ihn kannte, und wartete dort die Stunde ab, zu welcher der Coq rouge seine letzten Stammgäste zu entlassen pflegte. Er traf es gut, denn er fand nur noch ein kleines Häuflein stiller Trinker dort vor, welche von der neu eingestellten Kellnerin und dem Burschen bequem allein bedient werden konnten. Angèle ließ ihn nach ihrem Wohnzimmer voraufgehen und war schon nach wenigen Minuten bei ihm.

Sie war in Schwarz und sah bleich und verhärmt aus. An einem der letzten Augusttage hatte sie die Mutter begraben, die den Folgen ihres Schlaganfalles erlegen war. Sie drehte das elektrische Licht an und dann sah sie mit ihrem anmutigen Lächeln, das schwarze Köpfchen leicht gegen die linke Schulter geneigt, zu ihrem langen Freunde hinauf. Er streckte ihr beide Hände entgegen, sie legte die ihrigen hinein und zog die schmale Stirn in kummervolle Falten.

»Sie gefallen mir gar nicht, mein Prinz,« versuchte sie zu scherzen. »Wie darf man so blaß aussehen, wenn man den ganzen Tag Bewegung in frischer Luft hat?!«

»Ich warte darauf, daß du mir ein Beispiel gibst,« versetzte Armand lächelnd. »Ich bin ja nur aus Rücksicht so blaß, weil ich meine bleiche kleine Freundin nicht durch unanständige Gesundheit ärgern will. Aber im Ernst gesprochen: was ich durch meine jahrelange Nachtarbeit an meiner Gesundheit gesündigt habe, das ist durch ein paar Wochen Exerzieren nicht wieder gutzumachen. Na, ich habe ja noch reichlich Zeit vor mir, mich zu einem robusten Soldaten zu entwickeln: morgen geht's hinaus. Ich in gekommen Abschied zu nehmen.«

Angèles Hände zuckten in den seinen, ein kaum hörbarer Seufzer hob ihre Brust, und dann lag ihr Köpfchen plötzlich weinend an seiner Schulter.

Er zog sie nach dem Sofa und küßte sie zärtlich: »Du mußt versuchen, tapfer und vernünftig zu sein,« sagte er, ihr üppiges Haar liebkosend. »Schau, es wird ja an unserem Verhältnis und an unseren Aussichten für die Zukunft nicht das geringste dadurch geändert, daß ich morgen ins Feld rücke. Es ist auch im Grunde gleichgültig, ob ich lebendig zurückkehre oder nicht, und ob der Krieg kurz oder lang dauert. Wir waren uns ja doch schon ganz klar darüber, was wir einander schuldig seien. Du wartest, bis du dein Geschäft günstig verkaufen kannst, und dann ziehst du hinaus aus Paris, bist ein wohlhabendes Mädchen und darfst darauf rechnen, die Auswahl unter zahlreichen Bewerbern zu haben. Meine erste Idee, dich darum zu bitten, bei meiner Mutter zu bleiben, war ganz töricht. Es wäre ja geradezu eine Strafe für dich gewesen. Es ist mir auch noch eine andere Idee durch den Kopf gegangen: wenn meine Mutter die Augen zumachen sollte – aber es ist nicht wahrscheinlich, denn die Lusignans werden alle sehr alt – dann würde mich nichts mehr hindern, meinen Rang und Titel abzulegen, der mir ja seiner deutschen Herkunft wegen hier in Frankreich nur hinderlich sein würde. Wenn ich nicht mehr für die Mutter zu sorgen und den Schein der vornehmen Lebensführung aufrecht zu halten hätte, dann könnte ich ja von meinem Verdienst recht gut leben und auch ans Heiraten denken; aber es wäre sündhaft, wenn ich dir zureden wollte, auf eine solche Möglichkeit hin zu warten, und außerdem ...« Er nahm ihren Kopf in beide Hände und sah ihr tief in die Augen: »Ich will dir zum Abschied noch ein Geständnis machen, meine liebe kleine Angèle. Ich habe alle die Jahre hindurch einen brennenden Ehrgeiz in meiner Seele versteckt gehalten, niemand hatte eine Ahnung davon, auch meine besten Freunde nicht. Und wenn sich meine Ahnung erfüllen sollte, wenn ich aus diesem Kriege gegen das Land meiner Geburt nicht lebendig heimkomme, dann hätte ich nur darum Ursache darüber zu trauern, weil mit mir eben auch mein Traum begraben würde: ich bilde mir nämlich ein, – ein Dichter zu sein. Da ich jede Stunde der Lohnarbeit zu widmen gezwungen war, fand ich niemals die nötige Muße, meine Gedanken zu gestalten. Ich hinterlasse nur Versuche aus meiner Jugendzeit. Aber wenn ich heimkommen dürfte und noch einmal in die Lage käme, mein eigenes Leben frei zu leben und meine Maske abzuwerfen – ich glaube, ich könnte der Welt beweisen, daß ich ein Künstler bin. Nun siehst du, alle Künstler sind schreckliche Egoisten und das Heiraten sollte ihnen überhaupt verboten sein. Wenn ich Anerkennung fände, Erfolge vielleicht gar, dann würde ich in einem Kreis von Menschen hineingeraten, in dem du dich schwerlich wohl fühlen würdest. Du würdest dir in der literarischen Welt sicherlich ebenso fremd vorkommen, ebenso gänzlich fehl am Platze wie ich, wenn ich etwa den Coq rouge als Wirt übernehmen sollte – aber nein, das ist vielleicht ein schlechtes Beispiel: sagen wir, so fremd, wie ich mir jetzt unter den Soldaten vorkomme. Ist es nicht merkwürdig? Im Leinenkittel des Goldarbeiters habe ich mich ganz wohl gefühlt – aber diese Uniform da empfinde ich immer noch als eine geschmacklose Maskerade.«

Angèle mußte ihm recht geben. Er war schon des öfteren in Uniform zu ihr gekommen; aber er sah heute noch ebenso unmöglich darin aus wie in seinen ersten Rekrutentagen. Seine überschlanke, große Figur und sein erzgermanischer schmaler Blondkopf standen in einem grotesk wirkenden Verhältnis zu den weiten roten Pluderhosen und dem langen blauen Schoßrock. In jedem anderen Gewande, selbst im Arbeitskittel, hatte er die angeborene vornehme Haltung immer noch zur Geltung zu bringen vermocht, während er dem ausgesprochenen romantischen Stil dieser Piou-piou-Uniform gegenüber machtlos war. Sie unterstrich seine Bochehaftigkeit dermaßen, daß tatsächlich die Leute auf der Straße stehenblieben und ihm kopfschüttelnd nachsahen. Doch es war nicht allein die Uniform, die ihm sein bisheriges Soldatenleben verleidete, sondern weit mehr noch die unvermeidliche nahe Berührung mit den rohesten Elementen der untersten Volksschichten. Daß er wie jeder andere gemeine Soldat alle groben Arbeiten der Kasernenreinigung verrichten mußte, die nicht nur äußerlich Schmutzfinken waren, deren Rede von widerlichen Roheiten strotzte, das verursachte ihm noch schlimmere Pein als selbst die Qualen, die sein schwaches Herz ihm durch die Anstrengungen des gewaltsamen Drills bereitete. Armand hatte über alle diese seine bitteren Leiden seiner kleinen Freundin nie geklagt sondern nur in humoristischer Selbstverspottung darüber gerichtet. Jetzt erst, in der Abschiedsstunde, ging ihr eine Ahnung davon durch die schmerzliche Bitterkeit des Tones, in welchem er von seiner unwürdigen Maskerade sprach.

»Armer Freund,« tröstete sie ihn lächelnd: »Du wirst ja nicht mehr lange als gemeiner Piou-piou herumzulaufen brauchen. Deine Vorgesetzten wissen doch, wer du bist, und wenn du erst Gelegenheit findest, dich draußen auszuzeichnen, so werden sie dich im Handumdrehen zum Offizier machen.«

»Ja,« lachte Armand, »wenn wir die Großherzogin von Gerollstein zum Chef der Armee hätten, dann vielleicht – aber in unserer Republik!? Es scheint mir auch wenig wahrscheinlich, daß ich mich durch besondere Heldentaten hervortun sollte, denn ich habe bisher noch nicht die geringsten militärischen Talente in mir entdecken können. Eigentlich sonderbar, nicht wahr? Da doch meine sämtlichen Ahnherren Soldaten waren.«

»O, das wird schon kommen,« versetzte Angèle, sich zu einem heiteren Tone zwingend. »Wenn du erst einmal im Feuer gestanden hast, wird sich das Blut deiner Ahnen in dir schon melden. Darüber bin ich ganz außer Sorge.«

Armand zuckte die Achseln: »Hast du dich darauf gespitzt, Frau Korporal zu werden? So weit werde ich es vielleicht bringen. Meine Frau Mama behauptet ja immer, ich hätte keinen Ehrgeiz, und seit sie erfahren hat, daß mein deutscher Bruder Oberst ist und es für mich keine Möglichkeit gibt, anders denn als gemeiner Soldat dem Vaterland zu dienen, ist sie vollends mit der Republik zerfallen. Ihrer Meinung nach wäre man verpflichtet, einem Sprossen des Hauses Lusignan zum mindesten eine Kompagnie für den Anfang zu verleihen, wie das in den guten alten Zeiten üblich war.«

Angèle wurde aus seinem spottenden Tone nicht recht klug. Sie sah ihn forschend an und dann wagte sie die Frage, ob er nicht wie alle vornehmen Herren im Grunde seines Herzens Legitimist sei.

Er lächelte und dachte ein Weilchen nach, bevor er ihr antwortete: »Legitimist? Nein, doch wohl schwerlich. Das haben die alten französischen Monarchen doch wohl nicht verdient; aber eins will ich dir gestehen, wenn du versprichst, mich nicht zu verraten: Republikaner bin ich auch nicht, und wenn unsere Generäle versagen sollten – die parlamentarischen Maulaufreißer, die neunmal gescheiten Herren Advokaten werden das Vaterland schwerlich retten, wenn es militärisch unterliegen sollte.«

»Hältst du das etwa für möglich – nach unserem großen Sieg an der Marne?« warf Angèle ängstlich ein.

»Es kann auch wieder anders ...« Armand vollendete den Satz nicht. Er runzelte die Stirn, so daß die frische Narbe rot hervortrat und dann sagte er tief aufseufzend: »Das schlimmste ist, daß ich nicht mit der begeisterten Überzeugung, für eine große und gerechte Sache zu kämpfen, hinausziehen kann. – Ja, da schaust du mich erschrocken an; aber du darfst mir glauben: jeder Franzose, der sich nicht durch die klingenden Phrasen unserer Parlamentarier und die Lügen unserer Zeitungen dumm machen läßt, muß schließlich dahinter kommen, daß wir in diesem Krieg hineingehetzt worden sind, um für England die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Gewiß: wenn wir mit Englands und Rußlands Hilfe siegen sollten, so werden auch für uns schöne Vorteile abfallen, wenn wir aber unterliegen sollten, so haben wir uns keineswegs für irgendein französisches Ideal verblutet, sondern nur für die Eifersucht englischer Kaufleute und Fabrikanten auf die Deutschen.«

Angèle sah ihn hilflos erschrocken an: »Mein Gott, das wäre so schrecklich! – Glaubst du etwa, daß die Deutschen besseren Grund haben, begeistert in den Krieg zu ziehen, als wir?«

»Ja, mein Kind, das glaube ich,« versetzte er tief ernst. Dann erhob er sich rasch, denn der feine hohe Glockenton der alten Stutzuhr auf dem Kaminsims mahnte ihn daran, daß es hohe Zeit sei, zur Kaserne zurückzukehren. Er küßte die Tränen aus Angèles Augen und sagte mit bebender Innigkeit: »Du liebes Kind. Alles, was ich in meinem harten Leben von Süßigkeit und Wärme genossen habe, das hast du mir gegeben, und ich bin ein Bettler, der nichts hat, womit er dich dafür belohnen könnte. Nicht einmal meine Person gehört mir – so arm und unfrei bin ich. Und wenn mich eine tödliche Kugel trifft, dann hinterlasse ich dir nichts als die Erinnerung an eine Maske. Unser einziger Trost soll der sein, daß die Maske >Armand Georges< vielleicht noch das Beste an meiner verworrenen Existenz war. Gott behüte dich, mein liebstes Kind.«

Angèle vermochte kein Wort der Erwiderung mehr hervorzubringen. Sie preßte ihre zuckenden Lippen auf die seinen, und dann gingen sie Hand in Hand die Treppe hinunter, bis an die Tür, die zum Schankzimmer führte. Dort drückte sie ihm zum letzten Male die Hand und wandte ihr Gesicht rasch ab, um die hervorstürzenden Tränen vor ihm zu verbergen.

Sie hörte den Tritt seiner schweren Soldatenstiefel hinter der geschlossenen Tür verklingen, und dann war es mit ihrer Fassung zu Ende. Sie sank auf der Treppe zusammen, barg das Gesicht in beide Hände und schluchzte lange in sich hinein. Sie wußte bestimmt: ihr schöner Liebestraum war ausgeträumt; sie würde den Freund nicht wiedersehen.


DER Infanterist Armand Georges hatte nur von weitem den deutschen Kanonendonner vernommen, deutsche Schrapnelle wochenlang über den Hügel verflattern sehen, den sein Regiment zu besetzen bestimmt war. Die ungewohnte Last des schweren Gepäcks und des Schanzzeuges hatte ihn nach dem zwanzigsten Kilometer des Anmarsches zu Boden gedrückt. Sein schwaches Herz verjagte bei dem letzten ziemlich steilen Anstieg. Man mußte ihn weit zurückschaffen, denn die nächsten Feldlazarette waren überfüllt von den Verwundeten der letzten Kämpfe. In dem Reservelazarett der große Provinzstadt, in das er gebracht worden war, befanden sich auch zahlreiche deutsche Verwundete. Da es bald von dem Pflegepersonal bemerkt wurde, daß er sich mit diesen fließend zu unterhalten vermochte, so kam der ihm wohlwollende Oberarzt auf den Gedanken, seine Verwendung als Dolmetscher zu befürworten. Dem Gesuch wurde stattgegeben, und er wurde nach einem großen Gefangenenlager weit im Innern versetzt. Er erfüllte seinen Dienst zur vollen Zufriedenheit seiner Vorgesetzten und erwarb sich sehr rasch das Vertrauen der deutschen Gefangenen. Mit dem sicheren Instinkt der unverbildeten Menschen fanden die deutschen Soldaten sehr bald heraus, daß in dieser schlechten, schlottrigen Uniform ein ungewöhnlicher, ein vornehmer Mann stecke. Und so kamen sie mit all ihren Anliegen, mit ihren Klagen und bangen Fragen zu ihm, nicht in dreister Zudringlichkeit, sondern mit achtungsvollem Vertrauen. Er verriet ihnen nie, daß er deutscher Abkunft sei, und sie kamen auch nicht von selber auf die Vermutung, weil er sein fließendes Deutsch mit unverkennbar französischem Akzent versah.

Der Kommandant des Gefangenenlagers verlangte von ihm, daß er die deutschen Soldaten nach militärischen Dingen aushorchen und einen Bericht darüber schreiben sollte. Er führte den Befehl widerwillig aus, weil er sich dadurch schon zum Handlanger der Spionage erniedrigt vorkam, und es gereichte ihm zur ganz besonderen Befriedigung, als man ihm eröffnete, daß in seinem Bericht nichts enthalten gewesen sei, was die französische Heeresleitung nicht schon längst gewußt habe. Er hatte aber aus seinen Unterhaltungen mit den Deutschen doch etwas für ihn wenigstens Neues erfahren. Etwas, das er in seinen dienstlichen Aufzeichnungen freilich nicht erwähnte und was sein Kommandeur auch wohl gar nicht wissen wollte: nämlich, die auffallende Tatsache, daß alle diese Gefangenen, wes Standes oder Altersgrades sie auch sein mochten, die starke Vorstellung von den inneren Beweggründen des Weltkrieges besaßen und aufs tiefste durchdrungen waren von der Erkenntnis ihrer heiligen Pflicht, für den Daseinskampf des Vaterlandes jedes Opfer zu bringen, ihre religiösen Meinungen und Gefühle auszuschalten und sich in freudigem Gehorsam vertrauensvoll den Befehlen ihrer Führer zu fügen. Dieser kategorische Imperativ schien dem beschränktesten deutschen Bauernschädel nicht eingehämmert, sondern angeboren zu sein – als hätte die ganze Nation zu Füßen des Königsberger Professors Kant gesessen.

Der Gemeine Armand Georges vermochte sich der Erkenntnis nicht zu verschließen, daß diese Gemeinsamkeit des sittlichen Bewußtseins von vornherein dem deutschen Heere ein Übergewicht über die Heere aller Ententemächte geben müsse, und mit Beschämung erkannte er, wie minderwertig dieser deutschen Kraftquelle gegenüber der künstlich aufgestachelte Haß und Rachedurst seiner Landsleute sei, und wie leicht sich die gepriesene französische Intelligenz und vaterländische Begeisterungsfähigkeit durch die tönende Phrase und selbst durch die plumpen Schwindel irreführen ließ. Es wurde ihm von Tag zu Tag klarer, daß die geistigen Führer Frankreichs entweder in naiver Unkenntnis oder in bewußter Bosheit diese Deutschen Barbaren schalten, alles deutsche Wesen schmählich entstellten und verleumdeten, und daß zumal die Presse den Kampf um Frankreichs Ehre mit den unwürdigsten Mitteln führe. Und je deutlicher ihm dies alles zu Bewußtsein kam, desto schwerer wurde es ihm, seinen Kameraden gegenüber seine Gefühle zu verbergen, desto unerschrockener und nachdrücklicher trat er seinen Vorgesetzten gegenüber für alle gerechten Beschwerden und billigen Wünsche seiner Gefangenen ein. Es konnte nicht ausbleiben, daß ihn dies alles den seichten Köpfen und blinden Patrioten in seiner Umgebung verdächtig machte.

Er wurde beim Lagerkommandanten nicht nur durch anonyme Briefe, sondern auch offen angeklagt. Und eines Tages ließ ihn der General, ein cholerischer alter Haudegen, zu sich kommen und schnauzte ihn gleich bei seinem Eintritt grimmig an: »Sieh da, sind Sie das, der Gemeine Armand Georges, der mit diesen verfluchten Deutschen auf Bruder und Schwein lebt, he!? Ihr Verhalten fällt allgemein auf: Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften, sogar den Pflegerinnen im Lazarett. Wie kommen Sie dazu, den ganzen Tag mit diesen Leuten zusammenzuhocken, zu flüstern und zu debattieren?«

Armand ließ sich durch den rauhen Ton nicht einschüchtern. Die Narbe auf seiner weißen Stirn hob sich rot ab und verkündete seinen Ärger über die Art der Behandlung; aber er erwiderte in ruhigem Tone: »Mein General, ich bin ein gebildeter Mensch von vielseitigen Interessen, ein Schriftsteller. Ich habe nur von der guten Gelegenheit Gebrauch gemacht, einen Einblick in die Seele dieser deutschen Soldaten zu gewinnen.«

Der General lachte höhnisch auf: » Oh lala! Was geht Sie die Seele dieser Boches an! Sie sind hierher kommandiert, um zu übersetzen, was diese Gesellschaft in ihrer unmöglichen Sprache zischt und spuckt und gurgelt; aber nicht als Seelsorger, verstanden? Übrigens kenne ich keinen Schriftsteller Georges und weiß daher nicht, ob die französische Literatur aus Ihren sogenannten Studien einen besonderen Gewinn ziehen wird.«

»Sie haben recht, mein General,« versetzte Armand, mühsam seine Fassung bewahrend. »Mein Soldatenname Armand Georges ist allerdings in der französischen Literatur unbekannt; aber wenn mein General über die literarischen Qualitäten des Prinzen Ravensberg bei meinem Verleger Erkundigungen einziehen will ...«

»Holla! Was ist das?« fiel ihm der General aufhorchend ins Wort. »Ein deutscher Prinz in dieser Verkleidung? O, ich bitte tausendmal um Entschuldigung, mein Prinz. Eure Hoheit werden mir vielleicht gestatten, dero Personalbogen einzufordern und zuständigen Orts den Motiven Eurer Hoheit nachzuforschen.« Damit machte der General eine ironische Verbeugung und sein Blick wies nach der Tür mit deutlicher Aufforderung.

Da machte Armand stramm kehrt und verließ das Zimmer.

Schon wenige Tage später bekam er den Befehl, sofort zu seinem Regiment zurückzukehren, das irgendwo in den Argonnen im Schützengraben lag.


ES dämmerte bereits, als Armand Georges im Stabsquartier seines Regiments eintraf. Er erhielt den Befehl, sofort mit der Feldküche zu seiner Kompagnie zu marschieren. Er bekam zu essen, und dann setzte sich die kleine Truppe in Marsch, der Küchenwagen und der Wagen mit der Feldpost. Man erlaubte ihm, seinen Tornister auf den Wagen zu laden, und so wurde ihm der anderthalb Stunden weite Marsch in der kühlen Abendluft nicht besonders beschwerlich.

Schon seit den Mittagsstunden hatte er auf der Eisenbahn den Kanonendonner gehört; jetzt befand er sich mitten darin. Noch ward er nichts gewahr von dem Heranheulen und Einschlagen feindlicher Geschosse; aber das wilde Krachen der eigenen Batterien erschütterte den Boden, auf den er trat, und wirbelte, wie mit gewaltigen Keulenschlägen, die Luft durcheinander, die er atmete. Er bekam keins der Geschütze, die diesen Höllenlärm erzeugten, zu Gesicht, obwohl die Landstraße offenbar mitten durch die Stellung hindurch führte. Der Küchenunteroffizier belehrte ihn, daß die Batterien alle im Walde steckten, wohl verborgen gegen die Späheraugen der feindlichen Flieger, und daß sie über die vorliegenden Hügelketten hinweg die sechs oder mehr Kilometer entfernten Schützengräben bestrichen.

»Ja, aber warum antworten denn die Deutschen nicht?« erkundigte sich Armand verwundert.

»Selbstverständlich antworten sie,« lachte der Unteroffizier. »Kein Mensch kann den Deutschen nachsagen, daß sie faul wären. Man hört sie nur nicht im Lärm unserer eigenen Kanonen; aber wart's nur ab, mein Sohn, vorn an der Schwarmlinie plätschert es nur so von Granaten.«

Armand sah den Unteroffizier groß an: »Aber, mein Korporal, wie sollen denn da die Leute zu ihrem Essen kommen, wenn es da vorne Eisen hagelt?«

Der Korporal lachte: »Ach du armes neugeborenes Kind, du bist wohl noch gar nicht vorne gewesen? Na, da gratuliere ich dir. Da kommst du ja gerade zurecht. Wir sind eben dabei, die Stellung drüben sturmreif zu machen – verstehst du? Ehe zum Sturm angetreten wird, schlägt sich noch jeder Piou-piou einen guten warmen Löffel ins Gedärm, denn mit leerem Bauch gegen Stacheldrähte und Maschinengewehre anzulaufen, das ist ein minderwertiger Sport. Du sollst mal sehen, wie sie gerannt kommen, sobald sie die gute Suppe wittern, und vollends wenn sie wissen, daß die Feldpost dabei ist, hält sie kein Teufel ab, aus ihren Löchern hervorzukriechen.«

Eine halbe Wegstunde weiter – und der kleine Trupp befand sich mitten im deutschen Geschützfeuer. Es ging durch Wald bergan, und nur mühselig brachten die braven Maultiere den schweren Küchenwagen vorwärts. Sie waren schon gewöhnt an die Schießerei, und es schien ihnen wenig auszumachen, das Heulen und Pfeifen in der Luft, das Ächzen und Krachen der splitternden Stämme und Äste, das Aufsteigen der braunen Erdfontänen und jedem Einschlage, das Brummen und Summen der herumfliegenden Schollen und Sprengstücke. Nur wenn eine Granate in nächster Nähe, im Umkreis von zehn bis zwanzig Metern krepierte, stiegen sie hoch und drängten erschrocken nach der der Einschlagstelle ferneren Straßenseite. Und einmal, dicht vor dem Ziel, geschah es, daß ein schweres Geschoß mitten in die Straße hineinschlug, kaum sechs Meter vor dem vorausfahrenden Postwagen. Armand schloß die Augen und warf sich, wie ihm gelehrt worden war, platt zu Boden. Ein paar Sekunden vergingen, dann gab es einen furchtbaren Krach und gleich darauf einen Regen von Schmutz und Steinen über den Rücken. Er schlug die Augen wieder auf und raffte sich empor. Und das war höchste Zeit gewesen, denn sonst wären vielleicht die Räder des schweren Küchenwagens über ihm hinweggegangen. Die Maultiere hatten in ihrer Angst versucht, kehrtzumachen, und nur dem raschen Zugreifen der beherzten Begleitmannschaft war es zu verdanken, daß nicht beide Fahrzeuge in den Straßengraben geworfen und zerschmettert wurden. Aber einer der beiden starken, jungen Gäule, die den Planwagen zogen, hatte eine furchtbare Wunde davongetragen. Ein Granatsplitter hatte ihm die Brust aufgerissen, und sein Genosse, das unverletzt gebliebene Sattelpferd, gebärdete sich vor Schreck halb toll, sprang über die Stränge und schmetterte mit den Hinterhufen gegen den Wagen. Nur mit größter Mühe gelang es der vereinten Kraftanstrengung von vier Männern, das rasende Tier zu bändigen und das schwer verwundete Pferd abzusträngen und beiseite zu schaffen. Der Korporal gab ihm mit seinem Revolver den Gnadenschuß. In einer breiten Blutlache verendete es an der Straßenseite. Der Postwagen mußte dem Küchenwagen angeseilt und das unverletzte Pferd vor die vier Maultiere des letzteren gespannt werden. Dann ging es endlich weiter.

Es war ein Glück für Armand, daß er mit in die Speichen greifen und alle seine Kraft zum Schieben einsetzen mußte, um den schweren Zug in Bewegung zu bringen, denn nur dadurch kam er über den Schreck seiner Feuertaufe hinweg. Als nach einer Viertelstunde der kleine Zug in einer leidlich geschützten Lichtung des Waldes hielt, in welche die Laufgräben der Feuerlinie einmündeten, zitterten seine Knie von der ungewohnten Anstrengung. Er war in Schweiß gebadet und sein Herz klopfte zum Zerspringen. Er hatte Zeit genug, zu verschnaufen, während die zum Essen und Postholen kommandierten Mannschaften ihre Kochgeschirre aus dem heißen Kessel füllen ließen. Die Postordonnanz, den Briefsack auf dem Rücken, wurde ihm als Führer zu seiner Kompagnie beigegeben. Und nun ging es hinein in das Labyrinth der Laufgräben, die sich unter dem Wurzelwerk hindurch in völliger Finsternis zum Kamm des langgestreckten Hügels empor wanden, welcher durch eine lückenlose Schützenlinie zu einer kaum einnehmbaren Stellung hergerichtet war.

Zehn Minuten später stand er vor seinem Hauptmann, der in seinem tief eingegrabenen Unterstand in Gesellschaft seiner Zugführer just sein Abendbrot in aller Gemütsruhe verzehrte, während die deutschen Geschosse vor und hinter dem Graben einschlugen, der harte Feldboden wie von vulkanischen Fäusten gerüttelt und aus der Luft die furchtbare Eisensaat über die Köpfe der auslugenden Schützen gestreut wurde.

»Ah, das sind Sie also,« sagte der forsche junge Hauptmann, den langen blonden Rekruten, nachdem er seine Meldung gemacht hatte, von Kopf bis zu Fuß scharf musternd. »Ihre Ankunft ist mir bereits telegraphisch angezeigt worden. Sie sollen ja in ihrem Kommando eine auffallende Zärtlichkeit für diese verfluchten Boches an den Tag gelegt haben. Nun, mein Prinz, hier draußen werden Sie Gelegenheit finden, diese Herren von einer Seite kennenzulernen, die Ihnen weniger sympathisch sein dürfte. Mein Gott, Sie sind ja ganz blaß, Sie schwanken ja! Der Weg hier heraus war wohl etwas ungemütlich? Setzen Sie sich, trinken Sie ein Glas Wein mit uns und erzählen Sie uns etwas von daheim. Es wird vielleicht das letztemal sein, daß wir aus der Touraine Nachrichten hören, denn wir erwarten noch heute nacht den Befehl zum Sturm.«

Während Armand auf die Fragen der Vorgesetzten Anwort gab, flaute das feindliche Geschützfeuer merklich ab, und als die neunte Abendstunde anbrach, verstummte es völlig. Der Hauptmann entließ ihn mit der Mahnung, sich sofort aufs Ohr zu legen, um sich Kraft anzuschlafen für die blutige Arbeit, zu der sie zweifellos ums Morgengrauen berufen werden würden. Zu seiner peinlichen Überraschung empfingen ihn die Kameraden im Unterstand auch mit der Anrede »mein Prinz« und bestürmten ihn mit neugierigen Fragen. Während seiner ganzen Ausbildungszeit hatte seines Wissens außer dem Regimentskommandeur niemand um sein Inkognito Bescheid gewußt; vermutlich hatten die Telephonisten, welche die Depesche jenes Generals aus dem Gefangenenlager hier draußen in Empfang genommen hatten, geplaudert. Er wehrte die lästigen Frage mit dem Hinweis auf seine große Müdigkeit ab und streckte sich aufs Stroh, während die Kameraden zum größten Teil noch bei dem Schein eines Kerzenstumpfes Karten spielten oder Abschiedsgrüße nach Hause schrieben. Seine Pritschennachbarn, die sich auch bereits mit den brennenden Pfeifen im Munde zur Ruhe hingestreckt hatten, waren zwei Pariser Handlungsgehilfen, eifrige Politiker, die auf die Minister, auf die Engländer, auf Gott und alle Welt schimpften. An Schlafen war unter solchen Umständen nicht zu denken, auch wenn die Luft in dem niedrigen Raume besser gewesen wäre.

Armand wartete ab, bis die Leute sich sämtlich zur Ruhe begeben hatten und friedlich schnarchten. Dann erhob er sich möglichst geräuschlos und machte sich zur Tür hinaus.

Mit tiefen Zügen sog er die von Nadelduft gewürzte Nachtluft ein. Auch die französischen Geschütze hatten mittlerweile ihre Tätigkeit eingestellt, und das funkelnde Sternendach spannte sich in wolkenloser Klarheit über Freund und Feind aus. Seine Länge erlaubte ihm, über Brustwehr und Sandblöcke hinwegzuschauen; aber er vermochte vom Vorgelände nichts zu erspähen als einen mäßig breiten Streifen des mit Gras bewachsenen und hier und da mit Buschwerk bestandenen Abhangs. Nach langem Hinschauen tauchte aus der verschwimmenden Dämmerung der arg zerschossene Stacheldrahtverhau auf. Darüber hinaus versank alles in undurchdringliche Finsternis. Es war kirchenstill in der weiten Runde, kam daß das lauschende Ohr den schlürfenden Schritt der Wachen auf der kiesigen Sohle des Schützengrabens zu vernehmen vermochte.

Jetzt hörte Armand ein bedächtiges Tappen, das immer näher kam, und eine Gestalt löste sich von der Finsternis des Grabens los. Er wandte sein Gesicht dem Manne entgegen, und der blieb dicht vor ihm stehen, schaute ihn prüfend an und sagte: »Wer bist denn du, Kamerad? Dich kenne ich ja gar nicht.«

»Ich war abkommandiert. Bin eben erst wieder zur Kompagnie zurückgekommen,« gab Armand Bescheid.

»So, so,« sagte der Posten mit einem schadenfroh klingenden Auflachen. »Da hast du es ja gut getroffen: mit Tagesanbruch geht's los. Vor einer Viertelstunde ist der Befehl gekommen; ich hab es von der Ordonnanz. Hast du dein Testament gemacht, Kamerad?«

Armand hob stumm die Achseln. In diesem Augenblicke ertönte aus nächster Nähe ein dumpfer Knall und gleich darauf schwebte, von einem Fallschirm getragen, eine Leuchtkugel langsam zu Tale.

Der Posten gab Armand einen Rippenstoß und flüsterte ihm hastig zu: »Aufgepaßt! Leg' dich hier ans nächste Gewehr und luge scharf aus. Wenn du da vorne vor dem Drahtverhau etwas herankrabbeln siehst, hältst du fix drauf und knallst los.«

Armand tat wie ihm geheißen, legte sich neben den Posten in Anschlag und lugte scharf durch die Schießscharte hinaus. Das grünlichweise Licht der Magnesiumleuchtkugel erhellte das ganze Tal, das sich zwischen den beiden Stellungen in einer Breite von drei- bis vierhundert Metern ausdehnte.

»Da, da!« rief der Posten leise. »Links vorwärts! Standvisier!« Im Nu hatte er sein Patronensäckchen in die Kammer geschoben und losgedrückt; aber bevor Armand mit Laden fertig war, verlöschte die Leuchtkugel, ohne daß er etwas vom Feinde gesehen hätte.

Der Hauptmann, in Begleitung eines der Zugführer, kam gleich darauf und erkundigte sich, worauf geschossen worden sei. Er selber hatte die Leuchtpistole abgefeuert. Der Posten meldete, daß er im Scheine der Rakete gerade noch gesehen habe, wie etwa fünfzig Meter vor dem Drahtverhau eine Schleichpatrouille sich ins Gras geduckt habe.

Der Hauptmann erkannte Armand und fragte, ob er auch geschossen habe, und als Armand dies verneinte, knurrte ihn der Hauptmann unwillig an: »Ich bitte mir aus, daß Sie Ihre Gefühle für die Boches nicht etwa so weit treiben, daß Sie sie mit Ihrer Flinte verschonen. Passen Sie auf: ich werde Ihnen noch einmal leuchten und Sie werden schießen – vorausgesetzt, daß von der Patrouille noch etwas zu sehen ist.«

Der Schuß krachte über Armands Kopf, und als das weiße Meteor über dem Tale schwebte, vermeinte er wirklich einen rasch bergab huschenden Schatten wahrzunehmen. Er zielte und gab rasch hintereinander zwei Schüsse ab. Von dem Schatten war nichts mehr zu sehen.

Der Hauptmann klopfte ihm gutmütig lachend auf die Schulter und sagte: »Na, vorläufig bin ich beruhigt; aber warum schlafen Sie nicht, mein Prinz?«

»Es ist mir unmöglich in der schlechten Luft des Unterstandes zu atmen.«

»Mein Gott! Frische Luft verlangen Sie auch noch? Seien Sie froh, daß Sie eine Pritsche mit Stroh unter dem Rücken und ein bombensicheres Dach über dem Kopfe haben. Mehr kann ich Ihnen beim besten Willen nicht liefern. Jetzt befehle ich Ihnen, schlafen zu gehen.«

Da blieb Armand nichts anderes übrig, als stramm kehrt zu machen und sich in seinem Unterstand zurückzuverfügen. Er ließ die Tür hinter sich offen und kroch wieder auf sein Stroh.


IN der Frühe um einhalb Fünf wurden die Mannschaften geweckt, um zum Sturm anzutreten. Als alles fertig war, stiegen sie aus dem Graben heraus, durchschritten die mit spanischen Reitern verstellten Öffnungen des Drahtverhaus, und die Zugführer ordneten die Schwarmlinien. Die Sterne waren verblaßt, fahle Dämmerung ließ bereits den spärlichen, wüst zerschossenen Baumwuchs auf dem Kamm der vom Feinde besetzten Hügelkette erkennen, während die Talsohle noch wie ein schwarzes Riesengrab heraufgähnte. Geräuschlosigkeit beim Vorgehen war den angreifenden Mannschaften streng befohlen worden; aber es war nicht zu vermeiden, daß bei dem steilen Abwärtsstapfen Kochgeschirre, Blechbecher und Säbelscheiden klirrten. Die deutschen Posten mußten scharf ins Morgengrauen hinausgehorcht haben, denn die Sturmkolonne hatte noch nicht die Talsohle erreicht, als an mehreren Stellen Leuchtkugeln aufflammten. Jetzt hieß es alle Kraft einsetzen, um den Drahtverhau zu durchbrechen, bevor der Feind munter geworden und alle Mann an den Gewehren waren.

Im Flüsterton feuerten Offiziere und Unteroffiziere die Schützenlinie an. In weiten Sprüngen ging es ins Tal hinab, über ein Bächlein weg, aber auch mitten hindurch, und dann im Marsch, marsch! die jenseitige ziemlich steile Anhöhe hinauf. Sie gelangten wirklich bis an den Drahtverhau, ohne daß von feindlicher Seite ein Schuß fiel.

Armand hielt sich an einem Holzpflock fest, während sein Nebenmann mit der Drahtschere eine Gasse durch das verdammte Wirrsal von kreuz und quer verschlungenem Stacheldraht zu bahnen begann. Sein Herz klopfte, als wollte es ihm die Brust zersprengen, und er taumelte vor Erschöpfung.

Da blitzte es plötzlich auf dort drüben auf der Höhe, und mit ihrem nichtswürdigen harten Geknatter haben die Maschinengewehre ihre grausige Arbeit an. Schmerzensschreie gellten auf. Der Mann mit der Drahtschere klammerte sich im Rückwärtssturz an Armands Rockschoß und röchelte: »Ich habe genug.« Mit einem wütenden Ruck riß Armand seinen Rock aus der Umkrallung los und drang in die Bresche des Drahtverhaues ein. Die Offiziere schrien: »Vorwärts Kinder, vorwärts! Es lebe die Republik!« Durch die ganze Sturmlinie pflanzte sich das heisere Wutgeschrei fort. Auch Armand brüllte so laut er konnte: » Vive la république!« und schwang das Gewehr über seinem Kopf, als stände er schon am Grabenrande und wollte den Kolben auf einen deutschen Schädel niederschmettern.

Ratatatatat! trommelten die Maschinengewehre. Pui-pui-pui! pfefferten die ersten Flintenkugeln dazwischen.

Armand sah seinen Hauptmann, mit einem lauten Aufschrei die Arme emporwerfend, hinschlagen wie vom Blitz gefällt und den Abhang hinunterkollern. » Vive la ...!« schrie er. Da spürte er einen derben Schlag irgendwo an seinem Körper. Er wußte nicht, wo es ihn getroffen habe, er fühlte auch keinen Schmerz. Er keuchte weiter aufwärts, auf allen vieren, krallte sich in den Grasbüscheln fest und lallte mit schwerer Zunge vor sich hin: » Vive la ... vive la ... vive la ...!« Es war ihm nicht möglich ,das » république zu formen. Da ward ihm plötzlich so, als ob ein Eisstück ihn am Rückgrat hinuntergleite. Er ließ die Flinte sinken und sein Gesicht sank ihm ins feuchte Gras. Dann wurde es Nacht vor seinen Augen.


ES war einige Tage später, an einem strahlend hellen Oktobertage um die Mittagsstunde, als die Rote-Kreuz-Schwester des Feldlazaretts eilenden Schrittes die Treppe hinunter nach dem zu ebener Erde gelegenen Zimmer des Chefarztes lief. Der Doktor war gerade mit seiner blutigen Morgenarbeit fertig geworden und im Begriffe, das Schulhaus, in dem das Lazarett untergebracht war, zu verlassen, als ihn die Schwester anrief: »Herr Stabsarzt! Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie aufhalte. Der Prinz ist eben aufgewacht, er scheint bei Besinnung zu sein.«

»Es ist gut,« erwiderte der Stabsarzt kopfnickend. »Ich will nur schnell nach dem Herrn Obersten telephonieren lassen.«

Die Schwester stieg rasch wieder die Treppe hinauf und betrat ein nach der Sonnenseite gelegenes Schulzimmer. Da lag unter einer großen Anzahl Schwerverwundeter in seinem schmalen weißen Bett auch der französische Soldat Armand Georges. Er hatte die Augen weit offen, starrte nach den auf der weißen Wand aufgemalten Sprüchen und seine hastig beweglichen Lippen schienen die Worte an der Wand tonlos zu formen. Die Schwester trat an sein Lager, ergriff seine matt auf der Decke liegende Rechte und fühlte nach seinem Puls. Sie lächelte ihm freundlich zu und fragte auf französisch: »Haben Sie lange genug geschlafen? Haben Sie jetzt Lust, sich wieder ein bißchen im Leben umzusehen, mein Prinz?«

Armand wandte der Fragerin sein bleiches Gesicht zu und starrte sie eine ganze Weile unverwandt an. Dann schloß er wieder, geblendet von dem hereinflutenden Sonnenschein, die Augen, zog schmerzlich die Stirn in Falten und ein Zittern lief durch seinen Körper: »Ich friere so sehr,« flüsterte er kaum vernehmbar.

Die Schwester beugte sich über ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Sie müssen tüchtig essen, mein Prinz, daß Sie wieder zu Kräften kommen. Dann werden Sie nicht mehr frieren.« Und auf deutsch fügte sie hinzu: »Haben Sie denn keinen Hunger?«

Da öffnete Armand rasch die Augen und wandte sich mit erschrockenem Ausdruck der Fragerin zu: »Wo bin ich denn?« stieß er etwas lauter hervor.

Die Schwester antwortete wieder auf deutsch: »Sie brauchen sich nicht aufzuregen: Sie sind in deutscher Pflege und Sie sollen es bei uns ebenso gut haben – ja vielleicht noch besser als drüben.«

Er sprach ihr das Wort nach: »Drüben?« Er lauschte dem matten Klang seiner Stimme und wiederholte noch ein paarmal: »Drüben – drüben?« Er schien es noch nicht zu fassen, was das bedeutete, daß er nun deutsche Laute um sich hörte und doch in einer französischen Schule lag, wo französische Tugendregeln auf die Wand gemalt waren. Wiederum schloß er die Augen und murmelte unverständlich vor sich hin.

Der Stabsarzt trat herein, nahm der Schwester die Rechte des Verwundeten aus der Hand und zählte die Pulsschläge. Die Schwester suchte seinen Blick. Er zog die Brauen empor und zuckte die Achseln. Dann flüsterte er ihr zu: »Schauen Sie zu, daß Sie ein Glas Sekt erwischen und dann eine kräftige Suppe. Ich bleibe so lange hier.«

Armand hatte die fremde Stimme gehört. Mit Anstrengung hub er die matten Lider und starrte wieder mit demselben hilflos erschrockenen Ausdruck die fremde Uniform an.

»Morgen, Durchlaucht,« sagte der Arzt in kräftigem Tone. »Jetzt haben wir genug geschlafen, was? Jetzt wollen wir tüchtig essen, trinken und vergnügt sein. – Verstehen Sie mich? Ich nehme an, daß Sie doch noch Deutsch können?«

Ob die Kopfbewegung, die Armand mit Anstrengung zustande brachte, ein zustimmendes Nicken darstellen sollte oder den gequälten Ausdruck des Nichtverstehens, das war nicht zu unterscheiden; aber der Arzt gab die Hoffnung, eine Äußerung des Verständnisses aus dem Kranken hervorzulocken, noch nicht auf. Er setzte sich auf den Rand des Bettes und dämpfte seine harte Stimme, so gut ihm dies möglich war.

»Gelt, Sie wundern sich,« fuhr er munter fort, »woher wir wissen, wer Sie sind? Auf Ihrer Erkennungsmarke stand es nicht; aber in den Papieren, die wir bei Ihnen gefunden haben, und einer von Ihren Leidensgenossen hat es übrigens auch noch bestätigt, daß Sie ein Prinz Ravensberg sind. Ja, ja, wir wissen alles, denn das Husarenregiment Prinz Ravensberg gehört zu unserem Armeekorps, und da lag es doch nahe, daß wir sofort Ihren Herrn Bruder benachrichtigt haben. Sie können übrigens Ihrem Schöpfer danken, daß Sie so nahe vor unserer Stellung gefunden wurden, denn den Rücktransport nach den französischen Linien hätten Sie schwerlich überstanden. Na, na, was ist denn das? Sie hören mich wohl nicht mehr?«

Die Schwester kam mit der Suppe. Der Stabsarzt ging ihr entgegen und winkte ihr schon von weitem zu: »Stellen Sie das Zeug warm, er ist schon wieder weg, unser Prinz. Ich fürchte, wir bringen ihn nicht durch. Er muß entsetzlich viel Blut verloren haben. – Wenn bloß die Durchlaucht nicht zu spät kommt.«


ES war nachmittag gegen vier Uhr, als Armand abermals die Augen aufschlug. Man hatte mit starken Essenzen nachgeholfen, um ihn aus seiner tiefen Ohnmacht zu erwecken. Es gelang den vereinten Bemühungen der Schwester und einiger Sanitäter, den Todesmatten ein wenig aufzurichten und ihm ein Glas Sekt und einige Löffel Suppe beizubringen, aber diese Anstrengung warf ihn in eine neue Ohnmacht zurück. Diesmal kam er von selber wieder zu sich, als die Klänge einer auf dem Marktplatz konzertierenden Militärkapelle sanft gedämpft vernehmbar wurden.

Da schlug Armand die Augen auf und lauschte mit seltsam verklärtem, fast kindlich dankbarem Ausdruck den Tonbildern aus »Lohengrin,« die die Kapelle eben zum Besten gab.

Als das Stück zu Ende war, wandte er den Kopf langsam herum und betrachtete mit anscheinend wacher Teilnahme seine Umgebung. Er erkannte die freundliche Schwester und lächelte ihr zu, und dann heftete sich sein Blick an eine neue Gestalt, die am Fußende des Bettes stand und gespannt jede seiner Regungen verfolgte.

Es war ein schlanker, nur mittelgroßer Offizier im grau verschnürten Rock mit dunklem Haar und englisch gestutztem schwarzen Schnurrbärtchen. Sobald der Offizier gewahr wurde, daß Armands Augen auf ihm ruhten, trat er mit ausgestreckten Händen einige Schritte vor, beugte sich über ihn und sagte leise in tiefer Bewegung: »Ja, schau mich nur an: ich bin dein Bruder Viktor. Und du bist Georges Hermann, nicht wahr? Siehst übrigens ganz aus wie ein echter Ravensberg. Der leibhaftige Vater – und ich bin klein und schwarz wie ein echter Lusignan. Komisch, was? Jetzt bleiben wir beisammen, lieber Bruder, und ich wette, es wird dir schon noch gefallen bei uns. – Verstehst du mich, oder soll ich Französisch reden?«

Armand versuchte vergebens ein Wort hervorzubringen; aber er nickte deutlich Bejahung. Und aus seinem weit offenen blauen Augen rannen langsam schwere Tränen über die eingefallenen wachsbleichen Wangen.

Eben setzte die Musik wieder ein. Einen flotten Armeemarsch voll jubelnder Lebensfreude und straffer stolzer Männlichkeit spielte sie auf.

Da legte der blonde Ravensberg seine mageren Hände ineinander wie zum Gebet und horchte, seinen Bruder dabei unverwandt anschauend, mit mattem Lächeln den schmetternden Klängen, während ihm unaufhaltsam die Tränen weiterquollen. Und als das Stück zu Ende war, nahm sein Gesicht einen tiefernsten Ausdruck an, die gefalteten Hände machten eine winkende Bewegung, und Viktor Ravensberg beugte sich dicht über ihn.

Georg Hermann nahm seine ganze Kraft zusammen und flüsterte deutlich vernehmbar: »Ihr seid stark – mein Bruder. Weißt du – was ich glaube? – Ich bin – doch – vielleicht – immer – ein Deutscher – gewesen. – Es war ... Es war – alles Maske. – Alles – alles Maske. – Ich bin froh ...« Seine Stimme wurde immer schwächer.

Viktor mußte sein Ohr ganz nahe über seinen Mund bringen, um den verlöschenden Hauch noch wahrzunehmen.

»Ich habe es nur getan – wegen Mama. – Ich bitte, sei gut zu Mama. – Ich – ich ...«

Sein Haupt sank kraftlos zur Seite. Mit einem unheimlichen Röchellaut versuchte er noch einmal tief Atem zu holen – dann war es vorbei. – – –

Als der Stabsarzt mit dem Obersten das Lazarett verließ, sagte er, sich verabschiedend: »Der Fall ist mir um so schmerzlicher, Durchlaucht, als wir gerade bei Lungenschüssen ganz wunderbare Erfolge gehabt haben; aber Ihr Herr Bruder freilich hatte keine Kräfte mehr zuzusetzen. Ein hartes Leben muß bös an seinen Nerven gezehrt haben.«

Der Prinz drückte sein Taschentuch in die Augen und nagte die vollen Lippen. Dann nickte er dem Arzt flüchtig zu und sagte abgewendeten Blicks: »Ein hartes Leben. Ja, das hat er gehabt. Er hat sich geopfert, immer geopfert seit seinen Knabentagen – für seine Mutter und für seiner Mutter Land. Aber sein Heldengrab in deutscher Erde – das hat er sich redlich verdient.«


 << zurück