Ernst von Wolzogen
Vom Peperl und von andern Raritäten
Ernst von Wolzogen

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Der seidene Schipongs

Die Prielmayerischen waren nur kleine Leut'. Die Mutter war arg fromm und der Vater pflegte sich an allen hohen Kirchenfesten etliche Maß über den Durst zu vergönnen, vom heiligen Josef angefangen, den er seiner engen Beziehungen zum »Salvator« halber unmittelbar hinter den Herrgott einordnete, bis herab zum heiligen Benno, der als Münchner Stadtpatron doch auch nicht ganz vernachlässigt werden durfte; aber sonst waren die Prielmayerischen wirklich schon recht ordentliche Leut' und brachten mit ihrer Hände Arbeit als Säckler und Taschner, verbunden mit der Hausmeisterei, sich selbst mit ihren fünf Kindern recht und nicht gar zu schlecht durchs Leben. Nun die Älteste, das Katherl, bereits ins achtzehnte Jahr ging und der älteste Sohn schon ein wenig zu verdienen begann, schien es, als ob endlich bequemere Tage für das Ehepaar anheben wollten. Das jüngste Mäderl war ja auch schon bald zehn Jahre alt und brauchte nimmer viel Aufsicht, so daß die Frau sich öfters und ohne Sorgen von daheim entfernen durfte, um mit vermehrter Inbrunst dem Besuch der heiligen Messe und der heiligen Beichte obzuliegen. Auch die geistliche Zerknirschung und Bußfertigkeit, welche den Vater Prielmayer ehedem an den Folgetagen jener gedachten allzu feucht gefeierten Feste ergriffen hatte, begann sich merklich abzuschwächen und wenn das graue Elend ihn nicht schon bis in die Haarwurzeln gepackt hatte, so pflegten ihn die frommen Ermahnungen seiner Gattin eher in einen Zustand höchst unchristlicher Wut als in den einer demütigen Selbsterkenntnis zu versetzen. An solchen Tagen ging es freilich ein wenig ungemütlich zu in der Prielmayerischen Behausung, aber sonst – wie schon gesagt – waren es ordentliche Leut' und die Frau besonders hielt die Ihrigen in strenger christlicher Zucht beisammen und wußte alles in die rechten Wege zu leiten. Das Katherl war mit siebzehn Jahren zu einem hübschen schlanken Ding herangewachsen, dem schon der oder jener auf der Straße nicht ohne Vergnügen nachzuschauen begann, und wenn es sich nur ein bißl hätte herumtreiben dürfen wie die andern Mädeln seines Alters und Standes, so hätte es gewiß schon in diesem jugendlichen Alter gute Freunde gefunden, die es am Sonntag ausgeführt und ihm Bier und womöglich gar etwas Warmes dazu gezahlt hätten. Aber die Mutter duldete das nicht. Katherl durfte nur in Begleitung der Eltern ausgehen und von den vierzig Mark, die es monatlich verdiente, durfte es nur ein Geringes für sich behalten, den größeren Teil mußte es in die Wirtschaftskasse abliefern.

Solches war nun freilich wenig nach Katherls Sinn; denn das Jüngferlein hatte bereits einen Blick getan in die feine Welt und die Sehnsucht nach einem besseren Leben, das aber nicht von jener, sondern ganz ausschließlich von dieser Welt war, saß ihm bereits fest in der Seele. Die Alten hatten nämlich ihre gegenwärtige Hausmeisterstelle bei dem schwer reichen Privatier und ehemaligen Bankmetzgermeister Kürberger schon an die fünfzehn Jahre lang inne, und das Fräulein Anna Kürberger, die älteste Tochter des Hauses, war, bis sie ins Institut gekommen, Katherls Spiel- und Schulkameradin gewesen. Auch jetzt noch verschmähte sie es nicht, sich mit der Hausmeisterstocher ein wenig gemein zu machen, wie es die Eltern nannten, die gar sehr auf Anstand und Bildung hielten. Und so war es denn eines Tags geschehen, daß sie dem Katherl, das ihr gerade hinter dem Haustor begegnete, freundlichst Rede und Antwort stand, als es ihre seine Toilette in Ausrufen hellen Entzückens bewunderte.

»Jessas, Freiln Anna, was raschelt denn allaweil a so bei an jeden Schritt, den's tun?«

»Das ist halt das seidne Futter und die Jupons.«

»A seidnes Futter habns? Oh mei!«

»Ja natürlich, Katherl.«

»Und gar an seidnen Schipongs! Was ist denn dös, a Schipongs, Freiln Anna? Möchtens net so gut sei und lasseten 's mir amal segn?«

»Ja, warum denn net? Da schau her, Katherl!«

Und das leutselige Fräulein Kürberger setzte den rechten Fuß, der in einem entzückenden Stiefelchen von grünem Saffianleder steckte, auf die unterste Marmorstufe des väterlichen Treppenhauses und hob den Saum ihres Promenadenkleides aus feinstem Damentuch ein wenig in die Höhe. Er war richtig mit hellbronzefarbener Seide gefüttert, und darunter kam ein Unterröckchen von feinster malvenfarbener Seide mit einer Spitzenkante und mehreren gefälteten Rüschen vom selben Stoff besetzt. Und das arme Katherl durfte diese Herrlichkeit nicht nur flüchtig schauen, sondern es durfte sogar den feinen Stoff des Gewandes mit Händen greifen und die Fingerspitzen über das unerhört vornehme Untergewand gleiten lassen.

Wie sich das anfühlte – und wie das raschelte! Es ging Katherl durch und durch. Sie hatte nur einmal ein ähnliches Gefühl empfunden, als sie im Volksgarten draußen auf der amerikanischen Luftseilbahn gefahren war. Also, ein »Schipongs« war ein Unterrock, ein Unterrock von feinster Seite! Und das sei gar nichts Besonderes, hatte das Fräulein Anna gesagt, denn ohne einen solchen könnte man nie ein schicksitzendes Kleid bekommen. Für eine Dame mit wollenen Unterröcken könnte eine anständige Schneiderin überhaupt nicht arbeiten. Und dann hatte sie das Kleid gelüpft und war duftend und raschelnd, anmutig sich in den Hüften wiegend und mit dem Rocke schwänzelnd, mit ihren grünen Saffianstiefelchen und schwarzseidenen Strümpfen und malvenfarbenen Unterröckchen die teppichbelegte väterliche Treppe hinangestiegen. Das arme Katherl hatte ihr mit großen Augen nachgestarrt, bis droben im ersten Stock die Tür hinter ihr zugeschlagen war. Und dann plötzlich hatte es sie, wie der Münchner sagt, gerissen, ganz buchstäblich gerissen. Wie mit Krallen ans Herz gepackt und auf die Marmorstufen niedergerissen hatte es sie, das schreckliche Gefühl ihrer garstigen Armseligkeit, der Neid und das lüsterne Verlangen nach der süß betäubenden Umschmeichelung jener ihr unerreichbar fernen feinen Welt. Ach, dort lohnte es sich wohl, ein hübsches junges Mädchen zu sein, auf schmalen, elastischen Stiefelsohlen durch das Leben zu tänzeln, ohne sich je zu beschmutzen, und durch das Linien- und Farbenspiel seiner schwebenden Gestalt, durch das sinnverwirrende Duften und heimlich lockende Rauschen aus Falten und Falbeln, Blonden und Rüschen Entzücken und Anbetung um sich zu verbreiten. Auf der Marmorstufe saß das Katherl und schlug sich mit seinen Fäusten auf die Knie, die ein altes braunes Wollkleid bedeckte. Und es fühlte mit Ingrimm den dicken gesteppten Unterrock hindurch, den ihm die Mutter unter den lächerlichsten Lobpreisungen zum letzten Christkindl beschert hatte. Das wäre ganz was Rares und so schön warm und gesund! Katherl hätte der Mutter grad' die Zunge herausstrecken mögen, wenn sie just durch das Portal hereingetreten wäre, so giftete sie sich, und lieber hätte sie sich im härtesten Winter die Beine blau frieren mögen, als diesen Wulst noch länger um ihre schlanken Hüften dulden mit dem Bewußtsein, daß jede anständige Schneiderin sich weigern würde, ihr ein Kleid darüber anzumessen. Und Katherl drückte ihre Fäuste unbarmherzig in die Augenhöhlen, bis es sie schmerzte, um die Tränen der Wut, die da herauswollten, gewaltsam zu unterdrücken. Nun wußte sie die Hauptsache; nun hatte sich das Geheimnis der Eleganz für sie gelüftet. Was die Mutter wohl davon wußte! Pah! mit ihrem Beicht- und Messelaufen, mit ihrem Predigen von der Tugend und ihrer himmlischen Belohnung! Von der Tugend war überhaupt keine Rede. Katherl hatte gar nicht die Absicht, den Weg der Tugend, wie er für brave Mädeln vorgeschrieben ist, zu verlassen. Die Fräulein Anna war doch auch nicht lasterhaft; aber seidene Unterröcke muß man haben – natürlich! – hatte sie gesagt. Nur auf diesem Wege ließen sich die Tugend und das fesche Leben vereinigen.

Von dieser Stunde an ließ die brennende Begierde, einen seidenen Unterrock zu besitzen, dem Katherl bei Tag und Nacht keine Ruhe. Ihr höchstes Vergnügen war, sich bei den Ausgängen, die sie hin und wieder für ihr Geschäft machen mußte, einige Minuten abstehlen zu können, um sich an den Auslagen der Modegeschäfte in die Betrachtung der seidenen Unterkleider zu versenken. Diese schönen Dinge kosteten freilich Geld, aber nicht einmal so viel, als Katherl sich vorgestellt hatte. Und sie begann zu sparen. Sie versagte sich allerlei Ausgaben, die sie bisher von ihrem Taschengelde bestritten hatte und listete der Mutter durch allerhand kleine Schwindeleien hier ein Zehnerl, dort ein Markl ab. Im Sommer fing das Sparen an, und sie rechnete, das sie es doch mindestens bis zum Fasching zu einem seidenen Schipongs gebracht haben müßte.

Mit diesem Ideal im Herzen ertrug sie die immer wachsende Zänkischkeit der Mutter und die immer häufigeren Wutanfälle des Vaters mit stumpfer Gleichgültigkeit. Was war das für ein Leben! Sich abrackern und im Geschäft herumstoßen lassen für elende vierzig Mark im Monat, und daheim keinen Augenblick Ruhe vor allerlei Arbeit, die die jüngeren Geschwister ihr zumuteten, und keinen andern Dank dafür als harte Worte und die frommen Sprüche der Mutter; denn wenn die Mutter nicht gerade von der ewigen Seligkeit und den sichersten Mitteln, die armen Seelen aus dem Fegfeuer zu erlösen, redete, so führte sie nur böse Worte im Munde.

»Affiger Fratz, du! Stehst scho wieder vorm Spiegel? Geh weiter an dei Arbeit oder i hilf dir deine Zozeln brenna, daß d' glei moanst, der Fangerl hat di beim Schopf derwischt.« – »Wo bleibst jetzt wieder so lang? So, beim Kramer bist gewesen? Du lugst di no amal um die ewige Seligkeit, dös is gewiß. Nach die Mannsbülder hast g'schaut, g'speanzelt hast wie a verliabte Molln. Heilige Muatter Gottes, is dös a Gfrett mit so an Madl! Schau meine weißen Haar an, zum Zähln sans scho lang nimma! Dös is ganz alloa der Gram um dei schlampete Gruchlosigkeit. Du werst es no weit bringa auf dem Pfade des Lasters, du hoffärtige Lalln, du!«

Aber Katherl ließ alle diese lieblichen Redensarten mit Achselzucken über sich ergehen. Sie wußte es jetzt zu gewiß, daß sie ein hübsches Mädel war und bis zum Fasching einen seidenen Unterrock in ihrem Besitz haben würde. Das übrige mußte ihr dann alles von selbst zufallen, meinte sie. Aber sündhafte Gedanken hatte sie dabei nicht. Es war nicht wahr, daß sie so besonders keck nach den Männern schaute. Von den Burschen ihres Standes mochte sie nichts wissen und die feinen Herren, die kümmerten sich nicht um sie, denn sie machte noch eine gar zu schlechte Figur in ihrem armseligen Sonntagsstaat. Wenn sie erst einmal in Seide rascheln würde, dann war's noch Zeit genug, ihre Tugend zu beweisen. Vorderhand hatte sie das gar nicht nötig.

Aber Geduld gehörte dazu! Der Herbst wurde ihr gar lang und im Anfang des Winters, als schon die Sparkasse ganz hübsch schwer geworden war, hatte sie der Versuchung nicht widerstehen können und sich vorläufig einmal ein Paar feine schwarze Strümpfe gekauft, nur halbseiden freilich, aber sie glänzten doch wie echte. Die dicken, von der Mutter gestrickten Wollstrümpfe, die so unförmliche Beine machten, konnte sie nicht mehr ertragen. Das Bewußtsein, die unterste Grundlage der Feinheit wohlversteckt im Schubkasten liegen zu haben, richtete ihren durch die lange Geduldsprobe erschöpften Lebensmut wieder ein wenig auf. Oft, wenn sie vor so einer Auslage eines Konfektionsgeschäftes stand, betete sie voll Inbrunst: Heilige Mutter Gottes und liebe heilige Katharina, laß doch jetzt einen Prinzen daherkommen, der zu mir sprechen tät': Gelt, Mädl, so ein' seidenen Schipongs, den möchtst jetzt haben? Geh her, ich schenk' dir einen.

Aber es kam kein Prinz und es mußte weiter gespart werden. – Das Glück war ihr günstig. Sie kriegte von ihrem Prinzipal im Geschäft ein besseres Christkindl, als sie erwartet hatte und auch ihre ehemalige Schulkameradin, das Fräulein Kürberger, schenkte ihr ganz unvermutet ein Fünfmarkstück zu Weihnachten. Da wußte sich das Katherl vor Seligkeit nicht zu lassen. Jetzt hatte sie auf einmal mehr, als sie brauchte, beisammen, und darum war sie außer sich vor Zorn über die vorgeschriebene Geschäftsruhe in den Weihnachtstagen, um deretwillen sie ihre Ungeduld noch achtundvierzig Stunden länger zügeln mußte. Aber am ersten Werktag nach dem Feste benutzte sie die erste Gelegenheit, in einem Ausverkauf zu bedeutend herabgesetzten Preisen einen seidenen Unterrock zu kaufen, der das höchste Ziel ihrer irdischen Sehnsucht durch mehr als sechs Monate hindurch gewesen. Sie wählte einen, der ihrer Ansicht nach sogar noch schöner war, als der von Fräulein Anna, nämlich einen lachsfarbenen! Und zu ein paar Meter Band und ein paar Federn, womit sie sich ihren Hut aufgarnieren konnte, blieb auch noch etwas übrig. Ein Paar neue Stiefel und eine Winterjacke, die ganz modern geschnitten war, wenn auch der Stoff nichts taugte, hatten ihr die Eltern beschert. Das Kleid vom vorigen Herbst war auch noch gut imstande. Katherl war glückselig und trällerte auf dem Heimweg unaufhörlich vor sich hin: »Dideldadl – elegant, dideldadl – fesch bei'nand!«

Aber wann sollte sie diese ganze überwältigende Herrlichkeit zur Schau tragen? Das war die Schwierigkeit. – Da kam der heilige Dreikönigstag, und der Vater verkündete den Seinen, daß er heuer das liebe fröhliche Fest mit der ganzen Familie auf dem Arzbergerkeller feiern wollte. Es gelang Katherl am Abend, während die Mutter ein paar Minuten hinausgegangen war, unbemerkt die halbseidenen Strümpfe und den ganz seidenen Schipongs anzuziehen. Vor den Augen der Mutter hätte sie das natürlich nie gewagt. Und wie sie dann mit dem neugarnierten Hut auf dem Kopf, die neuen Stiefel an den Füßen, die zerarbeiteten roten Hände in schwarze Glacés gezwängt, mit frisch gebrannten Stirnlocken und vor Aufregung geröteten Wangen in kecker Haltung zu den bereits harrenden Eltern in die Wohnstube trat, da verstummte im ersten Augenblick die ganze Familie vor Erstaunen, und dann ließen zunächst die jüngeren Schwestern Ausrufe des Entzückens vernehmen und die älteren Buben etliche derbe Sticheleien. Der Vater schmunzelte, zum erstenmal in seinem Leben eitel auf die hübsche Tochter, und nur die Mutter sagte nichts, sondern ließ einen strengen, bösen Blick langsam an Katherls zierlicher Gestalt hinuntergleiten. Plötzlich tat sie ein paar rasche Schritte auf sie zu und strich ihr mit der flachen Hand von den Hüften ab über das Kleid.

»Was is denn jetzt dös? Bist eppa narrisch worn, Katherl? Du hast ja koan Unterrock an, schämst di net! Willst dich mit Gwalt verkälten, eitler Fratz du? Obs d' glei gehst und dein gschteppten Unterrock anziagst!«

Katherl wurde ganz blaß und stammelte: »Was willst denn, Mutter, ich hab ja doch an' Unterrock an.«

»Dös is a Lug, dös wer'n ma glei segn!« schrie die Frau in hellem Zorn. Und sie bückte sich und hob der Tochter, trotzdem die erschrocken zurücksprang und sie mit den Händen abwehrte, das Gewand in die Höh', so daß der Lachsfarbene zum Vorschein kam. »Jessas!« schrien die vier Geschwister wie aus einem Munde und 's Katherl schrie auch: »Laß mich aus, Muatter, laß mich aus, obs d' mich glei auslaßt! Dös is mei Eigentum – und ich laß mich net behandeln wia a kloans Kind! Ich bin achtzehn Jahr alt!« Und dabei bemühte sie sich vergebens, ihr Kleid aus dem festen Griff der Mutter los zu bekommen.

»Ei wohl, achtzehn Jahre bist und schon so verdorbn! Do, Vater, do schaug her! Dös hast fein no net in der Näh gsegn, so a Ballettmadl! Pfui Deifi, sag i, du liaderlichs Weibsbüld du!«

»Vater, glaubs net, net wahr is! Ich hab' mir's von mein' Göld kauft, zsammgspart hab' i mir's. Ich bin allaweil brav gwesen, glaub' mir's, Vater – allaweil brav! I derf glei dot umfalln, wenn's net woahr is!«

Der Alte wußte nicht recht, was er sagen sollte. Da fuhr die Mutter mit einem Schwall von Worten über ihn her, daß dem armen Säckler und Taschner ganz wirr im Kopfe davon ward und endlich schrie er aus eitel Bedrängnis noch lauter als seine Frau die Tochter an: »Obs d' den Fetzen runter tust, dalkete Gans, du! Dös is a Schand für dö ganz Famülie und für die heiligen Dreikönige obendrein. Mit an solchenen Frauenzimmer sitz i mi net in Arzbergerkeller zu die Veteranenvrein nei. Aus meine Aug'n, Weibsbüld, oder i verfluach dich!«

Der Alte hatte zur Vorfeier der lieben heiligen drei Könige schon zur Vesper ein Maß mehr genossen, sonst wäre er zum Fluchen vermutlich nicht so aufgelegt gewesen.

Das Katherl trotzte und weinte, die Geschwister höhnten, die Mutter jammerte über soviel Sündhaftigkeit und Verderbtheit und der Vater stieß den Stock auf den Boden auf und schnaubte Wut in lächerlichen Grunzlauten. Aber da's Katherl sich hartnäckig weigerte, wieder in den garstigen Stepprock hineinzukriechen, so entschied endlich der Vater, daß es zur Strafe überhaupt nicht mit auf den Keller kommen dürfe. Dann zog die ganze Familie ab und der Vater sperrte die Tür von außen zu.

Da saß das Katherl gefangen und weinte, ohne sich auszukleiden, schier eine Stunde lang zum Gotterbarmen. Aber dann packte sie eine furchtbare Wut. Sie schlug mit den Fäusten gegen die Tür, warf im Zimmer alles durcheinander und probierte alle großen Schlüssel sämtlicher Wohnungstüren im Hause, die der Vater als Hausmeister bei sich aufbewahrte, an ihrer eigenen. Keiner wollte passen. Da riß sie mit raschem Entschlusse das Fenster auf. Es war ja nicht hoch, ein ganz kleiner Sprung nur und sie stand im Hof – und dann durch das Vorderhaus und die Marmorstufen hinaus in die Freiheit.

Zuerst lief sie rasch, wie gehetzt, durch die Straßen, bis sie zum Zentrum der Stadt gelangte. Nun schritt sie ganz langsam, um wieder zu Atem zu kommen, die Neuhauser und die Kaufinger-Straße hinauf und dann ging sie unschlüssig ein paarmal im Kreis um die Mariensäule herum und dann wieder die Neuhauser und Kaufinger-Straße hinunter und blieb vor den noch offenen Läden stehen und schaute durch die Spiegelscheiben in die hellerleuchteten, qualmerfüllten Wirtsstuben hinein. Ein paarmal schon war sie angesprochen worden, aber sie hatte nicht darauf geachtet. Sie war dann nur schneller weiter geschritten, bis die Verfolger sie in Frieden ließen. Sie hatte Hunger. Gern wäre sie irgendwo eingekehrt, aber sie traute sich nicht so allein. Vor dem Varietétheater Monachia blieb sie lange stehen, betrachtete die Bilder in den Schaukästen und überlegte, ob sie nicht dahinein gehen sollte. Eine Mark und dreiundachtzig Pfennige hatte sie noch im Portemonnaie, und sie war nicht sicher, ob das genügen würde, um das Eintrittsgeld zu bezahlen und sich satt zu essen. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und schritt langsam weiter. Die Tränen wollten ihr schon wieder heraufsteigen und sie hatte Mühe, nicht laut heraus zu heulen.

Unter dem Karlstor bemerkte sie, daß jemand dicht hinter ihr ging. Sie beschleunigte ihre Schritte und bog in die Sonnenstraße ein. Jetzt hörte sie hinter sich flüstern: »Was läufst du denn so schnell, Kindchen?« Das war so eine weiche, angenehme Stimme gewesen, daß Katherl unwillkürlich stehen bleiben und sich danach umschauen mußte. Und wie der große elegante Herr das liebe unschuldige Gesichterl so ängstlich auf sich gerichtet sah, da zog er höflich den Hut und sagte in einem ganz andern Tone: »O, entschuldigen Sie, mein Fräulein, ich wollte Sie nicht belästigen, ich wollte ... ich wollte nur fragen, ob ich vielleicht die Ehre haben dürfte, Sie zu begleiten. Es ist um diese Zeit hier nicht ganz geheuer.«

»Wenn's mög'n,« platzte Katherl tief errötend heraus und dann setzte sie sich rasch wieder in Bewegung und lief so schnell, daß der fremde Herr schon recht lange Schritte machen mußte, um an ihrer Seite zu bleiben. Herrgott, wie ihr das Herz klopfte! Wenn sie nur nicht reden müßte, denn dann würde er es ja gleich merken, was sie für ein dummes Ding war und sie allein laufen lassen. Und es war doch so hübsch mit so einem feschen, jungen Herrn zu spazieren – denn fesch und jung war er, das hatte sie auf den ersten Blick gesehen. Er sprach zu ihr, aber sie verstand ihn kaum und antwortete ganz einsilbig, sie wußte selbst nicht was. Schließlich fragte er sie, ob sie schon zur Nacht gespeist habe und da fuhr es ihr ganz naiv heraus: »O, nein – und ich hab' doch an solchen Hunger! Meine Leut' san aufn Arzberger Keller, mich habns daheim einsperren woll'n; mir hab'n uns nämlich zerkriegt, wissens – da bin nachher ich hopla durchs Fenster naus!«

»Ah, bravo! das nenn' ich Schneid, kleines Fräulein! Und jetzt kommen Sie und teilen Sie mein bescheidenes warmes Abendbrot mit mir.« Damit zog er ihren Arm durch den seinen und führte sie in ein feines Weinrestaurant, wo in kleinen Nischen gespeist wurde.

Katherl machte gar keine Einwendungen. Sie war ganz benommen von der Neuheit des Abenteuers. Sie wollte durchaus nicht ablegen und genierte sich erst sogar, sich hinzusetzen. Mit großen glänzenden Augen schaute sie zu, wie ihr Kavalier seinen Hut an den Nagel hängte, seinen atlassenen Kragenschoner abband, den langen, hellen Winterpaletot, mit dem im Futter eingestickten Goldmonogramm, auszog und endlich die Galoschen von den Füßen streifte, unter denen lange, spitze Lackschuhe zum Vorschein kamen. Helle, karrierte Beinkleider trug der Kavalier und einen sehr langen Gehrock aus feinstem Tuch und einen sehr hohen Kragen und eine wundervolle seidene Krawatte mit einer kostbaren Nadel darin und eine weiße Weste und herrliche Manschetten, die mit goldenen, durch Kettchen verbundenen Knebeln zusammengehalten wurden. Und was er für große, schlanke, weiße Hände hatte, mit einem Siegelring auf dem Goldfinger und einem prachtvollen Brillantenringe am kleinen Finger! Das war zum mindesten ein Graf, höchstwahrscheinlich aber ein Prinz! Sie setzte sich erst, als der Graf oder der Prinz sich gleichfalls setzte, aber die neue Jacke wollte sie um keinen Preis ausziehen, denn die Taille darunter war doch wirklich zu gewöhnlich für einen solchen Herrn. Er legte ihr die Speisekarte vor, und völlig ratlos steckte sie ihr Naserl da hinein, denn Schweinswürstl und Kalbshaxen und Surfleisch und alle die Leckerbissen des Kellers standen nicht darauf. So sagte sie denn schließlich: »Ah, wissens, bestellens nur, was Sie am liebsten essen mög'n.« O, und dann gab's feine Sachen! Sie wußte von keinem was es war, aber gut schmeckte es, und dazu einen Wein, der in einem silbernen Eiskübel aufgetragen wurde. Und nicht nur ein so feines Gericht, sondern drei oder vier, so daß Katherl bald erschrocken abwehrte: »Aber bitt' Ihna, Herr Graf, so viel kann i ja gar nett essen. Es geht mir ja schon bis daher.«

»Warum nennen Sie mich denn immer Herr Graf, liebes Fräulein?« fragte der Kavalier.

»Ja, wie soll i denn sonst zu Ihna sag'n?«

»Ach, bitte, nennen Sie mich doch einfach James; ich heiße nämlich mit Vornamen James.«

»Also: Schehms. Den Namen hab' ich noch nie gehört. Sie sind a rechter lieber Herr, Herr Schehms.«

Katherl war warm geworden und hatte schließlich doch die Jacke aufknöpfen müssen. Aber ablegen tat sie sie um keinen Preis der Welt, auch nicht als Herr Schehms Schaumwein auftragen ließ.

Katherl hatte ihre liebe Not, nicht laut aufzuschreien: »Schampus! Do legst di nieder!« »Wahrhaftig einen richtigen Schampus!« jauchzte sie leise, und als der Kellner gegangen war, bückte sie sich schnell über die große, weiße Hand ihres Kavaliers und rieb ihre heiße Wange daran; es konnte es ja niemand sehen in dem Lokal. Und sie dachte bei sich: »Gewiß hat er's glei' g'merkt, daß i an seidnen Schipongs anhab', sonst wär' er net gar so liab mit mir.« Und wie es den Schampus getrunken hatte, da ward es dem Katherl so warm, so warm, daß es nicht mehr zum Aushalten war. Aber die Jacke wollte es doch nicht heruntertun, und drum blieb nichts anderes übrig, als wieder hinaus zu gehen in die frische Winternacht. Sie hakte sich zuversichtlich in seinen Arm ein und schmiegte sich zärtlich an ihn beim Gehen. Wohin er sie führte, wußte sie nicht, fragte auch gar nicht. Sie wußte nur, daß sie nun ganz, ganz glückselig war.


Am andern Morgen erwachte sie in einem fremden Bett und auf einem Stuhl neben dem schönen, welchen Bett lagen der lachsfarbene Schipongs und die halbseidenen Strümpfe. Katherl weinte sehr, als ihr alles klar wurde, aber es tröstete sie doch, daß der Lachsfarbene und die Halbseidenen dalagen, denn sonst hätte Herr Schehms sie ja für wer weiß was halten können! Und das tat Herr Schehms gewiß nicht, denn er sprach so gut zu ihr, ganz wie zu einer richtigen Dame, und tröstete sie so zärtlich und gab ihr die allerschönsten Namen. Und wie sie es ihm sagte, was ihr das Herz abdrückte und sie vor Angst bis ins Innerste erschauern machte, nämlich der Gedanke, jetzt zu ihren Eltern zurückzukehren, da nahm er sie in die Arme und streichelte ihr das Haar und sagte, sie sollte bei ihm bleiben, immer, und sein lieber, süßer, einziger Schatz sein und gar keine Angst mehr haben, vor nichts in der Welt.

Da war Katherl wieder ganz glücklich. – –

Es dauerte aber nicht lange, kaum etwas über vierzehn Tage. Da mußte Schehms – sie sagte jetzt nicht mehr Herr Schehms, sondern einfach Schehms – in wichtigen Geschäften in seine Heimat nach Norddeutschland reisen, und das Katherl konnte er nicht mitnehmen. Und als er ihr das offenbart hatte, ging Herr Schehms sehr schnell fort, denn er konnte seinen süßen Liebling nicht weinen sehen. – – –

Nun saß Katherl da. Er hatte ihr Geld gegeben, daß sie sich ein möbliertes Zimmerchen mieten sollte, aber das wollte sie nicht; nein, das tat sie nicht. So ganz allein sein und niemanden haben, niemanden auf der Welt – das konnte sie nicht! Lieber gleich ins Wasser. Aber das Wasser war so kalt und der Tod so grauslich und das Leben so schön, wenn man wie Katherl nicht nur einen seidnen Unterrock besaß, sondern auch alles andere vom Allerfeinsten, alles mit Seide gefüttert und mit Spitzen besetzt, daß man rascheln konnte, wie die wirklichen feinen Damen und sich nicht mehr zu schämen brauchte, im Restaurant das Jackett abzulegen. Mit all den schönen neuen Sachen konnte sie doch nicht ins Wasser gehen! Sie versuchte wieder in einem Geschäft Anstellung zu finden, aber in dem Aufzug, wie sie daher kam, wollte sie niemand nehmen; und zu ihren Eltern konnte sie um keinen Preis der Welt zurück. Der Vater hätte sie erst verflucht und dann vielleicht noch obendrein erschlagen, und die Mutter gar – der konnte sie um gar kein Geld wieder unter die Augen treten.

Aber schließlich kam es so. Die Polizei griff sie auf und brachte sie zu ihren Eltern zurück – und da gab's einen furchtbaren Auftritt. Der Vater schlug sie mit einem Stock und die Mutter malte sie so schwarz wie die Hölle und spie aus vor ihr. Und wie das Katherl aus Jammer und Schmerz wieder zu Worte kommen konnte, da wußte es zu seiner Rechtfertigung nicht anderes vorzubringen, als nur immer wieder: »Er hat ja so liab zu mir g'sprochen, so liab! Ach, Mutter, dös wennst g'hört hätt'st!«

O, das verworfne Kind! die schamlose Sünderin, nicht einmal Reue und Bußfertigkeit zeigte sie! Da jagten sie das Katherl wieder auf die Straße hinaus, und es verkroch sich in ein elendes Dachstüberl, das arme, verprügelte Ding. Und da pflegte es seinen zerschlagenen Leib, bis es wieder ganz frisch und gesund war, und dann zog es den seidenen lachsfarbenen Schipongs und alle die schönen Sachen vom verflossenen Schehms an und ging damit am Abend am Karlsplatz spazieren. – – –

Eines Tages begegnete es dem Fräulein Anna Kürberger auf der Straße und das Fräulein wandte sich rasch ab und schritt weiter, als hätte es die alte Schulkameradin nicht gesehen. Nun wußte das Katherl, woran es war – – und nun war ihm alles gleich. – –

Von da ab redete auch kein Kavalier mehr lieb und fein zu ihr. Es kam herunter und sank immer tiefer und tiefer. Armes Katherl! Warum jetzt das alles? Um einen seidenen Schipongs!


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