Ernst von Wolzogen
Vom Peperl und von andern Raritäten
Ernst von Wolzogen

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Ein unheimlicher Reisegefährte

In einem Coupé zweiter Klasse des Schnellzugs von Bukarest nach Budapest war ich den ganzen Tag über allein gewesen. Auf einer kleineren Zweigstation hinter Debeczin, deren Name mir entfallen ist und wo der Zug nur eine Minute Aufenthalt hatte, schob der Schaffner sehr eilig drei Herren zu mir herein. Sie schienen ein Coupé für sich allein begehrt zu haben; der eine der Herren, sehr elegant gekleidet, mit einem höchst intelligenten, scharfgeschnittenen Gesicht und blauschwarz glänzenden Bartkoteletten, sprach, schon auf dem Trittbrett stehend, noch immer leise auf den Schaffner ein, indem er, die dicken schwarzen Brauen dabei bedeutungsvoll hochziehend, auf den als zweiter eingestiegenen Herrn deutete. Da ertönte die Trillerpfeife des Zugführers, der Schaffner zuckte bedauernd die Achseln – es war nichts mehr zu machen. Die Tür knallte zu, und fort ging's.

Der zuerst eingestiegene Herr, ein untersetzter, kräftiger Mann mit glattrasiertem Gesicht, brachte das Handgepäck unter und sah dem zuletzt eingestiegenen, dem schwarzen, mit stummer Frage ins Gesicht, verbeugte sich nach erhaltenem Wink bescheiden und nahm auf dem Rücksitz am linken Fenster Platz. Ich hielt den Mann für einen Kammerdiener in Zivil. Die beiden andern Herren standen noch mir gegenüber.

»Bitte, wollen Sie nicht den Fensterplatz einnehmen?« wandte sich der elegante schwarze Herr auf deutsch an seinen Begleiter. »Wann's auch hier net viel was B'sondres zu sehen gibt, es ist doch immer eine Zerstreuung.«

»Wie Sie wollen,« versetzte der andre mit einem wunderlichen, beinahe verächtlichen Lächeln, indem er sich auf das Polster niederließ. »Es ist ja vollkommen gleichgültig, wo ich sitze und was ich sehe und ob ich überhaupt etwas sehe. Es ist ja überhaupt alles vollkommen gleichgültig. Bitte, bekümmern Sie sich nur gar nicht um mich. Wozu denn? Ich beanspruche gar keine Aufmerksamkeit. Gar keine – ho, wahrhaftig, nicht die geringste!« Dabei zog er seine schon ziemlich verbrauchten schwarzen Glacéhandschuhe aus und rieb seine Hände erst aneinander, dann auf den Hosen und schließlich jeden Finger einzeln, als ob sie vor Kälte klamm wären. Dabei war es ein heißer Junitag.

Der schwarze Herr erwiderte nichts. Er zog einen in Gold gefaßten Kneifer aus der Westentasche, putzte ihn sorgfältigst mit seinem buntseidenen Taschentuch, setzte ihn auf seine große Nase und richtete einen prüfenden Blick auf mich. Er schien beobachten zu wollen, welchen Eindruck das wunderliche Benehmen seines Begleiters auf mich machte und ob ich wohl Deutsch verstünde.

Ich setzte eine gleichgültige Miene auf und schaute zum Fenster hinaus, aber ich konnte mich dennoch nicht enthalten, von Zeit zu Zeit neugierig nach meinem Gegenüber zu schielen. Der Herr hatte mir in der Tat einen etwas sonderbaren Eindruck gemacht. Er war lang und sehr dünn und steckte in einem engen, schwarzen Anzug: Bratenrock und herzförmig ausgeschnittene Weste, Stehkragen und langer, bunter Schlips von etwas kleinstädtischem Geschmack. Er schien sogar Schaftstiefeln zu tragen. Auch das derbknochige Gesicht deutete auf bäuerliche Abstammung. Das sehr hellblonde Haar stand bürstenähnlich in die Höhe, Wangen und Kinn waren von etwa acht Tage alten Bartstoppeln bedeckt. Ein zwar schon fertiges, aber unbedeutendes Bärtchen beschattete seine Oberlippe – es war in der Tat nur ein Schatten, der sich kaum von dem gelblichgrauen Teint des sommersprossigen Gesichts abhob. Brauen und Wimpern vermochte ich nicht zu entdecken. Die Nase war kurz und dick – alles in allem ein durchaus garstiges, uninteressantes Gesicht, wenn nicht die hohe, stark ausgearbeitete Stirn und die tiefliegenden, unruhig flackernden grauen Augen gewesen wären.

Nach einer kleinen Weile zog der schwarze Herr ein schmales, wohl fußlanges Etui aus rotem Juchtenleder aus seiner Brusttasche hervor, sah sich im Coupé um und wandte sich dann mit einer Frage auf ungarisch an mich, aus welcher nur das Wort dohányozni bekannt an mein Ohr schlug, weil in allen Nichtrauchercoupés der österreich-ungarischen Staatsbahnen nem Dohânyoksag auf den Täfelchen zu lesen ist. »Ich verstehe zwar kein Ungarisch,« versetzte ich mit einer Verbeugung gegen den eleganten Herrn, »aber das Rauchen ist hier erlaubt, bitte sehr.«

So, nun wußte er also, daß ich Deutsch verstand. Er verbeugte sich gleichfalls lächelnd, entnahm dem Etui eine Virginia und bot es dann seinem blonden Gefährten an mit den Worten: »Bitte, Herr Doktor, wollen Sie sich nicht auch bedienen? Sie rauchen doch?«

Der hagere Geselle, der ganz in sich zusammengesunken dagesessen war und nur von Zeit zu Zeit einen unruhigen, gespannten Blick in die vorüberfliegende Landschaft hinausgeworfen hatte, fuhr zusammen, reckte die Brust heraus und starrte seinen Nachbar einen Augenblick fast herausfordernd an. »Warum nennen Sie mich, ›Herr Doktor‹? Entschuldigen Sie – bitte – ja, warum? Warum bieten Sie mir eine Zigarre an? Woher wollen Sie wissen, daß ich rauche? Weiß ich denn etwa, ob ich rauche? Ho – bah! Es ist gern möglich, daß ich sogar Tabak kaue; aber woher soll ich das wissen? Sie täten mir wirklich einen großen Gefallen, wenn Sie mich endlich darüber aufklären wollten. Ich habe es wirklich bald satt, so dazusitzen und mit ›Herr Doktor‹ angeredet zu werden und Zigarren angeboten zu bekommen – und dabei über das Wichtigste im unklaren gelassen zu werden. Entschuldigen Sie, bitte, Herr von Szépcsányi, ich bin ein sehr geduldiger Mensch – aber schließlich will man doch wissen, woran man ist.«

Er holte mit nervös zitternden Händen sein Sacktuch aus der Schoßtasche seines schwarzen Rockes hervor und schneuzte sich umständlich. Herr von Szépcsányi klopfte ihm leicht auf den Arm und flüsterte ihm dabei zu: »Aber das wird sich ja alles aufklären; beruhigen Sie sich doch, mein Lieber.« Und dabei gab er ihm noch einen freundschaftlichen kleinen Klaps und suchte ihn durch Augenwinken auf mich aufmerksam zu machen, als ob er ihn ermahnen wollte, sich doch wenigstens vor dem Fremden in acht zu nehmen.

Der sonderbare Mensch suchte sich durch eine Seitwärtsdrehung der Berührung zu entziehen und schlug ärgerlich seine langen Beine übereinander. Dabei stieß er mich ein wenig mit der Fußspitze an und beugte sich, eine Entschuldigung murmelnd, rasch vornüber, um mir das Beinkleid abzuklopfen.

»Bitte, bemühen Sie sich doch nicht; macht ja gar nichts,« sagte ich, indem ich seine geschäftige Hand lächelnd abzuwehren suchte.

Er richtete sich wieder auf und fixierte mich scharf. Dann begann er in derselben kurzatmig abgehackten Sprechweise wie vorher, seine Stimme vorsichtig abdämpfend: »Sie entschuldigen, wenn ich Sie belästige, mein Herr. Nur eine Frage, wenn Sie erlauben. Ich höre, wir sind Landsleute. Sie sind vielleicht weit in der Welt herumgekommen?«

Ich nickte bestätigend.

Und er packte seine beiden Knie fest mit seinen großen Händen, beugte sich weit vor und sah mir mit gespanntestem Ausdruck ins Gesicht, indem er fortfuhr: »Sollte ich Ihnen nicht vielleicht schon einmal begegnet sein? Haben Sie ein gutes Gedächtnis für Physiognomien? Bitte, sehen Sie mich nur genau an. Kommt Ihnen mein Gesicht nicht bekannt vor?«

Ich tat, wie er wünschte und sah ihn aufmerksam an. Aber als ich eben den Mund auftun wollte, um ihm mein Bedauern darüber auszudrücken, daß ich mich der Bekanntschaft nicht zu entsinnen vermöchte, fiel er mir aufgeregt ins Wort.

»Es liegt mir ungeheuer viel daran. Es muß doch irgendwo einen Menschen geben, der mich kennt. Ich sollte meinen, das muß doch jedermann begreifen, daß es ein unerträgliches Gefühl ist – eine Qual ohnegleichen geradezu, so wie ich doch immerhin lebendig auf zwei Beinen zu stehen und nicht zu wissen, wer man ist. – Sehen Sie, dieser Herr hier – Herr von Szépcsányi, meint es ohne Zweifel sehr gut mit mir, aber er kann mir absolut nicht helfen. Man hat ihm gesagt, ich sei der Dr. phil. Gottfried Hagemann. Und das ist auch insofern richtig als ich in meiner früheren Existenz tatsächlich diesen Namen trug; aber dieser Doktor Gottfried Hagemann ist kürzlich gestorben, und das ist gleichfalls eine Tatsache, die auch dieser Herr nicht zu bezweifeln wagt. Nun sagen Sie selbst: wenn einerseits zugegeben wird, daß jener Gottfried Hagemann tot ist, und andrerseits doch nicht geleugnet werden kann, daß ich hier lebendig vor Ihnen sitze, so ist es doch offenbar unlogisch, zu behaupten, ich selber sei Gottfried Hagemann. Sie lächeln; natürlich, ich lächle auch, es ist auch wirklich sehr komisch, daß selbst hochgebildete Leute, scharfsinnige Köpfe solchen groben logischen Schnitzer begehen können.« Er lachte nervös auf und klatschte sich dazu wie zur Bestätigung seiner Heiterkeit auf die Knie. Dann starrte er wieder zum Fenster hinaus.

Herr von Szépcsányi benützte diese Gelegenheit, um sich mit einer Kopfneigung gegen seinen Nachbar an die Stirn zu greifen und mir gleichzeitig durch Miene und Geste zu verstehen zu geben, ich brauchte mich nicht zu beunruhigen.

Als ob er gesehen hätte, was hinter seinem Rücken vorging, wandte sich unmittelbar darauf unser unheimlicher Reisegefährte wieder zu mir und sagte, seinen eleganten Begleiter mit einem verächtlichen Blick streifend: »Herr von Szépcsányi hält mich natürlich für verrückt. Mein Himmel, ich nehme ihm das ja weiter nicht übel. Das ist ja immer das einfachste Verfahren, und ich will nicht behaupten, daß ich nicht vielleicht in einem ähnlichen Fall mich geradeso allen Schwierigkeiten zu entziehen suchen würde. Aber Sie, mein Herr, sollen wenigstens Gelegenheit haben, selbständig zu urteilen. Ich werde Ihnen erzählen, wie ich zu dieser neuen, so entsetzlich rätselhaften Existenz gekommen bin.«

Es war ganz vergebens, daß Herr von Szépcsányi ihm freundlichst zuredete, er möge doch nicht gewaltsam so unnötige und schädliche Aufregungen herbeiführen und immer wieder die Erinnerung an Dinge heraufbeschwören, die doch schon vergeben und vergessen seien. Er achtete gar nicht auf so wohlgemeinten Zuspruch, sondern erhob sich, ehe jener noch ausgeredet hatte, um sich zu mir auf den Rücksitz zu setzen, dicht an meine Seite. Und er begann ohne weitere Einleitung seine Geschichte zu erzählen, mit glühendem Eifer die schmerzlichsten und grausigsten Erinnerungen mit einer wahren Wollust in sich aufrührend, und mit einer Beredsamkeit, die seine Geschichte fast einstudiert klingen ließ. Ich will sie hier wiedergeben, wie sie mir im Gedächtnis haften geblieben ist, ohne alle Unterbrechungen, natürlich nicht dem Wortlaut getreu, aber wenigstens ohne eigene Zutaten und möglichst im Stile ihres Erzählers.

»Ich war vierundzwanzig Jahre alt. Ich hatte mein Staatsexamen gemacht und als Philologe doktoriert. Ich verspürte eine brennende Sehnsucht in mir, etwas von der großen Welt kennen zu lernen, ehe ich als unbesoldeter Hilfslehrer mich an die Lateinschule irgendeines obskuren Nestes schicken ließ. Aber ich war völlig mittellos. Das wenige, was mein Vater für mich erspart hatte, mußte ich für mein Studium verwenden; mein älterer Bruder, der nach dem Tode des Vaters unser Bauerngut übernahm, konnte nichts mehr für mich erübrigen. Er hatte selber mit schweren Sorgen zu kämpfen. Ich bot mich also in Zeitungen als Hauslehrer fürs Ausland an. Unter mehreren Anerbietungen, die daraufhin einliefen, schien mir die des ungarischen Grafen Pálony die vorteilhafteste für mich zu sein. Heute vor einem Jahre kam ich dahin. Meine Erwartungen wurden in jeder Beziehung noch weit übertroffen. Eine herrliche Gegend, eine höchst interessante Bevölkerung, ein prachtvoller Besitz, ein glänzender Hausstand, oder besser gesagt: Hofhaltung. Es ging wahrhaft fürstlich zu auf Nagy-Pálony. Der Graf war Witwer, ein Mann von einigen fünfzig Jahren mit dem vornehmen Äußern und dem ehrfurchtgebietenden Wesen eines echten großen Herrn. Er kam mir in einer Weise entgegen, wie sie sich eine anerkannte wissenschaftliche Größe nicht anders hätte wünschen können; durchaus ohne jede kränkende Herablassung. Meine schlechten Manieren, meine gesellschaftliche Ungeschicklichkeit ertrug er, ohne eine Miene zu verziehen. Die alte Französin, die außer mir noch als Lehrkraft im Hause war, übernahm meine Erziehung nach dieser Richtung hin und putzte mich oft wie einen Schulbuben herunter. Von dem Grafen aber hörte ich nie ein tadelndes Wort. Höchstens daß er einmal still vor sich hinlächelte. Er setzte sich gleich anfangs mit mir über die Grundsätze auseinander, die er beim Unterricht und bei der Erziehung seiner drei Kinder befolgt zu sehen wünschte. Und da ich seinen Ansichten mit gutem Gewissen beipflichten konnte, so schenkte er mir volles Vertrauen und ließ mir völlig freie Hand. Mit den beiden jungen Grafen, prächtigen Buben von dreizehn und zehn Jahren, die gar sehr wild waren und anfänglich durchaus keine heftige Leidenschaft weder für die alten Sprachen, noch für die Mathematik bezeigten, kam ich dennoch bald recht gut aus, und das kleine Mädchen von acht Jahren schloß sich mir sogar mit einer gewissen Zärtlichkeit an, weil es von der alten Französin nicht gerade sehr liebevoll behandelt wurde. Da der Graf mit so gutem Beispiel voranging, wagten auch seine Untergebenen nicht, mir anders als mit größter Achtung zu begegnen. Ich lernte reiten, erhielt ein Pferd und eine Jagdflinte zu meiner Verfügung – kurz und gut, ich führte ein beneidenswertes Dasein, war glücklich in meinem Beruf und durfte auch mit meinen Erfolgen als Erzieher zufrieden sein.

Der Graf war viel abwesend, besonders im Winter, wo er sich monatelang in Wien und Budapest aufhielt. Aber mir wurde in der ländlichen Einsamkeit die Zeit darum nicht lang. Wenn ich mit meinen Schülern fertig war, trieb ich meine Privatstudien weiter, und Vergnügungen gab's auch genug. Schlittenfahrten, Eislauf, Pirsch – und gar der Tanz, wenn einmal Zigeuner einkehrten! – Da hörten wir, erst gerüchtweise, dann durch den Klatsch der Nachbarschaft – und endlich schrieb es der Graf selbst an den Haushofmeister, daß er sich mit einer jungen Dame in Wien verlobt habe und unmittelbar nach der Hochzeit, die bereits in den nächsten Wochen stattfinden sollte, mit seiner jungen Frau zu dauerndem Aufenthalt nach Nagy-Pálony kommen wollte.

Ich beteiligte mich natürlich voll Eifer an den Vorbereitungen zum glänzenden Empfange der Neuvermählten und ließ mich durch meine Verehrung für unsern lieben, gnädigen Herrn sogar zu einem lateinischen Karmen begeistern, welches Graf Lajos, der älteste der beiden Söhne, vortragen sollte. Die beiden jüngeren Geschwister, der Graf Koloman und die Komtesse Irma, sollten die neue Frau Mutter mit einigen deutschen Versen meiner Arbeit begrüßen. Ende Februar fand die Hochzeit statt und schon am Abend darauf der glänzende Empfang in Nagy-Pálony. Die Zigeuner brachten von Anfang an mit ihrer wilden Musik die rechte Stimmung hinein, die Zigeuner – und der feurige Wein, den der Graf freigebig für alle seine Dienstleute gespendet hatte. Auch die Kinder trugen ihre Gedichte ganz tapfer vor, ohne stecken zu bleiben. Der Graf dankte mir sehr freundlich für meine Aufmerksamkeit, und dann stellte er mich seiner jungen Frau als ihren Landsmann vor. Sie reichte mir ihre Hand – so eine kleinwinzige Hand; drei von der Größe hätte ich in meiner Tatze verschwinden lassen können! Sie war so jung und so schön! Mit ihren dunkelblauen großen Augen strahlte sie mich an. Das Blut schoß mir in den Kopf, es rauschte mir in den Ohren, ich hörte gar nicht, was sie zu mir sprach. – Es gab ein wundervolles Souper, an dem der Haushofmeister, der Administrator, der Rendant mit ihren Frauen, die Französin und ich teilnehmen durften. Und nach dem Essen gingen wir in das Musikzimmer. Die Frau Gräfin wollte den Flügel probieren. Dann sang sie uns ein paar deutsche Lieder und Arien vor. Ich hatte nie eine solche Stimme gehört und solch eine Kunst des Gesanges. Ich war nicht sehr musikalisch, obgleich ich ein wenig Geige spielte; aber so viel verstand ich doch, daß dies meisterhafte Gesangskunst war. Ich hatte sehr wenig getrunken bei Tische, denn ich wußte, daß ich nicht viel vertragen konnte, und ich war doch wie berauscht. ›Frau Gräfin müssen sehr glücklich sein,‹ sagte ich. Ganz keck ging ich auf sie zu, nachdem sie geendet hatte, um ihr das zu sagen. Sie lachte mich freundlich an und legte ihren Arm auf den des Grafen. Sie hätte auch alle Ursache, glücklich zu sein, sagte sie fröhlich. Sie sprach wie ein ganz junges Mädchen und lachte wie ein Kind, so glücklich war sie. Ich Tölpel aber erwiderte: ›Nein, das meine ich nicht. Weil Sie so schön singen können, müssen Sie sehr glücklich sein, meine ich.‹ Da lachten sie mich aus alle beide. Und der Graf sagte: ›Teremtete barátom, unmäßig höflich sind Sie gerade nicht.‹ Ich konnte mich kaum auf den Füßen halten, so verwirrt war ich. Sie lachten alle, die Herren und die Damen, auch die, welche gar nichts verstanden hatten, und ich zog mich aus dem Kreis zurück. Nur ganz von ferne wagte ich, sie anzuschauen. Sie war so jung und so schön! Und der alte Graf war so verliebt – o, Sie können sich nicht vorstellen, wie er sie anschaute; er dachte wohl, man merke es nicht. Er unterhielt sich auch mit allen seinen Leuten und trank ihnen allen zu, denn es wurde fortwährend noch Champagner herumgereicht. Aber ich sah es wohl, wie seine Blicke an der feinen Gestalt der schönen, jungen Gräfin hingen. Seine Augen kamen mir heiß und grausam vor. Ich hätte aufschreien mögen und mich zwischen sie und den Grafen stellen, um diese Blicke von ihr abzuwenden, die sie brennen mußten, wie glühendes Eisen, meinte ich. Ich glaube, ich haßte meinen guten, gnädigen Herrn. Armer König Marke! Sie kennen doch König Marke?«

Ich nickte nur mit dem Kopfe. Er versank in Stillschweigen und starrte finster brütend vor sich hin. Niemand von uns sprach ein Wort. Erst nach einer längeren Weile hub er wieder an zu reden. Mit fest aufeinandergepreßten Zähnen knirschte er vor sich hin. Nur hin und wieder war ein Wort zu verstehen. »Schuft – elender, undankbarer, verräterischer Schurke!« Er suchte voll grimmiger Verbissenheit die schlimmsten Ehrentitel für sich zusammen. Plötzlich lachte er hart auf, ergriff mich beim Handgelenk und rief laut: »Wissen Sie, was ich mit dem Kammerdiener gemacht habe, der sich einmal unehrerbietig über die Gräfin äußerte? Ich habe ihm drei Zähne aus dem Lästermaul und die Nase zu Brei geschlagen. Und der gute König Marke hat mich dafür gelobt. – Viele von den vornehmsten Herrschaften der Umgegend kamen nicht mehr zu uns. Oder wenn sie kamen, ohne ihre Damen – weil unsere Frau Gräfin ihnen nicht fein genug war. Denn sie war keine ›Geborene‹; ihre Mutter sei Wäscherin gewesen, sagten sie. Es war aber nur der Neid, weil sie viel, viel schöner war als alle die andern Damen, und weil sie so hell lachen konnte wie ein Kind und Triller schlagen wie eine Nachtigall. Viel, viel zu fein war sie für die Gesellschaft. Gerade deshalb verfolgten sie sie mit böser Nachrede und suchten sie zu kränken, wo es ging, ohne daß ihnen der Herr Graf etwas anhaben konnte. Wie ich sie alle verachtete! Und die alte Französin haßte ich; denn sie suchte die Kinder gegen die Stiefmutter einzunehmen. Ich hatte jetzt meine Not mit den Kindern. Sie sagten, sie brauchten der neuen Frau Mutter nicht zu gehorchen, und mir wollten sie auch nicht mehr gehorchen, weil ich gedroht hatte, sie zu schlagen, wenn sie das noch einmal sagten. Hätte ich nur lieber mich selbst geschlagen, totgeschlagen, ehe der Teufel mich ganz in seine Gewalt bekam. Ich wußte es ganz genau, daß es nicht gut enden konnte. Aber es hätte nichts mehr geholfen – auch die Flucht nicht; nur ein rasches Ende konnte da helfen. Aber wenn ich sie lächeln sah, dann war's aus mit den guten Vorsätzen. Du mußt leben, um sie noch einmal lächeln zu sehen. Nur noch ein einziges Mal! Sie lächelte jetzt nicht mehr soviel wie früher. Meine Galgenfristen wurden immer länger. Sie hatte so vielen Ärger – und dann glaubte ich auch, fing sie an, sich zu langweilen auf Nagy-Pálony. Sie konnte doch nicht alles so haben, wie sie es gewohnt gewesen war in Wien. Und der alte Graf konnte auch nicht immer bei ihr sein. Er mußte oft über Land oder gar in die Hauptstadt, in Geschäften. Und dann freute ich mich, ich ehrloser Schurke! Ich freute mich, obwohl ich ganz genau wußte, was für Höllenqualen der Teufel in mir für mich bereit hatte, so oft die Gräfin allein im Schlosse zurückblieb.«

Er seufzte tief auf und drückte seine beiden großen Fäuste auf seine Augen. Dann fuhr er, seine Stimme zu einem heiseren Flüstern abdämpfend, also fort: »Das ging so fort, bis mitten in den Sommer hinein. Da ging meine Kraft zu Ende. Ich wußte, daß etwas kommen mußte, etwas Schreckliches, und ich war auf alles gefaßt. Anfang dieses Monats reiste der Graf in dringenden Geschäften nach Budapest. Vierzehn Tage gedachte er auszubleiben. Mit entsetzlicher Langsamkeit schlichen die Tage für mich dahin, und noch viel langsamer die Nächte. Ich fand fast keinen Schlaf mehr. Ich sah die Gräfin nur bei den Mahlzeiten. Überall sonst wußt' ich ihr aus dem Wege zu gehen, weil ich eine namenlose Angst vor allem Alleinsein mit ihr hatte. Und dann konnte ich es auch nicht mehr ertragen, mit ihr bei Tische zu sitzen, obwohl die Kinder und die Französin dabei waren. Ich ließ mich krank melden, um die Mahlzeiten auf meinem Zimmer einnehmen zu dürfen. Am letzten Abend vor der erwarteten Rückkehr des Grafen – es war ein so schöner Abend, ich glaube, alle Fenster im ganzen Hause waren offen – da hörte ich sie unten singen. Und wie ich ging und stand, ohne mir erst einen besseren Rock anzuziehen, ohne Manschetten sogar, lief ich die Treppe herunter mit meinen längsten Schritten und in das Musikzimmer – ich lief so rasch, damit mich ja nicht etwa ein vernünftiger Gedanke, einer von diesen quälenden, guten Vorsätzen einholen und aufhalten sollte. Ohne anzuklopfen betrat ich das Musikzimmer und ging bis dicht an den Flügel heran und fragte, ob ich zuhören dürfte. Ich weiß nicht mehr, was sie antwortete. Ich wäre auch nicht gegangen und wenn sie mich hätte hinausjagen wollen. Aber sie sang doch. Sie sang mit ihrer süßen Stimme von Liebe, von nichts als lauter Liebe sang sie. Und ich saß in einer Ecke und hörte ihr zu, bis sie sagte, daß sie nicht mehr singen wollte. Da ging ich zu ihr und nahm ihre kleinwinzige Hand zwischen diese beiden großen Tatzen. Ich sagte nichts; aber sie wußte, daß ich ihr danken wollte. Und ich sah ihr in die Augen, und ihre Augen fragten mich ganz ernsthaft. Sie wurde blaß und griff mit einer Hand hinter sich nach dem Flügel. Nun wußte sie es also. – Ich ging hinauf auf mein Zimmer und lehnte zum offenen Fenster hinaus. Ich hörte die Stunden schlagen; die große alte Uhr unten in der Vorhalle immer um eine, zwei Minuten voraus. Und dann kam die Glocke vom Kirchturm hinterdrein. Es gehörte sich so, daß die herrschaftliche Uhr vor der Dorfuhr das Wort nahm, dachte ich und lachte darüber. Das war aber das einzige, was ich dachte. Ich weiß nicht, wie mir sonst die Zeit verging. Ich war ganz ruhig. Aber beim ersten Schlage der Mitternachtsstunde war es mir, als ob ein fürchterliches Sausen sich in der Luft erhöbe. Ein blutroter Schein erleuchtete plötzlich den ganzen Himmel, und ein glühender Hauch schlug mir ins Gesicht. Es war mir, als wenn meine Haare in Flammen stünden. Ich deckte beide Hände über meinen Kopf und duckte mich zur Seite. In dieser Stellung horchte ich, ob auch die Dorfuhr zwölf schlagen würde. Tat sie es nicht, dann sollte es nicht sein, das, wozu ich jetzt entschlossen war. Aber sie schlug doch – ich zählte bis zwölf, es mußte geschehen. – Auf den Strümpfen schlich ich die Treppe hinunter, im Finstern; ich brauchte die Augen nicht zu dem Weg, den ich ging. Und ich schritt lautlos durch die weiten Gemächer bis an die Tür ihres Schlafzimmers. Da ging die Tür von selbst auf, und auf der Schwelle stand die Gräfin. Die Lampe brannte noch bei ihr, mit dem roten Schirm darüber. Alles war in Rot getaucht – auch das weiße, faltige Gewand, das sie an hatte. Ihr Haar, das wunderbare, weizengelbe Haar mit dem roten Schimmer von der Lampe darüber, das hing ihr aufgelöst über die Schultern und tief herab. Und die weiße Kehle, aus der die Nachtigallentriller kamen – ich sah nur diese Kehle – und da packte mich die Raserei und ich spreizte meine plumpen Tatzen weit auf, um ihr die Kehle zuzudrücken. Sie sollte nicht schreien. Aber denken Sie, daß sie Furcht zeigte? O nein; sie blieb ruhig stehen und lächelte und sagte nur ganz leise: ›Endlich ich wußte es ja.‹ Ich sank vor ihr auf die Knie nieder, und sie zog die Türe hinter mir ins Schloß.«

Er schwieg. Er keuchte schwer. Abwechselnd schloß und spreizte er die Finger und rieb die Handflächen auf seinen Knien trocken. Herr von Szépácsnyi hatte seine Virginia ausgehen lassen und beobachtete aufmerksam sein Gebaren. Ich suchte seinen Blick, aber er vermied es, mich anzuschauen. Der Kammerdiener oder was er war, hatte sich allmählich aus seiner Ecke herausgeschoben und saß nun dicht neben meinem unheimlichen Nachbar.

Durch zwei Stationen waren wir bereits ohne Aufenthalt hindurchgedonnert, ehe er wieder zu reden begann. Es war Abend geworden im dämmerigen Coupé. Die Lokomotive ließ einen langgezogenen Pfiff ertönen, und ein andrer Zug kreuzte rasselnd dem unseren vorbei.

Da fuhr mein Nachbar endlich aus seinem fieberischen Brüten auf und rief heiser: »Der Graf! Der Graf! Es war schon Tag, blutrot der ganze Himmel wie um Mitternacht. Aber so früh hatten wir ihn nicht erwartet. Ich hörte seine Stimme unten in der Vorhalle, und ich floh. So erbärmlich feige war ich, daß ich entfliehen konnte! Anstatt daß ich tat, was doch das einfachste war: sie erdrosseln und dann auch mit mir ein rasches Ende machen. Das wäre gestorben gewesen wie ein Gott! Aber ich lief davon, ich rannte die Treppe hinauf, die Bodentreppe, wissen Sie, die schmale Bodentreppe. Das ganze Haus war schon auf, sie hatten mich alle gesehen. Und die Kinder waren aus ihrem Schlafzimmer herausgekommen und hatten nach mir geworfen, ich weiß nicht womit. Ich hörte sie schreien hinter mir, und an meinem Kopfe flog etwas vorbei. Aber die Bodentür war zu, verriegelt und verschlossen. Ich hörte die Hunde hinter mir bellen und die Kinder schreien, und ich warf mich mit aller Kraft gegen die Tür. Einmal, zweimal, dreimal, da rissen sich die eisernen Krampen aus den Nägeln, das Vorlegeschloß und der Riegel polterten herunter und ich stürzte vornüber auf die Dielen. Der halbe Boden stand voll alter Möbel, denn es waren einige Zimmer neu eingerichtet worden für die junge Gräfin. Und ich nahm einen Stuhl und schleuderte ihn gegen die beiden großen Hunde, die eben die Treppe hinaufsprangen. Aber was ist ein Stuhl? Ein Kieselstein gegen ein Rudel Wölfe geschleudert! Und ich schob eine schwere Kommode bis an die Tür und stürzte sie die Treppe hinunter. Ein Kind konnte darüber hinwegklettern. Das war ja auch nichts wert. Und ich stieß den Kleiderschrank um mit einer Hand, und dann stemmte ich ihn mit den Händen und den Knien fort, und hurra! die Treppe hinunter mit ihm. Aber es war, als ob man ein Leck mit Sägespänen stopfen wollte, ein elendes Häufchen Trümmer; wie wenn man aus losem Sand einen Kegel formen wollte: es sickert alles so an den Seiten herunter wie nichts und wird und wird nicht höher. Und ich nahm alte Koffer und Betten und ein Dutzend Stühle und Tische – da war es endlich genug. Die ganze Treppe war ausgefüllt und bis oben an die Decke reichte die Barrikade. Nun war ich zufrieden. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ich war ganz lustig, die schwere Arbeit hatte mir so wohl getan. Ich sah mich um auf dem leeren Boden und lauschte. Merkwürdig: es war eine Totenstille. Ich hatte noch das wahnsinnige Geschrei meiner Verfolger in den Ohren und das Krachen und Poltern der Möbel auf der Treppe – und nun auf einmal diese Grabesstille!

»Ich stand und horchte: ich horchte angestrengt, den Blick fest auf die Bodentür gerichtet. Es wurde mir unheimlich, daß ich so gar keinen Laut vernehmen konnte. Ich begann zu zittern, und an meinem Rückgrat kroch es kalt herauf wie zwei langsam vorwärts tappende eisige Finger. Und dann hörte ich plötzlich hinter mir einen merkwürdigen Ton oder eigentlich zwei Töne, fein und schrill. Ich lauschte gespannt. Es klang, wie wenn man auf der Geige, immer abwechselnd, das e auf der leeren Saite und dann das mit dem vierten Finger auf der A-Saite anstreicht – ein mattes und ein helles e – immerzu. Es war ohne Zweifel eine Geige und jemand stand hinter mir, der die Geige strich; aber ich wagte nicht, mich umzuschauen. Und jetzt kam es näher. Von der Seite her bohrte sich der Ton in mein Ohr – ein paar Schritte noch, da mußte ich ihn sehen, der so wahnsinnig öd und schaurig geigte. – Und da war er! Er ging immer weiter; ganz ruhig setzte er ein Bein vor das andre, lautlos, taktmäßig beschrieb er seinen Kreis um mich herum. Und immerfort e ... e ... leere Saite, vierter Finger. Er war ungefähr von meiner Größe, ganz dürr und steckte in einem lächerlich engen, grauen Anzug. Ein Zigeuner war es nicht; es war überhaupt nichts Menschliches – nichts, was jemals ein Mensch gehört oder gesehen hat. Er hatte ein Gesicht, denn es waren ein Paar Augen darin, schwarze, kleine Augen, wie kleine, blanke, harte Stiefelknöpfe; sonst hatte das Gesicht gar keine Form. Es war schwärzlich grau und rissig wie die Schale einer Kartoffel, die man in Asche gebacken hat. – Und nun war's wieder hinter meinem Rücken, lautlos marschierte es weiter, immer im Takt e ... e ... leere Saite, vierter Finger ... Ich stand wie festgenagelt auf meinem Fleck und vermochte kein Glied zu rühren. Und doch war mir's, als drehte sich mein Oberleib immer gleichmäßig mit dem Fortschreiten des Geigers herum, als würde mir das Rückgrat in meinem Leibe abgeschraubt, so ein Gefühl hatte ich. Und es wandelte immer im Kreise um mich herum. Wie oft, weiß ich nicht; aber die Kreise wurden immer enger und das e immer schriller – und jetzt stand es vor mir still. Es nahm die Geige unter den Arm und zog die Schraube am Frosch an, daß sich der Haarbezug straffte, dann setzte es die Spitze des Bogens gegen einen schrägen Dachbalken und prüfte, vorsichtig drückend, die Spannung. Und nun faßte es mich fest ins Auge, zielte sorgfältig – und stieß mir den Bogen mitten durchs Herz. Es tat gar nicht weh. So leicht bohrte er sich durch, als ob das Herz weiche Butter gewesen wäre. Ich brach zusammen und lag lang ausgestreckt auf der Diele. Aber ich war noch nicht gleich tot. O nein! Ich sah noch, wie es den Bogen wieder herauszog und sorgfältig an seinem Ärmel abwischte. Dann beugte es sich über mich und bohrte mir mit seinen beiden Zeigefingern ganz sanft und rein die Augen aus und warf sie gleichgültig beiseite. Und dann hob es den rechten Fuß und setzte ihn auf mein rechtes Auge und dann ebenso den linken Fuß auf mein linkes Auge – und so – glitt es in mich hinein, die ganze Gestalt – ganz mühelos, als ob da gar nichts weiter dabei wäre. Das war das letzte. – Von da ab weiß ich nichts mehr. Ich weiß nur, daß es in mir ist, daß es mich mit sich selbst durchdrungen hat, ganz und gar bis in die letzte Pore. Da sehen Sie mich vor sich. Ich existiere, ich atme, ich rede; es ist doch gar kein Zweifel an mir, aber ich bin nicht mehr ich – ein Wildfremder bin ich mir geworden. Niemand kennt mich!

Ich habe sie alle wiedergesehen. Der Graf hat mich auf die Schulter geklopft, die Kinder haben mir die Hand gegeben und die Gräfin hat mir selber Zucker in den Tee geworfen und ganz freundlich dabei gelächelt, als ob nichts passiert wäre. Aber niemand konnte mir sagen, wer ich bin. Kein Mensch weiß es! Aber ich habe meinen Kopf darauf gesetzt, es zu erfahren – und wenn ich die ganze Welt von einem Pol bis zum andern durchwandern müßte! Bemühen Sie sich nicht, mein Herr, ich seh' es Ihnen an, Sie wissen ja auch nichts.«

Er lehnte sich gegen das Polster zurück, ein verächtliches Lächeln spielte um seinen Mund.

Ich saß da wie erstarrt. Meine Hände waren eiskalt, die grausige Erzählung hatte mein Blut stocken gemacht. Ich war nur heilfroh, daß er keine Meinung von mir hören wollte. Erst nach einer längeren Weile wagte ich es, gewissermaßen hilfesuchend nach Herrn von Szépcsányi hinüberzublicken. Der spielte mit den weißen Fingern in seinen glänzend schwarzen Bartkoteletten und lächelte. Er vermochte es wirklich, zu lächeln – nach einer solchen Erzählung! Welch ein abgebrühter Zyniker mußte das sein! Und jetzt beugte er sich vor, klopfte dem armen, wahnsinnigen Menschen freundschaftlich aufs Knie und sagte: »Wissen S', mein Lieber: es ist doch jammerschad, daß S' den Mann net um sein' Namen g'fragt haben, bevor er eing'stiegen is.«

Herr Hagemann fuhr auf, runzelte die Stirn und sah seinem Gegenüber mit finsterem Ernst in die Augen. Dieser hielt den Blick ruhig aus, der andre lehnte sich wieder zurück, starrte nach der Decke und murmelte nachdenklich vor sich hin: »Ja, das hätte ich freilich tun sollen. Aber das ist nun zu spät. Vielleicht hatte er auch gar keinen Namen. Wie kann man einen Namen haben, wenn man kein Gesicht hat!« Und er versank in tiefes Nachdenken.

Auf der nächsten Station wurden die Lampen angezündet. Herr Hagemann war nun ganz ruhig geworden. Eine Weile noch starrte er in die Lampe, dann sank ihm das Haupt auf die Brust, und bald war er fest eingeschlafen.

Sobald ich dessen sicher war, setzte ich mich zu Herrn von Szépcsányi hinüber und fragte ihn, was das alles zu bedeuten habe. Er stellte sich mir als Direktor einer Privatirrenanstalt in Pest vor und entschuldigte sich, daß er mich durch die Gegenwart eines Wahnsinnigen, den er mit Hilfe des Wärters in seine Anstalt überzuführen im Begriff sei, habe belästigen müssen. Es sei leider kein leeres Coupé vorhanden gewesen.

»Aber sagen Sie mir um Gottes willen, was ist denn Wahrheit an dieser ganzen entsetzlichen Geschichte?«

»Nichts. Oder so gut wie nichts,« versetzte der Arzt achselzuckend. »Der ›edle, hochherzige Graf›, der ›arme König Marke‹ ist ein alter Lebemann, der die Dummheit begangen hat, eine hübsche Wiener Operettensängerin trotz ihrer sehr pikanten Vergangenheit zu heiraten. Der arme Teufel da hat sich heillos in sie verbrennt. Die Gräfin wird ihm halt ›Augen‹ gemacht haben, und er hat sich darum was eingebildet. Passiert is nix zwischen ihnen, aber auch rein gar nix. Er leidet, wie soll ich sagen: an Hypertrophie des sittlichen Bewußtseins; sein überzartes G'wissen hat ihn verrückt gemacht. Ein tragischer Fall, gelln S'?«

»Haben Sie Hoffnung, ihn zu heilen?«

Er zog die Achseln bis fast an die Ohren hinauf.


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