Ernst von Wolzogen
Die Gloriahose und andere Novellen
Ernst von Wolzogen

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Werthers Leiden in Sexta.

Eine Berliner Geschichte.

Im äußersten Osten der Reichshauptstadt, in einer Gegend, welche der anständige Mensch höchstens vom Hörensagen kennt, und wohin der Droschkenkutscher aus dem Herzen der Stadt sich nur allmählich zu fahren entschließt, nachdem er durch einige blühende Redensarten dem Fahrgaste die Kühnheit seiner Zumutung klar gemacht, in einer solchen »schönen Gegend« war eben wieder ein riesiges Haus fertig geworden, ein feiner, stilvoller Neubau. Es fehlte nicht das ehrfurchtgebietende Portal mit den schweren, eichenen Torflügeln, nicht die falschen Marmorsäulen am Aufgang, nicht die bunten Fenster mit den Butzenscheiben an den Treppenwendungen, die mit blanken Messingstangen befestigten Läufer – bis zum ersten Stockwerk wohlverstanden! Dort hörten die Butzenscheiben auf, um glattem, buntem Glase, die Teppiche, um Fasermatten Platz zu machen, und im dritten Stock wurden die Scheiben weiß und die Läufer – gemalt! Kaum hatte der letzte Handwerker mit Farben- oder Kleistertopf das Feld geräumt, als die Möbelwagen vor dem stolzen Bau auffuhren, die Gardinen an den Fenstern und die Blumentöpfe auf den Balkons erschienen. Acht Tage später bewies eine vieldutzendköpfige Kinderschar, welche von Sonnenaufgang bis Untergang im Torweg, im Hof, auf dem Bürgersteig vor dem Hause lachte, lärmte, sich balgte, heulte und tobte, daß Vorder- und Hintergebäude bis unter das Dach besetzt seien.

Eine wahre Mördergrube war in der einen Woche aus dem heuchlerischen Mietspalast geworden. Fast an allen den gewaltigen Männerfäusten, die von den klatschneuen, feuchtkalt dünstenden Wohnräumen Besitz ergriffen hatten, klebte Blut; allen den wässerigen, vom Fette der Umgebung schier überwucherten Äuglein, die hier über das Wohl ihrer Familien wachten, war das letzte Zucken warmer Leichname ein gleichgültiger Anblick; all den großen, roten Ohren das Todesröcheln unschuldiger Opfer ein so gewohntes Geräusch, wie das Rasseln der Lastwagen auf der Straße. In der »Beletage« – der reichgewordene Berliner streicht sich den Schmerbauch, wenn er das schöne Wort hört! – wohnte der frühere Großschlächter, jetzige Rentier Schulze, im ersten Stock der Fettviehhändler Meyer, im zweiten Stock die Schlächtermeister Müller rechts und Neumann links, im dritten Plümicke und Piefke von demselben Gewerbe und im vierten der Bureauvorsteher Thielemann rechts und seine Untergebene, die Fleischbeschauerin und Witwe von Barchwitz links. Und auch in dem vollgepfropften Hinterhause war das blutige Gewerbe zahlreich vertreten, von dem protzigen Schlächtergesellen, unter dessen hochaufgebauschter Seidenmütze bereits die kühnsten Träume brauten von Landauern auf Gummirädern, Marmortreppen und Livreedienern – bis herab zum kleinen Fetthändler, zum Darmschlemmer und zum jovialen »warmen Jauerschen«, der nie über einen erkälteten Magen zu klagen hat, weil ihm der Blechkasten vor dem Unterleib die ganze Nacht nicht kalt wird. »Warm sind se noch, kalt werden se doch – riechen Se bloß mal dran, Herr Jeheimrat!«

Das Ziehwetter war ausnehmend schön gewesen. So warmer Oktobertage wußten sich die gezogensten Berliner Mietsodysseuse nicht zu entsinnen. Auf dem engen Balkon des vierten Stockwerks, der durch eine hölzerne Scheidewand noch geteilt war, stand ein allerliebstes, kleines Mädchen von etwa zehn Jahren, klammerte sich ängstlich an die Brüstung und lugte vorsichtig hinunter in den schwindelerregenden Abgrund der Straße. Sie war es noch nicht gewohnt und mußte einen Schritt zurücktreten, denn es wurde ihr schwarz vor den Augen. Sie blickte über das Meer der Schieferdächer hinweg, das endlos sich vor ihr dehnte und im Abendsonnenlichte glühte und flimmerte. Den Rathausturm sah sie fernher ragen, aber darüber hinaus verschwamm alles in dem blendenden Rotdunst des schillernden Widerscheins. Wieder mußte das Kind die Augen erschrocken schließen. Und dann blickte es nach Osten hinaus, in das freie Feld, das in dürrer, trostlos sandiger Öde zu den Füßen der Weltstadt herankroch, so hündisch demütig, kraftlos gleichgültig, als ob es die Riesin um neue Fußtritte anbetteln wolle, um nur ja auch noch unter dem weiten Saume des tausendfältigen Schleppkleides ein Plätzchen zum warmen Hinkuschen zu finden! Ein kühler Wind erhob sich von der Wüstenei, spielte mit den goldigen Locken des Kindes und trug an seine unentweihten Ohren den grausigen Verzweiflungsschrei der gequälten Kreatur, den gedämpften Widerhall des furchtbaren Todesorchesters, welches in dem nahen Zentralviehhof alltäglich vor tauben Menschenohren seine erschütternden Symphonien spielt!

Ein Frösteln lief über den jungen Leib, das kleine Herz zog sich schaudernd zusammen, und um den schalkhaft weichen Mund zuckte es, wie wenn nun gleich aus diesen sonnenklaren Augen Tränen brechen wollten. Das kleine Mädchen hätte jetzt hineinlaufen mögen und seinen Kopf in den Schoß der Mutter vergraben mögen und schluchzen: »Oh, Mama, laß uns fort von hier. In der neuen Wohnung darf man ja nicht lachen!« Aber die Mutter war ausgegangen, und sie war ganz allein in den nagelneuen, so untraulich frischen Räumen. Nun hatte sie ihr Myrtenstöckchen auf den Balkon gesetzt, und dann hatte der spielende Abendwind all den trostlosen Jammer des Schlachthauses da drüben so frostig an ihr warmes Kinderherz geweht.

Horch, was war das? Da auf der andern Seite der Bretterwand erklang plötzlich ein anderer Ton, der jenes matt hinsterbende Stöhnen siegesfroh überschaute! Eine hohe, helle Kinderstimme sang: »Was blasen die Trompeten, Husaren heraus.«

Im Nu war die ängstliche Spannung aus den Zügen des Mädchens gewichen. Es schmiegte sich furchtlos an das Geländer des Balkons, beugte sich etwas hinaus und schaute neugierig um die hölzerne Scheidewand herum in die benachbarte Hälfte. Der Gesang hörte sofort auf, und der Sänger, ein Knabe, kaum älter als das Mädchen, starrte mit weit geöffneten Augen die liebliche Erscheinung der Nachbarin an. Das Mädchen lachte lustig auf, weil er gar nichts sagen wollte und ein so erstauntes Gesicht machte. Darauf lachte er gleichfalls, aber nicht halb so übermütig, als die kleine Dame, sondern nur aus Verlegenheit.

»Wie heißt du?« fragte sie.

»Fritz Thielemann«, antwortete er. »Und du?«

»Charlotte von Barchwitz.« Wie selbstbewußt das herauskam und wie stolz und furchtbar schön das klang!

»Von?« fragte Fritz. Er war ganz Ehrfurcht.

»Du brauchst mich aber nur Lotte zu nennen, wenn du nett zu mir sein willst. Willst du?«

Fritz nickte zwar eifrig ein paarmal mit dem Kopfe, aber die Aussicht, zu Charlotte von Barchwitz in das Verhältnis der Nettigkeit eintreten zu sollen, war für ihn noch etwas halb Märchenhaftes. Um sich Gewißheit zu verschaffen, wagte er die Frage: »Ihr seid wohl auch heute eingezogen?«

»Ja, gewiß. Mama holt jetzt erst die letzten sieben Sachen.« Lotte mußte lachen, weil Fritz gerade so aussah, als ob er wirklich meine, es seien gerade noch sieben Sachen zu holen.

»Was seid ihr denn?« fragte der Knabe weiter.

»Meine Mutter ist Fleischbeschauerin.«

Das kam ebenso stolz heraus, als ob es geheißen hätte: Palastdame Ihrer Majestät der Kaiserin-Königin!

»Und ihr?«

»Mein Vater ist der Öberste von allen!« Und dabei reckte Fritzchen die Nase sehr hoch und blickte das Mädchen herausfordernd an, als wollte er sagen: »Na, Lotte Von, was sagst du nun?«

Aber das gnädige Fräulein ließ sich dadurch nicht im geringsten einschüchtern, sondern versetzte vielmehr keck und herablassend: »So? Na dann wird Mama wohl erlauben, daß du mit mir spielen darfst. Gehst du auch in die Schule?«

»Ich bin Sextaner!« Da, Lotte Von, da hast du noch was, dachte Fritz.

Aber das Mädchen schien auch diese Würde nicht besonders anzuerkennen, sondern fragte nur weiter: »Habt ihr schon Französisch?«

»Nein, aber Latein!«

»Latein ist Quatsch! Wir sind schon bei Lektion 27 – ätsch!« –

Von dem Tage an waren Fritz Thielemann und Charlotte von Barchwitz nett zueinander.

Beider Kinder Eltern hatten einst bessere Tage gesehen. Herr Thielemann wie Herr von Barchwitz waren vor Jahren wohlhabende Gutsbesitzer gewesen, beide durch schlechte Ernten, mörderische Viehseuchen und die unglückliche Geschäftslage um ihre Besitztümer gekommen. Aber während ersterer sich verhältnismäßig rasch in die so gänzlich neuen Verhältnisse hineinlebte und sowohl sich, wie seinen erwachsenen Kindern leidliche Stellungen zu verschaffen wußte, ging Herr von Barchwitz bald an dem Zusammenbruch aller seiner Hoffnungen zugrunde.

Frau von Barchwitz lebte mit ihrer jüngsten Tochter allein, seit der Gatte vor Kummer und Gram gestorben, die älteren beiden Mädchen in Schanden verdorben waren! Aber alles Elend hatte ihr starkes Herz nicht zu brechen, ihren Lebensmut nicht zu knicken vermocht, der hart und biegsam war wie eine stählerne Klinge. Sie konnte weinen, sie konnte reden – das bewahrte sie vor der Verzweiflung. Und sie hatte zur rechten Zeit mit kühner Entschlossenheit die Mikroskopierkunst erlernt, die Prüfung glänzend bestanden und lebte nun seit drei Jahren von ihrem Verdienst als Fleischbeschauerin und einem erbärmlich knickerigen Zuschuß, den ihr mit hochmütiger Barmherzigkeit ihre wohlhabenden Verwandten zukommen ließen. In die Jugend der beiden älteren Töchter hatte der Zusammenbruch der Verhältnisse wie eine plumpe Bärentatze hineingegriffen. Die Erinnerung an die lufthelle Kindheit ward zu einem giftigen Stachel, der sich immer tiefer in die Seelen der verwöhnten Mädchen bohrte, und darin einen offenen Groll gegen die Eltern, eine heimliche Sehnsucht nach freiem Genusse aller Jugendlust fortwährend zeugte und nährte. Lotte dagegen war im Dämmer der neuen Lage geboren und hatte das Licht des sorglosen Heims nie gesehen. Sie sollte lernen, lernen, lernen, um einst, auf sich selbst gestützt, den einsamen Gang ins unwirtliche Leben antreten zu können. Sie hatte noch nichts verloren – sie konnte nur gewinnen! –

Frau von Barchwitz machte bei den Thielemanns Besuch. Der Mann stand zwar nicht derselben Abteilung, in welcher sie arbeitete, vor, aber es war doch immer gut, freundnachbarliche Beziehungen zu der Familie eines Vorgesetzten herzustellen. Der Anschluß der beiderseitigen Kinder aneinander wurde von der Witwe wie von Frau Thielemann gleich gern gesehen, besonders aber von der letzteren, da ihr Fritz so gut wie keinen Umgang mit gleichaltrigen Knaben hatte und seine Freistunden kümmerlich genug in der engen Wohnung vertrauerte. Der arme Junge war zu schwach, um in dem wilden, kraftvollen Toben seiner Kameraden lange mittun zu können; er wurde dadurch oft die Zielscheibe ihres Spottes und konnte sich doch nicht mit der Faust, wie die andern, der Kränkungen erwehren. Das alles machte ihn scheu und ofenhockerisch, trotz seiner Furcht vor dem Vater, der seine Feigheit und Faulheit immer von neuem rügte. Und da war nun der goldige Mädchenkopf Lottes über der Bretterwand des gemeinsamen Balkons aufgetaucht und hatte wie die Lenzessonne selbst sein märzkühles Kinderdasein durchwärmt und durchleuchtet.

Wenn es eine Liebe auf den ersten Blick gibt, so war sie an jenem Abend in Fritz Thielemanns jungem Herzen aufgeblitzt. Alles, alles in der Welt ward ihm dies kecke kleine Ding. Er liebte seine Mutter, aber sie war still und unlustig – was war ihre Liebe im Vergleich zu der des lauten, lustigen Mädchens, das mit seinem glöckchenklaren Lachen alle die häßlichen Kümmernisse aus seiner Seele hinausklingelte! Er hing an seiner großen Schwester, obwohl sie in der quängeligen Gouvernantenart aller »großen« Schwestern sich fortwährend an seiner Erziehung beteiligen wollte – aber wie anders hing er an dieser neuen, kleinen Schwester, die ihn doch brauchte zu ihrer Glückseligkeit, wie sehr auch sie ihn oft durch ihr Besserwissenwollen und ihre übermütigen Launen reizte. Er liebte seinen Vater – doch nein, den liebte er nicht, den verehrte er nur angstvoll! Und diese Angst und all den stillen Gram darüber, den er sonst in sich verschließen mußte, konnte er nun der ernsthaft lauschenden, kindlich tröstenden Gespielin anvertrauen. So ward sie ihm Vater, Mutter und Schwester in einer Person.

Kinder, und vornehmlich schwächliche, freudarme Kinder, entwickeln nicht selten eine Liebeskraft, die der Leidenschaft so ähnlich sieht, wie der Löwin die Katze, und diese Liebeskraft wirkt mächtiger auf die Entwicklung ihres innersten Wesens ein, als alle Kunst und Sorgfalt der Erzieher es vermöchte. Und es ist eine der vielen, dummen Lügen, die man so oft hört, daß sie einem als bewiesene Wahrheiten erscheinen, daß die Kindheit den Kummer, die bissige Seelenpein, nicht kenne. Fritz Thielemann war ein ziemlich begabter Knabe, er lernte nicht eben schwer und konnte sich doch nie genug tun in seiner Gewissenhaftigkeit, bis er seine Aufgabe ganz sicher im Kopfe hatte. Und doch erwartete er in der Klasse mit bang klopfendem Herzen die Fragen des Lehrers, weil er wußte, daß er doch seine Fassung verlieren konnte, und daß er dann trotz seines redlichen Fleißes gescholten werden würde. Und wenn vollends jenes nichtswürdige, unsinnige Fragehetzen von Reihe zu Reihe anging, dann zitterte er an allen Gliedern vor Aufregung – er wußte ja die Antwort! – und nun kam er daran – und stotterte, stotterte und wurde ausgelacht und am Ende mit den dümmsten und faulsten Genossen mit heruntergesetzt. Und was will es für einen schwächlichen Körper heißen, vier bis fünf lange Stunden auf einer harten Bank zu sitzen und eine gerade Haltung zu bewahren! Ist es auch nur möglich, bis zum Schluß jeder Stunde die Aufmerksamkeit gespannt zu erhalten? Fritz war ein phantasievoller Knabe – wenn sein Leib müde wurde, begann sein Geist träumend zu wandern, und dann schreckten ihn die Fragen des Lehrers wie ein Schlag ins Gesicht empor – und wieder ward Hohn sein Schicksal, und die Tadel im Klassenbuch häuften sich, die Zensur konnte nicht gut ausfallen – und daheim erwartete ihn als erste Feriengabe die harte Züchtigung des Vaters. Ist das nicht Leids genug, um eine junge, zarte Seele ganz und gar mit dem bitteren Vorgeschmack grausamen Weltwehs zu erfüllen? Die Jugend vergißt, die Jugend hofft – aber sie leidet auch, und sie kann auch verzweifeln!

Armes Kind, wenn in heißen Sommernächten die Fenster deines Schlafzimmers offen blieben, bebte oft grausig das dumpfe, todesbange Aufstöhnen der Opfertiere von jenem großartigen Palaste der weltstädtischen Schlächterei zu dir herüber, weckte ein leise aufschluchzendes Echo in deiner Brust, und du quältest dich weinend in den tröstenden Schlummer – den glücklichen Schlummer der goldenen Kindheit!

Lotte freilich wußte nichts von solchen jungen Leiden. Sie war gesund und kräftig, lernte leicht und gern, ließ sich in der Schule durch nichts irre machen und war eine so gute Schülerin, daß man ihr auch ihre unnützen Possen nachsah und die schönsten Zensuren mit heimgab. Sie herrschte überall, wo sie auftrat, und alle ihre Altersgenossinnen ergaben sich willig darein, denn sie fühlten wohl, daß sie nicht nur die hübscheste, sondern auch die klügste von ihnen allen sei. Ihr aber schienen die Spiele der Mädchen zu dumm und zahm, und es reizte sie auch, über Knaben zu herrschen. Die neue Nachbarschaft brachte ihr zum erstenmal einen solchen näher, und wie Fritz sich ihr mit ganzem Herzen hingab, so nahm sie ihn vergnügt als ihr Eigentum ganz und gar in Beschlag. Ihre Neigung hatte nichts Schwärmerisches an sich, sie war wohl stark genug, aber kindisch-egoistisch. Das Wesen der Geschlechter war einfach vertauscht, wie es bei solchen Kinderlieben meistens der Fall zu sein pflegt. Lotte liebte männlich, Fritz weiblich – und das fanden auch beide Teile ganz in der Ordnung: nur hätte freilich Lotte gewünscht, daß ihr Freund ein wenig bubenhafter, kecker und weniger ehrbar wäre; aber es schmeichelte ihrer Eitelkeit doch wieder, daß er ihr wie ein echter, kleiner Kavalier durch allerlei Aufmerksamkeiten, kleine Hilfeleistungen und Zuvorkommenheiten seine Huldigung darbrachte. Er schleppte den Stuhl für sie heran, gab ihr von etwaigen Leckerbissen die größere Hälfte ab, ließ sie zuerst aus der Türe gehen, trug ihr die Schultasche ein Stück Weges und bot ihr sogar seinen Arm an, als sie einmal zusammen über die Straße zum Kaufmann geschickt wurden. Das letztere fand Lotte einfach lächerlich, aber sie mochte es doch gern. Das kleine Liebespaar war bald unzertrennlich. Kaum waren sie aus der Schule heimgekommen, kaum hatten sie sich Zeit gegönnt, ihr Mittagbrot zu verzehren, als auch schon Fritz zu Lotten, oder Lotte zu Fritz kam, um gemeinsam zu spielen oder auch zu lernen. Sie überhörte ihm seine lateinischen Vokabeln, er ihr die französischen, und es machte ihnen beiden großes Vergnügen, die Brocken ihrer Weisheit untereinander auszutauschen, wie ihre Abziehbilder, Oblaten, Briefmarken oder Süßigkeiten.

Ja, das war ein reines Kinderglück und half dem armen Jungen über die bitteren Kränkungen der Schulstube und dem Mädchen über die langweiligen Stunden der Einsamkeit hinweg. Es brachte warme Sonnenluft in die grausam neuen Räume. Noch waren die Tapeten naß wie eine Morgenzeitung beim Kaffee, und wenn man nur das kribbelige Muster lange ansah, hatte man schon den Schnupfen weg; doch was wollte dem jungen Volk eine gerötete Nase und eine krächzende Kehle weiter Schlimmes bedeuten, da man ja gemeinsam husten und prusten und doch dabei lustig sein konnte! Aber, ach, kleine Mädchen sind auch schon Weiber, und junges Glück ist auch launisch.

Frau von Barchwitz hatte eine alte Bekanntschaft erneuert. Eines schönen Tages hatte ein Herr Schulze bei ihr vorgesprochen und sich als ein früher bei ihren Eltern angestellter Gärtnerbursche zu erkennen gegeben, der es durch rastlosen Fleiß und einiges Glück zum wohlhabenden Kunstgärtner und Hausbesitzer in Berlin O gebracht hatte. Der Mann hatte zufällig ihren Namen im Adreßbuch gefunden und sich beeilt, seinen Dank für die wohlwollende Förderung seines Strebens, welche ihm einst der alte Herr von Barchwitz angedeihen ließ, der verarmten Frau Tochter abzustatten. Sie folgte sehr gern seiner fast schüchtern vorgebrachten Einladung, ihn und seine Familie zu besuchen, und nahm natürlich auch Lotten mit.

Der Emporkömmling, und besonders der Berliner, der recht weich in der Wolle sitzt, pflegt mit behäbigem Genuß die fetten Flocken den minder Begüterten ins Gesicht zu blasen: aber Schulzes benahmen sich durchaus nobel und bemühten sich ängstlich, die arme Tochter des früheren Gönners nicht durch aufdringliches Zurschaustellen ihres Reichtums zu verletzen. Für Lotte freilich waren allein schon die Fülle der Möbel, die Anhäufung meist geschmacklosen Modekleinkrams, die Teppiche, die schlechten Öldrucke und das alles sinnbedrückende, herzbedrückende Protztümer, deren Anwesenheit sie verstummen machte und sogar ihre Eßbegier herabzudrücken schien, denn sie genoß nur wenig von den schönen Backwaren, welche als Kaffeestipfel aufgetragen worden waren. Sie drehte sich fortwährend auf ihrem Stuhl herum, um wieder und wieder sehnsüchtige Blicke durch die weite Glastür der Veranda in den großen Garten zu werfen.

»Na, junges Fräulein, ich seh's Ihnen schon an« – Herr Schulze sagte aus lauter Bescheidenheit »Sie« zu Lotte – »Sie möchten gern in den Garten. Tun Sie sich keinen Zwang an – was noch im Freien blüht, davon können Sie sich etwas abpflücken. Ich zeige Ihnen nachher auch die Gewächshäuser. Du, Rosalie,« wandte er sich an seine Frau, »unser Hermann muß doch zurück sein?«

Lotte hörte schon die Antwort nicht mehr, sondern sprang, nachdem ihr ein Blick der Mutter die Erlaubnis gegeben, eiligst auf und trollte sich hinaus.

So ein großstädtisches Kind, das seine Lebenswurzeln wie ein trotziges Efeuränklein in Stein und Mörtel gebohrt hat, kommt sich in einem Privatgarten, in welchem es ohne Scheu vor Schutzleuten, scheltenden Kindermädchen und schlafenden Sonnenbrüdern, frei schalten und walten darf, gewiß wie ein Kolumbus vor, der den Boden einer neuen Welt betritt. Der Tiergarten, der Zoologische, der Friedrichshain, und was Lotte sonst von öffentlichen Anlagen kannte, war freilich weit größer und prächtiger – aber die waren eben doch nur zum artigen Spazierengehen – dieser regelrechte, sonnige Kunstgarten dagegen war ihrer freien Willkür überlassen. Welch ein Spielzeug! Erst wagte sie kaum eine Pflanze zu berühren und sah sich ängstlich nach Warnungstafeln und Parkwächtern um, dann aber wurde sie mutig und pflückte sich flink einen dicken, bunten Asternstrauß zusammen.

Hinter dem Hause befanden sich Turngeräte, ein Reck, ein Barren, eine Schaukel. Ohne vieles Besinnen versuchte Lotte, in letztere hineinzuklettern. Es gelang ihr erst nach längerem vergeblichen Bemühen. Aber das Ding kam durchaus nicht in Schwung, wie sehr das Mädchen auch den Oberleib vorwarf und mit den Beinen schlenkerte. Ärgerlich wollte sie sich wieder herabgleiten lassen, als sie hinter sich ein kurzes Lachen vernahm.

Sie drehte rasch den Kopf über die Schulter. Da stand ein derber Junge, frisch und rot, mit Stulpstiefeln und kurzen Hosen, die Hände in den Taschen. Das wird wohl der Hermann sein, von dem drin die Rede war, dachte Lotte und sah ihn daraufhin genauer an. Er verzog seinen Mund zu einem nicht sehr geistreichen Grinsen und beobachtete sie ebenfalls aufmerksam.

»Na!« rief Lotte endlich, denn es fing an langweilig zu werden.

»Was machst du denn da in meiner Schaukel?« versetzte das Bürschchen auf diese Herausforderung.

»Wie dumm. Schaukeln will ich mich!«

»Na, denn schaukle dir doch.«

»Ach, du . . .! Du könntest mir lieber 'mal einen Schubs geben.«

»So, könnt' ich? Wer bist denn du?«

»Heißt du vielleicht Schulze?«

»Na, selbstredend.«

»Dann frage 'mal deinen Vater, wer ich bin.«

»I, du bist jut, du kannst so bleiben.« Und damit sprang er herzu und schubste Lotte, wie sie verlangt hatte. Die Schaukel flog so hoch, daß das blonde Kind hell aufjauchzte. Es war zu schön, und sie konnte kaum genug davon bekommen.

Nachher turnte ihr der Hermann an den Geräten etwas vor; es war ganz famos, und Lotte klatschte wie im Zirkus nach jeder Glanznummer in die Hände. Dann spielten sie Zeck, und wenn Hermann Lotte einholte, was regelmäßig der Fall war, so gab er ihr jedesmal einen so derben Klaps, daß ihr die Schulter danach brannte. Aber das schadete nicht – dafür war er auch stark genug, sie so hoch zu heben, daß sie beinahe auf den Apfelbaum hinaufgekommen wäre. Auch konnte er Rad schlagen – und da drückt man schon ein Auge zu.

Beide waren kochgar, krebsrot und sehr außer Atem, als die Eltern kamen und für heute das Ende des Vergnügens ankündigten. Erst in der Tür dachte Lotte wieder an ihren älteren Freund daheim. Es zuckten ein paar Gedankenblitze durch ihren Kopf, vor denen die Augen des Herzens sich erschrocken schlossen: Wenn Fritz Thielemann dabei gewesen wäre, wie sich der wohl neben Hermann ausgenommen hätte? Wie ihm das wohl behagt hätte, daß sie so rasch und gründlich mit dem Gärtnersohne Freundschaft schloß? Ob Fritz wohl geweint hätte?

Lotte lief, kurz entschlossen der mahnenden Wallung ihres guten Herzens folgend, zurück und fragte den Papa Schulze, der, ihnen nachschauend, noch in der Türe stand: »Darf ich das nächstemal Fritz Thielemann mitbringen, Herr Schulze?«

»Wenn es Ihr Freund ist, Fräuleinchen, gewiß.«

»Danke, Herr Schulze.« Und sie lief der Mutter nach. Der Hermann hatte neben seinem Vater gestanden und ein böses Gesicht zu ihrer Bitte gemacht. Was tat ihr das? – überhaupt, dieser Hermann Schulze! Er roch ganz bestimmt nach Zwiebeln, hatte nicht sehr saubere Hände und abgenagte Fingernägel! Grob war er auch; sie mußte blaue Flecke am Leibe haben von seinen patzigen Knuffern und Puffern. Aber er konnte freilich Rad schlagen, ja, und dann turnte er doch zu famos – besonders die Sitzwelle! –

Wie blaß Fritz heute aussah! Es fiel Lotte weit mehr auf als sonst.

»Ist dir was?« fragte sie teilnehmend.

Fritz nickte mit dem Kopf, wandte sich ab und fuhr sich über die Augen.

»Doktor Plünnemann?« forschte das Mädchen weiter.

»Ja, er hat mir einen Zettel mitgegeben, den Vater unterschreiben muß. Alle Sonnabend soll ich so einen mitkriegen, wo von der ganzen Woche mein Fleiß, Betragen und Aufmerksamkeit darauf zu stehen kommt.«

»Er hat dich wohl wieder schlecht gemacht, der . . .« und sie ballte die kleine Faust dazu. »Hat's dein Papa schon gelesen?«

Beide Fragen beantwortete der arme Junge mit trübseligem Nicken.

»Tat's weh?« – Dazu machte Lotte eine unzweideutige Handbewegung.

»Ich wollte, Mama wäre nicht dazugekommen – sonst hätt' er mich totgeschlagen!«

Lotte sah ihren Freund voll erschrockenen Staunens an. Er wünschte sich den Tod! Das war zu schrecklich, und sie begann zu weinen und setzte sich weit von ihm entfernt auf einen Stuhl am Fenster. Lange sprach keines ein Wort. Die Uhr tickte langsam, und das lustige Mädchen schluchzte.

Endlich sagte Fritz: »Du, Lotte – wollen wir zusammen fortlaufen?«

»Zu den Zigeunern?« gab sie zurück.

»Wohin du willst.« –

Da trat Frau von Barchwitz mit der Lampe ein.

»Kinder! Was treibt ihr denn da? Habt ihr euch gezankt?«

Beide schüttelten energisch den Kopf, und dann winkte Lotte die Mutter zu sich heran und flüsterte ihr zu: »Darf ich Fritz mein großes Zuckerei von vorige Ostern schenken? Es hat wieder was gesetzt, und er ist so traurig!«

Die Mutter streichelte ihr das blonde Haupt und sagte: »Gewiß, mein Kind, wenn ihn das trösten kann.« Und dann holte sie das große Osterei mit dem Guckloch und der Landschaft im Innern aus dem Schreibtisch, und Lotte legte es behutsam dem Knaben in die Hand und sagte: »Da, Fritz, das schenk' ich dir – du kannst es auch essen.«

Fritz sträubte sich ernstlich dagegen, ein so kostbares Geschenk anzunehmen, und Lotte drohte endlich: »Gut, wenn du es nicht nimmst, brauche ich dich ja auch das nächstemal nicht mit zu Schulzes zu nehmen. Dann siehst du auch Hermann Schulze nicht Rad schlagen.«

Und im Nu hatte Lotte all das Herzeleid, das ihr eben noch der Jammer des kleinen Freundes in die Seele geträufelt hatte, hinausgeworfen, und sie beschrieb dem gespannt Lauschenden mit Entzücken die Herrlichkeiten, die sie bei dem Kunstgärtner geschaut, und rühmte ihm mit beredtem Eifer die großartigen Talente Hermann Schulzes. Sie ahnte nicht, daß sie einen glühenden Brand in das leicht entzündliche Gemüt des Knaben warf, einen Brand, der die erbarmungslose, fressende Flamme der Eifersucht entfachen konnte, wenn sie ihn nicht selbst erstickte durch das kalte Bad eines vorsichtigen, duckmäuserigen Benehmens, das gar nicht in ihrer Art lag.

Mit gespanntester Anteilnahme erkundigte sich Fritz nach allen Einzelheiten ihres Besuches und wollte über die körperliche Leistungsfähigkeit des berühmten Hermann Schulze so genaue Auskunft haben, als ob er ihn als Herkules für eine Kunstreitergesellschaft zu verpflichten hätte. Er wußte nicht, was in seinem Herzen vorging, was für dunkle Ahnungen ihm wirr zu Kopfe stiegen – aber er fühlte, daß seine Pulse rascher klopften und eine seltsame Angst ihm die Brust bedrückte, so daß sein Atem kurz ging, wie nach einem raschen Laufe. –

*

Am nächsten Sonntag gingen die Nachbarskinder allein zu Schulzes in der Frankfurter Allee. Fritz war sehr still, solange die Erwachsenen zugegen waren, und Hermann maß ihn mit geringschätzigen Blicken und schaute dann wieder das kleine Fräulein fragend darauf an, was sie an diesem schwächlichen Bürschchen so Besonderes finden könnte, um ihm so entschieden ihr Wohlwollen, ihren Schutz angedeihen zu lassen. Lotte sah bald den einen, bald den andern von der Seite an, verglich und giftete sich im stillen über Fritzens Ehrpußlichkeit, welche ihnen gewiß den ganzen Spaß verderben würde. Auch ihre Kinderaugen sahen wohl den großen Unterschied zwischen den beiden Knaben, und sie fühlte sich im Innersten dem zartgliedrigen, blassen Fritz blutsverwandter als dem derben, gesunden Handwerkersohne, welcher trotz seiner nicht häßlichen Züge und seiner feinen Kleidung doch seine geringe Herkunft nicht verbergen konnte, besonders in der Sprache, welche seinem Berlinertum alle Ehre machte. Aber trotz alledem, ja vielleicht gerade deswegen, empfand Lotte Fritzens kränkelnde Waschlappigkeit dem frischen Jungenwesen Hermanns gegenüber um so stärker. Wie wunderte sie sich aber, als Fritz, nachdem die Großen sie allein gelassen hatten, plötzlich einen ganz ungewöhnlich lauten, großspurigen Ton anschlug, fortwährend und über nichts lachte und schrie, alles besser wissen und besser können wollte – kurz, sich als Hans Dampf in allen Gassen aufzuspielen begann! Dies hochfahrende Wesen stand ihm jedoch übel zu Gesicht und erregte nur die Spottlust des Gegners, ohne sein Selbstbewußtsein im geringsten einzuschüchtern. – Die Schaukel eröffnete wieder den Reigen der Vergnügungen. Fritz zwängte sich mit Lotte zusammen hinein, Hermann stieß. Das kleine Paar hielt sich eng umschlungen, Hermann sah es mit grollendem Neid und schleuderte die Schaukel so hoch er irgend vermochte. Fritz stimmte zuerst in Lottes Lustgekreisch laut ein, aber schon nach dem dritten Aufschwunge wurde ihm schwarz vor den Augen, alles drehte sich um ihn, ein Alp schnürte ihm die Kehle zu, ihm wurde sehr übel – er biß die Zähne zusammen, er wollte sich nichts merken lassen – nein, es war unmöglich! Mit schwacher Stimme rief er Halt, und dann schmiegte er sich halb bewußtlos an Lottes Schulter.

Hermann Schulze war so boshaft, nicht sofort innezuhalten. Erst auf Lottes zornig herausgeschrienen Befehl tat er es und half den armen Knaben herabheben und nach der nahen Bank geleiten. Mit unheimlich weit hervortretenden, unsteten Augen saß Fritz da und mußte noch die schlechten Witze der Altersgenossen erdulden, über welche schließlich auch Lotte trotz ihres Mitleids lachen mußte. Es war aber auch zu ärgerlich, sich so mit ihrem Freunde zu blamieren!

Die beiden schaukelten allein weiter, Hermann über Lotten auf dem Brett stehend und ihm kräftigen Schwung verleihend. Ja, das war freilich ein anderer Spaß, wie mit dem schwachen Kindchen, dem so schlimm wurde, daß es sich an sie klammern mußte!

Fritz nahm all seine Kraft zusammen und raffte sich rasch genug auf, um an den übrigen Spielen teilzunehmen. Hermanns Turnerkünste ahmte er wohlweislich nicht nach, indem er sich nach bekannter Art entschuldigte mit dem beliebten: »Das haben wir noch nicht gehabt.«

Der Gärtnerssohn war berechnend und schlau genug, um immer wieder neue Verlegenheiten für seinen Nebenbuhler herbeizuführen. Fortwährend wußte er Wetten vorzuschlagen, Gelegenheiten zum Ringen und scherzhaftem Prügeln vom Zaun zu brechen. Fritz nahm alle solche Herausforderungen an, denn er wollte um keinen Preis feig erscheinen, unterlag aber regelmäßig und verschlimmerte die Niederlagen durch seine kindische Großmaulsucht noch bedeutend. Zuletzt wurde es auch seiner Beschützerin zu arg, denn sie ärgerte sich zu sehr über ihn. Erbarmungslos, wie selbst gutherzige Kinder so oft sind, überließ sie ihn der Willkür des Siegers und stimmte selbst mit ein in dessen Neckereien. Und der unglückliche Knabe würgte all die Bitterkeit hinunter und fuhr fort mitzuspielen und sich außer Atem zu laufen und zu schreien.

»Hast du denn deiner Braut auch schon 'n joldenen Ring jeschenkt?« fragte Hermann plötzlich den verdutzten Gesellen – natürlich nur, um ihn in Verlegenheit zu setzen.

»Meiner Braut. Haha!« Fritz lachte krampfhaft, während es ihm innerlich fast das Herz abstieß, daß er darüber so laut lachen mußte, was doch heimlich sein süßester Traum war.

»Der – und einen Ring!« rief Lotte geringschätzig. »Wer mir von euch zuerst einen goldenen Ring schenkt, der soll mein Bräutigam sein!« setzte sie übermütig hinzu. Und dann lief sie ihnen hell lachend davon. An der Haustür erhaschte sie Hermann, umfing sie fest mit beiden Armen und drückte ihr einen schallenden Kuß auf die glühende Wange.

Als die beiden sich wieder nach dem Garten umsahen, war Fritz verschwunden. Er war ohne Abschied gleich nach der Straße hinaus- und davongegangen.

Einen Augenblick schreckte das Mädchen innerlich zusammen: was hatte sie dem empfindlichen Freunde getan! – Aber nein, warum war er eine solche Suse! Was nötigte sie denn, sich ihre Lust von dem dummen Peter, der nichts vertragen konnte, beschränken zu lassen? »Laß ihn laufen!« rief sie laut und flog auf den zierlichen Füßchen wie ein junges Reh vor Hermann Schulze her, der wie ein kräftiger, tappiger, junger Jagdhund hinterdreinsprang.

Er begleitete die tolle Kameradin schließlich auch nach Hause und tat beim Abschiednehmen die komische Frage: »Du, Lotte Von, nimmst du aber auch einen Bürgerlichen?«

»Na, ich werde 'mal sehen.«

Damit gingen sie auseinander. – – –

*

An dem Abend sahen sich Fritz und Lotte nicht wieder. Auch am folgenden Tage nicht. Sie waren »Schuß« – wie es in der Berliner Kindersprache heißt. Aber während das eigensinnige Fräulein von Barchwitz schmollte und grollte und alle Schuld von sich abwies und einzig auf die »Haberei« des Knaben schob, verzehrte sich der kleine Thielemann in bitterer Sehnsucht nach der einzigen Freundin und hätte ihr gern alles vergeben, wenn nicht sein Ehrgefühl ihm verboten hätte, den ersten Schritt zu tun. Aber, wie sehr er sich auch gekränkt fühlte, er hatte doch bis tief in die halb schlaflose Nacht hinein nachgesonnen, auf welche Weise er wohl einen Ring für sie beschaffen könnte. Schließlich war er auf einen wahrhaft heldenmäßigen Plan geraten: er wollte seinen kostbarsten Besitz veräußern, sein teuerstes Kleinod, das ihm ans Herz gewachsen war, wie kein lebloses Ding sonst, seine Briefmarkensammlung in dem wunderschön gebundenen Album, das er zum letzten Weihnachtsfest erhalten hatte, wollte er in der Klasse meistbietend versteigern. Von dem Erlös, meinte er, müßte er den herrlichsten Goldreif mit blitzenden Steinen erwerben können.

Am nächsten Morgen schon, also am Montag, brachte er sein Vorhaben zur Ausführung. Er hatte sich nach ungefährer Schätzung zusammengerechnet, wieviel das Buch und wieviel die seltenen Stücke der Sammlung allein wert seien, und über zehn Mark herausbekommen. Und da fingen die abscheulichen Jungen mit »zwee ute« zu bieten an und lachten ihn obendrein noch aus, als ihm über diese empörende Zumutung die bitteren Tränen aufsteigen wollten. Aber er schluckte sie hinunter und fuhr mutig fort, mit Aufgebot seiner ganzen kindischen Beredsamkeit den Preis zu treiben. »Eine Mark!« schrie endlich der kleine Abrahamsohn, dessen Vater als sehr wohlhabend bekannt war. –

»Zwei Mark«, fistelte der junge Friedländer, der nicht so reich war, aber sich doch nicht lumpen lassen wollte.

»Zwei – fünfzig!« Abrahamsöhnchen ließ nicht locker.

»Drei Mark.« Alles starrte den Tollkühnen an. Es war der rothaarige Nauke, ein windiger Patron.

»Drei Mark zum ersten – zum zweiten und zum . . .?«

»Na, Abrahamson!« rief es aufreizend von allen Seiten.

»Nee, det is keen Jeschäft nich!« erklärte dieser überlegen – und Fritz Thielemann mußte zuschlagen.

Selbstverständlich hatte der rote Naucke kein Bares bei sich, aber Fritz gab ihm das Album mit, gegen das feste Versprechen, morgen den Taler in die Klasse mitbringen zu wollen. Am Dienstag überreichte ihm der Junge fünfzig Pfennig, mit der Bitte, den Rest noch ein Weilchen anstehen zu lassen, bis er mehr flüssig machen könne. Eine heiße Kinderträne fiel auf das schmutzige Geldstück. Der arme Knabe ahnte, daß er das Fehlende nie erhalten würde. Um fünfzig Pfennig hatte er seinen Schatz hingegeben! Und was würde der Vater sagen, wenn er's erfuhr!

Was half's? Es war doch immer Geld, und Fritz lief nach der Schule in den nächsten Basar und ließ sich »goldene« Ringe zeigen. Pfui, was für Ungetüme das waren – groß genug, um von den Schlächtergesellen Sonntags über den Daumen gesteckt zu werden! Er wählte den kleinsten aus, einen richtigen Trauring ohne Stein und legte sein Silberstück hin. Mit zitternden Knien schleppte er sich den weiten Weg nach Hause. Natürlich wurde er nach der Ursache des langen Ausbleibens befragt, vermochte keinen einleuchtenden Grund anzugeben und bekam eine derbe Strafpredigt vom Vater zu hören. Nun aber trat der Zweifel an ihn heran, ob er sich nicht allzusehr demütige, wenn er nach der erlittenen Kränkung der flatterhaften Freundin zuerst entgegenkäme – und nun gar mit diesem bedeutungsvollen Geschenk. Denn es verstand sich für ihn von selbst, daß Lottes Verheißung in vollem Ernst gemeint gewesen sei. Endlich gedachte er des Grundsatzes, »der Klügere gibt nach«, beschloß, sofort nach Barchwitzens hinüberzugehen, Lotte den Standpunkt klar zu machen und sie dann durch Überreichung des Verlobungsringes gründlich zu beschämen. Mit hochklopfendem Herzen legte er sich zurecht, was er ihr sagen wollte; er drückte die Stirn an die kalten Scheiben, starrte in die Dämmerung hinaus, und dabei war ihm so ängstlich zumute, wie vor einer Schulprüfung.

Da erschien Frau von Barchwitz, um mit Frau Thielemann ein Schwätzchen zu halten.

»Na, Fritz,« sagte sie zu dem blassen Knaben, als er ihr seinen höflichen Diener machte, »dich sieht man ja gar nicht mehr. Worüber habt ihr euch denn so gezankt? Lotte langweilt sich schon gräßlich.«

Fritz antwortete nicht. Wie eigensinnig das Mädel war, daß sie nicht kam, ihn zu holen, wenn sie sich so »gräßlich« langweilte! Aber sie vermißte ihn doch, sehnte sich vielleicht ebenso nach ihm, wie er nach ihr. Sein Herz sprang ihr entgegen wie ein Hündchen, das seine Herrin nach längerer Abwesenheit wiedersieht. Eben wollte er um die Erlaubnis bitten, hinübergehen zu dürfen, als Frau von Barchwitz lachend zu seiner Mutter anhub: »Nein, was diese junge Brut schon für Unsinn im Kopfe hat! Denken Sie sich, da kommt gestern das Dienstmädchen des Kunstgärtners Schulze und bestellt für meine Lotte einen schönen Gruß vom jungen Herrn Schulze und überreicht ihr ein wundervolles Bukett, einen Brief und – einen echt goldenen Ring, mit einem Türkis darin. Sehen Sie bloß, Frau Thielemann, da ist das Schriftstück.«

Und sie holte das Briefchen aus der Tasche und las: »Liebe Lotte! Hier schicke ich dir den Ring, wie du wolltest, wenn du meine Braut werden solltest. Er ist von echt Gold. Hast du es dir überlegt mit dem Von? Jetzt bist du also meine Braut, und wenn er dir nicht paßt, sagt Mutter, könnte man ja was einlegen lassen. Diese Feder schreibt so schlecht, daher schreibe ich so schlecht, und weiter weiß ich nichts, denn du kommst doch bald wieder spielen. Vater sagt, es gibt bald Schnee, du, dann habe ich einen sehr schönen Schlitten! Dein geliebter Hermann Schulze.«

»Was sagen Sie dazu? So ein keckes Bürschchen!« setzte Frau von Barchwitz hinzu, und Frau Thielemann erwiderte kopfschüttelnd: »Der Junge hat doch gewiß das Geld nicht aus eigener Tasche genommen. Sehen Sie, solche Eltern, die ihre Kinder in solchen Dummheiten unterstützen, begreife ich gar nicht. Wenn unser Fritz mit so einem Verlangen käme, ich glaube, mein Mann . . .«

In diesem Augenblick sprang etwas in heftigen Sätzen, metallhell aufklingend, über den Fußboden und rollte dann unter den Schrank.

»Fritz!« rief Frau Thielemann erschrocken. Mit geballten Fäusten sich vor die Stirn schlagend, mit zitternden Gliedern und bebenden Lippen stand ihr Sohn mitten in der Stube. Voll leidenschaftlicher Wut hatte er seinen armseligen Reif fortgeschleudert. Betrogen um diese schönste Freude seines trostlosen Daseins, bestohlen um das Herz der geliebten Gespielin, umsonst das große Opfer, das er ihrer Laune gebracht! Er rang nach Atem, seine großen, unsteten Augen schienen aus ihren Höhlen zu treten, ein furchtbares, stoßendes, würgendes Schluchzen erschütterte seinen schwachen Leib – und dann brach er in wilde Tränen aus, warf sich zu Boden, schlug mit Händen und Füßen um sich und schrie laut auf in kindischer Verzweiflung.

Beide Frauen sprangen entsetzt auf, knieten an seiner Seite nieder und suchten vergebens ihn zu beruhigen. Er hieb mit einer Kraft um sich, wie wenn er in Krämpfen läge, und auf alle Fragen knirschte er nur immer wieder: »Papa soll mich doch totschlagen, er soll doch – er soll doch!« –

Nur mit großer Mühe gelang es, den armen Knaben aufzuheben und in sein Bett zu bringen. Die Mutter vergoß kaum minder bittere Tränen als ihr unglückliches Kind. Sie begriff sehr bald den Zusammenhang und zitterte vor der Art und Weise, wie der Vater diesen Ausbruch der Leidenschaft auffassen würde. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren Mann über den Grund der offenbaren Krankheit zu täuschen und eine Erkältung vorzuschieben.

»Ach was, wird wohl wieder nur das Faulfieber sein«, versetzte der harte Mann auf ihre besorgte Erzählung. – –

Auch Frau von Barchwitz konnte in jener Nacht lange keinen Schlaf finden. Sie dachte an ihre beiden untergegangenen Töchter. Und dieser lachende Übermut der jüngsten, welcher nun auch schon in Knabenherzen solches Unheil anzurichten vermochte, war das der Vorläufer jenes frevelhaften Leichtsinns, der die Schwestern in den Abgrund der Schande gestürzt hatte? Sollte sie das glühende Eisen äußerster Strenge an jenen wunden Fleck in der Seele ihres Kindes legen? Die kecke Laune, die jetzt dem holden Geschöpfchen so reizend stand, sollte sie einst zu einem fressenden Krebsschaden werden und Leib und Seele vergiften? Durfte sie aber dem glücklichen Kinde seine strahlende Unbefangenheit trüben, es durch Verbote auf Gefahren hinweisen, die seine Unschuld sich nicht träumen ließ? Nein, tausendmal nein! Sie konnte nicht die Todsünde auf sich laden, einem Menschen die Jugend zu rauben. Wenn es ein Schicksal war, wenn sie mit ihrem Mutterblute Gift in die Adern der eigenen Kinder gegossen hatte, ohne es zu wissen, nun dann würde dieses Schicksal, welches ihr ihr letztes abforderte, zugleich auch ihr eigenes Haupt treffen müssen. Mochte das Mädchen den Weg einschlagen, der zum Abgrund führte, wenn das unausbleiblich war, im Finstern sollte es ihn dann wenigstens nicht wandeln – lieber mag es lachend in hellem Sonnenglanz hineinlaufen! Glückliche Kinder werden gute Menschen – daran wollte sie auch glauben! Und selbst wenn das falsch war: lieber ein glückliches Kind mehr, als eine Dirne weniger! – –

Während Fritz Thielemann sich im Weinkrampf auf dem Boden wälzte, hatte Lotte von Barchwitz, aufmerksam gemacht durch den Aufschrei der Mutter, ihr Ohr an die dünne Wand gelegt und mit Grausen die Stimme ihres treuen Freundes aus dem Schluchzen und Stöhnen herauserkannt. Sie ahnte nicht, daß sie selbst an all dem Jammer schuld war, denn ihr kindlicher Flattersinn vermochte eine so tiefe Leidenschaft noch nicht zu begreifen: aber warme Tränen innigsten Mitgefühls strömten über ihre Wangen; er litt, der ärmste Freund, und sie wußte nicht warum, und konnte ihm nicht zu Hilfe eilen. Ja, nun fühlte sie es an dem raschen Pochen ihres Herzens, an ihrer Seelenangst, wie lieb ihr der blasse Knabe war, und wieviel näher er ihr doch stand, als jener rotbäckige Gärtnerssohn, der ihre Neigung mit keckem Griffe an sich gerissen hatte. Der besaß ja doch nur ein Faustrecht auf ihre Gunst, Fritz aber ein Herzensrecht. Lotte drehte den Türkisring an ihrem schlanken Goldfingerchen hin und her – und da fiel ihr plötzlich ein: Ach, liebe Zeit, wenn er's ernst nimmt, dann muß ich ihn ja heiraten, und dann muß ich Frau Schulze heißen, solange ich lebe! Das ist doch gar nicht schön. Und dann riecht er wirklich doch sehr nach Bollen – puh! Wo sie mit soviel Zwiebeln kochen, da ist es nicht fein. Das war ein Grundsatz, den sie aus der ausgesprochenen Abneigung ihrer beiden Eltern gegen diese Würze sich angeeignet hatte. Und Fritz Thielemann war immer so sauber und appetitlich, und nette und wohlanständig und tat alles, was sie wollte und – Frau Thielemann hörte sich doch auch hübscher an! Sie zog den Ring vom Finger und wollte ihn ärgerlich fortwerfen, wie Fritz es mit dem seinigen getan hatte; aber nein; dazu war er doch zu prachtvoll! Sie legte ihn vorsichtig ganz unten in den Kasten, in welchem sie ihre Puppenkleider aufbewahrte, und streute dann hastig alle die bunten Fähnchen darüber.

Am nächsten Tage, gleich nach der Schule, zog sie die Klingel bei Thielemanns. Sie hatte den guten Vorsatz gefaßt, das dumme Schmollen aufzugeben und ihrem Freunde zuerst die Hand zur Versöhnung zu bieten. Zwar hatte sie kein Osterei mehr als Sühnegabe, aber sie wollte sehr gut zu ihm sein. Frau Thielemann öffnete ihr selbst die Tür und prallte förmlich zurück, als sie die unschuldige, kleine Übeltäterin erblickte. Sie wies sie ziemlich kurz ab mit der Erklärung, daß Fritz krank sei und nicht sprechen dürfe; denn sie fürchtete, daß der Anblick des Mädchens dem Kranken durch neue Aufregung gefährlich werden könnte.

Dem guten Kinde wurde es weh ums Herz. Es kämpfte mit den Tränen und sagte schüchtern: »Darf ich nicht wenigstens bei ihm sitzen, ihm etwas vorlesen oder . . . er braucht ja gar nicht zu sprechen!«

»Nein, mein Kind. Der Arzt hat es verboten. Aber ich will ihn von dir grüßen.« Damit schlug sie die Tür wieder zu.

Sonderbar, daß auch die Mutter so verlegen nach Worten suchte, als Lotte sie fragte, was denn ihrem Gespielen fehle. Zum erstenmal in ihrem Leben war Lotte sehr traurig und machte sich Gedanken.

*

Es war am dreißigsten November, der erste Schnee war gefallen. Lotte ging auf den Balkon, um sich einen Schneeballen zu machen zu irgendwelchem Schabernack. Sie hatte Hut und Mantel noch an, denn sie war eben aus der Schule gekommen, und die Mutter noch nicht zu Hause. Sie beugte sich über die Brüstung, um unter den auf der Straße tobenden Jungens ein Ziel für ihr kaltes Geschoß zu suchen. Da sah sie Fritz Thielemann, den sie noch krank im Bette glaubte, unten aus der Haustür treten. Rasch entschlossen rannte sie an der verdutzten Aufwärterin vorbei aus der Wohnung, flog die Treppe hinunter und lief, was sie konnte, dem Knaben nach, welcher den Weg nach dem Viehhof eingeschlagen hatte. Auf dem Fußpfade, der das freie Feld vor der Südseite der weiten Baulichkeiten durchschneidet, holte sie ihn ein. Fast schien es, als ob er vor ihr fliehen wollte, als er ihre leichten Tritte hinter sich hörte und, sich umwendend, sie erkannte. Aber als sie ihn anrief, blieb er stehen und harrte ihrer mit niedergeschlagenen Augen.

Ganz außer Atem kam sie heran und reichte ihm die Hand. »Ich denke, du bist noch krank?«

»Nein, ich bin gestern wieder zur Schule gegangen.«

»Warum haben sie mich denn nicht zu dir gelassen? Warum bist du denn nicht zu uns gekommen, wie du wieder aufstehen durftest?«

Fritz stand schweigend und warf mit der Stiefelspitze den Schnee auf. Endlich sagte er ganz leise: »Ich denke, du magst mich nicht mehr.«

»Du meinst wohl wegen des dummen Ringes?«

Fritz nickte: »Ja.«

»Da – wo ist er?« rief Lotte, zog rasch ihre Handschuhe ab und hielt dem Knaben die leeren Hände entgegen. »Ich mochte ihn gar nicht. Mama hat ihn Schulzes wieder hingetragen. Du brauchst auch nicht zu denken, daß ich dir böse bin, weil du mir keinen geschenkt hast: es war nur, weil du neulich bei Schulzes dich so gehabt hast und so dumm weggelaufen bist.«

Fritz' gute, sanfte Augen leuchteten hell auf vor Glück: »Du kannst mich also noch leiden?« Und die Tränen begannen zu fließen.

»Na, heule nur nicht gleich!« sagte Lotte und lachte lustig. Aber auch ihr war ganz eigen zumute, und sie war doch von Herzen froh, daß es nun ausgestanden und alles wieder gut sei. Sie faßten sich bei der Hand, schlenkerten mit den Armen und betraten so den Viehhof, wo Fritz seinen Vater abholen sollte.

Sie hatten kaum das Tor passiert, als Fritz von einem Schneeball recht empfindlich im Rücken getroffen wurde.

Hermann Schulze war es gewesen – kein anderer! Da stand er mitten in der Einfahrt neben seinem Schlitten und freute sich diebisch über den Schreck, den er dem Nebenbuhler verursacht hatte.

Lotte aber faßte sich sehr rasch, bückte sich, formte einen Ball und sagte: »Na warte! Komm, Fritz, den wollen wir mal einseifen.« Ungeschickt, nach Mädchenart schleuderte sie ihren Ball – er fiel weit von dem Ziel zur Erde. Fritz holte mit dem seinigen so mächtig aus, als wollte er über das ganze Feld weg bis an die ersten Häuser werfen. Er verfehlte jedoch gänzlich die Richtung. Hermann lachte höhnisch und trat einige Schritte vor, um ihnen das Treffen leichter zu machen. Seine Kameraden, die mit ihren Handschlitten hinter ihm auf der Straße standen, jubelten ihm Beifall zu. Immer erregter, rascher und ungezielter schleuderte das kleine Paar die locker zusammengeklumpten Geschosse, ohne daß Hermann sich rührte. Endlich traf ihn ein Ball von Fritz gegen die Brust. Da griff er in den Schnee und sagte: »So, nu komm ich dran!« Fritz kehrte sich rasch um und hielt ängstlich die Hände vor den Kopf. Aber der wohlgezielte Ball traf und riß ihm die Mütze herunter. Da stoben plötzlich mit lautem Gekreisch die Knaben auf der Straße davon, fluchende Männerstimmen, ein dröhnendes Gebrüll, ein galoppierendes Stampfen, dumpfes Schnauben wurde von den Ställen an der linken Seite her laut, und als die Kinder sich umbückten, sahen sie, wie ein wütender Stier mit verbundenen Augen seine beiden Führer, halbwüchsige Burschen, in raschem Laufe mit sich fortriß. Da fiel der eine zu Boden und ließ den Strick fahren, das Tier warf mit einem gewaltigen Ruck das langgehörnte Haupt herum – da mußte auch der andere das Seil fahren lassen, und nun stürmte der blinde Unhold frei daher, gerade auf die Kinder los.

Lotte kreischte laut auf und vermochte sich vor Angst nicht von der Stelle zu rühren. Fritz fiel vor Schreck halb ohnmächtig zu Boden und umklammerte Lottes Knie. Aber schnell wie der Blitz war auch Hermann hinzugesprungen, hatte sich breitbeinig vor die beiden gestellt und seinen Handschlitten wie einen Schild hoch erhoben. Der Stier raste so dicht an den dreien vorbei, daß das Ende eines der Leitseile Hermann gegen die Beine schlug, aber – Gott sei Dank! – er raste vorbei! Die Kinder waren gerettet. Als der erste Schreck vorüber war, erlöste ein heftiges Weinen Lotte aus ihrer Erstarrung. Sie stieß Fritz, der noch immer zitternd am Boden kauerte, mit dem Fuß weg und hing sich schluchzend an Hermanns Hals.

»Feigling!« sagte der unerschrockene Bursche verächtlich, nahm Lotte bei der Hand und führte sie nach Hause.

Fritz blieb noch mehrere Minuten an derselben Stelle liegen und vermochte sich nicht zu rühren, so war ihm die Angst in alle Glieder gefahren. Ein Schlächtergeselle half ihm auf und geleitete ihn in das Hauptgebäude, in welchem der Vater arbeitete. Da hockte er in der heißen Stube auf dem Stuhl in der Ecke, wartete auf den Vater – und sehnte sich nach dem Ende, wie nur je ein trost- und hoffnungsloser Mensch sich danach gesehnt hat! Und von draußen her drang, zwar gedämpft durch die Scheiben, aber darum nur um so unheimlicher, das tausendstimmige Konzert der Schlachttiere aus allen Ställen in der Runde. Es war, wie wenn der Empörungsruf des durchgegangenen Stiers bei allen den gefesselten Leidensgenossen den gellenden Jammer der Todesangst als Echo erweckt habe. Dieses Kind wußte wenig mehr vom Tode, als die Opfertiere da draußen in ihren weiten Gefängniszellen, aber es sehnte sich nach der Erlösung, welche jene mit ahnungsvollem Grausen zu erfüllen schien.

*

In der Schule ging es jetzt noch schlechter mit Fritz Thielemann. Es war ihm ganz unmöglich, seine Aufmerksamkeit dauernd an den Gegenstand des Unterrichts zu fesseln. Was ihm im Kopfe herumging, das waren ernstere Dinge als lateinische Vokabeln. Aber das konnte freilich die Lehrer nicht kümmern. Er wurde in allen Fächern der letzte in der Klasse und die Berichte, welche der Ordinarius ihm am Sonnabend für den Vater mitgab, wurden immer schlimmer. Die bekümmerten Mahnungen der Mutter halfen dem armen Kinde wenig; kaum daß es ihr gelang, es vor den schlimmsten Mißhandlungen zu schützen. Herr Thielemann war ganz außer Fassung gebracht durch die Schande, die ihm sein Jüngster machte, derselbe, von dem er so sicher die Wiederherstellung seines Namens zu Ehren und Ansehen, zu Bildung und Reichtum erhofft hatte. Er wußte doch zu gut, daß sein Sohn durchaus nicht dumm, nicht unbegabt sei. Für die zarte Empfindsamkeit seines Gemüts hatte er freilich gar kein Verständnis, denn er selbst war ein derber, nervenstarker, unverfrorener Bursche gewesen, dem niemals irgendwelche »Gefühle« Schmerzen gemacht hatten. Das Gerede von seiner Liebe, der verzehrenden Eifersucht, ja selbst von seiner Schwäche galt ihm als lächerliches Weibergewäsch, worauf sich gar keine Antwort lohnte. – –

Am zehnten Dezember, einem Sonntage, war es, als Herr Thielemann nach dem Frühstück den unterschriebenen Zettel des Klassenlehrers an Fritz zurückgab.

»Du weißt, Fritz,« sagte er strenge, »in vierzehn Tagen ist Weihnachten. Das ist mir der letzte solcher Zettel gewesen, oder, so wahr ich hier stehe, du gehst bei der Bescherung leer aus. Merke dir das – ich habe das ewige Ermahnen jetzt satt. Halt! noch eins. Ich will einmal zu dir reden, als ob du nicht ein fauler, schlapper Schlingel, sondern ein vernünftiger Mensch wärest – vielleicht bleibt doch etwas davon sitzen: ich bin einmal ein wohlhabender Gutsbesitzer gewesen, weißt du, nachdem ich den Rock des Königs ausgezogen hatte. Es ist wahrhaftig nicht meine Schuld gewesen, daß ich jetzt hier im vierten Stock wohnen und euch kümmerlich von meiner untergeordneten Stellung ernähren muß. Ich habe mir vorgenommen, dich studieren zu lassen, und wenn ich mir das Hemd vom Leib verkaufen müßte, um das durchzusetzen. Deine Schwester ist nur ein Mädchen und hat's durch eisernen Fleiß doch soweit gebracht, daß sie nicht zu verhungern braucht ohne mich. Und du, Junge, solltest nicht so viel Ehrgeiz besitzen, um es wenigstens ihr gleich zu tun? Du sollst mir ein Beamter werden, oder ein Gelehrter – irgend etwas, das mit Stolz Thielemann heißen darf. Ich kann dir keinen Pfennig hinterlassen, wenn ich sterbe. Dann mußt du für dich selbst sorgen und womöglich noch deine Mutter ernähren können – begreifst du das? Ich will mit dir arbeiten, mein Junge, wenn du allein nicht vorwärts kommst, ich will dir auch jede Freude und Erholung gönnen, die in meinen Kräften steht: aber ich will auch endlich von dir ein wenig Ernst und redlichen Willen sehen. Damit kann man viel erreichen in der Welt. Nicht wahr, solche Dinger bringst du mir nicht wieder, Fritz?«

Sein Finger bebte, als er bei den letzten Worten auf jenen Zettel wies, und auch seine Stimme war in der Erregung weicher, leiser geworden. Er streckte dem Sohn seine Hand hin. Und Fritz legte seine kalte, schmächtige Rechte hinein und sagte mit ersticktem Ton, der merkwürdig fest klang: »Nein, nie wieder, Papa!«

Später schenkte ihm der Vater zwanzig Pfennige und erlaubte ihm, mit der kleinen Barchwitz auf den Weihnachtsmarkt zu gehen, um sie zu vernaschen.

Fritz zog seine besten Kleider an, und dann ging er hinüber zu Barchwitzens. Lotte saß allein in der Wohnstube bei ihrer Häkelarbeit.

»Guten Tag, Lotte Von«, sagte er, trübselig lächelnd.

»Guten Tag, Herr Thielemann«, antwortete sie schnippisch.

»Kommst du mit auf den Weihnachtsmarkt?«

»Mit dir!?«

»Nun, dann geh ich allein. Adieu, Lotte.«

»Adieu.«

»Lotte, ich – ich habe da noch etwas für dich, das wollt' ich dir gern zu Weihnachten schenken. Da ist es.« Er legte ein winziges Päckchen in Papier auf den Tisch.

»Was ist denn drin?« fragte Lotte neugierig und erhob sich vom Sofa, in dessen Ecke sie sich bequem zurückgelehnt hatte.

»Bitte, Lotte, mach' es erst zu Weihnachten auf. Steck' es so lange fort.« Das Mädchen nickte mit dem Kopfe und guckte mit ihren dunklen Schelmenaugen verwundert ihren einstigen Freund an. Denn seit dem Abenteuer auf dem Viehhofe hatten sie sich kaum mehr gegrüßt.

Da stand er noch immer an der Tür und drückte seine Pelzmütze mit allen zehn Fingern zusammen. »Adieu, Lotte!« sagte er noch einmal.

Er sah so furchtbar blaß und elend aus! Er tat ihr doch leid. Sie reichte ihm freundlich die Hand und sagte: »Ich danke dir für das da, Fritz. Es ist sehr nett von dir, und ich will es nicht aufmachen. Aber ich kann nicht mitgehen, weil Mama nicht zu Hause ist, weißt du.«

»Dann – adieu, Lotte!«

Es wollte ihr schon komisch vorkommen, daß er so oft Abschied nahm. Aber es klang so eigen, sie wußte nicht weshalb. Und nun ging er auch wirklich. Er rannte die Treppe hinunter, wie wenn ein Gespenst hinter ihm herjage, – Natürlich öffnete Lotte das Paket, sobald sich die Flurtür hinter ihm geschlossen hatte. Der goldene Verlobungsring aus dem Fünfzigpfennigbasar lag darin und dabei ein Zettel: »Atjöh, Lotte, ich bin dir guht!«

Sie lachte laut und lange und steckte den Ring an ihren Finger . . .

Indessen lief Fritz Thielemann so rasch er konnte nach dem Alexanderplatz und weiter durch die Königsstraße, über die Kurfürstenbrücke. Er verlor sich im Gewühle des Weihnachtsmarktes am roten Schloß. Seine Gedanken weilten fern von all diesen Herrlichkeiten, und doch war er sich keines Gedankens bewußt, und doch starrte er die Auslagen in den Läden und in den Buden an, schaute und merkte nicht, was er sah, ließ sich stoßen und drängen und fand das ganz in der Ordnung. Ihm war sehr heiß von dem langen Marsch, obwohl der Tag sehr kalt war. Seine Knie zitterten vor Müdigkeit, aber er dachte nicht daran, sich nach einem Sitz umzutun. Er mochte schon einige Stunden so herumgestanden haben, ohne sich der Zeit bewußt zu werden, als er endlich merkte, daß er Hunger habe. Nach langem, unentschiedenen Zögern kaufte er sich für seine zwanzig Pfennige Pfefferkuchen. Sonst hatte er sich so auf den ersten Christmarktskuchen gefreut, und jetzt würgte er das Gebäck hinunter, wie wenn es alte Semmel wäre. Die Menschenflut hatte ihn bis an die Museumstreppe getragen. Dort setzte er sich einen Augenblick nieder. Doch nein, man konnte nicht still sitzen, dazu war es kalt. Er raffte sich mühsam wieder auf und schleppte sich weiter nach den Linden zu. Die Laternen wurden angezündet. Mit weit offenem Munde, die Hände in den Taschen des Überziehers, von einem Fuß auf den andern springend, staunte er längere Zeit das Standbild Friedrichs des Großen an, das gespenstisch aus dem wehenden Nebel tauchte. Dann trottete er langsam weiter – durch das Brandenburger Tor und dann noch weiter – die Tiergartenstraße hinunter. Er war nie zuvor hier gewesen. Er wußte, daß hier die großen, mächtigen, reichen Leute wohnten. Er sah die erleuchteten Fenster der prächtigen Villen und Paläste, er sah elegante Equipagen vorfahren und in üppigen Pelz gehüllte Damen aufnehmen, um sie in die Theater, die Konzerte, die Wohltätigkeitsbasare und arme Kinderbescherungen zu führen. So ein großmächtiger Mensch sollte er, der Fritz Thielemann, auch werden, hatte der Vater gesagt. Mit Fleiß und redlichem Willen lasse sich das alles erreichen!

Das todmüde Kind – es konnte noch lächeln bei dem Gedanken; denn es wußte besser, was sich erreichen ließ und was nicht! In der Nähe mußte ja ein Wasser sein. Fritz hatte von der Eisbahn im Tiergarten gehört. Er hatte schon mehrmals versucht, den dunklen Wald zu betreten, war aber immer wieder zurückgeschreckt vor den Schauern der einsamen Finsternis. Endlich faßte er sich ein Herz: es mußte ja sein: er wollte ins Wasser springen, und dann war es ja vorbei mit aller Pein! Wie konnte er sich vor der Nacht fürchten, wenn er sich vor dem kalten Tode nicht fürchtete?! Er bog in den ersten besten Querweg ein, und er hatte es gut getroffen, da lag der Wasserspiegel vor ihm – aber das Wasser war Eis und dünner, graupiger Schnee lag darüber. Sollte er am Ufer hinunterkriechen und versuchen, ob die Eisdecke ihn trüge? War sie dick genug, dann wurde sein Vorhaben ja vereitelt, und brach er ein, so nahe am Ufer, so hätte er doch nicht ertrinken können und sich vielleicht wieder herausgearbeitet. Was sollte er tun? Er fühlte sich so schwach, daß er unmöglich mehr sich bis zur Spree schleppen konnte, die noch eisfrei war, wie er wußte.

Wie gräßlich hexenhaft die dürren Äste sich über die leblosen Gewässer hinstreckten! Wie die Nebelgeister mit lang schleppenden Gewändern zwischen den Bäumen hindurchschlichen! Wie es raschelte und knackte hinter ihm in dem verschneiten Laub, in dem dürren Gezweig! Aber er verspürte keine Angst mehr. Sein Hirn brannte wie Feuer, seine Füße waren wie Eis. Vor seinen Augen drehte sich alles im tollen Wirbeltanz. Da war eine Bank, zwei Schritte von ihm. Er taumelte darauf zu und fiel schwer auf den Sitz. Die Sinne vergingen ihm.

Ein paar Minuten lag er so; dann schlug er die Augen wieder auf und sah umher. Das schmerzhafte Gefühl des leeren Magens hatte ihn geweckt. Er versuchte, sich aufzurichten. Es war vergeblich – er fühlte seine Füße nicht mehr – sie waren erfroren. Da griff er in seine Überrockstasche und holte daraus jenes Osterei hervor, welches Lotte ihm einst zum Troste geschenkt hatte. Seine steifen Finger umkrampften es unwillkürlich. Es brach entzwei, und er führte die Stücke mit äußerster Anstrengung zum Munde. Wie ein Kindchen, das sich an seinem Daumen in Schlaf saugt, so sogen die erstarrten Finger des unglücklichen Knaben an den süßen Trümmern des einzigen Liebes- und Glückspfandes, das er je besessen, sich in den ewigen, erlösenden Schlaf des Todes. –

Der Wind sprang um nach Mitternacht. Er wehte feucht und weich und zerzauste die schwarz drohenden Wolken am Himmel. Mit ihrem weichen, kühlen Leichentuch bedeckte die barmherzige Winternacht den kleinen Leichnam dort auf der Bank; der Mond brach durch die Wolken, rötlich schimmerten seine Strahlen durch die wallenden Dunstschleier und überhauchten die bleichen Wangen des Kindes mit dem warmen Scheine des Lebens.



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