Ernst von Wolzogen
Die Gloriahose und andere Novellen
Ernst von Wolzogen

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Mein erstes Abenteuer.

Ich war neunzehn Jahre, eben dem Gymnasium entronnen, besaß eine prachtvolle Lebenslust, verbunden mit einer gewissen wohlanständigen Lebensscheu, ein halbes Dutzend unzweifelhaft blonder Härlein unter jedem Flügel der etwas schüchternen Nase, eine schlanke Figur, eine Krone mit sieben Tüpfeln auf dem Taschentuch und eine leidlich wohlgespickte Börse in der Tasche. Mit diesem leichten Gepäck hatte ich meine erste »Kavalierstour« unternommen und mich einige Monate lang in England umgesehen. Ein deutscher »moonshine-Baron« – wie Lord Beaconsfield, der torystische »lange Israel«, sich einmal despektierlich ausgedrückt haben soll – will nun zwar im Paradiese der mutton chops ganz und gar nichts besagen, und ein neunzehnjähriger noch viel weniger; dessenungeachtet stieg ich aber doch durch den steten Verkehr mit so viel solidem Glanz, vornehmer Langeweile und exquisitem pale old Sherry oder dry Champagne derart in meiner Selbstachtung, daß ich mir am Ende meines insularen Aufenthaltes denn doch ungemein gereift vorkam. Nur die fatale jünglinghafte Scheu vor dem andern und manchmal sogar schöneren Geschlecht klebte meinen frühlingsgrünen Jahren noch fest an, wie ich mir zu meiner eigenen Beschämung gestehen mußte. Zwar verstand ich eine tadellose Verbeugung auszuführen, älteren Damen von Extraktion die fingerlosen, seidenen Handschuhe zu küssen und einer schönen Tischnachbarin die Sauce möglichst nicht auf das Kleid zu schütten; aber es war mir bisher noch nicht gelungen, auch nur das kleinste galante Abenteuer zu bestehen, wie sehr ich mich auch des öfteren bemüht hatte, eine niedliche parlour maid oder so etwas auf das unzweifelhafteste auszuzeichnen. Oh, wie viele schwere Seufzer hatte mich dieser leidige Umstand schon gekostet! Und es geschah doch gewiß in gerechter Entrüstung, daß ich die gräßliche Bartsalbe, welche ich aus Deutschland eingeschmuggelt, und während der Überfahrt zuerst angewendet hatte, ihrer empörenden Nichtsnutzigkeit wegen an irgendeinem öffentlichen Ort aussetzte!

An meinem letzten Tage in London war ich ein ganz freier Mann. Keine Anstands- oder Verwandtschaftspflichten irgendwelcher Art waren mehr zu erfüllen – und ich hatte daher beschlossen, diesen letzten zum schönsten Tag meines Aufenthalts zu machen. In meiner Börse befanden sich noch einige Guineen mehr als zur Heimkehr durchaus nötig waren, und diese sollten gewissenhaft verjubelt werden.

Aber als ich so etwa zwei Stunden planlos durch die Straßen der City geirrt war, an allen Schaufenstern stehenbleibend und mir den Kopf zerbrechend über die schwierige Frage, was ich nun zunächst unternehmen sollte, um so recht als tremendous shwell mich aufzuspielen, da war ich auch schon zu der Einsicht gekommen, daß dies ohne erfahrene Leitung für einen so impertinent harmlosen jungen Mann von Stande eine ungemein schwierige Sache sei. Für den Abend hatte ich mir Vauxhall vorgenommen; aber wie den Tag, den lichten, langen Tag schneidig totschlagen?

Da fiel mir eine Anzeige ins Auge: »Crystal Palace, Sydenham, Monday Popular Concert.« Aha, die berühmten Monday Pops! Symphonie von Beethoven, und unter den Solisten lauter »Herren und »Fräulein«! Also fast deutsch, klassisch, furchtbar anständig, unzweifelhaft moralisch – aber nein, dachte ich, von deinem Beethoven verstehst du mehr, als alle diese ladies and gentlemen, da bist du zu Hause und darfst die guten, deutschen Ohren spitzen, ohne fürchten zu müssen, daß sie den Englishmen zu lang vorkommen, wie es anderswo am Ende doch der Fall sein könnte. Ich entschloß mich kurz und brav und fuhr mit der Underground spornstreichs nach Sydenham hinaus.

Die Sehenswürdigkeiten des Kristallpalastes kannte ich bereits und begab mich daher unverweilt in den Musikraum. Ich kam gerade zum Scherzo der Eroica zurecht, und über den lieben, vertrauten Klängen vergaß ich meine beschämenden neunzehn Jahre sowie meine zwölf Barthärchen, und fühlte mich bei diesen leichten Noten weit glücklicher, denn als eingebildeter Schwerenöter!

Und um das Vergnügen noch zu erhöhen, entdeckte mein scharfes Auge an einem der ersten Geigenpulte einen guten, alten Bekannten: meinen famosen Karl Ferdinand Müller, den Mann, der dem Quartaner zuerst gezeigt, wie man einen Frosch mit den Fingerspitzen ergreift und durch Streichen mit Pferdshaaren, feingesponnenen Katzendärmen die herzzerreißendsten Laute entlockt – das heißt, meinen langjährigen Geigenlehrer, welcher mit Ausdauer und lobenswerter Strenge mich soweit gefördert hatte, daß ich bei einem Haydnschen Quartett ganz leidlich mittun konnte. Er war zwar zehn bis zwölf Jahre älter als ich, aber immer ein fideles Haus gewesen und außerhalb des Unterrichts durchaus kameradschaftlich mit mir umgegangen. Ich freute mich daher ganz ungeheuer, meinen Karl Ferdinand Müller hier so unversehens wiederzufinden, und machte mich an ihn heran, sobald in der nächsten Pause die Musiker die Tribüne verließen.

Dank der Schattenlosigkeit meiner Oberlippe war auch ich nicht im geringsten unkenntlich geworden, und mein alter Lehrer rief mich sofort beim richtigen Namen, ergriff meine beiden Hände und schüttelte sie mindestens fünf Minuten lang unausgesetzt – so sehr freute er sich, mich wiederzusehen.

»Aber nein, mein liebes Barönchen, Sie haben sich auch nicht im mindesten verändert! Ganz der Alte – Sie sitzen jetzt wohl schon in Sekunda? – Was, schon fertig mit dem Pennal? Also mulus, Maulesel, wie man zu sagen pflegt! – Nein, wird sich meine Frau freuen, Sie kennen zu lernen – Sie Maulesel, Sie herziger!«

Von jedem andern hätte ich mir diese bedenklichen Redensarten energisch verbeten; aber ich kannte ja meinen alten Karl Ferdinand Müller, ein zu urgemütliches Haus – wenn er auch den Mund manchmal ein bißchen vollnahm.

»Sie sind also verheiratet?« unterbrach ich endlich seinen immer neu aussprudelnden Begrüßungsredefluß.

»Jawohl, seit einem Jahre, old boy. Ein reizendes Schnuckerl von einem Weiberl!« Er hauchte einen Kuß in die Luft. »Aber Sie müssen selbst kommen und sie sehen, Barönchen! Natürlich sind Sie für heute mein Gast. Ich bin heute abend ausnahmsweise einmal frei – da wollen wir einmal eine rechte Hetz' loslassen; was, Barönchen? Patentes Kerlchen geworden – sapperment! Nur noch so ein bißchen Kanaan im Angesicht!«

»Kanaan?«

»Nun ja, das Land, da Milch und Honig fleußt – ich meine eigentlich Milch und Blut – haha! Aber das ist ja ganz egal, was?«

Er bat mich, ihn nach Schluß des Konzertes nach Hause zu begleiten und sein bescheidenes Mittagsmahl mit ihm zu teilen. Ich muß bekennen, daß ich mit einigem Bangen der Begegnung mit seiner jungen Frau entgegensah, da ich befürchten mußte, der etwas sehr ungezwungene Ton, den er gegen mich anzuschlagen beliebte, könnte mich der Dame gegenüber einigermaßen als komische Figur erscheinen lassen.

Aber es wurde nicht so schlimm. Er wohnte in einer Vorstadt SW – den Namen der Straße habe ich vergessen – sehr vornehm war jedenfalls weder die Gegend noch das Haus, und wir mußten verwünscht hoch klettern. Er öffnete die Flurtür mit einem Drücker und geleitete mich in das Wohnzimmer. Ein bißchen unordentlich sah es darin aus, sonst aber ganz nett und sehr deutsch; denn der Goldfischhafen, der Kanarienvogel und die drei Blumentöpfchen fehlten keineswegs, sowie auch die so beliebten gehäkelten Schoner auf Sofa und Stühlen nicht gespart waren. Verschiedene Damengarderobenstücke lagen über der Lehne des schönsten Polsterstuhls, ein Korb mit Wäsche stand auf dem Tische, und über das Geigenpult war ein feuchter Gegenstand zum Trocknen ausgebreitet.

Das war so der erste Eindruck. Ehe ich mich aber weiter umschauen konnte, tat sich die Tür halb auf, und ein sehr blonder Kopf schob sich durch die Spalte, um sofort mit einem kleinen Aufschrei wieder zu verschwinden.

»Aber, so komm doch herein, Mimi!« rief Karl Ferdinand. »Ich habe dir einen lieben Gast mitgebracht.«

»Ach nein, ich bin ja noch gar nicht angezogen«, gab eine hohe Stimme von drinnen zurück.

»Noch gar nicht angezogen! O trauter, heimatlicher Laut!« dachte ich. »Gerade wie Frau Amalia Dammelbock, meine gute Pensionsmutter!«

Karl Ferdinand ging hinaus, um mit seiner Frau wegen der Bewirtung Rücksprache zu nehmen, natürlich nicht ohne mir zuvor hoch und heilig versichert zu haben, daß sie sich meinetwegen nicht die geringsten Unbequemlichkeiten machen wollten.

»Sie müssen eben mit unserem alltäglichen Menü vorliebnehmen, Barönchen. So drei bis höchstens vier Gänge und ein Gläschen guten Rotspon dazu, das ist alles, was sich ein armer Künstler gestatten kann.«

»Na, dann geht's ja noch«, dachte ich.

Mein Freund war kaum hinaus, als sich die Tür wiederum halb öffnete und ein halbwüchsiges Mädel, offenbar durch einen rückwärtigen Stoß in Schwung gesetzt, ins Zimmer hereinflog. Der Unglückswurm starrte mich einen Augenblick mit offenem Munde an, kicherte dann ungemein albern in sich hinein und raffte in ungeschickter Hast die erwähnten Kleidungs- und Wäschestück zusammen, warf sie auf den Korb und schleifte endlich diesen und sich selber wieder hinaus.

Nun blieb ich abermals allein, und zwar eine geraume Zeit, während der ich mir einigermaßen töricht vorkam, und mir eines gräßlichen Hungers immer bewußter wurde. Hätte ich nur ein Stück Brot zur Hand gehabt, so wäre ich wahrscheinlich imstande gewesen, einen der Goldfische heimlich roh zu verspeisen!

Endlich trat Karl Ferdinand wieder herein, sein Weibchen würdevoll am Arm führend. Ein allerliebstes Geschöpfchen war es. Ich hatte die Genugtuung, auf den ersten Blick zu merken, daß Frau Mimi Müller zwar ein oder zwei Jahre älter als ich, jedenfalls aber mindestens ebenso maiengrün von Verstand, pflaumenweich von Gemüt und veilchenblau bescheiden von Sinnesart sei, wie ich selbst, und diese Gewißheit hob und trug mich dergestalt, daß ich der kleinen Frau mit der Sicherheit eines vollendeten Kavaliers entgegenzutreten vermochte.

»Mein teures Weibchen, gestatte, daß ich dir meinen lieben Freund, Herrn Baron von W. vorstelle. Herr Baron – Mistreß Mimi!«

Ach, Gott sei Dank – er nennt mich weder Barönchen noch Maulesel! Ich atmete erleichtert auf, machte meine bezauberndste Verbeugung und sagte:

»Meine gnädigste Frau, ich bin entzückt über den glücklichen Zufall, der mir eine so reizende Bekanntschaft vermittelte.«

Das war doch gewiß sehr nett ausgedrückt, und ich wurde rot vor Vergnügen darüber. Mit einer zweiten Verbeugung ergriff ich die frischgewaschene, fleischige, kleine Hand und drückte einen um eine Nuance zu kräftigen Kuß darauf. Das Händchen duftete angenehm nach billiger Mandelseife.

Die kleine, sanft gerundete Blondine war wahrscheinlich noch nie »meine gnädigste Frau« angeredet worden und das Handküssen entschieden nicht gewohnt, denn sie wurde noch viel röter als ich und versetzte, bescheiden mit der Zunge anstoßend: »Sehr freundlich, Herr Baron, freut mich auch sehr!«

Karl Ferdinand Müller machte eine beinahe feierliche Miene zu unserem geistreichen Dialog und begann sich dann weitläufig und förmlich zu entschuldigen, daß er seinen verehrten Gast durch die Vorbereitungen für das kleine Diner inkommodieren lassen müsse. Aber bei der Beschränktheit ihrer Wohnung müsse dieser einzige anständige Raum zugleich drawing-room, dining-room und study vorstellen. Gleich darauf erschien denn auch das halbwüchsige, kichernde Mädchen, um den Tisch zu decken. Ich bemühte mich, trotz meines grimmig knurrenden Magens, eine lebhaftere Unterhaltung in Fluß zu bringen; aber mit kaum nennenswertem Erfolge; denn die gute Mistreß Mimi war gar nicht bei der Sache, sondern immer mit anderthalb Augen bei der Beschäftigung des ungeschickten Mädchens und sprang alle zwei Minuten auf, um helfend einzugreifen. Ihr Mann schien von ihrer Unruhe etlichermaßen angesteckt zu werden; denn auch er war bedenklich geistesabwesend und konnte nicht zehn Sekunden ruhig geradeaus schauen.

Als die kleine Madame einmal hinausgestürzt war, um nach der Ursache eines verdächtig klirrenden Geräusches im Nebenzimmer zu sehen, vertraute mir Karl Ferdinand an, daß sie ihre vortreffliche Köchin Verhältnisse halber hätten entlassen müssen, und daß die neue leider einige Lücken in ihrer Bildung aufweise; da müsse denn sein »Weiberl, sein zuckriges«, selbst die letzte Hand anlegen. (Karl Ferdinand kokettierte nämlich mit dem Wiener Dialekt, da er aus Hinterpommern gebürtig und der Ansicht war, daß sich dies für einen großen Künstler eigentlich nicht schicke.)

Endlich erschien die Suppe. Frau Müller trug sie selbst herein, da sie Ursache hatte, anzunehmen, daß die Halbwüchsige unfehlbar mit der Terrine über die Schwelle stolpern werde.

»Mahlzeit!« wünschten wir uns. – Ach, nach diesem trauten, deutschen Gruß mußte es sicherlich auch eine traute, deutsche Suppe geben! Oh, wie lechzte ich nach dem ersten warmen Löffel – wenn's nur nicht Milchsuppe mit Klütern war, die ich bei Amalia Dammelbock so inbrünstig hassen gelernt hatte! Aber nein, es war eine dunkle Brühe – heiliger Sankt Florian! Das glühte wie das höllische Feuer. Ich hatte doch so manche echt englische broth ohne Murren bewältigt; aber diese teuflische Flüssigkeit brannte, als sei sie mit Scheidewasser gewürzt. Ich wagte einen Seitenblick nach der lieblichen Hausfrau – auch sie verzog ihr hübsches Mäulchen, und ihre blauen Augen glänzten unnatürlich feucht. Der Hausherr dagegen löffelte das Zeug mit Todesverachtung hinein und versuchte seiner halbverkohlten Kehle ein wollüstiges: »Ah, das schmeckt!« zu entlocken.

»Echt englisch!« bekräftigte ich, diskret hustend. »Gnädige Frau scheinen vollständig in die Geheimnisse britannischer Kochkunst eingedrungen zu sein.«

»Ich? Ach nein, Herr Baron – wir holen ja alles aus dem ordinary um die Ecke«, sagte die liebe Unschuld, die nicht lügen konnte, und tupfte sich mit ihrem Batisttüchlein in die Augen.

»Darf ich vielleicht um ein Glas Wasser bitten?« stöhnte ich.

»Wasser?« rief Karl Ferdinand entrüstet. »Aber, liebster Freund, Sie werden mir doch das nicht antun? Wir führen da einen recht netten, alten Medoc – den müssen Sie versuchen.« Er sprang auf und enteilte ins Nebenzimmer, wo wir ihn gleich darauf den Lack von der Flasche abklopfen hörten.

»Wenn er dem Herrn Baron nur schmeckt«, sagte meine kleine Landsmännin mit ihrem liebenswürdigsten Grübchenlächeln. »Mein Mann hat ihn vorhin selbst geschwind vom Kaufmann geholt.«

»Sie machen sich wirklich zu viel Umstände mit mir.«

Da trat Karl Ferdinand wieder herein, schwenkte triumphierend die Flasche und rief: »Nur für so werte Gäste! Von diesem edlen Rebensaft schenkte mir der Marquis of Londonderry einst fünfzig Bouteillen dafür, daß ich einmal ein Solo in einer Abendunterhaltung bei ihm gespielt – selbstverständlich in Begleitung einer Zehnpfundnote.« Er blinzelte seiner Frau eine rasche Warnung vor Verrat zu, und die arme, kleine Sünderin guckte ängstlich zur Seite.

Er schenkte ein, und wir stießen an auf das Vaterland, das teure.

»Ah!« machte er und schnalzte mit der Zunge.

»Ah!« machte ich nach, indem mich ein Schüttelfrost überlief. Dieses merkwürdige chemische Produkt hatte wahrscheinlich einmal längere Zeit in der Nähe von Wein gelagert und dadurch etwas angezogen – im übrigen aber seinen Charakter als Vertilgungsmittel für größere Nagetiere treu bewahrt.

»Ja, solch ein Weinchen trinkt man nicht alle Tage – was, Barönchen?«

»Nein – Gott sei Dank!« Es fuhr mir so heraus, ich konnte nichts dafür.

»Gott sei Dank?«

»Ich meine, weil . . . weil man sonst zu sehr verwöhnt werden würde!«

»Ach – brillant! – hahaha!« Und er schenkte mir wieder ein.

»Wie lange gedenken der Herr Baron noch in England zu bleiben?« mischte sich Mistreß Mimi schüchtern in die Unterhaltung.

»Ich reise morgen wieder nach Hause.«

»Morgen? Ach, was Sie sagen, Herr Baron! – Ich nämlich auch.«

»Sie, gnädige Frau?« rief ich ganz verwundert. »Und ohne Ihren Herrn Gemahl?«

»Ja, sehen Sie«, fiel der große Karl Ferdinand ein, »ein so künstlerisches Zigeunerleben ist eben nicht jedermanns Sache. Meine liebe Frau fühlt sich hier zu verlassen, besonders, da es mit der Sprache nicht recht gehen will. Und dann nötigt mich auch mein Beruf, meist von Hause abwesend zu sein – Sie können denken, wie sehr sie sich da nach Hinterpommern sehnt. Mein Weiberl, mein herzig's, ist nämlich aus Hinterpommern. Aus rauschenden Vergnügungen, Toiletten und dergleichen macht sie sich nichts, dazu ist sie zu einfach erzogen, die liebe Seele . . .«

»Ja, und sehen Sie,« fuhr das gute Geschöpfchen, schon fast schluchzend, fort, »hier ist alles so gräßlich teuer: man muß sich so einschränken und kann doch nichts zurücklegen. Da will ich lieber nach Hause zu meiner Mama nach Belgard, bis Ferdinand sich hier genug verdient hat und wieder nach Deutschland zurückkommen kann. – Wollen Sie auch über Hamburg reisen?«

»Ja, allerdings. Morgen mittag um zwei mit der ›Argo‹.«

»Mit der ›Argo‹? Ach, das ist reizend: da können wir ja zusammen fahren! Ich hatte mich schon so gegraust vor der Reise – und nun finde ich so hübsche Begleitung!« (Die kleine Frau war zu nett.)

»Aber, liebe Mimi,« beschwichtigte der Gatte ihren Freudenausbruch, »du weißt ja nicht, ob der Herr Baron . . .«

»Mein liebster Herr Müller,« fiel ich ihm ins Wort, »es wird mich außerordentlich glücklich machen, wenn Ihre Frau Gemahlin meine Begleitung annimmt. Ich bin mit tausend Freuden zu jedem Dienst bereit, wenn Sie mir das Vertrauen schenken wollen.«

»Welche Frage, bester Baron – so lange wie wir uns kennen!« rief Karl Ferdinand und schüttelte mir die Hand über dem Tisch. »Sie würden mir allerdings einen großen Gefallen tun, wenn Sie die Liebenswürdigkeit haben wollten, etwas für meine Frau zu sorgen. Sie glauben gar nicht, wie rührend unerfahren sie in allen praktischen Dingen ist, die reine Idealistin – wie die Hinterpommern alle; aber keine Idee, wie man mit Kutschern, Packträgern und Kellnern fertig wird, Billetts löst und dergleichen. Und dann diese bezaubernde Geographielosigkeit! Wenn Sie ihr sagen, daß der Limpopo bei Philippopel in den Mississippi fließt, glaubt sie es Ihnen.«

In diesem Ton redete er noch eine ganze Weile fort, während das liebe Frauchen ganz beschämt in ihren Schoß schaute. Der Gedanke, dieser wunderhübschen, blonden, kleinen Dame als dienender Ritter beigesellt zu sein, sie zu beschirmen mit starkem Arm wider alle Fährlichkeiten zu Wasser und zu Lande, belohnt zu werden durch einen innigen Blick aus diesen Veilchenaugen, einen warmen Druck der weichen Kinderhand – dieser Gedanke ließ mein neunzehnjähriges Herz höher schlagen, und schwellte meine männliche Brust mit edlem Stolze. In kühnem Redefluß verschwor ich mich hoch und teuer, meinem Freunde Müller sein teuerstes Kleinod sicher übers grollende Weltmeer in die Arme seiner Schwiegermutter zu geleiten.

Er war sichtlich gerührt, umarmte mich und rief: »Goldenes Barönchen, Sie wälzen mir einen Mühlstein vom Herzen!«

Nun war das Eis gebrochen: wir schwatzten unbefangen zusammen wie alte Bekannte, und selbst die fragwürdigen Genußmittel aus der Garküche um die Ecke vermochten die gute Laune nicht mehr zu stören. Übrigens gelang es mir auch, mich an den leidlich gelungenen mutton chops beinahe satt zu essen.

Natürlich machte ich mir ein Gewissen daraus, meiner reizenden Reisegefährtin am letzten Tage ihres Hierseins den Gatten zu entführen; aber Karl Ferdinand wollte durchaus sein Versprechen halten, und mich für einen vergnügten Abend unter seine Fittiche nehmen, gewissermaßen als vorweg gezahlten Dank für den gleichen Dienst, den ich für die nächsten Tage seiner Frau leisten sollte.

Es dämmerte bereits, als wir zwei uns auf den Weg machten. Mein Papa hatte mich als kleinen Jungen oft genug London sehen lassen; aber so gründlich als Karl Ferdinand Müller verstand er's freilich nicht. Ich sah London – bis alles Sichtbare in dem Nebel vor meinen Augen verschwand – doch dieser Nebel soll ja auch zum echten London gehören. Anfangs hatte mein Freund darauf bestanden, für mich zu zahlen: späterhin jedoch mußte er, obgleich widerwillig, meinem Drängen nachgeben und mich auch einmal den Wirt spielen lassen. Er half meiner anfänglichen Befangenheit nach, indem er mir die Verantwortung für die richtige Auswahl der Speisen und Getränke freundlichst abnahm, und um mich nicht knickrig erscheinen zu lassen, keine Ausgaben scheute. Ich habe nicht die leiseste Erinnerung mehr daran, wie ich in jener Nacht in mein Bett gekommen sein mag. Als ich aber am anderen Tage sehr spät und mit schwerem Haupte erwachte, bemerkte ich mit einiger Sorge, daß meine Börse nur eben noch das nötige Reisegeld enthielt. Aus diesem Grunde mußte ich den Gedanken, Mistreß Mimi mit einem prachtvollen Reisebukett bewaffnet abzuholen, sogleich fallen lassen.

Es war die allerhöchste Zeit, daß ich mit dem Cab bei Müllers vorfuhr, und die guten Leute harrten meiner schon ungeduldig seit einer halben Stunde an der Haustür. Diesem beneidenswerten Karl Ferdinand war nicht das geringste anzusehen – mich aber starrte die Halbwüchsige, welche ein großes Bündel auf dem Arm trug, wie ein Gespenst an, und auch meine schöne Schutzbefohlene konnte einen leisen Schreckensruf nicht unterdrücken, als ihr zuerst das graue Elend aus meinen Zügen entgegengrinste. Aber es war keine Zeit zu verlieren. So begrüßten wir uns nur ganz kurz, luden die ungemein zahlreichen Gepäckstücke auf und nahmen dann Abschied. Karl Ferdinand raunte mir noch zu: »Du bist wohl so freundlich, lieber Baron,« – wir hatten also wahrscheinlich gestern nacht Brüderschaft getrunken – »und legst vorläufig für meine Frau aus. Sie versteht gar nicht, mit Geld umzugehen. Aber schreibe ja alles auf und lege ihr nachher Rechnung ab. Du weißt, schenken lassen wir uns nichts! Na, reise glücklich, alter Junge, und bringe mir mein Weiberl sicher heim. Dafür, daß du dich nicht allzusehr in sie verliebst, bürgt mir dein ehrliches Gesicht.«

Na, wenn dies verquollene, grün und blau und weiß und hellgrau marmorierte Antlitz mein ehrliches Gesicht sein sollte, dann war's mit der Bürgschaft schlecht bestellt.

Darauf umarmte und küßte Karl Ferdinand sein Schnuckerl recht herzlich, half ihr in den Wagen, und die Halbwüchsige reichte ihr das große, unklare Paket zu. Dann stolperte ich über einige heruntergefallene Schachteln nach – und fort ging's!

»Aber, gnädige Frau, kann ich Ihnen nicht das große Paket abnehmen?« fragte ich galant, trotz allem Leid und Jammer.

»Nein, danke wirklich sehr; ich kann ihn schon selbst halten«, antwortete Mistreß Mimi und drückte das wollene Konvolut zärtlich an sich.

»Ihn?«

»Ja, Herr Baron, da ist ja doch mein Kleiner drin.«

»Ihr Kleiner? Sie haben einen Kleinen?«

»Ja, gewiß! Ferdinand heißt er; aber ich nenne ihn der Kürze halber Fumps. Ich erzählte Ihnen doch schon gestern . . .«

Ich hatte keine Ahnung davon, was gestern etwa alles erzählt worden sein mochte. Meine Beziehungen zur Vergangenheit hatten überhaupt eine bedenkliche Unterbrechung in meinem Bewußtsein erlitten. Jedenfalls war meine Überraschung über diese unvermutete Vermehrung meiner Reisegesellschaft ungeheuchelt; denn ich hatte einige, wenn auch milde Erfahrungen über die anmutigen Eigenschaften von Säuglingen zu erwerben Gelegenheit gehabt, indem nämlich meine gute Pensionsmutter, Frau Amalia Dammelbock, sich öfters zur Zeit der großen Ferien in neue Familienverhältnisse zu stürzen pflegte.

»Sehen Sie bloß, wie süß er schläft, der kleine Engel!«

Mit diesen Worten zupfte die junge Mutter die Verschalungen des Bündels am oberen Ende ein wenig auseinander, und als ich mich herabbeugte, um den schlafenden Engel gebührend zu bewundern, stieß der Wagen heftig gegen einen Stein – und meine Nase gegen diejenige des kleinen Ferdinand, genannt Fumps!

Das Unglück, das ich hierdurch angerichtet hatte, war fürchterlich. Dieser kleine Müller brüllte wie ein Löwe, wenn er gereizt wurde – und ich hatte ihn gereizt! Seine Mama blickte mich mit ihren Veilchenaugen so grimmig an, wie sie irgend vermochte, und ich saß zerknirscht und betrübt in meiner Ecke und duldete es achtlos, daß eine Schachtel, ein Körbchen, ein Köfferchen nach dem anderen vom Rücksitz herunterpurzelte und mir gegen die Schienbeine schlug. Der Wagen holperte und polterte, die Fensterscheiben rasselten, draußen tobte der Lärm der Weltstadt, drinnen schmetterte das begabte Musikerkind seine Rachearie – und alle diese lieblichsten Geräusche fanden in meinem Hirnkasten einen Resonanzboden, wie sie sich keinen besseren wünschen konnten. Ich war überzeugt, daß ich diese Droschke nicht lebendig verlassen würde; ich schloß die Augen und steckte einen Zeigefinger in jedes Ohr . . . Es half nichts, um so grausamer posaunte es mir im Kopf – ach! Und ich hatte es mir so schön gedacht, mit diesem lieblichen Blondinchen in allen Ehren davonzugehen, mit ihr an die Brustwehr des stolzen Schiffes gelehnt, die Sonne blutrot in den Ozean tauchen zu sehen und dann – einen raschen Griff in meine Brusttasche zu tun und ihr mit sanfter Gewalt meine lyrischen Gedichte vorzulesen. Weh, weh! Wer hat sie zerstört, die schöne Welt? Du, Ferdinand Müller junior, genannt Fumps – bei Kindermord sollten immer mildernde Umstände zugebilligt werden.

Endlich vermochten meine Nerven die unnatürliche Spannung nicht mehr zu ertragen. Ich überwand meine natürliche Schüchternheit und schrie, so laut ich konnte, um die Stimme des Säuglings zu übertönen: »Aber, liebste Frau Müller, so geben Sie ihm doch um Himmels willen zu trinken! Ich sehe nicht hin!«

»Ach nein – er bekommt ja die Flasche,« erwiderte meine Schöne, »die kann ich doch hier im Wagen nicht wärmen.«

»Geben Sie ihm doch irgendwas«, flehte ich weiter. »Auf der Reise wird er's wohl nicht so genau nehmen.«

»Na, warten Sie, ich will ihm ein Lutscherchen zurechtmachen; aber es ist ganz gegen meine Grundsätze.« Unter anderen Verhältnissen hätte ich es entzückend gefunden, wie dies liebkindische Mütterchen von ihren Grundsätzen sprach; nun aber, da sie mir das Baby zu halten gab, während sie ein Stück Zucker mit einem reinen Taschentuch bewickelte, um ein sogenanntes Lutscherchen herzustellen, nun, wie gesagt.

»Aber, Frau Müller, das Bündel ist ja ganz feucht!« rief ich entsetzt: »das arme Kind muß ungewöhnlich stark transpiriert haben!«

»Oh, das schadet nichts – das ist immer so bei kleinen Kindern«, sagte Mistreß Mimi gleichgültig.

Gott sei Dank! Das Lutscherchen half vorderhand, und wir hatten Ruhe vor dem Organ des kleinen Ferdinand, bis wir nach fast zweistündiger Droschkenfahrt Blackwall, den Halteplatz des Dampfers, erreichten. Beim Aussteigen beging ich den zweiten Unglücksstreich an diesem Schreckenstage, indem ich beim Abladen unserer dreizehn Gepäckstücke einen Korb so schräg hielt, daß sein Inhalt auf das Pflaster fiel und – die große Milchflasche zerbrach!

»Oh, was haben Sie getan!« rief Frau Müller, während ihre Blicke mit Entsetzen dem Laufe des weißen Stromes folgten, der sich zwischen den Pflastersteinen hindurch der Themse zuschlängelte. »Nun wird mein armes Kind gewiß verhungern, denn auf dem Schiff gibt es gewiß keine Milch!« Damit brach sie in Tränen aus.

»Beruhigen Sie sich doch, gnädige Frau,« tröstete ich, »es pflegen sehr häufig Kühe an Bord zu sein – nein, ich glaube, es sind immer Kühe an Bord! Kommen Sie nur schnell, das Schiff wird gleich abgehen.«

Wir beeilten uns, an Bord zu kommen, und es war in der Tat die höchste Zeit gewesen: denn in längstens zehn Minuten, sagte uns ein Matrose, sollte der Dampfer starten.

»Sehen Sie nur, bitte, schnell nach, ob Kühe da sind«, drängte Mistreß Mimi, als ich eben mit meinem Köfferchen die Kajütentreppe hinabsteigen wollte. Ich warf das Gepäckstück von mir und stürzte nach dem Zwischendeck, wo gewöhnlich das Vieh auf den Postdampfern untergebracht ist. Ein mehrstimmiges, tiefes Brummen tönte mir entgegen. Dem Himmel sei Dank, sechs wundervolle Kühe, shorthorns bester Rasse – aber nein – o Gott, ich täuschte mich nicht! – Es waren Ochsen, lauter Ochsen, sechs Ochsen!

Ich wagte nicht, meiner armen Gefährtin die niederschmetternde Kunde zu überbringen. Ich eilte in großen Sätzen zur Landungsbrücke und rannte dabei fast einen Herrn mit goldbetreßter Mütze um, offenbar den Kapitän. Er stieß einen halblauten Fluch zwischen den Zähnen hervor: aber ich ließ mich nicht einschüchtern, sondern redete ihn mit flehender Gebärde an: »Ach, Herr Kapitän, Sie müssen das Schiff noch einige Augenblicke halten lassen – ich bin im Moment wieder zurück!« Und fort war ich auch schon.

Ja, wo nun aber hier am Strand in dieser Eile Milch herzubekommen? Drei elende, kleine Läden nur befanden sich dem Landungsplatze gegenüber: ein Trödelgeschäft, vor dessen Tür ein mißvergnügtes, altes Beinkleid aushing, eine Budike für Kautabak, Teerpinsel und Schiffstaue und ein »still house«, das heißt eine Destillation. War es die rasche Ideenverbindung zwischen »stillen« und Milch oder die reine Verzweiflung, ich weiß nicht – jedenfalls stürmte ich in diesen letzteren Laden hinein und rief dem Manne vom Schenktisch atemlos zu:

»Milk, for goodness' sake, give me some milk and mind to be quik about it!« – (Milch, um Gottes willen, geben Sie mir etwas Milch und ja schnell!)

Der Mensch starrte mich mit weitoffenem Munde an, als traue er seinen Ohren nicht – offenbar hielt er mich für geistig gestört. Und als ich mein Verlangen noch dringender wiederholte, zeigte er mir zwei Reihen priemgeschwärzter Zähne und lachte nachdrücklich und gelassen. Dann aber öffnete er die Glastür zum Nebenzimmer und rief hinein:

»Come along, Susan, 'ere is young gentleman, as would like a dram o'milk!« – (Komm rein. Suschen, hier ist ein junger Herr, der gern einen Schuß Milch möchte!)

Und nun schoß eine hagere Frauensperson, so schnell und so eckig wie der Blitz, zur Tür herein, maß mich von oben bis unten mit einem giftigen Blicke und äußerte in sehr hoher Stimmlage ihre Meinung dahin, daß ich zweifelsohne so ein niederträchtiger »abstainer«, so ein verd . . . Temperenzler sei, der ehrliche Christenmenschen verhöhnen und in ihrem redlichen Gewerbe beeinträchtigen wolle. Der biedere Gatte spuckte sich während dieser kurzen Standrede in die Hände und gab seine unzweifelhafte Absicht zu erkennen, mich nunmehr aus seinem Lokal hinaus und die Steinstufen hinunter zu boxen. Trotz alledem wagte ich noch einen Sturmlauf auf das weibliche Mitgefühl Suschens und schilderte ihr mit fliegenden Worten den traurigen Sachverhalt. Und wahrhaftig, ihr schlug ein warmes Menschenherz unter dem Knochenpanzer ihres Busens. Suschen sprang mit einem großen Satze über die Schwelle und kehrte nach wenigen, langen Sekunden mit einem Milchtopfe zurück.

Ja, mein Himmel, nun hatte ich keine Flasche mit, und eben ertönte draußen das Nebelhorn der »Argo«, das Signal zur Abfahrt gebend. Da langte Mistreß Susan die erste beste leere Ginflasche vom Bar, goß die Milch hinein, und ich warf einen Schilling auf den Tisch, ergriff die rettende Flasche und stürzte nach der Landungsbrücke, welche soeben zurückgezogen wurde.

»Halt, halt!« schrie ich aus Leibeskräften, aber die »Argo« setzte sich langsam in Bewegung. Ich blieb taub gegen alle Warnungsrufe – und da! – ein kühner Satz – ich war an Bord, und Ferdinand Müllers des Jüngeren kostbares Leben war gerettet!

Der Herr Kapitän hatte von der Kommandobrücke aus mein Turnerstückchen mit angesehen. Was mußte er von einem Menschen denken, welcher fast im Augenblick der Abfahrt noch einmal das Schiff verließ, um eine große Flasche Schnaps zu holen! Er hatte zum Glück für mich dort oben zu tun, sonst wäre es sicher nicht bei jenem einen verachtungsvollen Blick geblieben. Meine blonde Schutzbefohlene fand ich noch auf dem Flecke, wo ich sie vorhin gelassen hatte, als ich ging, die Ochsen zu inspizieren. Sie hockte, ein reizendes Häuflein Unglück, auf meinem Koffer, umgeben von den dreizehn anderen Gepäckstücken, und versuchte vergebens, den erwachten Löwen durch Wiegen und Summen zu beruhigen. Sie weinte vor Rührung über meinen Bericht, wie ich nach dieser köstlichen Milch wie toll von Pontio zu Pilato, das heißt von den Ochsen zur Susanne gelaufen war, und sie dankte mir mit einem Blick, einem so unendlich blauen, feuchten Blick, daß ich schier meiner Leiden und Ängste vergaß und das beste von der nächsten Zukunft zu hoffen begann.

»Es hat Sie doch sehr angegriffen, lieber Herr Baron,« sagte sie, »Sie sehen recht elend aus!«

»Oh, es hat nichts zu sagen. Die frische Seeluft wird mir schon gut tun.«

Sie hatte das stimmbegabte Bündel auf ihren Schoß gelegt und streckte die Hand nach der Milchflasche aus, welche ich ihr mit einer gewissen Inbrunst hinreichte.

»Wie gut Sie sind«, sagte sie mit ihrer süßen, schmelzenden Stimme. »Ich danke Ihnen wirklich tausendmal. Die Milch wird doch frisch sein? – Aber nein, pfui! Was ist denn das? Das riecht ja ganz abscheulich nach – Branntwein!« – Dies sagte sie mit etwas weniger schmelzender Stimme.

»Allerdings, meine Gnädigste«, stotterte ich. »Es mag wohl einmal so etwas in der Flasche gewesen sein; denn es ist eine Ginflasche: aber, wissen Sie, Gin ist so gut für den Magen, besonders bei einer Seereise! Ich bin überzeugt, es wird dem Kleinen nur gut tun, wenn die Milch noch etwas danach schmecken sollte!«

Der kleine Ferdinand, genannt Fumps, hatte nun auch die seltsame Flasche ins Auge gefaßt und deutete durch äußerst lebhaftes Strampeln und Ampeln an, daß er höchst begierig sei, ihre nähere Bekanntschaft zu machen. Unter freundlicher Beihilfe des Stewards gelang es mir, Mistreß Mimi samt Master Müller und den dreizehn Gepäckstücken in die Damenkajüte hinunterzubringen. Vor der Tür dieses Heiligtums endete nun vorläufig meine Verpflichtung zu Ritterdiensten – und ich muß gestehen, ich beklagte diesen Umstand nicht allzusehr. Matt und zerschlagen an allen Gliedern, wie ich mich fühlte, taumelte ich meiner Koje zu, erkletterte das obere Bett an der Seeseite, welches mir der Steward anwies, und war bald in einen totenähnlichen Schlaf versunken. Mich quälte ein fürchterlicher Traum. Des Zusammenhanges weiß ich mich nicht mehr zu entsinnen; aber die sechs Ochsen, Ferdinand Müller, genannt Fumps, und Mistreß Susan, die still-house-Wirtin, spielten eine wichtige Rolle darin, und zum Schluß legte der grimmige Kapitän mein Haupt auf einen Block, und ein riesiger Hammer, der einer Ginflasche täuschend ähnlich sah, fuhr im Takt und mit entsetzlichem Getöse, auf meinen unglücklichen Hirnschädel herab. Darüber erwachte ich – und ach, das wuchtige, taktmäßige Rumpeln, Dröhnen und Pochen war keine Einbildung gewesen, und mein armer Kopf schmerzte mich dermaßen, daß ich wohl glauben konnte, er sei noch der Amboß für diese grausamen Hammerschläge. Ich wollte schreien, aber ich brachte es nur zu einem dumpfen Gestöhn. Es war mir zumute, als ob jemand in meinem Magen säße, seinen Arm durch meine Luftröhre emporreckte, und mir von innen den Hals zudrückte. Ich versuchte, die Augen aufzureißen; aber da war wieder jemand, der mir auf jedes Augenlid einen Daumen drückte. Nun schlug ich mit Armen und Beinen wütend um mich, und da – knack, klirr! – es mußte etwas Gläsernes gewesen sein – und zugleich ermunterte mich ein stechender Schmerz im rechten Ellenbogen. Als ich nun erschrocken in die Höhe fuhr, stieß ich zunächst recht empfindlich mit dem Kopf an die Decke der Kabine, welche kaum einen halben Meter vom Kissen entfernt war, und das erste, was meine Augen gewahrten, war ein grauer, intimer Bekleidungsgegenstand, welcher eben endgültig durch die offene Luke, welche etwa in gleicher Höhe wie meine Matratze angebracht war, verschwand, um vom unersättlichen Ozean verschlungen zu werden. Sodann untersuchte ich meinen Ellenbogen, einige Tropfen Blutes sickerten daraus hervor – und nun erkannte ich auch, was ich angerichtet hatte. Rechts war ich mit dem Arm in den an der Schiffswand befestigten Spiegel gefahren, und links hatte meine ausschweifende Hand Glocke und Zylinder von der Hängelampe herabgeschlagen.

Ich hatte mir die Sachlage noch kaum genügend klar gemacht, als schon der Steward erschien, um die Toten vom Schlachtfeld zu entfernen; denn sein geübtes Ohr hatte jedenfalls die Bedeutung jenes klirrenden Geräusches sofort richtig erfaßt. Einen einzigen, beleidigend geringschätzigen Blick verschwendete er an mich; dann fegte er die Scherben zusammen und sagte nur: »Fits, sir?« (Krämpfe, Herr?).

»Ach, entschuldigen Sie nur – es geschah in der Zerstreuung!«

»Oh, uenn Sie sich uollen zerstreuen. Sie können haben billiger. Dieses Szerstreuung kostet four shillings six pence

Mit Schrecken gedachte ich meiner durch die Großmut meines Freundes Karl Ferdinand so erleichterten Kasse. Während der Mann die Glassplitter von meinem Kopfkissen entfernte, fragte ich ihn, was es an der Zeit sei.

»Ongefähr luncheon time«, erwiderte er.

»Was?« rief ich, höchlichst erstaunt, »wir sind doch um zwei mittags abgefahren!«

»Yes, sir, und jetzt uir haben den andern Tag, elf o'clock in the morning. Sie haben geslaffen sie ganze einundsuanzig Stunden.«

»Einundzwanzig Stunden! Aber ich legte mich doch nur mit den Kleidern aufs Bett!«

»Quite right, sir! Als ich bin gekommen ßu machen Licht, habe ich Sie geueckt und geholfen aus die Kleider. Und das deutsche gentleman, uelches slafft unter Sie, hat gesagt, daß Sie sich haben gekauft eine große Affe, ueil er hat gesehen, uie Sie sein gejumped mit eine so große gin-bottle an Bord.«

Ich griff mir an die Stirn und suchte mich zu erinnern: »Einen Affen – ich? Aber das war doch vorgestern«, flüsterte ich vor mich hin.

Der Steward war bereits an der Tür, als er sich nochmals umwendete und sprach: »I beg your pardon, sir – seien Sie nicht das junge gentleman, uelches ist gekommen mit that little fair lady and a screaching baby?« (mit der kleinen, blonden Frau und dem schreienden Säugling?)

Ich bejahte matt.

»Ach, dann sollten Sie gehen und Ihre arme, kleine Frau und die poor little baby sehen, welche ßein ßehr krank.« Damit ging er hinaus.

Meine Frau, mein armes, kleines Baby? Und krank waren sie? Mein Gott, ich auch! Kränker, als ich, konnten sie nicht wohl sein! Alle Heringe, welche in diesem Augenblick gleichzeitig mit mir im Weltmeer plätscherten, wären machtlos gewesen gegenüber dem ungeheuren Elend, das mich erfüllte. Trotzdem aber beschloß ich, auf Deck zu gehen, in der Hoffnung, daß mir in der frischen Luft besser werden würde. Das Ankleiden gelang mir erst nach längerem Bemühen, denn bei dem starken Schwanken des Schiffes taumelte ich fortwährend von einer Bettwand gegen die andere. Endlich aber steckte ich doch glücklich in den Kleidern und tappte nach dem Speisesaal, um mich ein wenig zu stärken; denn ich hatte seit vierundzwanzig Stunden so gut wie nichts gegessen. Oh, was für appetitliche Dinge da zum luncheon aufgestellt waren! Aber sonderbar, sobald ich etwas gewählt hatte und zu essen versuchte, widerstand es mir dermaßen, als sollte ich genötigt werden, einen wollenen Strumpf zu verschlucken. Um so besser mundete mir der feurige Portwein.

Ich wollte eben das dritte Gläschen hinunterstürzen, als ein älterer Herr, der mich schon bei meinem Eintritte eigentümlich scharf angesehen hatte, mir ganz unvermutet in den Arm fiel, und mich in einem Ton, wie vielleicht ein Polizeimensch zu einem Delinquenten sprechen mag, also anredete: »Junger Mensch, Sie geben sich dem Genusse von Spirituosen in einer Weise hin, welche bei Ihrer Jugend Ihnen sehr gefährlich werden kann. Ich habe Sie schon gestern beobachtet, und ich muß Ihnen sagen, junger Mensch, ich war ebenso entsetzt wie empört über den Anblick. Ich genieße nämlich den zweifelhaften Vorzug, unter Ihnen in derselben Koje zu schlafen, junger Mensch.«

Das war mir denn doch zu arg, und den Respekt vor seinem grauen Bart, sowie meine grünen Jahre außer acht lassend, rief ich: »Herr, was bilden Sie sich ein? Ich bin nicht Ihr junger Mensch!«

»Was ich mir einbilde?« versetzte mein grober Landsmann, »ich bilde mir ein, eine gewisse Menschenkenntnis zu besitzen, junger Mensch – und Sie dürften vielleicht noch in die Lage kommen, meinen Scharfblick wider Willen zu bewundern. Vorläufig meine ich's noch gut mit Ihnen und rate Ihnen, beizeiten umzukehren – wissen Sie, was Delirium tremens heißt?«

»Delirium tremens?« Ich starrte dem Herrn wie versteinert in das grimmige Gesicht.

»Ja, junger Mensch! Sie bekommen es sicher noch einmal, wenn Sie es nicht schon haben! Und jetzt lassen Sie mir hier den Portwein in Ruhe und bemühen Sie sich an Deck – das wird Ihnen vielleicht gut tun. Andernfalls müßte ich Ihnen die Treppe hinaufhelfen.«

Ich floh von hinnen, als der böse Feind hinter mir hersetzte. Womit hatte ich unseliger, harmloser Maulesel alle diese bitteren Kränkungen verdient? Gestern sollte ich eine Treppe hinuntergeboxt werden, weil man mich für einen Temperenzler hielt, und heute sollte ich eine Treppe hinaufgeworfen werden, als des hochgradigsten Alkoholismus verdächtig! Ward je einem Unschuldigen ärger von einem widrigen Schicksal mitgespielt? Kaum hatte ich meinen Fuß an Deck gesetzt, als ich schon das Gleichgewicht verlor und in einem Schuß gegen die Brustwehr taumelte. Oh, wie herrlich – das weite Meer, die grünen, schaumbedeckten Wogen, Delphine, die wohlig in dem lauen Wasser plätscherten und unsere »Argo« mit klugen Augen neugierig anglotzten, und dazu dieses unablässige, weiche, wiegende Auf-und-ab, das die Sinne so eigen gefangen nimmt! Eine heftige Sehnsucht befiel mich, eine kindliche Sehnsucht nach – dem klassischen Altertum, dem ich vor wenigen Wochen erst Valet gesagt; ich fühlte mich ganz als alter Grieche und brachte dem Poseidon fromme Opfer dar!

Immerhin aber war dieser Kultus mit gewissen Anstrengungen verbunden, welchen sich meine durch so langes Fasten geschwächte Natur nicht gewachsen fühlte. Namenlos elend, stolperte ich wieder die Treppe hinunter und schleppte mich bis zu meiner Kabine. Der Steward mußte mir wieder zu Bett helfen. Ich lag noch nicht allzulange in halber Betäubung so da, als – zu meinem größten Schrecken – der Unhold, welcher mir das Delirium tremens prophezeit hatte, mit raschen Schritten hereintrat, seine mächtige Faust drohend gegen mich schüttelte und sagte oder besser knirschte: »Elender, Ihr Maß ist voll! Das hätte ich Ihnen denn doch noch nicht zugetraut! Nicht genug, daß Sie sich selbst mit Leib und Seele dem Schnapsteufel verschrieben haben, versuchen Sie auch noch, Ihr unschuldiges Kind zu vergiften!«

»Was, mein Kind?«

»Ja, Ihr armes, unglückliches Kind, dem Sie Alkohol in seine Milch geschüttet haben – leugnen Sie nicht, die Damen haben es alle gerochen, der Schiffsarzt hat es gerochen, ich habe es auch gerochen! Mit Ihnen bin ich fertig – Doppelmörder!« Damit schlug er die Tür zu.

Doppelmörder! Das fehlte nur noch! In dumpfer Verzweiflung ergab ich mich in mein Schicksal und versuchte, zu schlafen. Aber ich sollte nicht lange Ruhe finden; denn nach kaum einer halben Stunde erschien der Steward wieder, um mir zu melden, daß mein armes, unglückliches Baby durch sein jämmerliches Geschrei die ganze Damenkajüte zur Verzweiflung bringe, daß die Mutter, meine arme, unglückliche Frau, schon halbtot vor Aufregung und Übelkeit sei und dringend nach mir verlange.

Nach mir! Ich lag ja selbst so hilflos da, wie ein neugeborenes Kind.

»Scheren Sie sich zum Kuckuck!« fuhr ich in meiner ohnmächtigen Wut den Boten an. Auch er schlug die Tür sehr heftig hinter sich zu.

Wenn ich glaubte, daß es nun ausgestanden wäre, und ich im Schlummer Vergessen meiner Leiden finden würde, so hatte ich die Rechnung ohne den Wirt oder vielmehr ohne den Kapitän gemacht; denn nach Verlauf einer weiteren halben Stunde erschien dieser Großgewaltige in eigener Person in meiner Koje und herrschte mich an: »Herr Meyer, oder wie Sie sonst heißen, werden Sie nun Ihrer Pflichten als Gatte und Vater eingedenk sein oder nicht? Ich komme selbst, um Ihnen zu sagen, daß Ihr armes, unschuldiges Kind wahrscheinlich nicht lebendig den Hafen erreichen wird, und daß Ihre arme, unglückliche Frau nahe daran ist, vor Jammer ihren Geist aufzugeben!«

»Ich auch!« stöhnte ich laut auf, indem ich mich unter meiner Steppdecke krümmte wie ein getretener Wurm.

»Wie? Sie wollen also Ihr armes, unschuldiges Kind . . .«

»Lassen Sie mich mit dem armen, unschuldigen Kind ungeschoren!« fuhr ich den Kapitän an. »Geht mich gar nichts an, das arme, unschul . . .« Da fiel mir die eherne Notwendigkeit ins Wort.

Und der Kapitän wurde zinnoberrot über das ganze Gesicht vor Entrüstung und wandte sich schaudernd von mir ab mit dem Ausruf: »Rabenvater! Pflichtvergessener Unmensch!«

Kaum fünf Minuten später schreckte mich lautes, sich näherndes Stimmengewirr aus meiner Betäubung empor. Der Steward riß die Tür auf und rief mir atemlos zu: »for goodness sake – bolt te door, sir – they are a comin' to lynch you!« (Riegeln Sie zu, um Gottes willen! Sie kommen, sie wollen Sie lynchen!)

Hei, wie konnte ich da vom Bette springen! Und der rettende Riegel war kaum vorgeschoben, als auch schon mit Fäusten gegen die Tür gepoltert wurde. Ich aber verkroch mich zitternd in das nächste beste Bett – ich glaube, es war das des grauen Propheten – und zog die Decke über die Ohren. Dann verlor ich das Bewußtsein. Als ich erwachte, war es stockfinstere Nacht. Die Luft in der engen Kabine erstickend heiß und dumpfig. Ich mußte hinaus, koste es, was es wolle! Die Schrecknisse des Tages hatten mich mit einer wahren Todesverachtung ausgerüstet. Wenn die Unholde mir wirklich noch auflauerten und ihre Drohung, mich zu lynchen, ausführen sollten, so mußten sie nach geschehener Mordtat sicherlich meinen Leichnam dem Meere übergeben, und dieser Gedanke hatte für mich gar nichts so besonders Schreckhaftes mehr, im Gegenteil – es leckerte mich nach etwas Salzigem.

Ich öffnete geräuschlos meine Tür und schlich mich, ohne von jemand bemerkt zu werden, glücklich durch den Salon und die Treppe hinauf. Der erste Mensch, dem ich an Deck begegnete, war mein Lebensretter, der Steward. Ich drückte ihm meinen Dank durch ein sehr anständiges Trinkgeld aus und bat ihn, mir eine kräftige Nachtmahlzeit zu besorgen; denn da die Ausgaben meines Magens dessen Einnahmen in den letzten vierundzwanzig Stunden um ein Erkleckliches überschritten hatten, so machte sich das Defizit durch eine äußerst flaue Stimmung bemerkbar. Der gute Mann trieb denn auch, obwohl die Küche bereits geschlossen war, noch ein kaltes Hammelbein für mich auf, an welchem noch ganz ansehnliche Fleischreste hafteten. Da ich auf dem Vorderdeck keine nachtwandelnden Passagiere gewahrte, so zog ich mich dankbar und bescheiden dorthin zurück, setzte mich mit dem Rücken gegen den Fockmast, nagte an meinem Trostknochen und bewunderte den herrlichen Sternenhimmel. Der lange Schlaf hatte mir doch wohlgetan, und die frische, salzige Nachtluft besorgte das übrige. Ich träumte mit offenen Augen die angenehmsten Dinge und hätte beinahe ein wenig gedichtet, wenn nicht der Gedanke an meine blonde Schutzbefohlene und das Kind Fumps den Schwung meiner Phantasie einigermaßen gelähmt hätte. Oh, wie so ganz anders hatte ich mir diese Meerfahrt vorgestellt, so gewissermaßen als eine Generalprobe für eine wirkliche Entführung. – Und nun? Aber ich unschuldsvoller Jüngling, der ich war, ahnte ja nicht, daß mir noch weit Ärgeres bevorstand, als dieser Tag mir schon gebracht hatte. Sonst hätte ich mich vielleicht mit meinem elegantesten Kopfsprung ins Meer gestürzt, und mich auf diese Art voreilig der sicheren Unsterblichkeit entzogen! Ich mochte etwa zwei Stunden mich so meines wiedererwachten Kraftgefühls erfreut haben, als die Feuerschiffe in Sicht kamen. Gleich darauf nahmen wir den Lotsen auf und steuerten in die Elbe hinein. Je mehr wir uns dem Ziele unserer Fahrt näherten, mit um so bangerer Sorge gedachte ich meiner Ritterpflichten als Beschützer der Strohwitwe und Waise. Sollte das stimmbegabte Knäblein wirklich an Alkoholvergiftung zugrunde gegangen sein? Sollte die wundernette Geigersfrau wirklich ihren Geist aufgegeben haben? Das wäre doch zu schade gewesen – das heißt nicht um den Geist, sondern nur um die Frau! Das Herz schlug mir denn doch etlichermaßen unsanft gegen die Rippen bei dem Gedanken, daß ich vielleicht als Doppelmörder den Boden meines Vaterlandes wieder betreten sollte, ich, der ich als stillvergnügter Maulesel in die Fremde gezogen war!

Schon glänzten rechts und links am Ufer einige Lichter auf, in einer Stunde waren wir vielleicht bereits im Hafen. Ich mußte vorher Gewißheit zu erlangen suchen über das Schicksal meiner Schutzbefohlenen. Ich schwankte nach dem Achterdeck. Die Lage der Damenkajüte war mir bekannt. Dort unter jener Lichtluke, aus welcher der Ventilationsschornstein hervorragte, mußte sie sich befinden. Ich schlich vorsichtig, wie ein Dieb, dahin, hockte mich nieder und näherte mein Ohr dem Luftrohr. Und da vernahm ich – o Wonne! – trotzdem die Elbe mächtig unsern Kiel umrauschte, die Schraubenwelle im Schiffsbauch polterte, die Maschine dröhnte und der Rauchschlot puffte – ich vernahm mit zweifelloser Deutlichkeit die kräftige Stimme des jungen Ferdinand Müller, genannt Fumps, und ich meinte sogar unter verschiedenen tröstenden Frauenstimmen ein hinterpommersches Sprachorgan herauszuhören, welches etwas mit der Zunge anstieß. Dem Himmel sei Dank! Trotz Ginbottle und Seekrankheit lebten Mutter und Kind, ich war kein Doppelmörder!

Es war, glaube ich, um drei Uhr früh, als wir in Hamburg landeten. Vor dem Gelynchtwerden hatte ich nun keine Furcht mehr; denn die Passagiere waren zu sehr mit ihrem Gepäck beschäftigt, auch wohl zu schlaftrunken, um sich jetzt noch so ernstlich mit meiner Wenigkeit zu beschäftigen. Ich blieb auch in der Tat gänzlich unbehelligt und erreichte samt meiner schönen Gefährtin, ihrem glücklicherweise schlafenden Engel und den dreizehn Gepäckstücken wohlbehalten das feste Land, sowie eine Nachtdroschke, welche uns nach dem ersten besten Hotel fahren sollte. Ich erkundigte mich natürlich sofort mit herzlichster Teilnahme nach dem werten Befinden von Mistreß Mimi.

»Oh, so schlimm, so schlimm!« lispelte sie. »Ich dachte, ich müßte sterben.«

»Ich auch!« seufzte ich.

»Ach, mein armer, süßer Karl!« koste sie matt. Das gute Weibchen hielt mich offenbar für ihren Mann! »Nicht wahr, wir gehen nie mehr zur See!«

Ich sagte nichts, und nun sank das blonde Haupt müde an meine Schulter, und das gefährliche Bündel ruhte halb auf meinem Schoß, halb auf dem ihren. Ich fand dies sehr nett, saß stocksteif und rührte mich nicht, obwohl die Straußenfeder an Mimis Hut mir in einer unerhört nervenaufreizenden Weise um Wange und Nase herumkitzelte. Ich muß gestehen, daß ich infolgedessen nicht übermäßig betrübt war, als unsere Droschke hielt, und ich die holde Schlummernde zu wecken genötigt war. Der Kutscher schien meine Weisung, nach dem ersten besten Hotel zu fahren, wörtlich genommen zu haben, denn ich bemerkte sofort, daß wir uns am Alsterbassin befanden, und zwar vor einem gewaltigen Prachtbau. Nachdem ich den Kutscher bezahlt hatte, verblieben gerade noch zwölf gute Groschen und einige englische Pence in meiner Börse! Aber es konnte ja den Hals nicht kosten, da wir hier ja nur ein paar Stunden zu schlafen und am selben Vormittag noch mit der Eisenbahn weiterzufahren gedachten. Es dauerte recht lange, bis endlich ein verschlafener Hausknecht uns die Tür öffnete und uns samt unseren dreizehn Kollis einließ. Auf meine Frage, ob wir zwei Zimmer mit je einem Bett haben könnten, antwortete er nur durch ein Kopfnicken, nahm einen Schlüssel vom schwarzen Brett und stieg dann uns voran drei Treppen hinauf, wobei er das Licht so greulich schief hielt, daß es immer auf den guten Teppichläufer tropfte. Dann ging es einen unendlich langen Korridor hinunter an zahllosen Stiefelpaaren vorbei, bis der Mensch schließlich eine Tür öffnete. Er ging hinein, entzündete die unvermeidlichen beiden »Bougies« und war dann mit einem halb gelallten: »Bitt' schön, wünsch' gute Nacht!« verschwunden, ohne daß wir so recht wußten, woran wir waren.

»Das ist ja sehr hübsch hier«, meinte Frau Müller, aus müden Augen einen flüchtigen Blick ringsum werfend. Dann legte sie das Babybündel sorgsam auf eins der beiden Betten.

»Ach ja, wirklich sehr hübsch«, stimmte ich etwas beklommen bei, indem ich ihr beim Ablegen ihres Regenmantels half. »Mein Zimmer befindet sich wahrscheinlich hier nebenan«, setzte ich nach einer kleinen Pause rasch hinzu und eilte nach einer Seitentür, welche allerdings die angedeutete Vermutung zuließ.

Ich drückte vorsichtig auf die Klinke: die Tür war verschlossen – und vor jener der gegenüberliegenden Wand stand der Marmorwaschtisch!

»Ach, gnädige Frau,« stotterte ich in größter Verlegenheit, »der Esel von Hausknecht hat mich mißverstanden. Er hielt uns gewiß für verheiratet. Aber ich will gleich noch einmal hinunter und sehen, ob ich ihn nicht noch erwische.«

Ich wollte eben hinauseilen, als die kleine Frau mich mit einigen raschen Sprüngen überholte, mit beiden Händen am Arm erfaßte und mich anflehte: »Ach Gott, ach Gott, Herr Baron wollen mich doch nicht allein lassen? Ich komme ja um vor Angst!«

»Ja, verehrte gnädige Frau, ich meine nur, weil – weil wir doch sozusagen – im Grunde eigentlich – wenn man's so nimmt, doch gar nicht verheiratet sind, so meinte ich bloß . . .«

»Ach, da hat ja hier niemand nach zu fragen!« fiel sie eifrig ein. »Ich graule mich wirklich zu Tode; denken Sie nur, ich habe ja in meinem ganzen Leben noch nicht allein im Zimmer geschlafen, und wenn Sie nur nichts Böses von mir denken . . . ach, bitte, bitte, bleiben Sie nur bei mir – bei mir und dem armen, kleinen Fumping.«

Sie bat so reizend, es war so unwiderstehlich, und ich wurde ganz gerührt. Nein, ich dachte gewiß nichts Böses von ihr, und mein eigenes Herz war so veilchenblau, wie Mistreß Mimis sanfte Augen.

»Wenn Sie nur so gut sein wollen und so lange 'rausgehen, bis ich huste«, sagte sie und drückte mir dankbar die Hand.

Ich verfügte mich gehorsam auf den finsteren Korridor hinaus und wartete. Fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde – ach, wie entsetzlich langsam die Zeit dahinschlich! Ich traute mich gar nicht einmal auf und ab zu gehen, weil ich dann wahrscheinlich das verabredete Zeichen überhört hätte, überdies hustete und schnarchte es aus mehreren anderen Zimmern so laut, daß mir trotz aller Aufmerksamkeit sehr wohl das Signal entgehen konnte. Ich legte daher zu wiederholten Malen mein Ohr an die Tür, vermochte aber nicht das geringste Geräusch wahrzunehmen. Da faßte ich mir endlich ein Herz und pochte leise an – keine Antwort! Nochmals – keine Antwort!

»Sie ist gewiß eingeschlafen und hat zu husten vergessen«, dachte ich mir und wagte endlich, die Tür ganz leise zu öffnen. Die hübsche, kleine Frau lag wirklich schon im Bett; aber sie war noch wach und winkte mich eifrig heran.

»Warum kamen Sie nicht?« flüsterte sie, als ich ihrem Wunsch nachgekommen war. »Ich liege ja mindestens schon eine Viertelstunde.«

»Ja, haben Sie denn gehustet?«

»Nein, ich konnte doch nicht husten, sonst wäre mir ja der Fumps aufgewacht. Sehen Sie bloß, wie süß er schläft!«

Es war wirklich ein ganz wunderlieblicher Anblick, dies große, kahle Kinderköpfchen neben dem blonden Engelshaupt der jungen Mutter so in das frische, weiße Linnen gebettet zu sehen. Aber da ich durch meine eifrige Bewunderung des schlafenden Fumpses schon einmal großes Unglück angerichtet hatte, so murmelte ich nur etwas Unklares in meine zwölf Barthaare und zog mich mit einer gewissen Hast zurück.

»Ich bitte schön,« hörte ich Mistreß Mimi mir nachflüstern, »poltern Sie nur nicht mit dem Stiefelknecht, und setzen Sie, bitte, meine Stiefel auch hinaus.«

Ich entledigte mich meines Schuhwerks mit fast absoluter Geräuschlosigkeit und trug dasselbe dann samt demjenigen meiner holden Gefährtin vor die Tür.

»Haben Sie auch die Tür innen zugeriegelt?« lispelte wieder die leise Stimme vom Bett her.

»Jawohl!« gab ich ebenso leise zurück.

»Bitte, schließen Sie doch noch zweimal 'rum.«

Es war mir zwar unverständlich, was das Verschließen neben dem Verriegeln noch für einen Zweck haben sollte, aber ich tat gehorsam, wie man mich geheißen.

»Sie haben ja wieder zurückgedreht – ich hab's ganz wohl gehört.«

»Nein, wirklich nicht. Ich habe zweimal 'rumgeschlossen.«

»Wahrhaftig?«

»Wahrhaftig!«

»Sind die anderen Türen auch fest zu?«

»Ganz fest.«

»Die hinter dem Waschtisch auch?«

»Ja, die auch.«

»Ach, bitte, gucken Sie doch noch einmal unter die Betten, mir ist so ängstlich!«

»Was soll denn unter den Betten sein?«

»Es könnte doch jemand darunterstecken. Ich habe immer so furchtbare Angst, daß jemand unter den Betten stecken könnte!«

Mit einem heimlichen Seufzer über so viel Torheit bei so viel Reiz und Unschuld leuchtete ich unter mein Bett. »Hier liegt niemand unter!« beruhigte ich die ängstlich Aufblickende.

»Bei mir auch nicht?«

Ich warf mich auch vor ihrem Bett auf die Knie: »Hier steckt auch keiner unter!«

»Wirklich nicht?«

»Wirklich nicht!«

»Ich danke Ihnen, Herr Baron! Mein Mann muß auch immer unter die Betten gucken, sonst kann ich kein Auge zutun.«

»Darf ich jetzt das Licht auslöschen?«

»Ja, wenn Sie's nicht mehr nötig haben. Gute Nacht!«

Sie streckte mir die kleine, warme Hand entgegen, die ich mit erheblich abgekühlter Inbrunst an meine Lippen drückte.

Ich hatte zwar die längste Zeit der Überfahrt im Schlafe verbracht, und die Bezüge waren feuchtkalt wie in allen Gasthäusern der Welt: aber trotzdem war ich sehr bald fest eingeschlafen. Das Auf-und-nieder der Schiffsbewegung steckte mir noch in den Gliedern und wurde zu einem angenehmen Wiegen; in meinen Ohren tönte das Rauschen des Meeres noch nach und lullte mich in immer tieferen Schlummer.

Merkwürdigerweise blieb ich mir dieses Wiegens und Rauschens immer noch bewußt, obwohl ich, wie gesagt, ganz fest schlief: ja, das Brausen wurde immer lauter und mächtiger, wie wenn sich ein Orkan erheben wollte. Ich hörte ganz deutlich den schrillen Pfiff der Möwen, das Geschrei des Sturmvogels. Und dann ward das Dröhnen und Poltern der Maschine immer lauter: man hatte offenbar die Dampfkraft auf das äußerste angespannt. Rumpumpumpumpumpum! Mein Gott, wenn nur der Kessel nicht platzt! Rumpumpum – rumpumpum – rumpumpum! Von der Kommandobrücke tönte durch das Sprachrohr die Stimme des Kapitäns, fast erstickt von dem Kreischen und Heulen des Sturmes, aber dennoch vernehmlich . . .

»Zum Donnerwetter noch mal! Hört denn das Geschrei nicht bald auf? Das ist ja zum Tollwerden!«

Und dann polterten zwei kräftige Männerfäuste zornentbrannt gegen die Tür am Kopfende meines Bettes.

Und nun pochte es, wenn auch bedeutend bescheidener, gegen die andere Tür, jene hinter dem Waschtisch, und eine jammervolle sächsische Tenorstimme rief:

»I, nu hären Se, mein kutstes Madamchen, was is Sie denn das bloß mit den Kleenen? Er wird sich de ganze scheene Stimme vergnaxen. Gäben Se'n doch e bißchen was Sißes! Derf ich Sie denn vielleicht mit e Stickchen Schocklade unter de Arme greifen? 's is von Jordan und Dimäussen in Dräsen.«

Das war's also, was ich für die überheizte Maschine gehalten hatte, und die ganze übrige Sturmmusik besorgte Fumps, das Wunderkind, ganz allein.

Eben hatte ich mich im Bett halb aufgerichtet, auch meinerseits der Mutter dieses Knaben milde, aber dringliche Vorstellungen zu machen, als diese schon selbst vor mir stand mit dem Schreckensbündel auf den Armen.

»Ach, die gräßlichen Herren!« wehklagte die kleine Frau, dem Weinen nahe. »Können nicht einmal ein armes Kind schreien hören, ohne sich wie die Wilden zu betragen! Ach, bitte, halten Sie ihn nur einen Augenblick und suchen Sie ihn still zu kriegen, bis ich ihm seinen Fencheltee gewärmt habe!« Und ohne erst meine Zustimmung abzuwarten, drückte sie mir das Steckkissen mit seinem strampelnden, zeternden Insassen in die Arme. Zwar hatte ich Frau Amalia Dammelbocks Jüngstes über die Taufe gehalten, aber diese geringe Vorübung genügte doch nicht, um mich dieser so viel schwierigeren Aufgabe gewachsen zu machen. Ich schaukelte den jungen Ferdinand Müller aus Leibeskräften hin und her – es half nichts! »Pischmischwischwisch!« Es half nichts! Ich redete ihm freundlich zu: »So sei doch nur still, mein süßes Viehchen – es gibt ja gleich Zuckerchen!« Es half nichts! Ich beklopfte das Steckkissen unten und oben, ich ließ es in die Höhe hopsen – es half nichts!

Und dabei wollte der Fencheltee immer noch nicht warm werden, und aus beiden Nebenzimmern, selbst in dem des gemütlichen Sächsers, machte man in vernehmlicher Weise seiner Entrüstung Luft. Mir selbst gellten die Ohren, wie wenn ich in einer engen, bedeckten Bahnhofshalle eine halbe Stunde lang das schrille Pfeifen einer Lokomotive ganz aus der Nahe hätte anhören müssen. Das konnten meine Nerven denn doch nicht aushalten, und ich schrie dem unbarmherzigen Fumps an:

»Kind, jetzt halt endlich den Schnabel!«

Und wirklich, das kleine Ungeheuer zuckte zusammen, verstummte, riß seine verquollenen, hellen Äugelchen weit auf und starrte mich verwundert an. Gleich darauf jedoch zogen sich die Mundwinkel wieder in die Quere, die Guckelchen verschwanden, die Ärmchen ampelten, und F F F setzte es mit einer neuen Rachearie ein.

»Aber nei – pfui, Herr Baron, das arme Kind so anzuschreien!« rief die aufgeregte Mama, nun wirklich in Tränen ausbrechend, und entriß mir Unwürdigen ihren Liebling. »Männer sind wirklich zu gar nichts zu gebrauchen! Was haben sie dir getan, mein Fumpelchen, mein süßes, mein einziges?«

Mit einem heftigen Krach warf ich mich auf die Seite und zog die Steppdecke über die Ohren. Oh, wie gut verstand ich jetzt meinen Freund Karl Ferdinand! Ich hätte es noch vorgestern nicht begreifen können, wie ein Mann von Gemüt sich von einem so reizenden Weibchen, wie Mistreß Mimi war, freiwillig und auf unbestimmte Zeit zu trennen vermöchte. Nunmehr aber war mir alles klar. »Oh, du grundgütiger Himmel,« seufzte ich, »wenn ich sie erst über die hinterpommersche Grenze hätte! Ich heirate nie – oder höchstens eine Witwe mit erwachsenen Töchtern!«

Der Tee war schließlich doch warm geworden: ich konnte weiterschlafen. Und ich tat es mit einer ingrimmigen Festigkeit, mit dem eisernen Vorsatz, nicht aufzuwachen, und wenn zehn Fümpse rings um mein Bett ihre Organe entfesselten. Trotzdem wurde ich noch einmal aus dem heiligen Schlummer gestört, indem mich die Geigersfrau am Arm rüttelte und mir entsetzt ins Ohr raunte: »Hören Sie bloß, es tappt draußen was! Da, jetzt murkst es an der Tür! Ach Gott, ach Gott! Sie haben doch einen Revolver?«

Ich mußte mich wirklich aufraffen und nach dem verdächtigen Geräusch horchen – und was war's? Der Hausknecht holte die Stiefeln von der Tür weg! Endlich, nachdem auch dieses Schrecknis überstanden war, gönnten mir meine Schutzbefohlenen ein paar Stunden Schlaf.

Es war heller, lichter Tag, als ich erwachte. Die blonde Geigersfrau war schon längst wieder auf den Füßen, saß in einem hellen Morgenrock, der ihr allerliebst stand, am Fenster und ließ den kleinen Ferdinand auf ihrem Schoße tanzen, während sie ihm leise dazu sang. Ich beobachtete das liedliche Getändel eine ganze Zeit, ehe sie bemerkte, daß ich wachte.

»Na, endlich wieder munter?« redete sie mich an. »Sie haben aber einen gesunden Schlaf! Dreimal ist der Fumps noch gekommen, und Sie haben sich nicht gerührt – bloß ein bißchen gegrunzt im Traume. Und jetzt ist es halb elf!«

»Halb elf? Und zwei Minuten vor zwölf geht unser Zug! Ach, gnädige Frau, warum haben Sie mich denn nicht früher geweckt? Wollen Sie vielleicht so freundlich sein und nun Ihrerseits ein wenig hinausgehen? Ich ziehe mich ganz geschwind an.«

Sie tat, wie ich sie gebeten, und ich hörte sie, während ich mich ankleidete, draußen den langen Korridor auf und nieder tänzeln und trällern. Eigentlich war sie doch ein recht nettes Weibchen, und das kleine Abenteuer hätte so hübsch ablaufen können, wenn nur dieser hoffnungsvolle Sprößling nicht mit von der Partie gewesen wäre! »Überhaupt,« philosophierte ich, »ist es doch eine sehr unvollkommene Einrichtung, daß die Kinder so furchtbar jung zur Welt kommen!«

Wir nahmen alsdann gemeinsam das Frühstück ein. Mistreß Mimi schenkte den Kaffee ein, bestrich mir die Semmel mit Butter, und das Kind benahm sich für seine Verhältnisse äußerst anständig. Es konnte also nicht fehlen, daß wir in die beste Stimmung gerieten. Das Wetter war übrigens auch wunderschön, und in diesem warmen Sonnenschein machten sich die großen, veilchenblauen Augen der blonden, kleinen Dame besonders gut. Da kam der Kellner mit der bestellten Rechnung und dem Fremdenbuche.

»Schicken Sie gleich den Hausknecht herauf, um unsere Sachen hinunterzutragen, und in zehn Minuten möchten wir eine Droschke zur Bahn haben!« rief ich dem sich Zurückziehenden nach.

»Ja, liebe Frau Müller, was schreibe ich nun da hinein?« wandte ich mich in großer Verlegenheit an meine Schutzbefohlene.

»Das ist doch einfach«, lachte sie; »K. F. Müller, Virtuose, nebst Frau und Söhnchen aus London.«

»Wenn Sie meinen . . .« und mit etwas unsicheren Buchstaben verleugnete ich urkundlich meinen anständigen Namen. Dann ergriff ich die Rechnung – sie war gepfeffert.

»Hui!« sagte ich. »Sie müssen entschuldigen, verehrte Frau, wenn ich von nun an Ihre Kasse in Anspruch nehme: ich habe mich vollständig ausgegeben.«

»Meine Kasse? Wie meinen Sie . . .«

»Nun ja, Ihr Mann bat mich, für Sie auszulegen und Ihnen dann Rechnung abzulegen. Hier habe ich alles aufgeschrieben – bitte!«

»Ja, hat Ihnen denn mein Mann nicht das Geld für mich mit gegeben?«

»Nicht einen Heller!«

»Wie? Mein Gott, er sagte doch . . .«

»Sie haben gar kein Geld bei sich?« rief ich entsetzt und wurde so blaß wie das Tischtuch.

»Nein – bloß ein paar Schillinge für meine kleinen Ausgaben. ›Dein Reisegeld gebe ich dem Herrn Baron in Verwahrung‹, sagte mein Mann.«

»Der Spitzbube!« fuhr ich auf.

»Ach Gott, ach Gott, ich armes, unglückliches Weib! Liebster Herr Baron, verlassen Sie mich nur nicht in dieser gräßlichen Not!«

»Ich Sie verlassen? Wenn ich nur wüßte, wie ich das anfangen sollte? Ich habe gerade noch zwölf gute Groschen im Vermögen.«

»Ich zwei Taler und ein bißchen Kleines.«

»Davon können wir noch nicht einmal die Hotelrechnung bezahlen!«

Der Kellner, gefolgt vom Hausknecht, trat wieder ein und meldete, daß der Wagen vorgefahren sei.

Wir hätten uns anders besonnen, meiner Frau sei nicht ganz wohl, stotterte ich und fühlte, wie dabei mein ehrliches Gewissen seine rote Flagge in meinem Antlitz aufhißte.

Ob die Herrschaften zur Table d'hôte erscheinen würden.

Zur Table d'hôte! Ich als ein falscher Ehemann und heimlicher Urkundenfälscher mich an einem Orte sehen lassen, wo doch am Ende jemand mich kennen konnte! Die Welt ist ja so klein, man entgeht ja nirgends seinen Freunden. Wir würden auf dem Zimmer speisen.

Der Mann war so liebenswürdig, mich darauf aufmerksam zu machen, daß das Kuvert, auf dem Zimmer serviert, eine Mark mehr koste.

Das sei mir tout égal, herrschte ich den Befrackten mit einiger Gereiztheit an. Natürlich: was er doch nicht bezahlen kann, darauf kommt's keinem Noblen an.

Der Mann entfernte sich, nicht ohne zuvor einen neugierigen Blick in das Fremdenbuch getan zu haben. Kaum war er hinaus, so sprang ich wütend auf, rannte im Zimmer auf und ab wie ein hungriger Panter im Käfig und machte meinem gepreßten Herzen durch die zärtlichsten Beteuerungen an die Adresse des edlen Herrn Gemahls meiner Schutzbefohlenen Luft.

Missiß Mimi wußte unterdessen nichts Besseres zu tun, als ihren Erstgeborenen, »ihr Einziges, ihr Süßestes, ihren Herzenstrost« an ihren Busen zu drücken und mit demselben gemeinsam ein erschütterndes Ach-und-Wehduett anzustimmen. Hätte der Rabenvater die Tränen seines blonden Opferlammes gesehen, die furchtbare Stimme seines den Zorn des Himmels auf sein Haupt herabrufenden Sprößlings vernommen, so hätte sich gewiß sein harter Sinn erweicht. Ein Glück für ihn, daß die Nordsee zwischen uns lag; denn ich fühlte eine unbändige Lust in mir, ihm zum Dank für den einstigen Geigenunterricht nun meinerseits die Flötentöne beizubringen!

»Was tun, was tun? O du Grundgütiger . . . was tun? Woher nehmen und nicht stehlen?« raste ich.

»Ach Gott, ach Gott, ach Gott!« schluchzte Missiß Mimi. »Mein Ferdinand! Ist es denn zu glauben? Er war doch sonst immer so nett zu mir, und ich hab' doch nichts getan – außer mal mit seinen Variationen, wo ich sagte, sie wären scheußlich – und ich wußte doch nicht, daß sie von ihm waren. Ach Gott, ach Gott, ach Gott! Mein Fumping, mein Süßing, nun müssen wir verhungern und kommen nie mehr nach Belgard zu Großmama.«

»Nun, nun, liebe Frau Müller,« tröstete ich, »verhungern werden Sie nicht gleich. Ich habe uns ja vorläufig die Table d'hôte aufs Zimmer bestellt.« Und da Mutter und Kind trotz dieser Aussicht nicht aufhören wollten, zu weinen, so streichelte ich mit einer Hand den Baby über den Kahlkopf, mit der andern klopfte ich Missiß Mimi beruhigend auf die Schulter.

Bei dieser Beschäftigung überraschte uns das Zimmermädchen, welches schon früher von Madame den Auftrag erhalten hatte, frische Kuhmilch für Fumps zu besorgen. Das gute Mädchen zeigte sich sofort von echt weiblichem Mitgefühl für die unbekannten Leiden des kleinen Schreihalses ergriffen, nahm der Mutter, während diese den bewußten Kochapparat in Tätigkeit setzte, das Bündel ab und ging tänzelnd und trällernd damit im Zimmer umher, so daß es bald die stimmlichen Feindseligkeiten einstellte und nur noch ein Tönchen von sich gab, welches von den beiden Damen einstimmig für ein entzückendes Lachen erklärt wurde.

Wenn schon die Hamburger Dienstmädchen überhaupt mit ihren gesunden Farben, ihrer anmutigen Fülle, ihrer blendend weißen Wäsche und ihrem koketten Häubchen mit Recht für die hübschesten Dienstmädchen im Deutschen Reiche gelten, so war doch gewiß eine so reizende Zimmerkellnerin wie diese selbst für Hamburg eine Ausnahme. Sie gefiel mir um so besser, als meine blonde Missiß Mimi mit ihrem verweinten Gesichtchen einen gar auffallenden Gegensatz zu dieser lachenden, stattlichen Friesin bildete. Ich habe nämlich niemals verweinte Damen leiden können und halte es für eine der lächerlichsten Gewohnheitslügen der Romanschreiber, daß Tränen eine weibliche Physiognomie verschönen sollten.

Ich beobachtete die reizende Hotelnymphe aus der Fensternische heraus, in welche ich mich bescheiden zurückgezogen hatte, mit dem innigsten Wohlgefallen und war geradezu betrübt, daß die Klingel sie bald wieder abrief.

Ich trommelte gegen die Scheiben und blickte sinnend über den blanken Spiegel des luftigen Alsterbassins hinweg ins Blaue.

»Wissen Sie noch nichts, Herr Baron?« unterbrach endlich die »Genossin meiner Schmach« die lange Stille, während welcher nur das behagliche Schnaufen des eifrig sich nährenden Säuglings zu vernehmen gewesen war.

Ich wandte mich um und nahm eine imposante Haltung an.

»Ja. Madame,« sagte ich, »ich weiß etwas! Ich werde hingehen und die goldene Uhr, die mir mein Papa zum Lohn für das bestandene Examen gestiftet hat – versetzen!«

Die Rührung drohte mich zu übermannen, ich mußte mich hastig wieder abwenden.

»Ach nein, das dürfen Sie gewiß nicht tun – die schöne Uhr! Warten Sie, da fällt mir ein: ich habe ja das goldene Armband mit dem großen Rubin drin, das mir mein Mann zur Hochzeit geschenkt hat – warten Sie, das hole ich gleich aus dem Koffer. Hundertundzwanzig Taler, die Ersparnis von drei Jahren, habe er damals dafür aufgewendet, sagte mein Ferdinand. Und jetzt kann er mir nicht einmal das Reisegeld nach Hause geben, der abscheuliche Mensch, der . . . Ach, er wird aber doch sehr böse sein, wenn er's erfährt, daß ich sein Hochzeitsgeschenk versetzt habe, denn als es uns in London auch 'mal so knapp ging, daß wir versetzten mußten, und ich das Armband dazu hergeben wollte, da sagte er: ›Mimi, wenn du mich lieb hast, so versetzte das Armband nicht, es wäre mir zu schmerzlich!‹ Ja, das sagte er, Herr Baron – ach, er war doch ein so gefühlvoller Mann, mein Ferding!« Und darüber brach die Gute wieder in neue Tränen aus.

Mich aber rührte meine neue goldene Ankeruhr doch mehr als die schmerzlichen Gefühle des hinterlistigen Geigers, und ich bemächtigte mich daher des Armbandes, sobald Missiß Mimi es aus des Koffers Tiefe hervorgewühlt hatte, und beeilte mich, damit zum Hause hinauszukommen.

Es war ein so herrlicher, sonniger Frühherbstmorgen, wie geschaffen dazu, sich ein Boot zu mieten und vergnüglich die Alster hinunterzutreiben, oder besser noch in Gesellschaft der hinreißendsten aller Zimmerkellnerinnen eine Lustpartie mit dem Dampfer nach Blankenese zu unternehmen. Fahret hin, ihr holden Träume! Statt dessen zwang mich mein grausames Geschick, in dieser schönen Seestadt, in der ich keine Menschenseele kannte, mit tunlichster Eile einen begüterten Hebräer ausfindig zu machen, um nur den notdürftigsten Mammon in die Hand zu bekommen. Ich vertiefte mich in die älteren Stadtgegenden, weil ich in jenen unscheinbaren Gassen eher einen verschwiegenen Nothelfer zu finden hoffte.

Sonderbar! So oft ich mich an einer Straßenecke umsah, um den Rückweg nicht zu verfehlen, fiel mir derselbe graugekleidete Herr in mittleren Jahren auf, welcher schon, als ich das Hotel verließ, dicht hinter mir aus dem Portal getreten war. Aber, wie gesagt, ich kannte keine Menschenseele in Hamburg, es war also wohl nur ein Zufall, der jenen Herrn eben dieselben krummen Wege führte.

Ich hatte endlich das Schild eines Pfandleihers entdeckt und betrat nun mit ewigem Herzklopfen dessen staubige Rumpelkammer von einem Laden.

»Entschuldigen Sie, mein Herr,« begann ich in peinlichster Verlogenheit, »ich sehe mich zu meinem größten Bedauern genötigt, ein kostbares Kleinod . . .«

»Kenn' ich, kenn' ich – zeigen Se her und reden Se keinen Stuß!« unterbrach mich der Israelit rücksichtslos.

»Hier ein goldenes Bracelet mit einem prachtvollen Rubin – hat hundertundzwanzig Taler gekostet.«

»Woher wissen Se das so genau, junger Herr?«

»Ich? Nun ich – ich muß es doch wissen – ich habe es ja selbst meiner Frau zur Hochzeit geschenkt!«

»Zur Hochzeit! Nu soll mer einer kommen und sagen, die jungen Leite haben keine Kurasch mehr!« Der gräßliche Sohn Abrahams schien äußerst belustigt zu sein. »Ja, dann hab' ich wohl die Ehre, mit dem Herrn K. F. Müller, wo hie eingraviert steht: ›Seiner Mimi zum 5. August 1873‹?«

»Gewiß bin ich der!« versetzte ich trotzig.

»Und wo wohnen Sie? Verzeihen Sie, bei so kostbare Gegenstände muß ich den Besitzer ganz genau feststellen.« –

Wie das Scheusal verbindlich grinste!

»Hotel de l'Europe,« gab ich kurz und hochfahrend zur Antwort.

Er verbeugte sich so tief, daß seine bedeutende Nase fast den Ladentisch berührte.

»Nu, weil Sie's sind, gnädiger Herr Müller, will ich geben – eine Mark!«

»Eine – Mark?! Erlauben Sie, Herr Abrahamsohn, ich habe mich wohl verhört?«

»Verzeihen Se gütigst, durchaus nicht. Ich gebe immer den dritten Teil vom Taxwert – ganz reelles Geschäft, Herr Müller! Dies Armband, was Sie haben Ihrer Mimi geschenkt zum 5. August 1873, ist von Tombak, der Rubin von Glas. Wert drei Mark, und eine Mark leih' ich darauf.«

»Tombak?!« rief ich ganz entsetzt. »Dann werden Sie vielleicht behaupten, daß diese Uhr auch von Tombak sei!« Und ich hakte mit zitternden Fingern meine schöne Uhr los und reichte sie dem lächelnden Semiten.

»O nein, Herr Müller, das ist eine schöne, solide, echt goldene Uhr!« Er betrachtete sie von allen Seiten und öffnete dann das Gehäuse, um die Firma zu sehen. Und wieder verzogen sich seine alttestamentarischen Züge zu jenem diabolischen Grinsen. »Gott steh mir bei! Was haben sich der Herr Müller da für eine schöne Krone hineingravieren lassen und so feines Wappen dazu!«

Das Wappen und die Krone innen auf dem Deckel! Mein Himmel, daß ich auch daran nicht gedacht hatte! Es stand diesem schadenfrohen Hebräer auf dem Gesicht geschrieben, was er von mir dachte. Säufer und Mörder hatte man mich bereits gestern geheißen, heute hielt man mich zur Abwechslung für einen Dieb! War das nicht zum Tollwerden?!

Ich würdigte den Pfandleiher keines Wortes weiter, sondern entriß mit einem raschen Griffe meine geliebte Ankeruhr seinen wappenschänderischen Klauen und stürzte ohne Gruß auf die Straße hinaus. An der nächsten Ecke fiel mir ein, daß ich das verwünschte tombakene Armband mit dem gläsernen Rubin bei Abramsohn auf dem Ladentisch hatte liegen lassen. Oh, wie gut verstand ich jetzt, warum der gefühlvolle Karl Ferdinand es nicht übers Herz bringen konnte, sein kostbares Brautgeschenk zu versetzen! »Ach was,« dachte ich, »laß den Plunder, wo er ist – nur diesen entsetzlichen Israeliten nicht wiedersehen!« Ich wandte mich um und reckte drohend die Faust gegen das Lokal, wo man mich unschuldigsten aller Maulesel mit so abscheulichem Verdachte gekränkt. Und da – nein, dies war doch mehr als Zufall! – sah ich, wie eben jenes graugekleidete, mittelgroße Individuum den Laden betrat, den ich soeben verlassen hatte. Sollte es ein Geheimpolizist . . . Welche reizende Aussicht – oh, ich würde sicherlich ein paar recht vergnügte Tage in dem lustigen Hamburg verleben! Und in dieser ganzen Republik keine bekannte Seele, welche mich als das harmloseste aller Menschenkinder und als anständiger Sohn anständiger Eltern anerkennen konnte!

Halt, ein Gedanke – mein Vater! Er war der einzige, der mir aus der Patsche zu helfen vermochte. Ihm mußte ich meine verzweiflungsvolle Lage rückhaltlos aufdecken, er mußte helfen, mochte er auch sonst von der so verbreiteten Väterkrankheit der Schwerhörigkeit in Geldsachen noch so sehr ergriffen sein. Ich fragte mich nach dem nächsten Telegraphenamt durch und dann . . . ja, aber wie nun die Depesche abfassen? Ich hatte nur zwölf gute Groschen in der Tasche, und das Telegraphieren war damals noch nicht so billig wie heute. Nach längerem Besinnen überreichte ich endlich dem Beamten folgendes Schriftstück zur Drahtbeförderung:

»Baron W., Schwerin. Verzweiflung nahe. Sitze mit Frau und Kind fest. Bitte, viel Drahtgeld. Ernst, Hotel de l'Europe.«

Mit dieser Leistung war ich ziemlich zufrieden. Besonders tat ich mir auf die Wortbildung ›Drahtgeld‹ nach dem Muster von Drahtantwort etwas zugute. Der Satz: »Sitze mit Frau und Kind fest« mußte zwar meinem Herrn Papa rätselhaft erscheinen, jedenfalls aber ihn ganz außergewöhnliche Bedrängnisse vermuten lassen. Und so schwang sich denn mein Geist, sobald ich diese meisterhaft redigierte Depesche unterwegs wußte, mit der Spannkraft der Jugend zu neuer Hoffnung auf. Ein prächtiger Spaziergang und der Genuß eines sehr billigen zweiten Frühstücks, bestehend aus einem Käsebrot und einem Glase Bier, trugen das ihrige zur Aufbesserung meiner Stimmung bei, und so kam es, daß ich nach zwei Stunden verhältnismäßig heiter und gefaßt mein vornehmes Hotel wieder betrat.

Welch reizender Zufall! Auf dem langen Korridor sah ich das entzückende Zimmermädchen vor mir herwandeln. Ich beschleunigte meine Schritte, legte mit einer mir noch heute unfaßbaren Keckheit meinen Arm um ihre Taille und flüsterte in verliebter Hast:

»Mein süßes Kind, ich finde Sie hinreißend!«

»Mein Herr! Bitte wollen Sie mich 'mal fix 'n büschen loslassen!« versetzte die Schöne unwirsch, entfernte ziemlich unsanft meine Hand und schritt rasch weiter.

»Aber Schätzchen, wer wird denn so spröde tun!« beharrte ich und erhaschte ihre beiden Handgelenke.

»Ich bin nicht Ihr Schätzchen! Pfui, schämen sollten Sie sich was – einen verheirateten jungen Ehemann!«

Sie wich wieder zurück und zog mich mit, da ich sie nicht freigeben mochte.

»Verheiratet – ich?« lachte ich auf. »Da, sehen Sie doch nur meine Finger an! Wo ist der Ring?«

»Was, Sie haben nicht 'mal einen Trauring an!« rief die Schöne ganz laut und entrüstet. »Na, Sie sind mich auch einen schönen jungen Ehemann! Sind Sie schon so weit, daß Sie ihren Trauring in die Weste stecken, wenn Sie ausgehen? Na, denn sputen Sie sich man, daß Sie ihn ankriegen; hier ist Nummer 47.«

Erst jetzt bemerkte ich, daß wir uns gerade vor meinem Zimmer befanden. Aber das Mädchen war mit seinen zornfunkelnden Augen und den geröteten Wangen geradezu unwiderstehlich, und wenn ein von Natur schüchterner Mensch einmal aus sich herauszugehen wagt, dann kennt meist seine Tollkühnheit keine Grenzen mehr, gerade so wie das ärgste Hasenherz durch Pulverdampf und Kanonendonner so trunken gemacht werden kann, daß es wie ein Löwe ficht. Und mit gedämpfter Stimme rief ich: »Ach was, Ehemann hin, Ehemann her! Du hast ja einen zu süßen Mund, Schneck!« nahm sie beim Kopfe, und ehe sie sich dessen versah – schmatz, da saß er! Leider etwas vorbei, auf dem linken Nasenflügel, statt auf den schwellenden Lippen, jedoch auch der linke Nasenflügel war ja sehr nett. Und eben wollte ich mich trotz der heftigen Gegenwehr der spröden Schönen erlauben, meinen Druckfehler zu korrigieren, als sich die Tür von Nummer 47 auftat und Missiß Mimi als Racheengel auf der Schwelle erschien.

Ich schreckte unwillkürlich zusammen wie ein ertappter Sünder und ließ das aufkreischende Zimmermädchen aus meinen Armen entschlüpfen. Und Missiß Mimi starrte mich sprachlos an, aber nur einen Augenblick, dann brach sie in die nicht mehr unbekannten Tränen aus und schluchzte:

»Nein, nein, dies ist zu viel, zu viel, ich – ich lasse mich scheiden!«

»Scheiden?« Nun war an mir die Reihe, zu erstarren. »Scheiden! Madame, Sie irren sich wohl in der Person! Ich . . .«

»Jawohl, junge Frau!« rief das Zimmermädchen ganz vom Ende des Ganges her dazwischen. »Lassen Sie sich man düchtig scheiden! Das tät' ich auch. Das ist 'n ganzen Windhund, der junge Herr!«

Und zugleich taten sich verschiedene Türen auf, Kellner eilten herbei, um nach der Ursache dieses aufgeregten Gespräches zu sehen, und ich nahm meine holde Schutzbefohlene ziemlich unhöflich bei der Hand und zog sie mit mir ins Zimmer hinein.

Ich war zu gekränkt, zu empört, jeder Nerv zitterte in mir. Was hatte ich nicht alles in den letzten achtundvierzig Stunden um diese Frau gelitten und getragen! Die bittersten Ehrenkränkungen hatte ich ihr zuliebe ruhig eingesteckt, meinen ehrlichen Namen hatte ich verleugnet, den Freuden einer durchaus unfreiwilligen Vaterschaft hatte ich mich ohne Murren unterzogen, ja, um sie war ich dem Erlynchungstode nahe gekommen, und zum Lohn dafür wollte sie sich nun von mir ›scheiden‹ lassen!

»Meine gnädigste Frau,« knirschte ich, indem ich eine imposante Haltung annahm, »es gibt Verhältnisse, in welchen der Mensch, wenn er gereizt wird, zum Lamm, . . . in welchen ein Lamm . . . und wenn der Mensch . . . in welchen der Mensch, und wenn er ein Lamm wird . . . Madame! Als ich mich verpflichtete, Ihnen meine ritterlichen Dienste zu weihen, da hätte ich nicht gedacht, daß zwischen London und Belgard der Weg mit Dornen gepflastert sein würde, welche, wenn sie, wie sie bisher getan haben, zu verwunden imstande zu sein ich in dieser Weise geahnt haben würde, wenn sie . . . wie sie . . . diese Dornen, wenn sie . . . wie sie . . . Madame! Haben Sie mich verstanden? So kann es nicht weiter gehen!«

Ich war mir schmerzlich bewußt, mich in meiner Rede sozusagen einigermaßen »verheddert« zu haben. Sie schien jedoch immerhin ihre Wirkung nicht ganz zu verfehlen, denn Missiß Mimi trocknete geschwind ihre Tränen und schaute förmlich ängstlich zu mir auf.

»Seien Sie nur nicht so böse, lieber Herr Baron!« sagte sie ganz kleinlaut. »Ich war wirklich so in Gedanken an meinen treulosen Mann – und wie ich nun draußen die Stimme hörte, da hatte ich in der ersten Bestürzung wirklich ganz vergessen, daß wir ja eigentlich gar nicht verheiratet sind.«

»Ich möchte aber doch sehr bitten, daß Sie das nicht wieder vergessen«, versetzte ich frostig und gemessen.

»Aber denken Sie doch, lieber Herr Baron, Sie sind doch jetzt meine einzige Stütze, bis ich nach Belgard zu Mama komme: an wen soll ich mich denn sonst halten, wenn Sie immer vor meiner Türe die Zimmermädchen abküssen?«

Darauf entgegnete ich noch schärfer: »Erstens, meine liebe Frau Müller, pflege ich nicht ›fortwährend‹ Zimmermädchen abzuküssen, und zweitens steht es mir frei, zu küssen, wen ich mag, Sie natürlich ausgenommen.«

»Ja, wenn Sie durchaus küssen wollen, dann küssen Sie doch meinen süßen Snuting, meinen kleinen Ferding!«

Ehe ich noch meinen Dank für dies freundliche Anerbieten auszudrücken vermochte, klopfte es an die Tür, und auf mein ärgerliches »Herein!« trat – – wer ins Zimmer? Der merkwürdige Herr im unscheinbaren grauen Anzug, welcher mir auf der Straße wie ein Schatten gefolgt war.

»Nun wird's nett!« dachte ich und ließ mich vorsichtshalber in den nächsten Stuhl fallen.

»Habe ich vielleicht das Vergnügen mit Herrn und Frau Müller aus London?« fragte der Unscheinbare mit einem höflichen Bückling.

Missiß Mimi bejahte eifrig. Mir selbst war die Kehle wie zugeschnürt.

»Dann habe ich hier einen Gegenstand abzugeben, den der Herr Gemahl im Laden von Daniel Abramsohn vergessen hat.« Und er legte das unglückselige Armband mit dem großen Rubin vor der erstaunten Besitzerin auf den Tisch.

»Mein Armband,« rief sie aus, »vergessen – im Laden?«

»Ja, weil es doch bloß von Tombak ist!« rief ich barsch.

»Tombak – was ist das?«

»Quark!« knirschte ich.

Missiß Mimi begriff natürlich den Zusammenhang nicht und blickte ratlos zwischen mir und dem Unscheinbaren hin und her.

»Ganz recht, Quark,« klärte dieser sie auf, »das heißt: ganz wertloses Zeug! Ihrem Herrn Gemahl passierte der Irrtum, es für Gold zu halten.«

Und nun ließ sich Missis Mimi ebenfalls auf einen Stuhl sinken und schlug die Hände vor das Gesicht.

»Und dann hätte ich noch einen kleinen Auftrag auszurichten«, fuhr der fürchterliche Unscheinbare fort. »Mein Name ist nämlich Paulsen, von der geheimen Kriminalpolizei. Hier ist meine Legitimation, wenn die Herrschaften sich vielleicht überzeugen wollen.«

»Von der geheimen Kriminal . . .?!« stotterte Mimi und ich aus einem Munde.

»Haben Sie vielleicht auch zufällig so 'ne kleine Legitimation bei sich, Herr Müller?«

»Ich – nein – wozu denn?«

»Ach, denn sind Sie wohl so freundlich und kommen 'mal 'n büschen mit. Der Herr Polizeiinspektor wird sich sehr freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Müller, und Ihre Frau Gemahlin . . .«

»Zum Teufel mit meiner Frau Gemahlin!« rief ich, wütend aufspringend. »Ich habe gar keine Frau Gemahlin, Gott sei Dank!«

»Ach, Sie sind gar nicht verheiratet!« lächelte der schattengraue Paulsen. »Denn macht uns Madame wohl das Vergnügen, gleich mitzukommen. Der Herr Polizeiinspektor ist da 'n büschen komisch in, was so die kleinen familären Verhältnisse angeht. So was mag er zu gern leiden! Ich habe gleich einen Wagen mitgebracht, den können ja die Herrschaften benützen, und das Kleine können Madame ja mitnehmen.«

»Mein Herr,« rief ich entrüstet und mit möglichster Verleugnung aller jugendlichen Ehrfurcht vor den Dienern der hohen Obrigkeit, »mein Herr, ich verbitte mir Ihre schlechten Scherze! Gehen Sie nach Hause und melden Sie dem Herrn Polizeiinsprektor, daß ich die Ehre haben würde, ihm nach dem Diner meine Aufwartung zu machen, um ihm die gewünschte Auskunft über mich und diese Dame zu geben.«

Da machte der Unscheinbare plötzlich ein verteufelt ernsthaftes Gesicht und sagte mit scharfer Betonung:

»Sie werden gut tun, Herr Müller, sich meinen Anordnungen ohne Widerstand zu fügen. Es möchte Ihnen doch peinlich sein, wenn ich Sie von Schutzleuten mit dieser Dame über die Straße transportieren ließe.«

Von Schutzleuten transportieren! Missiß Mimi brach natürlich in Tränen aus bei dieser Aussicht, und ich war nahe daran, es ihr nachzutun. Doch zog ich schnell mein Schnupftuch und machte mir eifrig damit zu tun, um die aufsteigenden Zähren ohnmächtigen Zorns zu verbergen. Da riß mir der hinterlistige geheime Kriminal das Tuch mit einem raschen, unverschämten Griff einfach von der Nase fort und grinste:

»Ach, was haben Sie für schön gestickte Taschentücher, Herr – Müller! So eine große, rote Krone, daß man Ihnen auf eine Meile weit schon den Baron ansieht! Sie erlauben wohl, daß ich diesen Gegenstand als Beweismittel an mich nehme?«

»Ich verschmähe es, mich mit Ihnen überhaupt noch weiter einzulassen«, sagte ich verächtlich. »Gehen wir, mein Herr.«

Und wir gingen wirklich. Die schluchzende, an allen Gliedern bebende Missiß Mimi mußte ich am Arm die Treppe hinuntergeleiten, und der geheime Kriminal sah sich genötigt, das wohlverwahrte Baby hinterdrein zu tragen. Das unschuldige Wurm war sonderbarerweise in bester Laune und lächelte den Schergen der blinden Gerechtigkeit freundlich an.

Unten im Portal vertrat uns der Besitzer des Hotels den Weg. »Mein Herr, ich darf Sie wohl ersuchen, erst Ihre kleine Rechnung zu begleichen, ehe Sie mein Haus verlassen.«

Abgestumpft, wie ich war, durch die lange Reihe von Schicksalsschlägen, welche mich getroffen, konnte mich dieser neue Blitz kaum mehr verwirren, und ich antwortete ruhig: »Ich bedaure, dazu augenblicklich nicht in der Lage zu sein. Doch hoffe ich noch im Laufe des Tages telegraphisch Geld angewiesen zu erhalten. Sollte während meiner Abwesenheit eine Depesche an Baron v. W. eintreffen, so bitte ich, mir dieselbe durch Boten zuzustellen. Dieser Herr wird Ihnen die Adresse sagen.«

»Oh, die Adresse weiß ich schon allein, Herr Baron«, versetzte der Hotelier höhnisch. »Ich werde mich vorläufig an Ihr Gepäck halten.«

Ich würdigte diesen gewöhnlichen Menschen keines Wortes weiter, sondern verließ schweigend das Haus und bestieg schweigend die bereitstehende Droschke.

Eine Viertelstunde später wurde ich bereits vor den Herrn Polizeiinspektor geführt.

Ha, weh mir! Sah ich recht? O namenlose Tücke des Schicksals! Der Herr Polizeiinspektor war kein anderer als mein entsetzlicher, graubärtiger Prophet von der Argo! Dieser Unmensch würde mich mit Wonne zum Tode verurteilt haben, wenn das in seiner Macht stünde, dessen war ich mir mit Grausen bewußt. Und leichenblaß taumelte ich zurück und suchte den Ausgang zu gewinnen. Zwei Polizisten kamen mir jedoch zuvor und schoben mich gewaltsam vor den grünen Tisch, hinter welchem der Entsetzliche thronte.

»Ich wußte es wohl, daß wir uns bald hier wiederfinden würden, junger Mensch!« hub er an, und seine scharfen, grauen Augen glitten förmlich vergnügt an meiner ganzen schlanken Gestalt hinab und nagelten meine Füße gleichsam am Boden fest. Und dann fuhr er mit triumphierendem Tone fort: »Habe ich Ihnen nicht gleich angesehen, wes Geistes Kind Sie sind? Daß Sie mir so gerade in die Arme laufen mußten, das war freilich mehr Ihr Pech als mein Verdienst, obwohl ich eigens Ihretwegen nach England gereist war.«

»Meinetwegen?« Ich war starr vor Staunen.

»Jawohl, Ihretwegen«, wiederholte der Entsetzliche, sich an meiner Bestürzung weidend. »Und nun wollen wir 'mal sehen, ob Sie vernünftig sind, und uns keine überflüssigen Weitläufigkeiten machen. Also, bitte, das Protokoll! Sie heißen, junger Mensch?«

Ich gab ohne Zaudern meinen wirklichen Namen an. Die schnöden Büttel, diese Polizisten, platzten fast mit lautem Lachen heraus, und selbst der grimmige Inspektor lächelte, wie eben ein solcher Unmensch lächeln kann.

»Sie sind geboren – entschuldigen Sie, ich wollte sagen: hochwohlgeboren – wann und wo?«

»Dann und da.«

»Sie sind?«

»Nun, Baron! Das habe ich ja schon gesagt.«

»Nun, gewiß, Baron – natürlich sind Sie Baron! Ich möchte wissen, was ist Ihre Beschäftigung, Ihr Gewerbe?«

»Gewerbe? Ich gedenke Philosophie zu studieren.«

Wieder platzten die bildungslosen Polizeiorgane im Hintergrund mit ihrem traurigen Lachen heraus, und ihr würdiger Inspektor höhnte:

»Ei, mein Verehrtester, da haben Sie sich ja trefflich auf Ihr Studium vorbereitet während Ihrer internationalen Schwindelfahrten. Wir werden uns übrigens bemühen, Ihnen jetzt längere Muße zum Philosophieren zu verschaffen.«

Es wurde hiernach die Aussage des Herrn Paulsen zu Protokoll genommen, und im Munde dieses geheimen Unscheinbaren kam mir selber beinahe alles, was ich seit heute morgen getan, höchst verdächtig vor. Dann wandle sich der Entsetzliche wieder an mich: »Können Sie uns vielleicht über Ihr Verhältnis zu jener blonden jungen Frau, welche mit Ihnen gemeinsam das Zimmer Nummer 47 bewohnte, wahrheitsgetreue Angaben machen?«

Ich hatte ja nichts Unrechtes zu verschweigen, also sagte ich die volle Wahrheit. Ich hätte wahrscheinlich dasselbe getan, selbst wenn ich meine Schutzbefohlene dadurch schwer kompromittiert hätte, denn mein Zorn gegen diese unschuldige Ursache meiner zahllosen Höllenqualen war furchtbar und hatte jedes zärtliche oder auch nur galante Gefühl in mir erstickt. Es versteht sich wohl von selbst, daß man mir kein Wort glaubte.

Der Inspektor erwiderte Folgendes auf meine längere Auseinandersetzung:

»Nun, wir werden ja nachher von der Dame selbst vielleicht die Wahrheit hören, falls Sie die arme Entführte nicht schon früher vorbereitet hatten. Jedenfalls bestätigt mir ihre bewunderungswürdige Keckheit und Erfindungsgabe den Verdacht, den ich gleich auf dem Schiffe gegen Sie faßte. Ich möchte Ihrem Gedächtnis etwas zu Hilfe kommen, junger Mensch, welches durch den allzu frühen und reichlichen Alkoholgenuß offenbar bereits gelitten hat.«

Und er ergriff ein Papier und las daraus ein Steckbriefsignalement ab, welches mit photographischer Treue meine äußere Erscheinung wiedergab. Statur mittel, Gesicht rund, Haare blond, Bart – keiner, Augen blau, Nase gewöhnlich, Mund gewöhnlich, besondere Kennzeichen fehlen! Wer mich nach dieser eingehenden Beschreibung nicht unter Tausenden heraus erkannte, der mußte doch mindestens farbenblind sein! Und nach dieser Vorlesung erhob der scharfsinnige Beamte sein Organ zu wahrhaft niederschmetternder Größe und rief:

»Sie sind der Kellner Max Emanuel Kipfel, genannt Wurm, gebürtig aus Hammelburg bei Schweinfurt, ein trotz seiner Jugend sehr gefährlicher Hochstapler, der unter den verschiedensten vornehmen Namen hier und drüben die raffiniertesten Schwindeleien ausgeübt hat. Eine gewisse Eleganz der Erscheinung und Ihre kolossale Unverschämtheit sind Ihnen dabei sehr zustatten gekommen. Mein erfahrenes Auge konnten Sie aber nicht täuschen: ich sah Ihnen gestern beim ersten Schritt den Kellner an!«

Nun konnte ich mich nicht mehr halten. Um die Tränen der Empörung zurückzudrängen, brach ich in ein höhnisches Gelächter aus. Das ärgerte natürlich den Unfehlbaren gewaltig, und er ließ mich sofort ins Polizeigewahrsam abführen. In der galgenhumoristischen Stimmung, in welcher ich mich nunmehr befand, fragte ich den Schließer, um welche Stunde hier Table d'hôte gespeist werde. Wenn ich's bezahlen wollte, erwiderte er, könnte er mir sogleich schaffen, was ich verlangte. Da ich aber nur noch drei englische Pence in der Tasche hatte, so war ich genötigt, auf das Diner zu verzichten. Und so sah ich mit furchtbar knurrendem Magen die Sonne hinter vergitterten Fenstern sinken und die Schleier der Nacht sich über den Tag meiner Schmach ausbreiten. O diese Nacht! O diese Schlafkameraden! O dieser Hunger!

Aber der nächste Morgen brachte mir endlich die Erlösung aus allen meinen Leiden in Gestalt meines lieben Papa! Ach, mit so stürmischer Inbrunst war ich dem gesegneten Manne seit meiner Geburt – nein, ich will sagen, seit meinem Konfirmationstage – nicht um den Hals geflogen! Und ich weinte mich ohne Scheu an seiner Brust aus.

»Herrgott, Junge, wie konntest du bloß so verrückt telegraphieren! Ich dachte schon, du hättest dich am Ende in England heimlich verheiratet!«

»Verheiratet – ich? Nein, Papa, ich heirate nie – darauf kannst du Gift nehmen!«

Mein Vater war so vorsichtig, im Gegenteil durchaus keine so gefährlichen Stoffe zu sich zu nehmen, sondern er führte mich vielmehr zunächst in einen Austernkeller.

Missiß Mimi habe ich nie wiedergesehen. Ich hätte ihren blonden Anblick auch nicht ertragen können. Ob und wie sie nach Belgard gekommen sein mag, weiß ich nicht.

Meinem Freunde Karl Ferdinand Müller muß ich aber die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er nach einigen Monaten mir sowie meinem Vater alle Auslagen zurückerstattete. Damals, als er mir seine hübsche Frau und den stimmbegabten Fumps anvertraute, hatte dem armen Teufel wirklich das Messer dermaßen an der Kehle gesessen, daß ihm der Geniestreich allenfalls zu verzeihen war. Später aber hatte er eine gute Stellung als Konzertmeister erhalten, die ihm ein anständiges Auskommen mit Frau und Kind gewährte.



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