Theodor Wolff
Der Marsch durch zwei Jahrzehnte
Theodor Wolff

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Die meisten derjenigen, die in dem Garten der Hügelvilla ihre Geschichten und die Resultate ihrer Studien vortrugen, hatten nach einigen Monaten ihr Thema erschöpft, und es wurde nötig, ein neues Programm aufzustellen. Jedem Vortrag war, während die Hausfrau ein nach eigenem Rezept bereitetes erfrischendes Getränk in die Gläser füllte, eine Diskussion gefolgt. Wenn ich eine der Erzählungen beendet hatte, die noch an die Jahre vor dem Kriege erinnerten, hatten die Zuhörer erklärt, jene Zeit wirke heute wie ein Osterspaziergang, wie ein Idyll. Was hätten die Menschen damals erlebt, was erlitten, worüber sich aufgeregt? Ihre Auflehnungen richteten sich gegen die sanften Backenstreiche einer Nurse. Wenn ihnen ein dünnes Spitzentaschentuch lose vor den Mund gehalten wurde, empörten sie sich. Bisweilen regte sich in dem Kreise meiner Zuhörer auch eine leicht ironische Opposition. Beispielsweise zitierte das schöne junge Mädchen den Vers aus der »Kassandra« Schillers: »Ihre bleichen Larven alle sendet mir Proserpina.« Als nach dem Vortrag über den Juden Ballin die Unterhaltung besonders lebhaft wurde, sagte der amerikanische Wikinger, man solle doch nicht immer nur von den Juden sprechen, sie hätten viele Schicksalsgenossen, und andere Emigranten hätten von jeher ebenso gelitten wie das auserwählte Volk auf der Wanderschaft. Worauf der Dichter erwiderte, tatsächlich seien in jeder Revolution und bei jeder staatlichen Neuorganisation die Rechte einer Klasse verkürzt oder beseitigt worden, aber in keiner revolutionären Umwälzung der modernen Zeit habe man das Blut, die Rasse einer Minderheit für volksfremd und volksverderbend erklärt, und diese These, die auch vor den vornehmsten 375 Charakteren und Geistern garnicht halt machen konnte, sei nun einmal für die übrige Welt etwas besonders Sichtbares, ungefähr wie die Freiheitsstatue im Hafen von New York.

»Allerdings scheint es mir«, fuhr der Dichter fort, »daß auch von den gebildeten Juden nur diejenigen in dieser Sache das Wort ergreifen sollten, die selber frei von den Vorurteilen der Rasse sind. Wenn man noch auf dem Standpunkt des Propheten Esra steht, der alle Männer zwang, ihre fremden Weiber zu verstoßen, und eine gelehrte Kommission zur Feststellung der Mischehen einsetzte, dann ist man ein ungeeigneter Ankläger, wenigstens was diesen Teil der Angelegenheit betrifft. Freilich sind ebenso ungeeignet und viel unsympathischer jene Juden, die nicht diesen starren Charakter, sondern einen ganz biegsamen haben und sich mit wahren Bauchtänzen der Ergebenheit an den Sultan heranzuschmeicheln versuchen, und diese sind ja im Grunde weit mehr als irgendein strenggläubiger Rabbischüler von den Mikroben des Ghettos infiziert.«

»Eigentlich«, sagte der Arzt lächelnd, »hat Herder unrecht gehabt, als er in seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« schrieb, die Juden hätten, wie die Ägypter, von jeher das Meer gefürchtet und lieber unter anderen Nationen gewohnt.« Die Gattin des Mathematikers – den meisten der nicht aus Deutschland stammenden Anwesenden war der Name »Herder« unbekannt, und man mußte ihnen eine Erläuterung geben – fragte, was dieser gelehrte Dichterphilosoph sonst noch über die Juden gesagt habe, und der Arzt entgegnete, Herder habe Gutes und Schlechtes gesagt. Von einem sonderbaren Unverständnis zeuge es, wenn er behauptete, die Juden hätten sich nie nach einem Vaterlande gesehnt. Freilich habe er diesen Teil seiner »Ideen« schon etwa um 1780 verfaßt. Gustav Freytag, den man ja gelegentlich zu den Antisemiten gerechnet habe, weil in seinen Dichtungen ein paar jüdische Gestalten von zweifelhaftem Charakterwert vorkämen, habe in den »Bildern aus der deutschen Vergangenheit« geschildert, wie unter der fortwährenden Unterdrückung das 376 Judentum sein Bestes, Stolz, Talent und Empfindung, in seinem Hause und seiner Familie verbarg. Die Ausführungen Gustav Freytags schlössen mit der Bemerkung, daß die neue Bildung auch die Juden gehoben habe, und mit dem heute merkwürdig klingenden Satz, daß »die Enkel der asiatischen Wanderstämme unsere Landsleute und brüderlichen Mitstreiter geworden« seien.

Nach einer Weile nahm wieder der Dichter das Wort: »Der römische Kaiser Claudius war in seinem Privatleben eine ziemlich traurige Figur, von dem Treiben seiner Gattin Messalina scheint er nichts gewußt zu haben, oder er wollte daran vorbeisehen und nicht aus den reineren Regionen heruntersteigen, in denen sein Geist spazieren ging. Er vertiefte sich in allerhand bizarre Spielereien – so als er drei neue Buchstaben erfand –, aber mitunter hatte er doch viel gesunde Vernunft. Die Adligen im unterworfenen jenseitigen Gallien wünschten, die römischen Bürgerrechte zu erhalten, und beantragten ihre Zulassung zu den Staatsämtern, und dagegen erhob sich im Senat eine heftige Opposition. Claudius verteidigte den Antrag der Gallier und überzeugte die Widerstrebenden, indem er ihnen bewies, daß die Größe und Macht Roms gerade durch die Rassenvermischung bewirkt worden seien, durch den Zusammenfluß von Volkselementen sehr verschiedener Herkunft und Art. »Ist es ein Unglück«, sagte er, »daß die Familie der Balber aus Spanien, daß ebenso treffliche Männer aus dem Narbonensischen Gallien nach Rom übergesiedelt sind? Nachkommen von ihnen leben noch heute und sind ihrem jetzigen Vaterlande nicht weniger treu als wir. Was wurde denn den Lacedämoniern und Athenern trotz all ihren kriegerischen Erfolgen schließlich verhängnisvoll? Doch nur dies, daß sie die entwaffneten Völker als Fremde behandelten und meinten, sie von ihrem eigenen Leben fern halten zu sollen.« Der Wikinger verzog das Gesicht und fragte unwirsch, warum man den Kaiser Claudius zitiere und von Rom spreche, statt, so wie die Gegner es täten, jedes Ding beim richtigen Namen zu nennen. Daß diese anderen in ihrer besseren Kenntnis der Volkspsychologie die Banalität nicht 377 scheuten, auch nicht die Banalität der ewigen Wiederholungen, und nicht wie der taprige Liberalismus immer um den heißen Brei herumschlichen, habe ihnen den Erfolg gebracht, und er, der norwegische Amerikaner, ziehe die Zielsicherheit ihrer Wortkanonaden vor.

Der Dichter, der nicht bestritt, daß die Rhetorik des Gegners eine größere Einschlagskraft gehabt habe, stellte nur die Gegenfrage, welchen Erfolg eine solche Wortkanonade in dem Garten der Hügelvilla haben könnte, und der Bankier aus Genf erinnerte an die feurige Sprache der französischen Girondisten, der Brissot und Vergniaud. Die Reden der deutschen Girondisten, der nun besiegten Republikaner, hätten doch nur wie die Hilferufe aus Rolands zersprungenem Horn geklungen, und inzwischen habe die geschickte Dialektik ihrer Gegner in ganz anderem Maße die Volksseele mitgerissen, die schlummernden oder zurückgedrängten Instinkte aufgepeitscht, Offensivstimmung und Fanatismus erzeugt. Dagegen sei ihm, sagte der Herr aus Genf weiter, eine Sprache, die man jetzt in vielen Zeitungen, Zeitschriften und Büchern antreffe, vollkommen unverständlich, und auf Menschen außerhalb der eigentlichen Lesergemeinde übe sie eine ganz andere als die gewünschte tiefernste Wirkung aus. Schon die unablässige Verwendung des ursprünglich gut gewählten Wortes »Dynamisch« sei schwer zu ertragen gewesen, es sei aufgesprossen wie die Narzissen auf den Wiesen am Genfer See und nun ja auch in die ganze Weltpresse eingedrungen. Aber wenn das »erdgebundene« und »blutverbundene« deutsche Wesen mit einem Wortdampf umgeben werde, der angeblich aus der Urväterzeit aufsteige, und der doch nur aus den mühselig arbeitenden Gehirnen exaltierter Schullehrer sich herauswinde, so müsse man an die Zeit erinnern, in der Leopold von Ranke, um nur diesen einen zu nennen, große historische Zusammenhänge in herrlich klarem Deutsch und ohne abgeschmackte sprachliche Vernebelung geschildert hat. Übrigens hätten sich auch in Deutschland schon Stimmen gegen diesen Schwulst erhoben, der von der deutschen Sprache wieder abgleiten werde, wie das Rabengefieder von dem verzauberten 378 Königskind. »Das Heldische«, sagte der Kunsthistoriker, »hat allmählich das Dynamische ersetzt.« Der Dichter äußerte: »Es war wohl unvermeidlich, daß in dem Augenblick, wo auch die Erkenntnisse der sogenannten liberalistischen Wissenschaft in die allgemeine Umwälzung hineingerieten und eine ganz neue Lehre, die Rassenkunde, zur Staatsreligion erhoben wurde, alle aufgeregten Vereinsbarden produktiv wurden und den heißen Wunsch verspürten, bei dieser Forschungsarbeit nicht zurückzustehen. Die Halbbildung stürzte hinter der organisierten Macht her, wie der endlose Troß hinter den Truppen und Generälen des Dreißigjährigen Krieges, und forderte stürmisch die Räumung der Gelehrtenstuben, in denen sich, erschreckt und ohne eine Abwehr zu wagen, der Humanismus, die Bildung von gestern verbarg. Daß diese hinterherlaufenden Magister Germaniae sich eine Sprache schufen, die den Eindruck des Mystischen hervorzaubern soll, ist durchaus begreiflich, denn ein halbgebildeter Pedant hüllt sich gern in den kleidsamen Nebel ein. Aber wenn der Troß der Zeichendeuter und magischen Schatzgräber so unübersehbar ist und ein so großes Publikum um sich schart, so beweist das, daß hier einem Bedürfnis bürgerlicher Mittelstandsseelen ein zweckmäßiges Ventil geöffnet worden ist. Man muß betonen: ›bürgerlicher Seelen‹, denn weder diese Sprachformen, noch die Thesen, die in ihnen ausgedrückt werden, sind der proletarischen Seele angepaßt. Macaulay, der sich mit dem Rassenbegriff nicht befreunden konnte, – die erste Rede, die er, im Jahre 1830, im Unterhause hielt, war ein Plädoyer für die Zulassung der Juden zum Parlament, – fand einen ähnlichen Hang zur Unklarheit und zum Mystizismus in dem Gebrauch oder Mißbrauch der Freiheitsideologie. Auch die Spartaner, ›nicht imstande, die Wahl ihrer Frauen, ihrer Nachtessen, ihrer Gesellschaft nach eigenem Belieben vorzunehmen, und gezwungen, eine eigentümliche Manier zu haben und in einem eigentümlichen Stil zu reden‹, hätten sich ihrer Freiheit gerühmt.«

Während ich die Geschichte von Sokrates und dem Exil las, hatte der Wikinger aus einer seiner Mappen ein blaues 379 Druckheft entnommen, das, von einem deutschen Verlag herausgegeben, Mitteilungen über die zuletzt erschienenen wissenschaftlichen Werke enthielt. Aus dem Referat über den Inhalt eines Buches »Germanenkunde und nationale Bildung« ging hervor, daß der Verfasser, ein Lehrer, den Germanen der Vorzeit als denjenigen bezeichnete, der »so ziemlich alle« die Menschheit beglückenden »Kulturgüter fand und erfand«. Alles weise darauf hin, »daß die künstlerische Kraft im nordischen Gebiet geboren wurde, welche dann so herrliche Früchte im alten Griechenland trug«. Beachtenswert war, daß der Herausgeber der Berichte immerhin einen Zweifel an der Richtigkeit dieser Theorie deutlich anklingen ließ. Der norwegische Amerikaner reichte das Heft im Kreise herum, um zu zeigen, welch gewaltige Anzahl von Büchern über Prähistorik, Germanentum und Rassengeschichte schon allein in zwei Monaten veröffentlicht worden sei. »Das ist nicht so erstaunlich«, sagte der Hausherr, »denn wenn Sie auf einen Weg im Walde ein Fleischstückchen werfen, kommen von allen Seiten schnell die fleißigen Ameisen und bearbeiten den neuen Fund.« Großes Interesse erregte es, als der Wikinger dann auch noch den Bericht über ein Werk »Herkunft und Geschichte des arischen Stammes« zum besten gab. Der Verfasser dieses Buches sieht die Wiege des arischen Stammes auf der Insel Atlantis, die, wie er festgestellt haben will, vor der portugiesischen Küste lag. Die Sintflut der Bibel sei der Untergang der Insel Atlantis, und übrig geblieben seien nach dieser Katastrophe und einer späteren, dem Sintbrant, dem Weltenbrand, nur der Greis mit einem Auge, der später Wotan genannt wurde, und eine von ihm gerettete junge Frau, die dann in einer Höhle einen Knaben und ein Mädchen gebar. Von Wotan und seinen Schützlingen »stammen alle Germanen ab«.

»Man redet hier so viel von Gerechtigkeit«, äußerte ein wenig unvermittelt das schöne junge Mädchen, »und eigentlich ist der Ruhm, den Sokrates sich durch seinen Tod verschafft hat, doch auch gar kein gerechter Ruhm. Da soviele Menschen mindestens ebenso standhaft für ihre 380 Ideen gestorben sind, ist es sehr ungerecht, daß man immer nur einen verherrlicht und ihm Denkmäler setzt. In Wahrheit sind das alles doch nur Worte, und wenn Sokrates den Leuten die Gerechtigkeit erläutern wollte, hat er sich auch um das, was ihm nicht paßte, herumgedrückt. Es gibt gar keine Gerechtigkeit.« »Offenbar gibt es in dieser Welt wirklich keine«, antwortete der Kunsthistoriker, »es gibt nur Gesetze, was nicht dasselbe und oft das Gegenteil davon ist, und die Menschen sind nicht gerechter als das Schicksal, aber wenn es falsch sein soll, daß man gerade nur den Sokrates nennt, dann durfte Homer auch nicht Achill und Hektor besingen, weil in den Kämpfen eine Menge Griechen und Trojaner sehr tapfer gewesen und gefallen sind.« Das schöne junge Mädchen blieb trotzig und erklärte, es habe schon in der Schule den Achill nicht gemocht. Darauf verließ man Sokrates und die anderen alten Griechen, man gelangte wieder zur Neuzeit, und der Genfer Bankier fragte, ob es zutreffe, daß nicht nur die Entwickelung Mussolinis, sondern auch die nationalsozialistische Gedankenwelt, mit Ausnahme des Rassengedankens, von dem französischen Sozialisten Georges Sorel beeinflußt wurde, oder doch von dessen Buch »Réflexions sur la Violence«. Der Dichter erklärte, die jüngeren und radikaleren Schriftsteller der Partei hätten sich allerdings in der Periode, die dem Siege voranging, viel mit Sorel beschäftigt, aber andere hätten die Lehre von der physischen Gewalt wohl nicht erst in den Büchern gefunden und den sozialistischen Lehrmeister, der übrigens als Gewaltmittel nur den Generalstreik gepredigt habe, nicht gebraucht. Jemand, der von Natur eifersüchtig sei, brauche ja auch nicht erst den »Othello« zu lesen, um sich in die richtige Hitze zu bringen. Am allerwenigsten habe der Sozialist Sorel, wie man gesehen habe, seine eigenen Parteigenossen beeinflußt, denn diese legten den Goetheschen Spruch »Du mußt steigen oder sinken . . . Hammer oder Amboß sein« auf ihre eigene Weise aus und hätten sich in einer von Reden umkränzten Passivität am wohlsten gefühlt. Georges Sorel habe unter »violence« auch keineswegs Brutalität verstanden und den Terror ausdrücklich abgelehnt. Er habe dem 381 bequemen Genußideal der »liberalen Bourgeoisie« die Idee der gewaltsamen Aktion gegenübergestellt, um das sozialistische Proletariat vor ähnlicher Versumpfung zu bewahren, und er habe nicht führend, sondern nur erzieherisch wirken wollen. Dann knüpfte der Dichter noch an die Bemerkungen des schönen jungen Mädchens über die Gerechtigkeit an und sagte, er selber habe sich soeben einer Ungerechtigkeit – wenn auch einer im Vergleich mit den Ungerechtigkeiten der Weltordnung gewiß verzeihlichen – schuldig gemacht. Man dürfe nicht über »die Sozialdemokraten« sprechen, ebensowenig wie über die Deutschen, die Franzosen, die Juden, die Lehrer, die Bäckermeister, als wären sie nur ein einziger Körper, ein Geist und eine Seele, und nur die Ungerechtigkeit rede im Plural.

Nach der Geschichte vom romantischen Ritter und dann auch nach dem letzten Vortrag, in dem das Wort »Miliz« vorkam, sprachen einige der Anwesenden, die auf dem Standpunkt des konsequenten Pazifismus standen, mir ihre Zweifel aus. Der Nelkenzüchter war ein feinfühlender englischer Liberaler und hielt, wie so viele seiner Landsleute, für passende Fälle eine große Anzahl idealistischer Grundsätze bereit. Ich erwiderte, auf mich habe auch der gelehrte Pazifismus, der juristische Barrieren gegen die Kriegsgefahr schaffen wollte, nie sehr überzeugend gewirkt. Weit weniger allerdings noch der andere, der die Wirklichkeit süß überzuckert und dann immer zu spät merkt, wie bitter sie ist. Der beste Pazifist sei der Staatsmann, der mit klarem Wirklichkeitssinn, unverführbar durch gefällige Wunschbilder, vorausschauend und jedes Unternehmen vor dem Beginn bis zur letzten Eventualität prüfend, die Gefahr fern zu halten versteht. Eine Realpolitik erfordere den Besitz realer Kraft, die sich entweder aus der eigenen Bereitschaft oder aus Bündnisverträgen ergebe, aber wenn man entgegen der Lehre Bismarcks die Imponderabilien unterschätze, wie das im Jahre 1914 und im Kriege geschehen sei, erweise sich auch die Rechnung auf die Kraft meistens als falsch. Der Nelkenzüchter und die italienische Gräfin fragten ziemlich gleichzeitig: »Was sind diese Imponderabilien, die man nach der 382 Meinung des Herrn von Bismarck niemals außer Acht lassen darf?« »Das Unwägbare, die Empfindungen und der Geist der übrigen Welt.« Ob nicht nach einem neuen für Deutschland unglücklichen Kriege die Gegner darauf bestehen würden, diesmal »Schluß zu machen« und den Besiegten für immer zu vernichten, fragte der Bankier. Ich erwiderte, daß dann die Vernichtungspolitiker ebensowenig »Schluß machen« und ebenso kurzsichtig handeln würden wie ihre Vorgänger in Versailles, und selbstverständlich würde auch ein siegreiches Deutschland durch solche Mittel niemals »Schluß machen« können.

Auch an der unvermeidlichen, tausendmal durchgeschwatzten und zergliederten Frage, ob es einen Fortschritt gebe, ob die Menschheit seit dem Altertum zu höheren Stufen des Geistes gelangt sei, oder ob nur, neben den grandiosen Resultaten der exakten Wissenschaften und der Technik, eine ziemlich stetige Vorwärtsentwickelung der sozialen Verhältnisse vorliege, ging man nicht ganz vorbei. Während die Pessimisten jeden geistigen und sittlichen Fortschritt leugneten, erklärte ein spanischer Emigrant optimistischer, nach jedem Pendelschlag, der rückwärts gehe, schlage der nächste, vorwärts gerichtete Pendelschlag ein wenig weiter aus, und der Fortschritt setze sich aus diesen Überschüssen zusammen. »Mir scheint«, sagte das schöne junge Mädchen schnippisch, »daß die Pendelschläge nach rückwärts auch recht weit gehen, und bis sich aus dem, was Sie die Überschüsse nennen, etwas Vernünftiges zusammenkleckert, können dann wohl noch ein paar Jahrtausende vergehen.« »Ja«, entgegnete der Dichter heiter verweisend und doch zustimmend, »aber man fliegt heute in zwei Tagen nach Süd-Amerika, die Autos und die Motorboote steigern fortwährend ihre Rekorde, und es wird eben vor allem auf die schnelle körperliche Fortbewegung Wert gelegt.«

»Manche Völker, die alles nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachten«, bemerkte der Bankier aus Genf, sind überzeugt, daß Prosperity auch eine Glanzperiode ihrer Kultur und geistigen Fortschritt bedeutet, und daß Kunst, Literatur und Wissenschaften in dem Augenblick blühen, 383 wo der Baumwollpreis steigt. Man kann dann ja in der Tat Museen und Bibliotheken stiften, Meisterwerke werden gekauft, der Buchabsatz nimmt wieder zu, und Dichtern und Forschern werden Preise verliehen. Aber alle Stiftungen und Preisverleihungen ersetzen nicht einen Goethe, der eigentlich nicht in einer Zeit wirtschaftlicher und politischer Prosperity gelebt hat, und die Medici wären auch nur Millionäre und Lokalgrößen gewesen, hätten sie nicht die Künstler der Renaissance gehabt.« Da der Hausherr dem Sammeleifer seines Schwiegervaters soviel verdankte, fanden einige der Anwesenden diese Bemerkungen etwas unpassend, aber der Kunsthistoriker war nicht so empfindlich, gab durch ein Kopfnicken seine Zustimmung zu erkennen und zeigte dann an Beispielen, auf wie verschiedene Weise in den Völkern der frohe Glaube an ihre fortschreitende Entwickelung, an die Erhöhung ihrer Persönlichkeit erzeugt und lebendig erhalten werden kann. »Wenn die Massen in Deutschland mit festem und dröhnendem Schritt in Reih und Glied marschieren«, fügte er hinzu, »dann sind sie doch davon durchdrungen, daß sie unterwegs zu allem Großen und Herrlichen sind. Natürlich muß man ihnen Gedanken mitgeben, die ihnen gefallen, aber sie brauchen auch dieses Gefühl des Vorwärtsschreitens, diese von einem scharf hallenden Befehl in Bewegung gesetzte Schwungkraft, die sich dann auf das Seelische überträgt. Der Vorbeimarsch geht weiter, er dauert an, seit im Sommer 1914 das Volk aus seinem Ruhezustand, seiner Seßhaftigkeit, seinem Gleichgewicht herausgerissen worden ist, und vorläufig wird er so ohne Stillstand weitergehen.« Der Dichter fragte: »Wohin noch?«

 


 


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