Olga Wohlbrück
Des Ratsherrn Leinius Tochter
Olga Wohlbrück

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Sie konnte es nicht verhindern, daß er ihre kleine Hand in heißem Dank an die Lippen drückte, und er mochte ihr wohl gut gefallen, wie er so dastand, hoch und schlank mit seinem träumerischen Künstlerkopf und dem Ausdruck glühendster Ergebenheit im Antlitz. Aber zugleich fiel ihr auch ein, wie wenig schicklich es doch sei, mit einem jungen Mann in später Nachtstunde in ihrem Schlafstübchen zu stehen. Der Onkel hat doch recht: »Wir vom Theater sind wirklich ›liederlich Volk‹,« und heimlich belustigt und doch etwas geniert schob sie Christian sacht zur Tür hinaus.

Dann entkleidete sie sich rasch, schlüpfte unter die Bettdecke; schlief ein und träumte von Blutgerüsten, Henkern in roten Mänteln, von schönen jungen Männern, die ihren eigenen Kopf in der Hand hielten, und von alten Frauen, die Blut weinten und auf einer großen Bühne Totenlieder sangen.

Christian aber wanderte fast die ganze Nacht ruhelos im Garten auf und ab, und tausend Jubellieder und – süße Gedanken stiegen in seiner Seele empor bei der neuen Hoffnung, die das fremde schöne Mädchen ihm gegeben.

Am nächsten Morgen half die Lorchin dem jungen Mädchen die Taschen packen.

»Sie müssen es mir nicht übelnehmen, Madame Lorch, daß ich gestern so vor Ihnen davongelaufen bin,« sagte Kornelia, die sich etwas beschämt fühlte bei dem freundlichen, stillen Walten der Frau.

»Bewahre, Fräulein. Unsereins ist's gewohnt, daß die Leute vor einem davonlaufen wie vor der Pest.«

»So war's nicht gemeint, Madame Lorch.«

Die Frau schien über Nacht ganz zusammengefallen zu sein. Kornelia fuhr zaghaft fort: »Ich möchte Ihnen gern für das arme Weib, für die Schlosserin etwas zurücklassen.«

»Das wird gern angenommen, Fräulein. Es muß ja immer einer dem andern helfen.«

»Nicht wahr, Madame Lorch, das muß er,« rief Kornelia mit seltsamer Betonung.

Ein bißchen Rot huschte über die gelblichen Wangen der Frau.

»Wenn kein Unrecht damit geschieht, Fräulein ...« Kornelia schüttelte unmutig den Kopf.

»Unrecht geschieht immer, Madame Lorch ... Was hat denn zum Beispiel die arme Schlosserin verbrochen, und doch reißt man den Mann von ihrer Seite ...«

Die Lorchin schloß die Taschen und blickte bekümmert auf das vornehme Mädchen.

»Sie müssen nicht über solche Dinge nachdenken, Fräulein, das Leid der Erde tragen Sie mit Worten nicht ab.«

Kornelia faßte nach ihren beiden Händen in plötzlicher warmer Bewegung.

»Sie sind eine gute, eine wirklich gute Frau, aber sagen Sie mir ...« ihre Stimme sank zu kaum vernehmbarem Flüstern herab, »sagen Sie, wie haben Sie Ihren Mann heiraten können?«

»Der König und die Richter haben auch ihre Frauen,« sagte die Lorchin ernst. »Verurteilen ist verantwortlicher als vollstrecken, Fräulein ...«

Draußen vor dem Gatter wartete Christian mit einem kleinen Holzwägelchen. Als Kornelia ihm freundlichen »Guten Morgen« bot, blickten seine Augen fragend in die ihren und wandten sich beunruhigt ab, als das Mädchen seine stumme Frage nicht zu verstehen schien ... Hatte sie ihr Versprechen vergessen?

Kornelia war es, als setze sie sich auf den Karren der zum Tod Verurteilten, und sie war ehrlich froh, daß sie das ihr jetzt unheimlich dünkende Häuschen verlassen durfte.

»Der Christian fährt Sie bis zum Stadttor, dort ist ein Fuhrmann, bei dem Sie einen Wagen nehmen können. Es schickt sich nicht, daß Sie mit ihm weiterfahren,« und dabei reichte die Lorchin die Taschen in das Wägelchen und streckte Kornelia zum Abschied scheu die Hand entgegen.

»Leben Sie wohl, Madame Lorch, seien Sie vielmals für alles, was Sie an mir getan, bedankt, und denken Sie nichts Schlimmes von mir ...«

»Mit Gott, Fräulein,« sagte die Lorchin. Dann fuhr sie mit der kleinen gelben Hand über den Arm des Sohnes: »Fahr zu, mein Junge, und laß mich nicht zu lange warten ...«

Christian hätte die alte Frau gern umarmt, aber die großen Zärtlichkeiten waren so gar nicht Brauch bei ihm zu Hause, und er fürchtete, sich zu verraten. So nickte er ihr nur zu, schwang sich auf den Bock und wunderte sich, daß sie noch immer dastand und ihn mit traurigen Blicken ansah.

Das wohlgenährte kleine Pferd wieherte lustig auf und zog kräftig an.

Eine Weile fuhren sie schweigend ins morgentauige Land, dann sagte Christian: »Die Mutter kam mir so seltsam vor ... vielleicht ahnt sie, daß etwas vorgeht.«

Kornelia wurde nachdenklich.

»Meine Mutter hat gar nichts geahnt ... ob sie mich weniger lieb gehabt hat?«

Dann schwiegen sie wieder und fuhren weiter. Christian brach das Schweigen zuerst: »Ist's nicht ein wundervoller Morgen?«

Sie nickte: »Wundervoll.«

Christian war jung und zum erstenmal glücklich ... glücklich über das schöne junge Mädchen, das bei ihm saß, glücklich über die Morgenröte eines neuen Lebens, das er ahnte.

»Ich habe heute nacht ein neues Lied erfunden ... Wollen Sie's hören, Fräulein?«

»Gern, Herr Christian.«

Er sang mit schlechter Stimme ein süßes Liebeslied – sie sang es nach in vollen, hellen Tönen. Dann wurde sie sehr rot.

»Solche Lieder dürfen Sie jetzt nicht ausdenken, Herr Christian.«

»Ich werde warten,« sagte er und lächelte.

Das Pferdchen trabte munter weiter.

»Singen Sie es doch noch einmal,« bat Kornelia plötzlich, ohne ihn anzusehen.

Und schon nach den ersten Takten fiel sie ein und sang es allein zu Ende.

Er hatte Tränen im Auge ...

Nun waren die ersten Häuser der Stadt zu erkennen, und er wurde unruhig.

»Sie müssen bald aussteigen, Fräulein,« sagte er.

»Muß ich wirklich,« sagte sie lachend und nahm ihm die Zügel aus der Hand. »Das werde ich hübsch bleiben lassen.«

»Fräulein ...«

»Jetzt haben Sie ganz still zu sein!« und dabei sah sie ihn bedeutungsvoll an.

Nun hieß sie ihn ihren Sitz einnehmen und stieg selbst auf den Bock. Sein Herz schlug fast hörbar, aber er wagte keine Entgegnung. Mit geübter Hand trieb sie das Pferd vorwärts und summte das neue Lied vor sich hin; manchmal stockte sie, sah sich nach ihm um und fragte: »Ist's richtig so?« Dann wiederholte sie die unsicheren Stellen einmal ums andere, wie um sie sich recht fest einzuprägen ...

Ein kleiner Bursche schlenderte pfeifend die Landstraße hinab, dem Wägelchen entgegen.

»Brrrr!« machte Kornelia wie ein geübter Fuhrknecht und hielt die Zügel an. »Bürschel, hast du Zeit?«

»Was?« fragte er dämlich und blinzelte sie mit seinen kleinen schlauen Augen an.

»Wann gibt's Mittagbrot?« fragte sie ungeduldig.

»Noch lange nicht!«

»Hast du was zu schaffen bis dahin?«

»Nix!« grinste der Junge.

»Gut; dann fuhr den Wagen in die zweite Seitengasse rechts und warte, bis der Herr da kommt – verstanden? – Dann kriegst du einen Taler und Zuckerbrot – verstanden?«

»Na ja ...«

Kornelia sprang leichtfüßig vom Wägelchen.

»So, Herr Christian, nun nehmen Sie die beiden Taschen und tragen sie hinter mir drein.«

Der Junge führte das Gespann in die bezeichnete Gasse, und Kornelia hob das Näschen und ging resolut voran, von Christian wie von einem Diener gefolgt.

»Demoiselle Pigeon, Gasthof zum goldenen Löwen!« rief sie ihm über die Schulter zu.

»Das ist nicht weit, Fräulein, immer geradeaus bis zum kleinen Platz und dann die erste Gasse links.«

»Gut!«

Er hätte beinahe gelacht, weil sie sich gar so drollig ausnahm in ihrer vornehmen Wichtigkeit. Wie ein Kinderspiel dünkte es ihn, was sie jetzt unternehmen wollte. Nie waren wohl vernünftige Leute an einen großen Plan so unvorbereitet, so naiv herangegangen ... und es schien ihm jetzt ganz unmöglich, daß etwas dabei herauskam.

Er berechnete daher schon in Gedanken, wann er zu Hause sein konnte, erinnerte sich, daß er vergessen hatte, dem Knecht die neue Sense für die Mahd herauszugeben, und nahm sich schon vor, aus der Buchhandlung ein neues Buch mitzunehmen, von dem er im Stadtblatt viel Schönes gelesen. Als er dann über den kleinen Platz kam, fiel ihm die Exekution ein, die morgen stattfinden sollte, und damit auch das Elend seiner Lebenslage.

»Fräulein,« rief er, »Fräulein! ...«

Kalter Schweiß war ihm auf die Stirn getreten ...

Aber Kornelia hörte nicht; sie stampfte mutig vorwärts, und ihre kleinen Hände ballten sich energisch unter der grauen Baregemantille. –

Demoiselle Pigeon feierte schon seit acht Tagen ununterbrochen Abschied.

Heute abend aber sollte sie endlich mit der neueröffneten Eisenbahn, dem Stolz der kleinen Residenz, in ihre Heimat abdampfen; ihre treuesten Anhänger und Verehrer hatten sich noch zum letztenmal bei ihr eingefunden.

Sie war in strahlender Laune, und nur das eine ärgerte sie: sie mußte ohne deutschen Diener abreisen ... sie sagte, daß sie ihren Landsleuten so gern einen »bel allemand« gezeigt hätte. Der wahre Grund war aber, daß sie nach einigen unliebsamen Erfahrungen mit ihren französischen Lakaien es mit einem Deutschen versuchen wollte, der der Nation angehörte, auf deren Ehrlichkeit sie schwur. Die Herren scherzten und boten ihr ihre eigenen Dienste an. Sie lachte, schmollte und sagte, wenn einer nicht wenigstens Jahreskontrakt mit ihr machte oder gar – un contrat pour la vie – so könne sie ihn nicht brauchen.

In diesem Augenblick wurde ihr eine Dame gemeldet, die mit ihrem Diener gerade von der Reise gekommen sei.

Es war Kornelia.

Sie ging mit großer Sicherheit auf die Sängerin zu und sagte, so vornehm als sie nur irgend konnte, und obwohl ihr das Herz bis in den Hals hinaufschlug, sie hätte gehört, die verehrte Demoiselle suche einen deutschen Diener. Nun wäre sie ja allerdings im Besitz von einer Perle von einem Diener, aber sie würde ihn gern der verehrten Demoiselle abtreten, wenn die Demoiselle sich entschließen könnte, ihr selbst in ihrer herrlichen Gesangskunst Unterricht zu geben ... das heißt, sie als Schülerin anzunehmen.

»O, mais comment donc ...« sagte die schöne Sängerin höflich, aber im Innersten erschreckt; denn die Zahl der singenden jungen Damen, die sich ihr als Schülerinnen angetragen und die sie abgewiesen, weil sie es mit ihrem romanischen Temperament nicht ertragen hätte, talentlose Dilettantinnen zu unterrichten, war ungeheuer.

Und sie fügte bedauernd hinzu: »Es ist sehr dommage, daß ich schon abreise heute mit Ihre schöne Eisenbahn, und daß ich nicht kann geben meine Leçons von Paris hieher.«

»Gewiß nicht, Mademoiselle,« erwiderte Kornelia mit einer Kaltblütigkeit, die sie selbst in Erstaunen setzte, »ich würde dann aber Mademoiselle selbst nach Paris begleiten.«

»O,« rief die Französin erschreckt und streckte abwehrend die Hände aus.

»Das hinge natürlich von dem Urteil ab, das die Demoiselle vielleicht die Güte hätte, über meine Stimme abzugeben.«

Die anwesenden Herren unterdrückten nur mit Mühe ihr Lachen, als sie die Ratlosigkeit ihrer angebeteten Pigeon sahen.

»Vielleicht sehen Sie sich einmal diese Perle von einem Diener an, Mademoiselle,« schlug einer der Herren vor und hüstelte in sein Taschentuch.

»O gewiß, wenn Mademoiselle wünschen,« sagte Kornelia liebenswürdig, und sie rief herrisch und kurz: »Joseph!«

Christian erschien auf der Stelle, wurde abwechselnd rot und blaß, verneigte sich aber mit vollendetem Anstand.

Kornelia, der die Komödie nun selbst Spaß machte, wurde übermütig.

»In Livree macht er sich ja noch besser, aber auf der Reise ist es mir zu auffallend.«

»Quel beau garçon,« sagte die Französin nachdenklich.

»Sie können sich zurückziehen,« gebot Kornelia.

»Wenn die Stimme von Mademoiselle so schön sein wie dies Diener ...« sagte die Sängerin und fügte dann eifrig hinzu: »Wenn Mademoiselle will, werde ich das Akkompagnement übernehmen ...«

»Nicht nötig, Mademoiselle, ich kann auch ohne Begleitung singen.«

Mit einem etwas ironischen Lächeln gebot die Pigeon Schweigen und ließ Kornelia in den Kreis treten.

Kornelia drückte die Hand auf das stürmisch pochende Herz, aber der Gedanke, daß von den nächsten Minuten das Schicksal zweier Menschen abhing, gab ihr Mut. Sie sang erst das traurige Waldlied, das Christian auf die Ränder ihres Büchleins aufgeschrieben, dann das süße Liebeslied, das sie heute zum erstenmal auf dem Scharfrichterwägelchen gehört.

Die Pigeon, die anfangs mit leisem Spott den »Ohrenschmaus« über sich ergehen lassen wollte, sah plötzlich ganz dumm aus vor Staunen, und die Anbeter um sie herum, die zwar nicht viel von Musik verstanden, aber denen das schöne junge Mädchen mit der glockenreinen Stimme äußerst wohl gefiel, dämpften die Ausbrüche ihres Entzückens, nur um die göttliche Pigeon nicht zu kränken.

Aber die Pigeon war noch selbst zu jung, zu schön und zu gefeiert, um kleinlichen Neid zu empfinden. Als Kornelia geendet, sprang sie lebhaft auf und drückte das junge Mädchen begeistert an ihre Brust.

»Sie sind eine große Talent, un génie ... Sie kommen an die Skala von Milano, an die Grand Opéra von Paris ... ich stelle Sie unserm bon ministre vor ... Und das herrliche Chanson!! O, so voll Sentiment, so ganz deutsch wie meine grand'mère, die auch deutsch war ... so poétique. Vraiment un chef-d'oeuvre de Musique!« ...

Kornelia konnte sich kaum fassen vor Glück; sie verlor plötzlich ihren Damenton, und kindlich, mit aufsteigenden Tränen kämpfend, jubelte sie: »Also ich darf mit nach Paris – ich darf weiter lernen?«

»Oh non. Sie muß mit nach Paris, Sie muß ... und Ihre schöne Lakai bekomme ich ganz gewiß?!«

Die Pigeon verabschiedete nun eilig ihre Besucher und zog Kornelia mit sich fort in ihr Schlafzimmer. Doch da hielt es Kornelia nicht länger aus. Sie warf sich der Sängerin an den Hals und beichtete ihr unter Tränen und Lachen all ihre Abenteuer, dann rief sie Christian herein und sagte: »Mademoiselle, es galt nur, mir bei Ihnen Eintritt zu verschaffen, Sie davon zu überzeugen, daß wir etwas Talent haben. Nun müssen Sie uns helfen!«

»C'est grave,« sagte die Pigeon.

Aber sie war so gutmütig so romantisch, so eine liebe, tolle Künstlerseele und – was nicht zu unterschätzen war – so gut angeschrieben bei Hof, daß sie endlich beschloß, Christian Lorch auf die noch bei ihr befindlichen Papiere ihres ehemaligen Dieners Baptiste Lejeune nach Paris einzuschmuggeln.

»Et plus tard, nous verrons,« sagte sie ausgelassen und dachte mit leisem Lächeln an ihren »bon ministre«, der ihr schon aus mancher Klemme geholfen.

Noch in der gleichen Nacht verließ Demoiselle Pigeon, begleitet von Fräulein Kornelia von Leinius und ihrem neuen Kammerdiener, die Residenz, während auf dem kleinen Platz das Blutgerüst zur stattfindenden Exekution aufgerichtet wurde. –

Kornelia von Leinius ist dann wirklich unter einem andern Namen eine berühmte Sängerin geworden.

Christian Lorch aber wurde seine Sehnsucht nicht erfüllt.

»Er gehörte nicht zu denen, die siegen,« sagte Kornelia später und immer mit feuchten Augen.

Noch inmitten seiner musikalischen Studien, inmitten der Arbeit an einem großen Oratorium, das er seiner Befreierin, wie er Kornelia nannte, zu widmen gedachte, starb er an der gleichen heimtückischen Krankheit, der schon seine Schwester zum Opfer gefallen war, und nie ist ein anderes Werk von ihm lebendig geworden als ein paar Fragmente aus diesem Oratorium und die zwei Lieder, die Kornelia in stillen Stunden immer wieder sang ...

Eisenbahnen wurden in Deutschland gebaut, der Postchaisen und Scharfrichter wurden immer weniger – alte Leute sagten: »Die Poesie hört auf!«

Nach vielen, vielen Jahren besuchte Kornelia ihre Mutter.

Das war eine ganz alte Frau geworden, die nur den Stammbaum derer von Leinius hütete. Eines Abends schweiften ihre Gedanken mehr als sonst zurück in die Vergangenheit; und da sie besonders redselig wurde, erzählte sie, wie unruhig sie gewesen, als sie – vom Besuch bei ihrer Base heimkehrend – Kornelchen nicht zu Hause angetroffen hätte. In ihrem Mädchenstübchen wäre dann ein Zettel gelegen, in dem es hieß, daß Kornelia zum Besuch einer ihrer Freundinnen, die auf einem Landsitz wohnte, ganz nah von der Stadt, gegangen sei und dort wohl auch die Nacht zubringen würde. Als aber die zweite Nacht verstrich und auch am Tag keine Nachricht kam, da hätte man zu der Freundin geschickt – die aber wäre voller Staunen gewesen und hätte geschworen, daß sie Kornelia mit keinem Auge gesehen. Da wäre denn der Onkel Oberst in seiner Paradeuniform in die Stadt gefahren und hätte mächtigen Spektakel gemacht ... Und da hätte ein Gendarm bezeugt, daß er so ein Fräulein, wie es der Herr Oberst schilderte, im Haus des Scharfrichters Lorch gesehen. Nun war der Scharfrichter geholt worden, und man hatte ihm Amtsverlust und tausend Strafen angedroht, wenn er nicht augenblicklich sagte, wohin sein nichtsnutziger Sohn das Fräulein entführt hätte ... Aber da hatte der Scharfrichter Lorch einen kleinen Jungen als Zeugen herbeigeholt, und der bekundete nun, daß der junge Herr im Wagen mucksmäuschenstill gewesen sei, aber das Fräulein die Zügel geführt und immer nur so kommandiert hätte. Und dabei sollte der Junge sehr gegreint haben, weil er statt seines Lohns zu Hause eine Tracht Prügel bekommen hätte, dafür, daß er mit einem fremden Gespann angekommen sei und das Mittagbrot verpaßt habe. – Darauf war denn beschlossen worden, die Sache nicht weiter zu verfolgen, um so mehr, als die Pigeon dann nach einigen Tagen einen langen, ausführlichen Brief an den Fürsten geschrieben ... »Sie war ja so gut angeschrieben bei Hof,« schloß Frau von Leinius ihre Erzählung.

»Ja, das war sie,« bestätigte Kornelia und blieb in Gedanken versunken eine Stunde im Dämmerlicht sitzen.

Aber als sie sich endlich erhob und die Mutter ins Schlafzimmer führen wollte – da war die alte Dame tot!–-

Und heute weiß wohl niemand mehr etwas von der ganzen Geschichte als ein alter weißhaariger Tischler in einem kleinen süddeutschen Städtchen, der als kleiner Junge unvermutet zu einer Tracht Prügel gekommen statt zu einem Taler und einem Zuckerbrot.


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