Olga Wohlbrück
Des Ratsherrn Leinius Tochter
Olga Wohlbrück

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Während Christian in den Wald zurückkehrte, um die Taschen zu holen, entkleidete die Lorchin das Mädchen.

Instinktiv griff Kornelia nach dem Leinwandsäckchen, in das sie ihr Geld und die Papiere eingenäht hatte, und das an einem seidenen Bändchen auf ihrer Brust ruhte; aber die Lorchin beruhigte sie mit freundlichen Worten, wiewohl sie neugierig war wie alle Frauenzimmer und gern gewußt hätte, wen sie in das Bett ihrer Tochter legte.

Ruhig und umsichtig versah sie ihr Pflegeamt und verließ das Zimmer erst, als Kornelia ganz allmählich aus dem halb bewußtlosen Zustand in einen gesunden Schlaf gefallen war. Freilich ließ sie es sich dann nicht entgehen, die beiden Taschen, die Christian herbeibrachte, einer genauen Untersuchung zu unterziehen. Aber da fanden sich nur ein paar feingestickte Wäschestücke vor, kleine rote Saffianschuhe, zwei weiße Musselinkleider mit verschiedenfarbigen Bandgarnituren, ein Wachsstock mit bunten Engelsköpfchen bemalt, eine Filethandarbeit, Essenzen, Seifen, Bürstchen und Scheren und zuletzt ein dickes Büchlein in lateinischen Lettern über die Kunst des Singens, von einem italienischen Mönch herausgegeben.

»Vielleicht ist's eine wandernde Sängerin,« sagte die Lorchin.

»Dazu ist sie zu fein und zu vornehm,« meinte Christian und blätterte in dem Buch.

Nun wurde es langsam Abend und so dämmerig, daß die Lorchin, die den Tisch zur Abendmahlzeit deckte, ihrem Sohn zurief, er solle sich die Augen nicht länger mit Lesen verderben, denn der Mensch dürfe nicht mutwillig zerstören, was der liebe Herrgott ihm geschenkt.

»Das meine auch ich,« sagte Christian, das Buch zuklappend, »aber wenn man ein Teil nicht zerstören darf – um wie viel weniger das Ganze!«

»Dieses liegt nicht in unserer Hand,« sprach die Lorchin fest.

In diesem Augenblick trat der Hausherr Amadeus Lorch über die Schwelle – und so groß und stattlich war er, daß die Decke niederer, die Stube kleiner zu werden schien bei seinem Eintreten.

Er war gut gelaunt heute, denn ein paar Herren vom Gericht hatten auf der Straße vor allen Leuten freundlich »Guten Abend, Lorch« gerufen, als er untertänigst seinen Filz gezogen. Das war immerhin eine Ehre, ein Beweis, daß die Obrigkeit ihn schätzte, worauf es ihm stets und vor allem ankam; denn er hatte von früh auf lernen müssen, sich wenig aus der Wertschätzung seiner andern Mitbürger zu machen.

Übrigens zählte er sich selbst ein bißchen mit zur Obrigkeit, der Meister Lorch, und trug den Kopf so hoch wie der Kommissar bei einer Versteigerung.

»Na, du mein gelehrter Herr Sohn und Bücherfresser?« Er lachte geräuschvoll und setzte sich. »Was hast du in deinem Dickschädel nun ausgemacht? ... Der Posten meines ersten Gehilfen ist noch immer unbesetzt ...«

Christian verfärbte sich und sprang auf.

»Das ist doch nicht dein Ernst, Vater?« ...

Die Lorchin trat hastig an den Tisch und sprach ein kurzes Tischgebet.

»Amen,« sagte Amadeus Lorch wie immer.

Aber das Amen klang unwirsch. Eine Weile war es still im Zimmer, dann sagte der Hausherr: »Ich hab's den Herren schon so halb und halb für dich versprochen, und sie erwarten 's nicht anders, als daß du mein Amt später übernimmst.«

Und da Christian nicht antwortete, fuhr er fort, immer grollender und lauter: »Wüßte auch gar nicht, was du sonst werden solltest! Es ist nun einmal ein altes Privileg bei uns, daß dem ersten Scharfrichter die Abdeckerei zufällt. Wovon willst du denn leben später, wenn du nicht in den sauren Apfel beißen willst ... He?«

»Davon nicht,« murmelte Christian dumpf.

Amadeus Lorch schob zornig den Teller zurück.

»Da hast du's, Mutter ... Das hab ich dir ja vorausgesagt. Aber natürlich . .. beim Kantor mußte der Junge studieren ... womöglich noch Latein ... Was, mein Herr Sohn? Zu unserm Geschäft braucht's kein Latein, mein Bürschel!«

Die Lorchin mischte sich ins Gespräch: »Wenn du dem Christian eine Leimsiederei einrichten wolltest, Vater, da brauchte er doch dein Gewerbe nicht zu übernehmen ... es ist ja doch wirklich nicht jedermanns Sache, Vater ... du sprachst ja doch schon einmal von dem Grundstück ...«

»Das Grundstück gehört der Stadt, und die Stadt gibt mir's nur ab, wenn mein Sohn mein Amt mit übernimmt ... Die Herren scheren sich viel darum, ob dein Junge beim Herrn Kantor gelernt hat oder nicht!«

»Laß ihm Zeit, Vater,« bat die Lorchin.

Aber der verzweifelte Blick Christians zeigte ihr, daß da auch in Jahr und Tag nichts anderes zu erwarten war, und sie empfand es erst in diesem Augenblick als eine tiefe Schuld, daß sie immer so sehr auf das Feine und Zarte in ihm eingegangen war: daß sie ihn als kleinen Jungen zum Kantor gebracht hatte, mit vielen Bitten und Tränen im Auge, er solle den Buben nicht mißachten, sondern ihn was lehren und seinem Wissensdurst Nahrung geben, denn sie selbst wußte nicht viel mehr, als was sie ihrem kleinen Mädchen beigebracht. Die Kinder jedoch in die Schule zu schicken – dazu könne sie sich nicht entschließen: es käme dabei zu viel Leid und Erniedrigung für die unschuldigen Würmer heraus, die doch nicht verantwortlich für den Stand des Vaters waren.

Der Kantor, ein schrullenhafter, aber gutmütiger alter Herr, gewann den klugen, stillen Knaben lieb und unterrichtete ihn weit über dessen Stand hinaus.

Er gab ihm Bücher zu lesen und lehrte ihn Harmonium spielen. Seitdem war der Junge wie versessen auf Musik und stöberte in allen alten Musikheften des Kantors herum – erfand auch selbst einfache Melodien, die er seinem Lehrer vorspielte, und die dieser ihn aufzuschreiben lehrte.

Eines Tages starb der alte Herr, und das einzige, was er vor dem Tod für seinen Schüler tun konnte, war, daß er ihm sein kleines abgenütztes Harmonium und seine Bücher vermachte.

Vorübergehende hörten oft aus den geöffneten Fenstern des Scharfrichterhäuschens die Klänge des Harmoniums, auf dem Christian fromme Psalmen und Lieder eigener Erfindung spielte, blieben stehen und fanden Erbauung daran trotz des unheimlichen Gruselns, das sie empfanden, wenn sie an den Herrn des freundlichen, kleinen Hauses dachten.

Auch Amadeus Lorch hörte dem Sohn gern zu und stimmte öfters mit wohlklingendem Bariton in irgendein geistliches Lied ein; aber für ihn war Musik nichts mehr als ein angenehmer Zeitvertreib.

Und als Christian älter und mannhafter wurde und, statt sich den Knechten zuzugesellen, unter allen möglichen Vorwänden zu Haus blieb – bald um den Garten zu besorgen, bald um dem Schwesterchen ein Vogelbauer zu schnitzen oder der Mutter beim Sammeln und Sortieren der Kräuter zu helfen, in Wirklichkeit aber, um sich mit einem Buch in den Wald zu flüchten oder stundenlang am Harmonium zu phantasieren – da schwur Amadeus Lorch hoch und teuer, die vermaledeiten Bücher über kurz oder lang zu verbrennen und das Harmonium in tausend Stücke klein zu schlagen.

Nur die Mutter wußte immer wieder den erzürnten Mann zu besänftigen, opferte aber dabei all ihre Ruhe, denn sie mochte absehen, wie groß sich das Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn noch gestalten müßte, und gab sich und ihrer verkehrten Erziehung schuld an dem Unfrieden.

In den letzten Wochen, seitdem der erste Gehilfe des Scharfrichters eines plötzlichen Todes gestorben war und sich Amadeus Lorch in den Kopf gesetzt hatte, sich bei der Obrigkeit durch Zuführung seines Sohnes besonders beliebt zu machen – seitdem gab es kaum noch eine ruhige Stunde.

Die Lorchin war ihrem Mann in inniger Liebe und treuem Gehorsam zugetan, aber ihr Mutterherz blutete doch bei dem Gedanken, daß ihr Junge durch die starren Forderungen des Vaters um all sein Lebensglück betrogen werden sollte. Sie selbst konnte sich ihren Christian das Schwert des Vaters schwingend nicht vorstellen, konnte sich die weiche, schmale Hand nicht auf dem Nacken eines Verbrechers denken – und doch redete sie ihm zu, sich zu fügen, denn es dünkte sie frevelhaft, sich dem Willen eines Vaters zu widersetzen. –

Grollend und finster stand Amadeus Lorch vom Tisch auf und zündete sich eine Pfeife an.

Jetzt erst fand die Lorchin den Mut, von dem kranken Fräulein zu erzählen.

»Da müssen sofort die Behörden benachrichtigt werden,« sagte der Hausherr streng.

Nun mischte sich auch Christian ins Gespräch: besser wäre es, das Fräulein bliebe, solange sie unfähig sei, aufzustehen, im Haus und würde dann mittels Wagen zu ben Ihrigen zurückgebracht. Die brauchten dann vielleicht gar nicht zu erfahren, von wem sie aufgenommen worden war.

»Gut,« sagte Amadeus Lorch, »mag sie noch einen Tag bleiben und sich später einbilden, bei Gärtnersleuten gewesen zu sein.«

Plötzlich runzelte er die Stirn.

»Es ist doch keine Strolchin, Diebin, kein liederliches Frauenzimmer?«

»I bewahre,« beruhigte die Lorchin und brachte geschäftig die feingestickte Wäsche, den Wachsstock mit den Engelsköpfchen, die Filetarbeit und die Menge feiner Bürstchen und duftiger Essenzen herbei, was alles den gestrengen Herrn höchlichst belustigte, denn er hatte solch vornehmen weiblichen Firlefanz noch niemals gesehen. –

Christian saß währenddessen in der Laube und blätterte beim hellen Mondenschein weiter in dem Büchlein über die Kunst des Gesanges, und dabei surrten ihm wieder hundert Melodien in den Ohren, und er malte, wie es seine Gewohnheit war, Notenköpfchen auf die Ränder des Buchs ...

Am nächsten Morgen wachte Kornelia frisch und munter auf. Nur der Fuß tat ihr noch weh, und darum riet ihr die Lorchin, vorläufig noch nicht die Treppe hinunterzugehen, sondern noch oben im Stübchen zu bleiben und sich angekleidet auf das Bett auszustrecken. Wenn das Fräulein es wünsche, würde ihr Sohn ein bißchen heraufkommen und ihr vorlesen – Gedichte, oder was ihr sonst gefiele, denn er sei gut bewandert in allem Gedruckten. Und morgen, da könnte das Fräulein ja wohl mittels Wagen zu den Eltern zurückgebracht werden.

Kornelia dankte herzlich: sie bliebe gern noch einen Tag, wenn die gute Frau – wie hieße sie doch? – Ach so, Madame Lorch – also wenn die gute Madame Lorch sie noch so lange behalten wolle und der gestrenge Eheherr nichts dagegen hätte. Aber dann müsse sie jedenfalls nach der Residenz fahren; die Eltern wüßten, daß sie ein paar Tage ausbleibe, und wären darum nicht beunruhigt, denn der feige Pferdejunge, der würde sich schön gehütet haben, etwas von dem Unfall zu erzählen. Eine Tracht Prügel hätte er ja verdient, denn die Mutter hätte ihm extra viel Vorsicht anbefohlen.

Kornelia schwindelte mit viel Natürlichkeit und wunderte sich selbst dabei, wie glatt es ging, und wie glaubhaft alles klang. Dann sagte sie, es würde sie freuen, den Herrn Sohn zu sehen und ihm für seinen Beistand zu danken.

Eine halbe Stunde später klopfte Christian zaghaft an der Mansardentür.

»Nur herein, ich bitte,« rief Kornelia.

Er stand aber ganz scheu auf der Schwelle und traute sich kaum näher, so lieblich sah das Mädchen aus, halb liegend auf dem Bett, in dem weißen Mullkleidchen mit den kirschroten Bändern und Schleifen.

»Ich wollte dem Fräulein nur das Büchlein bringen, das unten geblieben war,« stotterte er sehr verwirrt.

»O das ist schön ... es hat mir schon sehr gefehlt, mein liebes Büchlein. Haben Sie auch einen Blick hinein getan? ...« fragte sie freundlich und blätterte in den Seiten.

»Aber, was sehe ich da ... Noten? ... Sie sind Musikant, Herr ...«

»Mein Name ist Christian, Fräulein.«

»Sie sind also Musikant, Herr Christian?«

Er seufzte schwer auf und schlug die Augen nieder.

»Ich wollte, ich wär's, Fräulein!«

Sie blickte ihn wohlgefällig an und wurde ein bißchen rot dabei, dann steckte sie das Näschen wieder ins Buch hinein und summte die aufgeschriebenen Noten vor sich hin.

»Hübsch ist das, wissen Sie, wirklich hübsch! Was gehören denn da für Worte dazu?«

»Die Worte, Fräulein, weiß ich noch nicht. Die müssen mir erst einfallen.«

»Sie dichten auch, Herr Christian?«

»Nur ganz wenig, Fräulein. Wenn ich die Töne nicht finde, suche ich Worte ... ich plage mich oft sehr lange mit den Noten und weiß nicht, wie ich's schreiben soll, alles, was ich in mir höre.«

»Ja, das müssen Sie eben lernen, Herr Christian ... Wollen Sie sich nicht zu mir setzen?«

Es war wie ein Traum.

»Darf ich denn?«

»Aber gewiß, Herr Christian. Ich bin Ihnen so viel Dank schuldig. Ihre Frau Mutter erzählte mir, Sie hätten mich hierher getragen; das war wirklich gut von Ihnen, denn wenn Sie nicht gekommen wären, hätte ich wahrscheinlich die ganze Nacht auf der Landstraße zubringen müssen, und das denke ich mir recht unangenehm, denn ich graule mich immer schrecklich.«

»Wie war's denn nur möglich, Fräulein, daß Sie allein die Reise unternommen haben, die nächste Stadt ist von der Residenz gut sechs Stunden entfernt?«

Sie blickte ihn von unten herauf ein bißchen mißtrauisch an.

»Ja, wissen Sie, Herr Christian, das ist eigentlich mein Geheimnis.«

Er erschrak, weil er fürchtete, aufdringlich gewesen zu sein.

»Verzeihen Sie, bitte, Fräulein ...«

Seine treuherzige Art gefiel ihr, und weil sie sich sicher mit ihm fühlte, sie sich auch gern wichtig tat mit ihrem Vorhaben, sagte sie:

»Wenn Sie mir schwören, nichts zu verraten ...«

»Gewiß nicht, Fräulein,« rief er ganz beglückt bei dem Gedanken, von diesem schönen, vornehmen Mädchen ins Vertrauen gezogen zu werden. »Ich will es Ihnen beim Andenken meiner verstorbenen Schwester schwören, in deren Zimmer Sie jetzt sind.«

»Die Arme!« rief Kornelia und machte ein so liebes, teilnehmendes Gesicht, daß er rasch hinzufügte: »Bedauern Sie sie nicht, Fräulein, es war ein Glück für sie!«

»Ein Glück?« fragte Kornelia ganz fassungslos.

Er nickte und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

Sie schüttelte den Kopf: »Das verstehe ich nicht, Herr Christian, leben ist das Herrlichste auf der Welt. Ich fürchte mich schrecklich vor dem Tod; lieber halte ich tausend Schmerzen aus, als daß ich sterbe. Nur nicht tot sein, nur nicht ... nicht sein! Ich möchte nicht einmal – zehnmal möchte ich leben! ... Und ich werde auch zehnfach, hundertfach leben ...! Ja, das werde ich!« setzte sie ekstatisch hinzu.

Christian sah sie mit leuchtenden Augen an und griff nach seinem Hals, als benähme es ihm den Atem.

Da lachte sie wieder fröhlich und kindlich auf.

»Nein, nein ... eine Hexenmeisterin bin ich darum nicht. – Und nun kommt mein Geheimnis ...«

Sie beugte sich vor und flüsterte: »Haben Sie von der Demoiselle Pigeon gehört?«

Er wurde dunkelrot und sprang vom Stuhl auf.

»Sie ... Sie sind ... Demoiselle Pigeon?«

Kornelia lachte laut auf. »Da kann ich wie Sie sagen: ich wollte, ich wär's. Aber ich sehe, Sie kennen den Namen, kennen Sie sie vielleicht selbst?«

Nein, er hatte sie nur einigemal im Theater gehört und war hingerissen wie alle. Ganz heimlich hatte er sich immer fortgeschlichen, war manchmal erst zum letzten Akt in der Residenz angekommen und mußte dann wieder stundenlang in der Nacht zu Fuß bis nach Haus gehen und längs der Dachrinne an der Mauer bis zu seinem Fenster hochklettern, denn der Vater hätte ihm den häufigen Besuch des Theater sicher verwiesen, wenn er's gewußt hätte.

»O wie herrlich!« rief Kornelia.

Nun brauchte sie ihm wirklich nicht mehr zu mißtrauen, und sie weihte ihn rückhaltslos in ihren Plan ein. Sie wollte sich bei der Demoiselle Pigeon als Gesellschafterin vorstellen und mit ihr nach Paris gehen. Dort aber würde sie sich ihr offenbaren und sie bestürmen, sie für die Oper auszubilden.

»Was werden denn Ihre Eltern sagen, Fräulein?« fragte Christian erregt.

Kornelia zuckte die Achseln.

»Meine gute Mutter wird sich bald mit ihren alten Kompottöpfen, neuen Häubchen und Staatskleidern darüber trösten, mein lieber Vater – der mag sich dann vielleicht im Grab umdrehen, aber das wird auf die rechte Seite sein, meine ich ... denn er hat Musik immer sehr geliebt und selbst wunderschön Violine gespielt. Nur einen habe ich zu fürchten – den Onkel Mörder ...«

»Was ...?«

Kornelia lachte auf: »So nenne ich meinen Onkel, der Oberst ist. Sie brauchen keine Angst zu haben, wir sind lauter ehrliche Leute in der Familie, und gerade mein Onkel, der hat Orden von der linken Schulter bis zur rechten ... für jeden, den er im Krieg umgebracht hat, mag er wohl einen Orden bekommen haben. Schrecklich! Na, der wird sicher einen Höllenspektakel machen – aber in Nürnberg hängen sie keinen, sie hätten ihn denn. Und schlimmstenfalls ... die Pigeon ist allmächtig und kann unter Umständen noch mehr als ein deutscher Oberst!«

»Sie sind zu beneiden,« sagte Christian gepreßt und schluckte etwas herunter dabei.

»Na, warten Sie nur,« sagte sie großmütig, »wenn ich erst eine große Sängerin geworden bin, dann will ich auch Ihre Lieder und Opern singen und ... aber bis dahin sind Sie vielleicht selbst schon ein großer Komponist geworden.«

»Ich? ... Ach du lieber Gott ...«

Kornelia fühlte, daß sie eine schmerzliche Seite berührt hatte, und Christian antwortete nur mehr einsilbig auf ihre verschiedenen Fragen, beinah ängstlich, als fürchte er, sie könne fragen, worauf er ihr die Antwort schuldig bleiben müßte. Er empfahl sich denn auch bald, sah aber dabei so niedergeschlagen aus, daß er dem Mädchen leid tat.

Was mochte dem hübschen jungen Menschen fehlen? Sie dachte lange darüber nach, und dazwischen summte sie immer wieder die Melodie, die er auf die weißen Felder ihres Büchleins niedergeschrieben. So hübsch und eigen klang das ... die gute Madame Lorch würde gewiß Freude haben, wenn sie es ihr später vorsang. Und das wollte sie denn auch tun.

Die Hitze war groß gewesen tagsüber, und Kornelia fand es nachmittags unerträglich in dem hellen Stübchen, in das die Sonne hineingesengt hatte. Auch hörte sie die gedämpften Klänge eines Harmoniums heraufdringen; da hielt sie es nicht länger dort oben aus und stieg die Wendeltreppe hinab.

Die Tür zum niederen Wohnzimmer war offen; Christian saß an seinem geliebten Instrument und suchte die Begleitung zu seinem neuen Lied.

Als er sich zufällig umwendete, stand Kornelia in ihrem duftigen weißen Kleidchen hinter ihm.

»Mir geht's schon gut,« sagte sie beruhigend. »Spielen Sie nur weiter... Ich habe selten Harmonium gehört, es gefällt mir gut ... es klingt alles so heilig darauf.«

»So sollte Musik immer klingen,« sagte er.

Sie schüttelte den Kopf und lachte ihn schelmisch an.

»O nein, Herr Christian, Musik muß auch lustig klingen können wie Vogelzwitschern, schrecklich wie Donnerrollen und süß wie ...«

»Wie? ...«

»Süß wie Liebe, Herr Christian.«

Er lächelte befangen und stand auf.

»Ich war in der Stadt, Fräulein, und habe Ihnen ein Zeitungsblatt mitgebracht.«

»Wie artig, Herr Christian.«

»Da steht viel über die Demoiselle Pigeon drin; heute ist ihre Abschiedsvorstellung, und morgen reist sie ab.«

»Um Gottes willen, Herr Christian ... geben Sie her!«

Kornelia zitterte vor Aufregung. Wenn die Pigeon nun fortführe und sie sie nicht mehr erwischte ... das wäre ja das Ende all ihrer Träume und Hoffnungen.

»Ich muß noch heute fort, Herr Christian.«

»Unmöglich, Fräulein, mein Vater ist mit dem Wagen über Land und kommt erst spät in der Nacht heim. Zu Fuß können Sie den weiten Weg aber noch nicht machen, die Landstraße ist glühend heiß; der alte Gaul, auf dem ich heute mittag nach der Stadt geritten, konnte kaum mehr weiter. Morgen in aller Früh, Fräulein, will ich Sie hinbringen.«

Kornelia hörte nicht mehr. Sie hatte das Zeitungsblatt auf dem großen Mitteltisch ausgebreitet und suchte in fieberhafter Hast nach dem Artikel ... Richtig, da stand's ...drei ganze Spalten – dazwischen ein Gedicht: »Die göttliche Pigeon, die himmlische Pigeon, die Sonne, vor der alle Sterne verblaßten.« ... Sie übersprang das alles, ... die Garderobe der Pigeon: Dreißig Kostüme in Atlas und Samt ... der Schmuck der Pigeon ... da endlich, die neue Gesellschafterin der Pigeon, eine brave Bürgerstochter ...

Kornelia schlug mit der Hand auf den Tisch. »Das muß natürlich mir passieren!« rief sie erbost, dann las sie in fliegender Eile weiter.

»Einen deutschen Diener hat sie aber doch nicht bekommen, Herr Christian!«

Sie hob den Kopf, ihre Augen blitzten.

»Wissen Sie was, ich verkleide mich als Mann ... ja, weiß Gott, das tu ich!«

»Aber, Fräulein,, wo denken Sie hin? Ein ehrbares Fräulein als Mann!«

»Ach was ehrbar! Da gibt's keine Ehrbarkeit ... Wenn ich dann später eine berühmte Sängerin geworden bin, wird mich kein Mensch fragen, ob ich in Hosen oder Röcken zur Pigeon gekommen bin! Sie müssen mir helfen, Herr Christian. Ich bin beinah so groß wie Sie ... Sie müssen mir einen Anzug leihen.«

Er starrte sie fassungslos an; sie wurde ungeduldig.

»Herrgott, ist so ein Mann schwerfällig, verstehen Sie mich denn nicht?«

Nun kam Leben in seine regungslose Gestalt, und er ergriff ihre beiden Hände. »Wenn ich Sie so sehe, Fräulein ... so mutig, so ... ich bin wirklich nicht wert, ein Mann zu sein.«

Er schluchzte plötzlich laut auf und schlug den Arm vors Gesicht.

Kornelia wußte nicht viel von dem, was zwischen Himmel und Erde vorfallen konnte. Ihrem Willen war man meist untertan gewesen aus Schwäche und aus Liebe, und ihr Wille war eigen geworden ohne viel Rücksicht auf andere.

Das hilflose Schluchzen berührte sie seltsam. Da mußte Arges vorliegen. Männer weinen nicht, sagte der Onkel Mörder immer – das war wohl auch so ein Märchen gewesen, das er ihr aufband.

In diesem Augenblick kam die Lorchin durch das hintere Waldpförtchen in den Garten, die Hände voll mit allerlei Kräutern.

»Ihre Mutter ist da,« sagte Kornelia und tippte Christian auf die Schulter. Er fuhr sich mit dem Rücken der Hand über die Augen.

»Wenn es Ihnen recht ist, Fräulein, wollen wir in den Garten gehen.«

Sie hatte nicht das Herz, ihm jetzt von ihren Angelegenheiten zu sprechen.

»Ei, sieh da, das Fräulein geht ja schon herum,« sagte die Lorchin freundlich und machte Kornelia Platz neben sich auf der Bank. »Wir, kriegen Gewitter,« fuhr sie fort und trocknete sich die Stirn.

Christian stellte sich hinter die Alte und fuhr ihr mit der Hand leise über den grauen Scheitel.

»Du siehst elend aus, Mutter, hast dich zu sehr angestrengt.«

Die Lorchin schüttelte den Kopf: »Der Schlosserin bin ich begegnet, und das hat mich mitgenommen. Die hatte sich sonntäglich aufgeputzt sowie ihr kleines Mädchen und ging zum Mann, Abschied nehmen. Was so ein armes Weib in seiner Angst zusammenredet – na, der liebe Herrgott wird's sie wohl nicht entgelten lassen an ihrem letzten Tag ... aber schauerlich klang's doch, und ums Kind ist's einem leid.«

Kornelia fragte neugierig, was das für eine Bewandtnis habe mit der Frau.

»Ihr Mann hat einen auf der Landstraße erschlagen und wird übermorgen hingerichtet,« sagte die Lorchin.

Kornelia schauerte zusammen: »O wie furchtbar! Wie hat nur einer den Mut, ein Verbrechen zu begehen, da er ja doch weiß, daß er sein Leben dafür lassen muß!«

»Die Sünde ist stärker als die Furcht,« sagte die Lorchin.

»Und wie hat nur einer den Mut, jemand hinzurichten ... das ist doch ärger als totschlagen ... meinen Sie nicht auch, Madame Lorch?«

Die kleine Frau legte, ohne aufzusehen, die Kräuter auseinander und band sie zu einzelnen Bündeln.

»Reinen Herzens muß man sein und den Gesetzen gehorchen,« antwortete sie leise.

Christian wurde unruhig und ging in die Tiefe des Gartens.

Eine Weile saßen die Frauen schweigend nebeneinander.

»Wie herrlich Sie hier wohnen, Madame Lorch,« nahm Kornelia das Gespräch wieder auf, »das reine Idyll. Kein Wunder, daß Ihr Herr Sohn für Poesie und Musik empfänglich ist. Sie werden gewiß noch einmal viel Freude an ihm erleben.«

»Geb's Gott, Fräulein ...«

»Hören Sie doch nur, Madame Lorch, wie hübsch das Lied ist, das er mir auf mein Büchlein geschrieben«, und ohne eine Antwort abzuwarten, sang sie es mit köstlich weicher, junger Stimme in den schwülen Sommerabend hinein, selbst ergriffen von der traurig innigen Weise.

Die Lorchin hörte zu arbeiten auf und faltete andächtig die Hände im Schoß, Christian aber lauschte in der Ferne voller Entzücken der hellen Mädchenstimme, und es war, als träufelten diese weichen, süßen Töne Mut in sein verzagtes Herz.

War es denn möglich, daß alles Glück der Erde für ihn ewig unerreichbar sein sollte, daß er ein Geächteter, ein Gemiedener blieb sein Leben lang? ... War es auszudenken, daß er, in dessen Seele so viel Schönes und Edles zum Licht strebte – ein so dunkles Gewerbe ergreifen sollte? Nie, nie! ... Hier, wo ihm zum erstenmal sein eigenstes, innerstes Wesen im Lied lebendig erstand, hier schwor er sich's zu, vor nichts, vor keinem Opfer zurückzuschrecken und die drückenden Fesseln zu zerreißen. Er dachte an die Mutter – die hatte ihn immer verstanden, und sie mußte ihn auch dann verstehen, wenn er ihr wehe tat. Sie mußte es ja fühlen, wie sehr er litt, und sie würde es nicht wollen, daß er zugrunde ging. –

Das Lied war verklungen, verschwebt wie ein durchsichtiges Wölkchen am abendlichen Himmel ...

»He, Lorchin,« rief da plötzlich eine schnarrende Männerstimme.

Ein berittener Gendarm beugte sich über den Zaun und schwenkte ein Papier mit amtlichem Siegel in der Hand. Kornelia wurde ganz blaß, denn sie meinte nicht anders, man wäre ihr auf der Spur und habe den Gendarm ihretwegen ausgeschickt.

»Lorchin, ihr Mann soll aufs Gericht kommen. Da haben sie einen ausgeliefert von außerhalb, den's Leben nicht mehr freut, und der die Reise am Freitag gleich mit antreten soll.«

»Halt er sein Maul, Gendarm,« fuhr die Lorchin ihn an und trippelte hastig zum Zaun, »was er da redet, gehört nicht auf die Landstraße und nicht vor fremde Ohren.«

Der Mann lachte gutmütig: »Na ja, so schön klingt's nicht wie das Lied, das die Jungfrau eben gesungen. Ihr habt wohl seinen Besuch bekommen, he?«

Und er zwirbelte an seinem Schnurrbart und musterte Kornelia, die bleich und an allen Gliedern zitternd auf der Bank saß, mit frechem Behagen.

»Mein Besuch geht Ihn nichts an, Gendarm, gib Er mir den Wisch.«

»Holla, sachte, das gehört für Ihren Herrn Sohn, den Christian Lorch, muß es ihm selbst geben.«

»Christian, Christian,« rief die Mutter.

Er kam langsam, sichtlich erstaunt näher.

»Ist er der Christian Lorch?«

»Ja, selbstverständlich. Geben Sie her!«

Erregt öffnete er das gesiegelte Schreiben und überflog die wenigen Zeilen. Nur mit Mühe unterdrückte er einen Ruf des Abscheus und des Schreckens.

Da stand es schwarz auf weiß: »Christian Lorch ist bestellt zur Probe als Gehilfe seines Vaters, des Scharfrichters Amadeus Lorch, zur Vollstreckung des Todesurteils durch das Schwert an dem Fuhrmann Johann Gottlieb Treß und dem Schlossermeister Sebastian Färber, die stattzufinden hat um fünf Uhr morgens am Freitag, dem sechzehnten Juni, auf dem kleinen Platz.«

Christian ballte das Papier zusammen und rollte es zwischen den Händen, daß es ein kleines Kügelchen wurde.

Der Gendarm lachte: »Scheint ja 'ne höllisch gute Nachricht zu sein. Na, adjes allerseits! ... Das gibt heute noch einen mächtigen Spektakel da oben,« sagte er und zeigte zu den schwarzen Wolken hinauf, dann legte er die Hand an die Mütze und sprengte schneller, als er gekommen war, davon.

Christian rührte sich noch immer nicht; auf einmal breitete er die Arme weit aus, als wollte er über den Zaun hinwegfliegen, weit fort von dem freundlichen kleinen Häuschen, weit fort über die Schornsteins und Kirchenspitzen der Stadt, die sich vom Dunkel des Horizonts abzeichneten.

Die Lorchin stand neben ihm, noch kleiner, hilfloser als sonst und strich ihm mit der schmalen, schon runzligen Hand schüchtern über den Rücken; dann schüttelte sie den Kopf und ließ ihn allein. Ihre Lippen bewegten sich ganz leise, als murmle sie ein Gebet vor sich hin, und ihre Mundwinkel waren schmerzvoll herabgezogen.

Kornelia war plötzlich das kleine Haus, das so friedlich zwischen Wald und Wiese eingebettet lag und mit seinen grünen Fensterläden und spiegeligen Scheiben alles ringsherum so freundlich anblinkte, ganz verleidet.

Der Gendarm behielt recht; ein Höllenspektakel war es, der eine Stunde später losging. Ein trockenes Gewitter mit tosendem Donner, als wenn es haushohe Steine prasselte, mit bald schwefelgelben, bald stahlblauen Blitzen, die wie spitze Lanzen die Luft durchzackten und in die dunkelsten Stubenecken hineintanzten.

Die mutige Kornelia zitterte vor Angst, aber auch die Lorchin zeigte Unruhe.

»Es kann arg werden,« sagte sie, »bevor Lisbeth starb, gab's auch so ein Gewitter ... Das vergesse ich nicht.«

So nah war sie der Natur, daß sie alle Geschehnisse ihres Lebens mit ihr in Zusammenhang brachte. Christian lehnte am Harmonium und stützte finster brütend den Kopf in die Hand. Wenn einer dieser Blitze in das Haus schlug, alles verbrannte, alles ausrottete, wenn er mit dabei zugrunde ginge, alles war besser als dieses Leben ...

»Ich will singen,« sagte Kornelia, »Herr Christian, begleiten Sie mich.«

Ganz mechanisch tat er, was sie befahl, und ebenso mechanisch spielte er sein neues Lied; das hatte sie gerade singen wollen, und trotz der Angst flog ein Lächeln über ihr Gesicht. Da ihr nichts anderes einfiel, sang sie Worte aus einem bekannten Psalm dazu, und die Lorchin fiel ein mit scheuer, dünner Altweiberstimme ... Es klang wie ein inniges, frommes Gebet.

Als sie endeten, schien das Gewitter wirklich nachzulassen.

»Musik hilft über alles hinweg,« rief Kornelia, »jetzt habe ich wieder Mut!«

»Ich auch!« sagte Christian bedeutungsvoll.

Als die Lorchin das Zimmer verließ, um die Abendmahlzeit zu rüsten, rief er plötzlich: »Ich will für Sie durchs Feuer und in den Tod gehen, Fräulein!«

Leise antwortete sie: »Sie sind sehr unglücklich, Herr Christian ... ich möchte Ihnen helfen.«

Er nahm ihre Hand und preßte sie an die Lippen.

Da kam die Lorchin herein. Sie sah die beiden schweigend an, und ihre Lippen zuckten. Einen Augenblick später schickte sie ihren Sohn in den Garten, um Salat zu pflücken.

»Machen Sie meinen Sohn nicht noch unglücklicher. Fräulein.« flüsterte die Alte bekümmert.

»Wie meinen Sie das, Madame Lorch? ...«

Kornelia fühlte sich befangen wie noch nie in ihrem Leben, aber ihre Augen versuchten es, verständnislos und ein wenig hochmütig dreinzuschauen.

»Setzen Sie ihm nicht in den Kopf, was er nie und nimmer erreichen kann ...«

Kornelia fand ihre ganze Sicherheit wieder: »Wer sagt Ihnen denn, Madame Lorch, daß er nicht erreicht, was er will ... wie dürfen Sie das sagen ... wie dürfen Sie ihm den Mut nehmen? Es hat Hirten und Bauernjungen gegeben, die berühmt geworden sind!«

»Vielleicht. Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß Christian kein Bauernjunge ist, sondern ...« Sie zögerte einen Augenblick, dann setzte sie hart hinzu: »Mein Mann, Fräulein, ist der Scharfrichter Lorch.«

Kornelia prallte zurück.

»Scharfrichter? ...«

Es drehte sich ihr alles im Kreis herum, und sie faßte eine Stuhllehne als Stütze.

Die Lorchin deckte gleichmütig den Tisch.

»Er ist trotzdem ein ehrlicher Mann, Fräulein, der keinem Hühnchen was zuleide täte ... Aber Gewerbe ist nun mal Gewerbe.«

Kornelia sank auf das harte, kleine Ripssofa und faßte ihr Gesicht mit beiden Händen.

»Scharfrichter!« wiederholte sie noch einmal, als könne sie gar nicht glauben, daß so ein Mensch wirklich existiere.

Plötzlich stieg ihr die gewichene Farbe wieder ins Gesicht, und sie sprang auf: »Aber Sie wollen doch nicht, daß Christian ... daß Ihr Sohn – auch Scharfrichter wird?! Das ... das wäre doch unmenschlich ... nicht auszudenken wäre das! ...«

Sie rang förmlich nach Atem ...

»Ich wünsche es ja nicht, Fräulein ... ich wollte, es gäbe was anderes für meinen Jungen ... aber was? Und was der Vater will, das muß geschehen ...!«

Kornelia vergaß sich so weit, daß sie mit dem Fuß aufstampfte.

»Das darf nicht geschehen ... hören Sie ... das darf nicht geschehen!!«

Sie hätte sich auf die kleine Frau stürzen mögen, um sie zu schlagen, so erbost war sie über die stumpfe Gefügigkeit. Zornige Tränen standen ihr in den Augen.

Christian trat in die Stube, und Kornelia rannte durch die offenstehende Tür an ihm vorbei, hinauf nach oben in das kleine Mädchenzimmer ... Jetzt begriff sie, warum Christian es ein Glück genannt, daß seine Schwester gestorben war.

»Was ist dem Fräulein?« fragte Christian bestürzt.

»Das Gewitter ... das Gewitter! Das wühlt alles auf im Herzen eines Menschen!« antwortete die Lorchin ausweichend. –

Kornelia hatte sich eingeschlossen. Sie antwortete nicht, als die Lorchin heraufkam und ihr Milch, frischen Schinken und Salat zum Abendbrot brachte. Erst als Christian leise an ihre Tür klopfte, öffnete sie. Er war noch bleicher als sonst und sah sie voller Verzweiflung an.

»Sie wissen es, Fräulein ...?«

»Soll ich Ihnen helfen, Christian?« fragte sie statt aller Antwort.

»Können Sie mir denn helfen?! ...«

»Vielleicht! Aber Sie müssen mir folgen, ohne mich weiter auszufragen – ganz blindlings!«

»Das verspreche ich Ihnen heilig,« sagte Christian entschlossen.

»Christian, Christian!« rief die Lorchin von unten herauf, und eiligst verabschiedete er sich.

Kornelia konnte keine Ruhe mehr finden und warf sich halbangekleidet aufs Bett. Sie hatte ein Versprechen gegeben und wußte doch gar nicht, wie sie es einlösen sollte. In der Stille des dunklen Stübchens schmiedete sie hundert verschiedene Pläne. Bald wollte sie Christian mit einem rührenden Brief zu ihrer Mutter schicken und sie bitten, ihn an Stelle des alten Hausverwalters einzusetzen, bald schrieb sie in Gedanken an ihren gefürchteten Onkel und beschwor ihn flehentlich, Christian eine geachtete bürgerliche Stellung zu verschaffen. Auf einmal fiel ihr ein, daß Christian mit dem allen gar nicht geholfen wäre, da sein ganzes Sinnen und Trachten auf Musik gerichtet sei. Nun fing sie an zu weinen und weinte sich langsam in den Schlaf.

Plötzlich wachte sie auf. Eine laute, heftige Stimme dröhnte von unten bis zu ihr herauf. Sie sprang vom Bett und öffnete vorsichtig ihre Tür. Sie hörte, wie eine schwere Männerfaust zornig auf den Tisch fiel und die laute Stimme weiter sprach: »Den seligen Kantor soll der Teufel zwacken für all den Unsinn, den er dir in den Kopf gesetzt ... ich habe schon klügere Köpfe abgehackt, als es deiner ist!«

»Vater ...«

»Ja, was soll ich denn den Herren vom Gericht sagen? Statt zu danken für die Ehre, daß sie an dich gedacht haben, muß ich ihnen melden, mein Herr Sohn laßt schön grüßen, aber auf die Ehre spuckt er! ... Die Abdeckerei und die Leimsiederei, die kannst du dir dann malen wie deine verfluchten Noten ... Und wenn ich einmal tot bin, kannst du als Vagabund auf die Landstraße hinaus und dir von deiner Weisheit schwarzen Rettich kaufen. Was aber dann aus dir wird, das weiß der Deibel. Gar mancher hat so angefangen auf der Landstraße, bis er dann in meine Hände gekommen ist ... Und dann mußte ich ihm den Kopf zurechtsetzen ... jawohl! ... Und das war das Ende! ...«

»Laß doch schon, Vater,« sagte die Lorchin und weinte. »Und du, Christian, gib dies eine Mal nach – geh mit, das eine Mal auf den Richtplatz, und wenn's dir dann immer noch unmöglich ist ...«

»Mutter, bedenke, was du verlangst,« schrie Christian auf, »zusehen, wie mein Vater, dem ich die Hand geküßt, der mich auf seinen Armen getragen – zwei Menschen, die in Todesangst zittern, den Kopf abschlägt ... das kann ich nicht!! ... Ich kann's nicht! ... Lieber ließe ich mir selbst den Kopf abhacken, gleich auf der Stelle ...!«

Der Alte murmelte etwas vor sich hin, was Kornelia von ihrem Lauschwinkel aus nicht verstehen konnte; die Lorchin sprach nun ebenso leise, und dann sagte der Mann: »Zum Kuckuck, das Fräulein muß mir morgen vormittag raus. Sonst kommt mir die Obrigkeit auf den Hals. Mein Haus ist kein Absteigequartier für vornehme Frauenzimmer. Du bringst sie mir morgen zur Stadt, Christian, bis zum ersten Fuhrgeschäft ... hörst du – dort kann sie sich einen Wagen mieten – es schickt sich nicht, daß sie mit dir gesehen wird.«

Nun wurde es ruhiger unten.

Kornelia zündete die Wachskerze an und wartete. Sie war wie zerschlagen an allen Gliedern, aber die äußerste Aufregung hatte ihr einen guten Gedanken eingegeben.

Leise, auf Strümpfen schlich sich Christian an ihrer Tür vorbei.

Sie steckte den Kopf heraus und winkte ihm, einzutreten.

»Ich hab's, Herr Christian, ich hab's! ... Morgen sind Sie frei und weit fort!«

Er wollte sie fragen, aber sie legte den Finger auf den Wund.

»Denken Sie an Ihr Versprechen: blindlings, blindlings!«

Sie sah ihm ernst in die Augen: »Haben Sie den Wut, alles zu verlassen, Vater und Mutter und Heimat?« »Jetzt ja,« sagte er dumpf.

»Wahrhaftig? – Dann wird alles gut!«

Sie blickte ihn mit so ruhiger Sicherheit an, daß er den allergrößten Mut fand: den, ihr zu glauben.

»Um die Mutter freilich ist's mir leid,« fügte er nach einer kleinen Pause hinzu. »Das heißt wohl für mich: sie nie wiedersehen.«

»O doch, aber später, wenn Sie Ihr neues Leben angefangen haben, oder noch später, wenn Sie es zu etwas gebracht haben.«


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