Engelbert Wittich
Blicke in das Leben der Zigeuner
Engelbert Wittich

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Vor nun schon langen Jahren überwinterte eine Familie dieser »fahrenden« Leute in einem Schwarzwalddorf. Die Kinder mußten in die Schule gehen diesen Winter. Der älteste Knabe sollte im Frühjahr »aus der Schule kommen«, ( In die er doch so wenig »hineinkam«.) Der Ort war evangelisch, der Schüler aber doch katholisch getauft. Dies war der Anlaß, daß, als er ¼ Jahr die evangelische Dorfschule besucht hatte, der katholische Pfarrer aus dem nahen Oberamtsstädtchen ihm das Billet für ¼ Jahr bezahlte zum katholischen Schulbesuch und zwar so lange, bis er »aus der Schule war« im Frühjahr. So war der Knabe auf doppelte Art ein »Fahrender«. Vom »fahrenden Volk« war er jetzt auch noch ein »fahrender Schüler«, indem er morgens in die katholische Schule in der Oberamtsstadt mit der Bahn fuhr und abends wieder zurück nachhause. Hier lernte er wirklich gute Menschen kennen und die Anteilnahme und Liebe für den verachteten Zigeuner tat ihm so wohl, daß er wünschte, immer so glücklich sein zu können. Die Eindrücke, die er hier durch den Umgang mit diesen braven Leuten empfing, blieben ihm in steter Erinnerung. Dies Glück war leider nicht von langer Dauer. Der Tag der Schulentlassung kam. Die Eltern des Knaben wollten schon lange – kaum daß der Schnee schmolz und die liebe Sonne zu lächeln begann – »weiterziehen«, um die durch den Winter unterbrochene Wanderung fortzusetzen. Ungeduldig wurde von ihnen der Schulentlassungstag erwartet – der einzige Grund, der sie von der Reise zurückhielt. Der Knabe dagegen wünschte ihn noch weit, weit zurück. Vergebens – nur zu schnell war er da! Wie der Knabe von edlen Wohltätern die Leibesnahrung in dieser Zeit erhielt, (da die Eltern, weil zu arm, ihm nichts mitgeben konnten), so erhielt er auch von ihnen alles, was zur Feier dieses Tages gehörte, Kleidung, Schuhe usw. Das Herz des Knaben war übervoll vor Glück, nicht allein wegen dem, daß er vielleicht zum erstenmal in seinem Leben so schmuck und proper dastand, sondern hauptsächlich der liebevollen Worte wegen, die von allen Seiten an ihn gerichtet wurden. So selten wie ein neuer »ganzer« Anzug, so selten war eine solche Anteilnahme von Menschen, die ihn sonst nur mit Verachtung behandelten, im Leben dieses Knaben! Seine große Freude konnte man ihm vom Gesicht ablesen, vollends als er mit den anderen »Konfirmanden« zu einem gemeinschaftlichen Mahl in das Pfarrhaus, mit dem Herrn Pfarrer und dessen Angehörigen, eingeladen wurde. Doch wollte ihn ein Gefühl der Traurigkeit beschleichen, als er die anderen Knaben betrachtete und hörte, wie sie sich gegenseitig mit Stolz und Freude erzählten, was sie werden wollten oder durften. Jeder hob die Vorzüge seines erwählten Berufes hervor und jeder glaubte, den besten erwählt zu haben. Hier saß der »fahrende« Knabe still! Hier konnte er nicht mitreden. Was er wohl wird? Niemand dachte daran, ihn auch einen Beruf wählen, lernen zu lassen! Hätte sich doch hier der Engel gefunden, den jeder Mensch haben muß, um etwas zu werden, etwas zu erreichen! Hätte sich hier eine rettende Hand gezeigt, und es wäre aus dem Knaben damals etwas ganz anderes geworden, als er jetzt ist!

Doch die beginnende Traurigkeit verschwand, als ein Spaziergang in den nahen Wald gemacht wurde, welcher die Feier und den schönen Tag beschloß. Es war ein wunderschöner Frühlingstag. Auf den grünen Wiesen blühten die Blumen. Auf den Bäumen keimten schon die Blüten, aus ihnen und von überall ertönte der Vögelschall. Alles war Freude, Lust und Leben! Nur zu schnell vergingen die fröhlichen Stunden dieses – letzten Tages, den der Knabe unter diesen guten Menschen zubrachte. In seinem höchsten Glück – wurde er jäh wieder von der rauhen Faust des unerbittlichen Schicksals zurückgerissen in sein – altes Leben. Die Scheidestunde schlug. Man begleitete den Knaben an die Bahn. Die muntere Schar merkte in ihrer Fröhlichkeit nicht, wie traurig und leer es in seinem Herzen aussah. Ein letzter Händedruck, noch einige liebevolle, tröstende Abschiedsworte des guten, wahrhaft edlen Pfarrers, ein Tücherschwenken, ein Pfiff – davon brauste der Zug. Der Abschied war schwer, der Knabe meinte, er ließe alles zurück, Liebe, Freude und Glück. Das Herz wollte ihm brechen vor Heimweh und Schmerz. Dunkel, grau lag die Zukunft vor ihm, – ohne einem Strahl von Glück! Und er wäre doch so gerne glücklich gewesen! Bei seinen Leuten angekommen, war der Wagen schon längst gepackt. Eine letzte Nacht noch in einer Stube. Leer und öde grinste ihm die Zukunft aus allen Ecken des kahlen Zimmers entgegen. Leer und öde sah es in seinem jungen Herzen aus. Am Morgen, früh, nach einer durchweinten Nacht, ging es fort. Wohin?

Aber niemals konnte der Knabe diese glücklichste Zeit seines ganzen Lebens vergessen. Sein nachheriges bewegtes Leben konnte nie die Erinnerung daran auslöschen! Ebensowenig das Andenken an den wahrhaft guten und edlen Pfarrer, dessen Lehren, Worte und ehrwürdige Gestalt ihm immer und jetzt noch nach langen, langen Jahren, vor Augen steht. Besonders unvergeßlich bleibt ihm der Tag seiner Schulentlassung. Er war und ist der schönste und glücklichste seines Lebens. Oft und gern denkt er heute noch – oder vielleicht gerade jetzt – an diese frohe und glückliche Kindheits- und Jugendzeit zurück. Dieser Tag wird für die ganze Lebenszeit ein Lichtblick sein und bleiben für Engelbert Wittich!


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