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Fünftes Kapitel

»Nee, nee, Bettichen, da kannste nu sagen, was de willst, der Kaffee is nischt.«

»Na ja doch. Willem, wat denn? Et muß ebent jespart werden hia. Det haste doch von die Kesten oft jenuch jehört. Sparen stärkt den Charakter. Und da hat se recht.« Zwei Blechlöffel rühren den dünnen Milchkaffee, auf dessen wäßrig brauner Oberfläche schwarze Pünktchen und kleine, weiße Fetzen schwimmen. Die eine, »Bettichens«, Hand ist dürr und knochig und kommt aus einem engen Ärmel, die andere ist eine Bärentatze und gehört Herrn Alemann. Herr Alemann ist in Hemdsärmeln. Denn: »I, wo wird er denn seine gute Uniform tragen, während er den Kaffee trinkt.« Die Uniform, die zieht er an, wenn's klingelt. »Dann is immer noch Zeit.« Denn wer hier klingelt, der ist bescheiden, der macht keinen Krach. Der wartet, bis Herr Alemann sich den Rock angezogen und zugeknöpft hat. Wenn das auch 'ne Weile dauert, denn sie hat eine ganze Menge Knöpfe und einen hohen Kragen, seine Uniform. Nicht jeder Portier hat so eine. Und dann muß er noch mit einem kleinen Kämmchen den Bart »schnieke« machen. Herrn Alemanns Kinn ist ausrasiert; um so stattlicher wirken seine zwei Bartspitzen. Herr Alemann hat das Gardemaß, und das Gardemaß zu haben, ist in Hochdorf der Ehrgeiz jedes Mannes. Für das Garderegiment des regierenden Fürsten waren seit alten Zeiten nur die längsten Kerls ausgesucht worden. Das Gardemaß war 1 Meter 85, wer das nicht hatte, der galt nicht. Frau Alemann ihrerseits war klein. Sie schien noch kleiner, als sie war, durch ihre gebückte Haltung. Stramm zog sie das dünne schwarze Wollkleid über ihren knochigen, gebogenen Rücken. Ihr spitzes Kinn stach in die Luft. Auf ihrem schütteren Haar lag ein weißes, flaches Spitzenhäubchen, und eine faltige, weiße Schürze schloß fest um ihre magere Taille.

Beide saßen an dem sauber polierten Tisch in ihrer engen Loge. An der Wand Kästen mit vielen Schaltern. Daneben Telefone zum Umstecken. Ein Fenster nach dem Vorraum. Da war's schummrig. Licht wie in einem Mausoleum. Buntfinstere Fensterscheiben und eine Marmorbüste der hohen Stifterin des Hauses, das nach ihr benannt war: »Prinzessin-Helene-Stift«.

Im Augenblick scheint das Haus zu schlafen. Und doch ist es mitten am Tag, fast Mittag. Aber die Geräusche dringen nicht durch die fest geschlossenen Türen. Weiße Türen. Weiße Korridore. Weiße Räume zum Schlafen, zum Essen, zum Lernen, zum Lesen. Korridore, lange, helle, ohne Teppiche, ohne Vorhänge. Treppen über Treppen. Hintertreppen, gewöhnliche Treppen und dann die große in der Mitte des Hauses, belegt mit dickem rotem Teppich für Besuch, für hohe Besucher. Eine Kapelle und ein Turnsaal.

Auf dem blank gescheuerten Boden des oberen Korridors hallt der Schritt, aber den Schritt der grauen Gestalt, die jetzt geschäftig von Tür zu Tür trat, hörte man nicht – das sind leise Sohlen. Gummiabsätze. Das graue Kleid verrät keinen Körper. Es fällt gerade herab. Fast scheint es, als müßten die fest an die Seite gepreßten Arme und die auf dem Magen gefalteten Hände das Kleid halten. Leicht nach vorn gebeugt, aber mit wachem Späherblick in alle Ecken, steuert Fräulein von Kesten auf eine niedrige Tür zu. Das kleine Spitzenhäubchen der Lehrerinnentracht ist mit großen Haarnadeln auf dem spärlichen Haar befestigt. Die Haare sind farblos, und farblos ist das Gesicht. Nur die Pupillen der unbestimmbaren Augen stechen dunkel hervor. Auch sie versucht Fräulein von Kesten manchmal zu verbergen. Aber die hellen Augenwimpern decken sie nicht. Ohne anzuklopfen, öffnet sie die Türe. Ohne auf die gebückte Gestalt zu achten, die an einer Nähmaschine sitzt, geht sie an einen Garderobenständer und faßt in eine Menge Kleider, die dort aufgehängt sind. Lauter dunkelblaue Kleider. Ein muffiger Schneiderinnengeruch hängt in der Luft.

»Marie, es kommt heute eine Neue.«

»Jawohl, Fräulein von Kesten, ich weiß schon.«

»Machen Sie ihr eine Uniform zurecht.«

»Jawohl, Fräulein von Kesten. Aber was Gutes ist nicht mehr da«, kommt's hüstelnd aus der Ecke, »'ne Prinzessin ist ja hoffentlich das Fräulein nicht.«

»Nein. Freistelle.«

»Ach je, det arme Kind.«

»Wieso? Sie wird es hier nicht zu fühlen bekommen«, sagt Fräulein von Kesten zurückweisend.

»Ich weiß, ich weiß, Fräulein von Kesten, natürlich. Übrigens sind da doch noch ein paar ganz gut erhaltene Kleider, zum Beispiel das hier!«

Die Alte kommt humpelnd näher.

»Das hat dem jungen Fräulein von Brockenburg jehört, wenn ich nicht irre – na, wern schon sehen, Fräulein von Kesten.«

»Schärfen Sie ihr ein, wie sie sich zu frisieren hat.«

»Jaja, jewiß doch, gnädiges Fräulein.«

Die Tür schließt sich hinter der kleinen grauen Dame. Wieder geht sie eifrig geschäftig den Korridor entlang. Flüchtig fährt ihre Hand über ein Fensterbrett – und böse Falten bilden sich auf ihrer Stirn. Ihr Blick schweift über das Fensterglas, das rein und fleckenlos den lachend blauen Himmel auf sich niedersehen läßt. Aber als sei auch dies nicht in der Ordnung, schüttelt Fräulein von Kesten den Kopf. Jetzt hat sie etwas gehört. Sie bleibt stehen und horcht. Nein – kann denn das sein? Rasch geht sie auf die eine Türe zu, hinter der eine Walzermelodie ertönt. Lustig perlt das aus der geschlossenen Tür hervor. Schon reißt die blasse Hand die Tür auf. Ein entsetztes Kind springt vom Klavierstuhl auf und starrt Fräulein von Kesten ins Gesicht.

»Marga – nennst du das üben?«

Es erfolgt keine Antwort.

»Nun?«

»Ich habe schon geübt, Fräulein von Kesten – ich war fertig«, kommt es schüchtern vom Klavier her.

»Ich habe mit dir zu reden.«

Marga atmet erleichtert auf. Schuldbewußt streicht sie mit beiden Händen die rebellisch gewordenen Haare aus der Stirn. Dann steckt sie, gewohnheitsgemäß, ihre Hände in den Latz der schwarzen Schürze und nimmt die Haltung eines Soldaten an, der den Befehl »Ruhestellung« bekommen hat. Ihr Gesicht ist noch gerötet vom Schreck, aber ihre etwas starkknochigen, rassigen Züge haben einen unterwürfigen, fast servilen Ausdruck angenommen. Wohlgefällig ruht Fräulein von Kestens Blick auf dem Mädchen.

»Na ja, ich kenne dich doch, Marga.«

Sie kneift etwas die Augen zusammen. »Ich irre mich nie in euch Kindern.«

Leise und höflich antwortet Marga:

»Ich bitte um Entschuldigung, Fräulein von Kesten, es tut mir leid ...«

»Gut, mein Kind, gut. Aber ein andermal begnüge dich mit den Aufgaben, die du bekommen hast, verstanden?«

»Jawohl, Fräulein von Kesten«, und Marga hat einen Knicks gemacht. Ein Knicks ist eine geschwinde kleine Beugung der Knie. Man kann ihn im Stehen und auch im Vorübergehen ausführen. Der Knicks ist das Kleingeld der gebräuchlichen Alltagskomplimente. Das nächste ist der Hofknicks, welcher der Prinzessin gilt. Das ist ein tiefes Hinabsinken und Neigen des Kopfes, doch noch weit entfernt vom Kniefall, auf den nur der liebe Gott Anspruch hat. Dazwischen liegt noch ein Knicks für Frau Oberin, für Tanten und Eltern. Es ist nicht üblich, bei einer Gelegenheit wie dieser einen Knicks zu machen, aber Marga von Rasso tut, wenn es keiner sieht, für Fräulein von Kesten gern ein übriges.

»Marga, es kommt heute eine Neue, und ich wollte dich fragen, ob du ihre Pflegemutter sein willst.«

Marga fühlt sich ausgezeichnet. Fast hätte sie noch einen Knicks gemacht, aber das wäre übertrieben gewesen. So sagt sie nur rasch: »Sehr gerne, Fräulein von Kesten.«

»Ich bitte dich, gut auf sie zu achten und dafür zu sorgen, daß sie sich schnell und ohne Störungen einfügt. Es ist sowieso nicht angenehm, mitten im Semester eine Neue aufzunehmen. Aber da sind Gründe.«

»Jawohl, Fräulein von Kesten.«

»Na, ich sehe, du verstehst mich.«

»Gewiß, Fräulein von Kesten.«

 

»Kinder, die Neue, die Neue!«

Eine ruft es, und viere laufen hinterher ans Fenster. Ilse von Westhagen ist allen voran, reißt entgegen dem strengen Verbot das Fenster auf, und alle Köpfe zwängen sich in die Öffnung. Unten steht eine Droschke, wie sie in Hochdorf am Bahnhof ein langweiliges Dasein führen. Soeben entsteigt ihr eine ältere Dame. Das Trittbrett sinkt unter ihrem Gewicht tief herab. Sie entnimmt einem großen, aber schon recht abgenutzten Portemonnaie einiges Geld und bezahlt den Kutscher.

»Soll ick nich warten, gnädige Frau?« meint dieser.

»Nein, nein, ich brauche Sie nicht mehr, ich gehe zu Fuß weiter.« –

Oben am Fenster verfolgt man die Vorgänge genau.

»Du, jetzt kommt sie 'raus!« flüstert Ilse aufgeregt, dabei kneift sie Lilly, die sich neben ihr auf das Fenster stützt, in den Arm.

»Au, du, hör auf!«

»Mensch, um Gottes willen, mach keinen Krach!«

Aber sie vergessen den beginnenden Streit, als Manuela aus dem Wagen steigt.

Manuelas erster Blick gilt dem großen Gebäude vor ihr. Zuerst glaubt sie, der Kutscher müsse sich geirrt und sie aus Versehen in eine Kaserne geführt haben. Ein riesiger Steinkasten mit Fenstern, Fenstern, Fenstern, Reihe über Reihe, und einem großen, fest verschlossenen Tor.

»Aber, Kind, so nimm doch die Handtasche!« wird sie von Tante Luise aus ihrer Betrachtung gerissen.

Es eilt auch schon Frau Alemann, weil Alemann die Uniform nicht so rasch zubekommt, an die Gittertür, öffnet und bemächtigt sich des Koffers. Sie geht voran, und Tante und Nichte gehen hinter ihr her durch den Vorgarten. Manuela hat die neugierigen Blicke von oben bemerkt und senkt den Kopf. Aber auch die Mädels ziehen sich erschrocken vom Fenster zurück, denn Fräulein von Kesten ist hinter ihnen eingetreten und hat mit einem energischen: »Was soll denn das heißen?« dem Vergnügen ein Ende gemacht. Sie ist zum Fenster gegangen und hat es mit einer heftigen Bewegung geschlossen.

»Ihr wißt, daß es streng verboten ist, Fenster zu öffnen und hinauszusehen. Was sollen denn die Leute auf der Straße denken, wenn ihr euch da hinauslümmelt wie die – wie die Dienstmädchen! Ilse, hast du deinen Schrank aufgeräumt?«

»Nein, Fräulein von Kesten.«

»Nachmittags ist Visite – also ...«

Eine nach der anderen gehen sie schweigend und betreten aus dem Zimmer.

Fräulein von Kesten war nicht immer und ihr ganzes Leben lang Gouvernante gewesen, obwohl die Vorstellung, daß sie einmal jung oder gar ein Kind gewesen war, einem bei ihrem Anblick schwerfiel. General von Kesten, ihr Vater, war ein Soldat von vielen Verdiensten. Er trug die breiten roten Streifen und seinen grauen Seehundsschnurrbart in Ehren und Ansehen. Seine drei Söhne waren im Kadetten-Korps, denn das war billig und bereitete auf den Offiziersberuf vor. Die kleine Armgard ging zur Schule und wurde von ihren Kameradinnen »das Kaninchen« genannt. Als sie aufwuchs, hieß sie noch immer »das Kaninchen«, und als die Brüder in verschiedenen Regimentern untergebracht waren und es von ihnen verlangt wurde, Armgard, »das Kaninchen«, mit auf den Ball zu nehmen, seufzten sie. Ja, Armgard seufzte auch. Das ausgeschnittene Ballkleidchen aus billiger Seide mit den von einer Tante gestifteten künstlichen Vergißmeinnicht zum Anstecken war nur hübsch, solange man zu Hause im Lichte der Petroleumlampe vor dem dunklen Spiegel stand. Im großen Saal unter Schleppen, Schmuck und Uniformen war sie ausgelöscht, und sie drückte sich irgendwo an der Wand herum, bis ein blutjunger Leutnant oder Fähnrich von seinem Vorgesetzten den energischen Befehl bekam, mit »Kaninchen« zu tanzen. Wenn andere Mädchen alle Arme voll Blumen hatten und strahlend von den lachenden Offizieren die breite Treppe hinunter bis zum Wagen begleitet wurden, schlich sie, möglichst hinter den Bedienten herum, mit einem oder zwei armen Sträußchen zu Fuß und allein, oder ganz überflüssigerweise von Papa oder Mama bewacht, nach Hause. Als dann weitere Einladungen kamen, sagte sie ab. Es war nur Qual. »Aber was tut man mit ›Kaninchen‹?« Der alte General und seine müde Frau berieten. »Kaninchen« wollte etwas lernen. Aber was? Lernen kostete Geld – und was war schon, wenn sie was gelernt hatte? Eine Stellung annehmen bei fremden Leuten oder gar für Geld arbeiten war unstandesgemäß und unmöglich. Nein, nein, das beste war schon, man brachte sie irgendwo unter – etwa in einem Krankenhaus als Schwester. Aber »Kaninchen« schien schwach zu sein und hatte auch keine rechte Neigung zur Krankenpflege. Sehr froh waren alle, wie sich die Gelegenheit bot, sie ins Stift zu schicken. Das war keine Schande, und »Kaninchen« hatte nun eine Lebensaufgabe. Man gratulierte ihr, und das junge Mädchen glaubte schon selbst daran, daß es ehrenvoll und eine Auszeichnung war, wenn man sie zu diesem Posten zuließ, um den sich noch viele Hundert andere Kaninchen beworben hatten. Mit ihrer ganzen Kraft bemächtigte sie sich der »Aufgabe«. Die Vorschriften und Regeln des Hauses wollte sie restlos erfüllen und erfüllen lassen. Sie wollte ihre ganze kleine, schwache Person der guten Sache opfern. Jedem Befehl von oben würde sie pünktlich gehorchen und es durchsetzen, daß ihren Befehlen pünktlich gehorcht wurde. Was von oben kam, war gut und richtig. Und was sie tat, war gut und richtig. Das Leben außerhalb dieser Mauern hatte nie Reiz gehabt für das Mädchen Armgard, und so gehörte ihre ganze Seele nun dem Innern dieses Hauses, ohne Sehnsucht und Wünsche darüber hinaus. So zog »Kaninchen« mit zwanzig Jahren das graue Kleid an, dessen unnachgiebiges Tuch ihren Körper anscheinend verhinderte, sich zu entwickeln, und so kämmte sie den Scheitel an derselben Stelle bis an ihr Lebensende.

»Ja, hat uns denn diese Portiersfrau nicht gemeldet?« wunderte sich Exzellenz von Ehrenhardt, die steif auf einem Stuhl im Empfangszimmer saß. Die Tür des Zimmers stand offen, gegenüber lag die Portiersloge. »Sieh doch mal nach, Manuela – ich habe ja nicht soviel Zeit, ich muß doch um ein Uhr bei Tante Irene sein.«

Schüchtern klopfte Manuela an der Tür gegenüber. Fast erschrak sie vor dem mächtigen »Herein«, das Herr Alemann ihr entgegenrief.

»Soso, ist Fräulein von Kesten noch nicht da? Na, da wern wir noch mal 'raufklingeln«, meinte er gutmütig.

Er stöpselte und meldete dann, indem er vor dem Telefon strammstand.

»Exzellenz von Ehrenhardt warten im Empfangszimmer.«

Dann lächelte er gutmütig Manuela an: »Na, nu wird sie schon 'runtersegeln.«

Als Lela vor die Tür trat, lief sie wirklich Fräulein von Kesten in die Arme. Ohne Begrüßung wendete die sich zu ihr:

»Die Portiersloge darf nicht von euch Kindern betreten werden, das ist streng verboten. Ihr habt mit Herrn Alemann nichts zu tun.« Und dann, etwas freundlicher: »Du bist also die kleine Neue?«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, steuerte sie Lela, als sei sie hier draußen gefährdet, in das Empfangszimmer.

Herr Alemann schließt das große Tor hinter Ihrer Exzellenz von Ehrenhardt. Sie geht davon wie einer, der seine Sache gut gemacht hat. Ihr Gewissen ist leicht, sie hat das Ihre getan. Oder kann man einem Kind etwas Besseres antun, als es in das vornehmste Institut zu stecken, das es überhaupt gibt? Jetzt ist das Kind bewahrt. Jetzt wird das aus ihr werden, was das Erstrebenswerte ist, nämlich ein ordentlicher Mensch, und es hat noch den ungeheuren Vorteil, daß es weder Meinhardis noch die Familie belastet, da man ja dank guter Beziehungen eine Freistelle bekommen hat. Für die nächsten paar Jahre ist nun die Frage Manuela gelöst. Gott sei Dank, daß Meinhardis im letzten Augenblick doch Vernunft angenommen hat. Ach ja, das Kind ist ihm leider sehr ähnlich. Das gleiche Temperament, der gleiche Leichtsinn – diese Liebe zu allerhand Äußerlichkeiten ...

So gar nichts von Käte, meiner armen Schwester, denkt Luise von Ehrenhardt und blickt seufzend zum Himmel. Sie hätte doch die Droschke warten lassen sollen, denn es beginnt langsam zu regnen.

 

Lela ist umringt von einem ganzen Rudel von Mädchen. Sie hat zuerst die Empfindung, daß sie alle gleich aussehen und daß sie sie niemals wird unterscheiden können. Alle tragen sie das Haar ehrbar und glatt nach hinten gestrichen, alle haben sie das gleiche dunkle Kleid mit den biederen Fältchen über der Brust und der eng anliegenden Taille, alle die gleiche scheußlich schwarze Schürze, unter deren Latz sie, wenn sie unbeschäftigt sind, die Hände vergraben, als frören sie alle.

Marga hat ihre Aufgabe sofort kräftig in die Hand genommen. Sie gräbt mit beiden Armen in Manuelas Koffer. Manuela steht vor dem leeren Schrank und tut, was man ihr sagt. Krampfhaft hält sie ein Lächeln bereit für die Hände, die sich ihr teils kameradschaftlich, teils brüsk entgegenstrecken, mit einem mehr oder weniger freundlichen »Guten Tag«. Sie will unter allen Umständen nicht zeigen, wie es ihr zumute ist. Nur nicht jetzt aus Angst weinen. Nur das nicht. »Leg das beiseite!« Marga reicht ihr ein Kleid, und Lela gehorcht. Es ist ein einfaches Matrosenkleid, nichts Besonderes daran, aber aller Augen haften wie gebannt darauf.

»Ach, ist das nett!« sagt sehnsüchtig die kleine Schwarze, die Ilse genannt wird.

»Was hast du denn da?«

»Bücher.«

»Bücher werden abgegeben«, erklärt Marga streng.

»Abgegeben? Warum denn?«

»Sind nicht erlaubt, mein Kind.«

»Zum Lesen ist sowieso keine Zeit, höchstens mal sonntags, und da kannst du dann die Bücher aus der Bibliothek haben.«

Ilse hat Marga eins der Bücher entrissen, ist damit ans Fenster gestürzt und hat angefangen, darin zu blättern.

»Gib das Buch her, Ilse!« ruft Marga ihr nach.

»Fällt mir gar nicht ein. Du, das ist großartig.«

»Gib her, Ilse. Sonst sage ich's Fräulein von Kesten.«

»Ja, petzen, das kannst du. Aber nimm dich bloß in acht – wenn das 'rauskommt, was die Manuela da mitgebracht hat, kriegt sie den größten Krach.«

Manuela ist unruhig geworden. Sie tritt zu Ilse.

»Du, gib's her, ja? Das hab' ich mir neulich aus Papas Schrank geholt, ich hab's noch gar nicht angesehen.«

Ilse faßt Lela um die Schultern und zieht sie weg. Sie flüstert ihr ins Ohr: »Du, das ist ein mächtig dolles Buch, von Emile Zola. ›Der Bauch von Paris‹ – wie das schon klingt! Mensch, das versteck' ich in meinem Schrank. Laß dir bloß von der Marga nicht imponieren, die ist ein Streber und verehrt die Kesten.«

»Aber Ilse, wenn es doch verboten ist ...«

»Also, paß auf – ich mach' dir einen Vorschlag: Schenk's mir.«

Manuela lacht: »Gerne.«

Ilse packt das Buch, und auf den Zehenspitzen schleicht sie ernsten Gesichtes davon, aus dem Schrankzimmer hinaus, den Korridor entlang und verschwindet in einer Türe, die man von innen verriegeln kann. Hier ist sie ungestört und in Sicherheit. Hier hat man Ruhe und Einsamkeit, hier kann man verbotene Bücher lesen.

Marga hat Manuelas Schrank eingeräumt. Manuelas Kopf schwirrt von allem, was sie behalten muß. Zuerst hat sie zu lernen, was verboten ist. Nämlich: Eßwaren, vor allem Schokolade, Obst und Bonbons, Schmuck und Geld müssen abgeliefert werden, nur etwas Taschengeld wird ausgeteilt, aber es muß darüber ein Kontobuch geführt werden. Haarwässer dürfen nicht benutzt werden. Auch eigene Seife wird abgegeben. Alle Wäsche muß mit dem ganzen, rot in weißes Wäscheband gewirkten Namen gezeichnet sein. Hemd hat auf Hemd zu liegen. Hose auf Hose. Taschentuch auf Taschentuch. Der Schrank ist abgeschlossen zu halten. Den Schlüssel hat man bei sich zu tragen und nicht zu verlieren. Der Schlüssel hat eine Nummer. »Du bist Nummer 55«, sagt Marga. Manuela blickt auf zu der Nummer über ihrem Schrank. Eine schwarze 55. »Deine Kleider tragen die Nummer 55. Deine Schuhe gehören in die Stiefelkammer in das Fach 55, dein Mantel und dein Hut kommen unten neben dem Hauseingang in die Garderobe, Abteilung 55. Deine Waschkabine ist Nummer 55, ebenso dein Bett.«

Manuela fühlte, wie sie langsam zu Nummer Fünfundfünfzig wurde.

»So. Nun bringe ich dich zu Marie, damit sie dich einkleidet. Sag ihr nur, du bist Nummer 55, dann weiß sie Bescheid.« Marie wußte Bescheid. Manuela blieb betroffen in der Tür stehen. – Mein Gott, wie schwer legte sich einem diese Luft auf die Brust! Wie klein war das Fenster nach draußen! Man sah ringsumher keine Wand, nur Kleider und Kleider, von denen ein Dunst ausging wie von vielen Menschen, die, regennaß, zusammengepfercht in einem Raum stehen.

»Na, kommen Sie doch 'rein, Nummer 55, ich weiß schon, daß Sie da sind! Ach, herrje, ist das aber ein Gesicht! Na, hab' keine Bange nich, mein Herzchen. Gestorben is noch keiner an der Uniform, na, nu kommse mal her.«

Eine krallige Hand griff nach Lela. Sie zog sie zu sich hin in den Lichtkreis einer Lampe, die trotz des Tageslichtes im dämmrigen Raum brannte. Zwei vom Licht geblendete Augengläser blickten auf zu Manuela, die den Eindruck hatte, als habe diese Frau gar keine Augen. Fürchterlich eng geflochtene viele kleine Zöpfe umgaben ihren Kopf, und viele trockene, strähnige Hautfalten zogen sich aus dem Halskragen zum Kinn.

»So, und nun 'runter mit der Kledage!« Zwei Hände zerrten Manuela das Kleid vom Leib. Es lag am Boden. Nackt und weiß stand sie da.

»Na, nu treten Sie doch 'raus, so viel Zeit haben wir nich!« Marie versetzte ihr einen kleinen Stoß, damit sie das Kleid aufheben konnte. Sie nahm das Kleid, auch den Hut, den Manuela noch in der Hand behalten hatte, an sich. Ohne Worte ging sie damit weg. Entsetzt und hilflos kam es von Manuelas Lippen:

»Aber was machen Sie? Wo tragen Sie denn meine Kleider hin?«

Sie hörte eine Schranktür knarren und einen Schlüssel sich im Schloß umdrehen. Mit einem zufriedenen Grinsen kehrte Marie zurück.

»So, mein kleines Fräulein, das wäre in Ordnung. Ihr Kleid kriegen Sie wieder, wenn Sie mal Ausgang haben. Und sonst tragen Sie immer hübsch die Uniform.«

»Immer?« entfuhr es Manuela. Sie hatte wohl gewußt, daß hier Anstaltsuniform getragen wurde. Aber diese abscheulichen Kleider – es war doch wohl nicht denkbar, daß man die immer –

»Na ja doch«, antwortete Marie, und ihr zahnloser Mund verzog sich zu einem häßlichen Lachen, »det is nun mal so und hat auch seinen guten Grund. Wenn Sie nämlich auskneifen, denn kennt Sie doch jeder an der Uniform, nich wahr? Na, sehn Sie, und dann bringt derjenige Sie gleich wieder schön zurück ins Helenenstift.«

Manuela schaute ihr entsetzt ins Gesicht.

»Ja – wollte denn schon mal jemand ...«

Die Alte lachte vergnügt, es klang wie ein Kreischen:

»Wollte? – Hahaha! – Wollte is gut! – Mehr als eine hat's schon probiert. Aber det hat ja doch keinen Zweck. Die Polizei fängt sie auf oder, wenn se ooch bis nach Hause kommen, denn schicken die Eltern se ja doch wieder her. – Wollen wollte schon manche. – So, nu setzen Sie sich mal hin.« Sie drückte Manuela auf einen Hocker und griff ihr in die Haare. Es schmerzte.

»Nein, nicht, bitte nicht!«

»Aber Menschenskind. Det muß sein, und wat sein muß, det wird jemacht. Die Frisur muß sitzen. Ganz glatt. Und wenn ich es nicht mache, denn reißt Ihnen nachher die Kesten den Kopf ab – und dann sollen Sie mal sehen: Wenn die mit Kamm und Bürste losgeht, det is noch ganz was anderes.«

Die Drahthaarnadeln drückten. Manuela hatte das Gefühl, als zerre man ihr die Haut vom Kopf. Aber sie sagte nun nichts mehr. Eine harte Haarbürste, ein kratzender Kamm mißhandelten ihren Kopf, und Maries dürre Finger umklammerten fest ihre Haare, die sie in einem Zopf zusammenflochten und aufsteckten. Das dunkelblaue Kleid, das die Alte ihr übergestreift hatte, fühlte sich muffig feucht an. Manuela zögerte.

»Na, nu mal los, was denn? – Neu is es nich – aber es war ein ganz sauberes Fräulein, die letzte junge Dame, die das getragen hat. Überzeugen Sie sich selber: Kein bißchen Achselschweiß. Da können Sie von Glück sagen, daß Ihnen das paßt! Nur nicht so zimperlich, damit kommen Sie hier nicht weiter, das kann ich Ihnen gleich sagen.«

Manuelas Hände zitterten gegen ihren Willen. Es überfiel sie ein furchtbares Grauen, als sei sie plötzlich nicht mehr sie selbst. Als hätte sie keine Haut mehr. Die Ärmel waren an den Handgelenken zu kurz. Der Rock war weit und hatte viele Falten. Die schwarze Schürze kratzte, sie war aus Baumwollmoiré und stand wie ein Brett von ihr ab.

»Sehn Sie wohl, wie dat sitzt?« sagte Marie ungerührt. »So, und nun noch eine Kokarde, dann sind wir fertig.«

»Kokarde?« Manuela sah Marie fragend an.

»Ja doch – die muß jeder tragen!« und sie schob Manuela einen Kasten mit bunten Rüschen hin. Gelbe, rote, schwarze und hellblaue, für jede Klasse gab es ein anderes Abzeichen. – Richtig, die Mädchen unten hatten ja alle solche Karnevalsorden getragen.

»Eine rote nehmen Sie sich. Sind auch alle nicht neu, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Manuela suchte. Eine rote Kokarde aufnehmend, entdeckte sie, daß auf der Rückseite, wo die Rüsche auf einem weißen Läppchen und einer Sicherheitsnadel befestigt war, etwas mit Tinte verzeichnet stand. Sie trat zum Licht, um die Schrift zu entziffern.

»Marie?«

»Ja, gnädiges Fräulein?«

»Marie, was bedeutet denn das? Da ist ja ein Herz draufgezeichnet und ein Pfeil und drei Buchstaben: E. v. B.?«

Die Alte kam plötzlich ganz nahe an Manuela heran, so daß diese ihren Atem, der nach Kaffee roch, im Gesicht spürte. Eine ihrer braunen runzligen Hände legte sich auf Manuelas Arm, und lüstern sah sie ihr ins Gesicht, um die Wirkung ihrer Worte zu beobachten.

»Was das heißt? Das heißt Elisabeth von Bernburg. Eine von den ›Damen‹. Die Damen, das sind die Erzieherinnen, müssen Sie wissen.« Und da Manuela noch kein Verständnis zeigte, flüsterte sie, als sei es ein tiefes Geheimnis:

»Das junge Fräulein, dem diese Kokarde früher gehört hat, die hat eben wahrscheinlich für Fräulein von Bernburg was übriggehabt.«

Manuela blickt etwas ratlos die Alte an. Diese reißt ihre Augen auf und, tausend Falten auf der Stirn, bohrt sie ihren unsauberen Blick in den des Kindes:

»Geliebt – geliebt hat sie sie.«

»Geliebt? Eine Gouvernante?« Manuela begreift das nicht. Die Alte bricht in leise krächzendes Lachen aus.

»Nehmen Sie nur ruhig die Kokarde, kleines Fräulein – tut nischt – Sie werden schon sehen – Sie werden schon erleben, wie die ist, die ›Gouvernante‹.«

Marie muß so lachen, daß sie hustet. Manuela betrachtet das Herz und wendet die Kokarde in ihrer Hand. Sie mag Marie gar nicht mehr ansehen, aber sie läßt sich von ihr die Kokarde anstecken. Sie gehört an das Schürzenband auf der linken Schulter, ein wenig über dem Herzen.

 

Unsicher betritt Manuela die weiße Treppe. Ihre kleine Hand liegt ängstlich auf dem Eisengitter, das von Pfeiler zu Pfeiler führt. Zum erstenmal seit ihrer Ankunft in diesem Hause ist sie ganz allein. Gequält führt sie die freie Hand an ihre Frisur. Stehenbleibend, zieht sie an der Schürze, deren Band sie beengt, und zerrt an dem hohen Stehkragen, der ihr den Hals wundreiben wird. Wenn Papa sie so sähe – und Fritz – und Mutter Inge ...

Spärlich leuchten die elektrischen Lampen. Manuela zögert, weiterzugehen. Sie weiß nicht mehr, wo sie ist, wo das Schrankzimmer war, wo der Korridor und wo der Schlafsaal. Von den feuchten weißen Wänden her befällt sie Kälte. Da hört sie leise, schnelle Tritte von unten heraufkommen, und ein klares, liebes Gesicht lacht ihr entgegen.

»Ich heiße Edelgard – und du?«

»Ich bin Nummer Fünfundfünfzig.«

Edelgard lacht. »Aber nein, wie du heißt ...«

»Ach so!« – Manuela wischt sich mit der Hand übers Gesicht, als müsse sie einen Schleier abnehmen. »Manuela.« Die andere faßt warm und kameradschaftlich ihren Arm.

»Du, das ist ein schöner Name. Wirst du immer so genannt?«

»Nein – meine – zu Hause haben sie mich immer Lela genannt, manchmal auch Lel.«

Rasch beugt sich Edelgard vor und sieht Manuela ins Gesicht:

»Darf ich auch Lela sagen?«

Manuela ist verwirrt von soviel Freundlichkeit. Sie kann nichts weiter antworten als »Ja, bitte!«, und am liebsten hätte sie noch viel mehr gesagt, aber da sitzt schon wieder was in ihrer Kehle, ihr Hals ist wie zugepfropft.

»Hast du schon ausgepackt?«

»Ja.«

»Dann haben wir Zeit. Setz dich. Es ist zwar verboten, auf der Treppe zu sitzen, aber hier sind wir allein.«

Manuela gehorcht. Doch dieses Nachgeben, sie fühlt es sofort, war zuviel. Sie muß ganz schnell ihr Taschentuch hervorholen, das Schluchzen läßt sich nicht mehr hinabpressen. Es überfällt sie gegen ihren Willen. Es packt sie und schüttelt sie. Edelgard hat ihren Arm ganz um Manuelas Schultern gelegt.

»Komm, wein dich aus.«

Manuela schämt sich. Wenn sie nur aufhören könnte – aber sie kann nicht.

»Alle weinen, wenn sie ankommen, Lela. Das schadet gar nichts. Darüber wundert sich niemand. Du brauchst dich nicht zu genieren. Wein dich aus, und dann ist dir besser. Und man schläft immer sehr gut, wenn man geweint hat.«

Das Schluchzen läßt langsam nach. Manuela putzt sich die Nase. Edelgards ruhige Stimme tut ihr gut.

»Weißt du, die ersten Tage sind immer scheußlich. Aber das geht vorbei. Später sind dann auch die Kinder nicht mehr so neugierig wie am Anfang.«

Lela drückt Edelgard die Hand.

»Danke, du bist lieb.«

»Das ist doch bloß, weil du mir leid tust.«

»Ach, es wird gleich vorbei sein! Ich bin furchtbar schlapp, verzeih.«

Edelgard will Manuela ablenken: »Weißt du schon, in welchen Schlafsaal du kommst?«

»Ja. Schlafsaal I, sagt Marga.«

»Oh, siehst du, da hast du Glück!«

»Warum?«

»Ach, da wollen alle gerne hin – wegen Fräulein von Bernburg!«

Das war das zweite Mal, daß Manuela diesen Namen hörte. Aber sie wollte nicht fragen. Es war auch nicht nötig, denn Edelgard fuhr von selber fort:

»Alle haben sie Fräulein von Bernburg lieb, obgleich sie sehr streng ist. Aber, weißt du, sie ist so wahnsinnig gerecht. Alle anderen Lehrerinnen haben ihre Lieblinge, aber Fräulein von Bernburg hat alle Kinder gleich gern und zieht kein einziges vor. Ich bin gespannt, wie du sie finden wirst.« In diesem Augenblick ertönen eine Glocke und ein schriller Ruf: »Aufstellen, aufstellen!« vom unteren Korridor her. Edelgard nimmt Lela an die Hand.

»Das ist die Kesten, komm, jetzt ist Andacht. Ich zeige dir noch vorher die Lehrerinnen«, und beide Kinder laufen die Treppe hinunter und verschwinden in der Menge der übrigen hundertfünfzig Mädel, die aus allen Räumen des Hauses auf das Glockenzeichen hin zusammenströmen. Man schwatzt und lacht, ruft und läuft hin und her. Auf einer Bank an der Wand sitzen mehrere Damen in dem gleichen grauen Kleid, wie es Fräulein von Kesten trägt. Alle tragen sie das Abzeichen des Stiftes an blauem Band auf der Brust. Alle haben ein weißes Spitzenhäubchen auf den Haaren. Beim zweiten Glockenzeichen stehen die Damen auf, und die Kinder stellen sich zwei und zwei in Reih und Glied an der Wand auf. Die einzelnen Klassen haben sich voneinander abgesondert. Jede Kolonne unterscheidet sich von der anderen nur durch die Farbe der Kokarde.

Edelgard ist bei Manuela geblieben. Sie reihen sich in ihre Klasse ein. Fräulein von Kesten steht neben einer Tür, die Hand an der Glocke, um das dritte Zeichen zu geben. Aber vorher mustert sie die vor ihr stehenden Kinder. Auf das Kommando »Kehrt!« wenden sich alle um, so daß sie geradeaus auf die Tür und die Reihe der vor ihnen stehenden grauen Damen blicken. Auf das dritte Zeichen öffnet sich die Tür.

Es ist wie im Theater, denkt Manuela, die zitternd in der Reihe der Kinder steht. »Jetzt kommt Frau Oberin«, flüstert Edelgard, die heimlich Lelas Hand hält. Aber das Flüstern, so leise es war, wird sofort durch einen strafenden Blick Fräulein von Kestens gerügt.

Die hohe Gestalt einer alten Frau erscheint. Schweren Körpers, den sie mit Hilfe eines Stockes vorwärts bewegt; aber dank einer sofort spürbaren ungeheuren Willenskraft benutzt sie die Stütze nur wenig. Im Arm hält sie eine Bibel. Ihr Kleid ist grau, tiefer grau noch als das der Damen. Ihre Spitzenhaube ist schwarz, und zwei Spitzenbänder hängen seitlich herab. Die enorme Gestalt füllt fast den ganzen Türrahmen. Sie trägt den Kopf hoch. Ihre grauen kleinen Augen fliegen prüfend über die vor ihr in tiefem Knicks versinkenden Kinder. Ihre Gesichtsfarbe ist fahl, die vorstehenden Backenknochen geben dem Gesicht einen harten Ausdruck. Das Kinn ist energisch, der Mund schmal und fest geschlossen. Jetzt reicht sie Fräulein von Kesten den Stock und öffnet die Bibel. Der vorhanglose Korridor trägt die Stimme gut. Die Stimme ist fest, deutlich, fast männlich: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

Ein leises »Amen« aller antwortet darauf.

Es folgt die Vorlesung eines Kapitels aus dem Neuen Testament. Lela hat bisher ihre Augen nicht von denen der Oberin reißen können. Ein kalter Schauer überläuft sie bei dem Gedanken, wie das sein muß, wenn diese Frau böse ist. Lieber schaut sie hinüber zu den »Damen«. Eine kleine Alte mit etwas chinesischem Gesicht ist Mademoiselle Œuillet, die Französin, daneben steht ein bildhübsches junges Geschöpf, die Engländerin, Miß Evans. Daneben, wenn Lela Edelgards Erklärungen alle recht behalten hat, Fräulein von Gärschner. Energisch, groß, sie hält sich gerade, soll aber trotz äußerlichen Gouvernantentums nicht unfreundlich sein. Fräulein von Attems ist auch beliebt, besonders, da sie nicht unterrichtet, sie hat nur mit dem Haushalt zu tun.

Am äußersten Ende steht Fräulein von Bernburg. Ernst bleibt Lelas Blick an diesem Gesicht hängen. Fräulein von Bernburg sieht schräg vor sich auf den Boden. Ihre Augen scheinen halb geschlossen. Ihre starken, schöngeschwungenen Brauen sind leicht in die Höhe gezogen. Ihr charaktervoller breiter Mund hat in diesem Augenblick etwas Hochmütiges. Auch scheint ihre leicht gebogene Adlernase etwas gebläht, man hat die Empfindung, als seien Unter- und Oberkiefer fest aufeinander gepreßt, denn die Kaumuskeln unter der feinen Haut des mageren Gesichts treten hervor. Die Stirn ist schmal und hoch. Die Schläfen eingefallen. Die Ohren liegen fest an. Das Kinn ist nicht weich. Dies Gesicht hat etwas Unwandelbares. Die schwarzen Haare sind streng gescheitelt. Der Knoten, tief im Nacken, paßt sich der edlen Kopfform gut an. Der Hals ist schmal. Stark die Muskeln, die ihn tragen und die in dem gutsitzenden hohen Kragen verschwinden. Die Schultern breit, die Hände wohlgeformt. Lange, schmale, etwas knochige Hände ohne Schmuck.

»Wir singen nun das Lied: »So nimm denn meine Hände ...«

Der veränderte Tonfall der Oberin weckt Manuela aus ihrer Betrachtung. Zuerst leise und zaghaft, dann immer sicherer ertönt der Choral, den Manuela aus dem ihr hingehaltenen Gesangbuch mitzusingen versucht.

»So nimm denn meine Hände
Und führe mich
Bis an mein selig Ende
Und ewiglich.

Ich mag allein nicht gehen,
Nicht einen Schritt.
Wo Du wirst gehn und stehen,
Da nimm mich mit!«

Manuelas Stimme beginnt zu beben. Sie kann nicht weiter, nur noch einzelne Silben vermögen die Lippen zu formen. Unwillkürlich schweift ihr Blick wieder hinüber zu dem Gesicht Fräulein von Bernburgs, die jetzt die Augen erhoben hat und weit über die Kinder und den Korridor und das Haus hinauszusehen scheint.

»In Dein Erbarmen hülle
Mein schwaches Herz
Und mach es gänzlich stille
In Freud und Schmerz.

Laß ruhn zu Deinen Füßen
Dein armes Kind,
Es will die Augen schließen
Und glauben blind«,

singen die hellen gedankenlosen Kinderstimmen. Es hallt schön im Raum. Sie singen gern, und es ist ihnen gleichgültig, was sie singen. Vor Manuelas Blick zittern die Buchstaben der letzten Strophen. Ihr Mund hat sich geschlossen. Das Schluchzen von vorhin überkommt sie nun mit einer furchtbaren Kraft.

»Wenn ich auch gleich nichts fühle
Von Deiner Macht,
Du führst mich doch zum Ziele,
Auch durch die Nacht.

So nimm denn meine Hände
Und führe mich
Bis an mein selig Ende
Und ewiglich!«

Das Lied verklingt. Frau Oberin schließt die Bibel und faltet die Hände, indem sie leise sagt: »Wir beten.«

Alle fallen ein und sprechen mit geneigtem Kopf das Gebet des Herrn.

»Unser Vater, der Du bist im Himmel ...«

Alle erheben die Köpfe, während Frau Oberin den Segen spricht:

»Die Gnade aber unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! Amen.«

»Amen«, klingt es zurück. Frau Oberin reicht Fräulein von Kesten die Bibel und nimmt ihren Stock mit der silbernen Krücke wieder entgegen. Als sei sie nun ein anderes Wesen, verändert sich ihre Stimme, rötet sich ihr Gesicht, weiten sich ihre Augen. Scharf schneiden die Worte die Luft:

»Ich habe noch einige Bemerkungen zu machen.«

Ihr Blick dringt durch jedes der vor ihr stehenden Kinder. »Es ist mir zu Ohren gekommen, daß wieder allerhand Ungehorsam geschieht. Verbote werden mißachtet. Es ist vorgekommen, daß Briefe, ohne vorherige Abgabe zur Durchsicht, abgeschickt worden sind. Natürlich enthalten diese Briefe unberechtigte Klagen über unsere Anstalt. Ich habe meine Dienstboten angewiesen, mir jede Übertretung dieser Vorschrift zu melden. Wer sich eines solchen Ungehorsams schuldig macht, wird streng bestraft werden. Im eigenen Kleid wird die Betreffende die Straßen der Stadt betreten müssen. Merkt euch das! – Die neue Schülerin, Fräulein von Kesten?« Eine ungeduldige Bewegung mit der Hand, die den Stock hält, entläßt die Kinder. Ein scheuer Knicks, und schnell leert sich der Korridor. Manuela bleibt mit Fräulein von Kesten vor der Oberin stehen.

»Manuela von Meinhardis«, sagt die Oberin, indem sie Manuela die knochige Hand reicht. Manuela bricht in einen erschrockenen Knicks nieder, ohne Fräulein von Kestens Blick zu verstehen, der ihr bedeutet, diese Hand zu küssen. »Nun, ich hoffe, du wirst dich schnell einfügen, mein Kind. Du hast eben gehört, daß Übertretungen der Hausordnung streng bestraft werden. Du wirst selbst merken, daß Kinder, die sich gut führen, sich hier über nichts zu beschweren haben. Sie berichten mir regelmäßig, Fräulein von Kesten.«

»Sehr wohl, Frau Oberin«, erwidert Fräulein von Kesten bedeutungsvoll. Sie versteht die Mahnung durchaus. Diese kleine Meinhardis ist kein einfacher Fall. Aber Frau Oberin wird zufrieden sein. Das etwa liegt im Ton ihrer Worte und in der Gebärde ihrer andächtig vor der Brust geschlossenen Hände.

Nach der Andacht hatte es Abendbrot gegeben. Wiederum zu zwei und zwei aufgebaut nach Klassenrang, war man geschlossen zum Abendbrot marschiert. Der Eßsaal war riesig, quadratisch, hoch, hell, leer. Mit Ausnahme der vier langen Tische, an deren Ende die »Damen« thronten, und anderen endlos langen Seiten, wo hundertfünfzig Stiftskinder saßen.

Zum kalten Abendessen gab es Bier zu trinken. Manuelas Tischnachbarin, Ilse von Westhagen, die bemerkte, daß Manuela wenig aß, sagte gemütlich: »Steck dir was ein, du kriegst sicher Hunger. Wenn's einem zuerst auch nicht schmeckt, später ißt man's dann doch, weil man nichts anderes hat. Das ist immer so.«

Wie kann man Brot in die Tasche stecken, ohne Papier, dachte Manuela. Das macht doch Krümel und ist dann voll Fusseln. Aber sie sollte bald allerhand in diese Taschen stecken lernen, Zucker und Fleischreste, Brötchen mit und ohne Butter – und wirklich, wenn man es selbst nicht mochte, eine andere war immer dankbar.

Wieder eine schrille Glocke – Gebet am Tisch. Man bedankte sich beim lieben Gott für das Abendbrot. Und dabei belastete einen die schwere Tasche, man hatte das Gefühl, ihn bestohlen zu haben.

Und wieder nach einer Weile die Glocke. Diesmal hieß sie: Zu Bett gehen. Im großen Korridor standen alle »Damen« nebeneinander aufgepflanzt und reichten sämtlichen hundertfünfzig Kindern die Hand. Zur Französin sagte man: »Bonne nuit, Mademoiselle«, zur Engländerin »Good night« und zu den übrigen »Gute Nacht«. Nun war man im Schrankzimmer angelangt.

»Manuela, Mensch, komm schnell her – ich muß dir was zeigen!«

Ilse zerrt Lela auch schon am Arm.

»Komm doch bloß, du, du lachst dich kaputt!«

Lela läßt sich hinziehen zu Ilses Schrank, der dem ihren schräg gegenüber liegt. Ilse reißt beide Türflügel weit auf und beobachtet gespannt die Wirkung auf Lelas Gesicht. Lela ist im ersten Moment wie vor den Kopf geschlagen. Was sich da vor ihr auftut, ist zu unerwartet. Beide Türflügel des äußerlich so einfachen weißen Schrankes sind mit brennendrotem Krepppapier austapeziert. Darauf wimmelt es von Bildern, japanischen Fächern, Postkarten aller Art, Christbaumschmuck, künstlichen Blumen.

»Sehr schön«, bringt Manuela über die Lippen.

Ilse ist zufrieden. Lela ist erschlagen.

»Da, und nun paß mal auf – jetzt fällste um!«

Behutsam hebt Ilse einen Stoß Wäsche auf, und dort liegt Lelas Buch »Der Bauch von Paris«. Ilse strahlt.

»So, und jetzt sag mal hintereinander alles auf, was verboten ist. Ja?«

Lela kommt verlegen lächelnd dieser Aufforderung nach. »Schokolade.«

Ilse wickelt ein Strumpfpaket auf, aus dem Silberpapier mit Inhalt hervorsieht.

»Geld.«

Ilse öffnet ein Kästchen mit doppeltem Boden, in welchem oben harmlose Briefe liegen. Darunter klappert es metallisch.

»Schmuck«, sagt Lela, der nicht recht wohl ist, die aber keineswegs Ilse das Vergnügen verderben will.

Und Ilse löst einen Reißnagel und läßt das rote Papier des Schrankinnern ein wenig herab. Da hängen: eine goldene Kette, ein Armband, ein schmaler goldener Ring.

»Aber Ilse!« Jetzt kriegt Manuela es mit der Angst. »Was machst du nur, wenn Schrankvisite ist und man bei dir nachsucht? Fräulein von Kesten ...«

»Findet nichts!« sagt Ilse selig, daß Lela so entsetzt ist. »Wenn bei mir Schrankvisite ist, dann tue ich alles Verbotene in Ilse von Treitschkes Schrank, weil die ja in den anderen Schlafsaal gehört, und wenn dann bei ihr spioniert wird, dann nehme ich ihren Kram zu mir. – Fein, was?«

»Großartig«, sagt Lela und meint es auch. Ilse fühlt sich wohl in der Rolle des Aufklärers.

»Du, weißt du, wenn du mal irgendwas machen willst, was nicht in Ordnung ist, dann sag's mir. Mir kannst du alles anvertrauen. Da passiert nischt. Zum Beispiel, wenn du mal zuviel Tadel hast – was ist die Folge? Du kriegst keinen Ausgang. Aber man kann mit Loben die Tadel wiedergutmachen. Lobe kriegste zum Beispiel, wenn du einen Strumpf sehr gut stopfst. Aber so viel kaputte Strümpfe wie Tadel gibt's natürlich gar nicht, weil jeder die Strümpfe haben will. Na, ich helf' mir dann immer und schneid' einem die Ferse ab – das gibt dann ein mächtiges Loch und ein kolossales Lob, du ...«

»Ich danke schön«, sagt Lela lachend.

»Bitte sehr. Du, ich weiß noch 'ne Menge Sachen – wegen Briefen und so –, laß dir bloß nicht imponieren von dem, was die Oberin heute abend gesagt hat. Überhaupt, weißt du, wenn sie mich so richtig anschreit, und ich krieg' wirklich Angst vor ihr, dann habe ich ein einfaches Mittel. Dann stelle ich mir einfach vor, wie die wohl aussieht, wenn se nackt is.«

Lela prustet heraus – und mit ihr Lilly von Kattner und Ilse von Treitschke, die gerade hinzugetreten sind. Das Kichern und Lachen zieht auch andere herbei:

»Kinder, Ilse hat 'nen Witz gemacht ...«

Er wird wiederholt, und erneute Lachsalven erschüttern das Schrankzimmer.

»Was machst du denn, Manuela?« fragt Ilse, als schon alle unter der Decke liegen, und will sich totlachen, denn Manuela steht noch und betrachtet und betastet mißtrauisch das weiße kalte Bett mit dem rauhen, vielgeflickten Krankenhausbezug, in das sie jetzt steigen soll.

Aber Manuela bleibt ernst. Sie setzt sich zögernd auf den Bettrand und wagt nicht, die Füße unter die Decke zu ziehen. Das Eisen der Bettstelle an ihren nackten Beinen ist kalt. Die Federung gibt nicht nach. – Nie werde ich schlafen können in diesem gräßlichen Gestell, denkt Manuela. Und dann so viele Menschen in einem Zimmer. Seit sie denken kann, hat sie immer allein geschlafen. Und ihr Bett zu Hause war aus schönem, warmem braunem Holz und seine Kissen traumtief und so behaglich, daß sie während all ihrer Kinderkrankheiten gern darin gewohnt hat. Und dann – es ist lange her – gab es ein Bett, weich zum Versinken, mit einer seidigen Decke, die sich um sie schloß, wenn sie, ein kleines fröstelndes Kind, sich hineindrängte, an die Weichheit einer still atmenden Brust, an die Wärme des Leibes, der sie getragen hatte und nach dem die Kissen und die Laken, ach, das ganze Bett süß und wunderbar dufteten.

Lela zieht die eiskalten Knie unters Kinn und starrt ins Leere. Der Duft geht fort – man kann ihn nicht im Gedächtnis behalten wie die Bilder, wie die Worte, wie all die tausend Dinge, die an Mutti erinnern, und die sie so tief in sich liegen hat. – Nur einmal noch – ach, Gott, wie lange her scheint das heute! – war eine Mutter da für Lela, eine kurze Stunde lang nur! – Vorüber!

»Manuela!« ruft Edelgard sie leise an. »Du mußt dich hinlegen. Gleich wird Fräulein von Bernburg dasein.«

Also zieht Manuela die Füße unter die Decke und legt sich gehorsam. Das Kopfkissen ist hart. Die Bettdecke dünn. Das Licht, das von oben her den Saal beleuchtet, blendet ihr die Augen. Das Bett Nummer 55 steht mitten im Zimmer, ein schmaler Gang trennt es von Edelgards Bett, und auf der anderen Seite liegt Mia von Wallin, die noch kein Wort an Manuela gerichtet hat.

Alle liegen sie plötzlich in Erwartung Fräulein von Bernburgs still und beinahe feierlich in ihren Betten. Zum ersten Mal sehen sie aus wie richtige Kinder, muß Manuela denken, in ihren langärmligen Nachthemden, aus deren Bündchen die vom Waschen rotgescheuerten Hände heraussehen, und mit den langen, breitgeflochtenen Zöpfen, die nachts keine Drahtnadeln mehr hochzwängen. Nur Ilse mit ihren kurzgeschnittenen Haaren dazwischen sieht aus wie ein Junge.

Eine Tür, die Manuela noch gar nicht beachtet hat, öffnet sich. Ein Atmen geht durch den Raum. Fräulein von Bernburg tritt ein.

»Nun, Kinder – alles in Ordnung?« fragt sie, und dann geht sie von Bett zu Bett, um jedem der Kinder gute Nacht zu sagen. Ilse, deren Bett sich an Manuelas Fußende anschließt, hat sich aufgerichtet und flüstert zu Manuela hinüber: »Paß auf, du, was jetzt kommt!«

Ihre Augen glänzen. Sie kniet in ihrem Bett, und Manuela sieht, daß noch eine ganze Reihe der anderen Kinder genau wie Ilse kniend Fräulein von Bernburg erwartet. Zu jedem Kind tritt Fräulein von Bernburg auf einen kurzen Augenblick, faßt mit beiden Händen seinen Kopf und drückt ihm einen Kuß auf die Stirn.

»Gute Nacht, Edelgard! – Gute Nacht, Ilse!«

Immer näher kommt Fräulein von Bernburg auf Manuelas Bett zu. Manuelas Herz schlägt hart und angstvoll. Sie weiß nicht, ob es richtig ist, daß sie liegen geblieben ist. Vielleicht hätte auch sie sich aufrichten müssen. Ob das Vorschrift ist? Ach, nein, es kann wohl nicht sein, sie tun es gewiß alle von selber – aber sie, die fremd ist, was soll sie tun?

So liegt sie ganz regungslos, die Hände auf der Bettdecke, und wartet. Immer dumpfer schlägt ihr das Herz, ein Zittern faßt sie, sie fühlt, wie ihre zusammengepreßten Zähne leise aufeinanderschlagen.

Und dann geschieht die ganz einfache Erlösung. Die ernste Frau, die durch das Zimmer geht, bleibt dicht an ihrem Bett stehen und nimmt ihre vor Aufregung eiskalte Hand in ihre warmen, wohltuenden Hände.

»Wir haben uns ja noch gar nicht richtig begrüßt, kleine Manuela!« sagt sie. »Schlaf recht schön in der ersten Nacht hier bei uns!«

Und ehe Manuela antworten kann – ach, sie hätte nicht antworten können, denn ihre Augen stehen voll Tränen, und die Lippen zittern wie im Fieber –, beugen sich die Hände, beugt sich die Stimme, beugt eine warme Brust, beugt ein Mensch sich zu ihr nieder, und Fräulein von Bernburg küßt Manuelas Stirn, ganz, als ob sie von den Tränen nichts sähe, die jetzt zu beiden Seiten befreiend niederrinnen.

»Danke, Fräulein von Bernburg!« stammelt Manuela, aber sie weiß nicht, ob sie gehört worden ist. Fräulein von Bernburg ist schon an der Tür und dreht das Licht ab.

»Gute Nacht, Kinder«, wünscht sie noch einmal und ist hinausgegangen.

Die zwölf weißen Betten liegen im Dunkeln. Nur in einer Ecke brennt ein winziges Nachtlicht. Alle Fenster sind geschlossen, die Stille im Raum ist für Augenblicke tief. Manuela liegt mit offenen Augen da und starrt auf die Tür, die Fräulein von Bernburg hinter sich zugezogen hat.

 

Die Tage vergehen schnell, wenn man zum Nachdenken keine Zeit hat. Wenn alle Tage sich gleichbleiben. Wenn man nicht tut, sondern mit einem getan wird. Ein Tag, der nach einem elektrischen Glockenzeichen abläuft, ist eine mechanisierte Sache, und fast mechanisiert sich der Mensch nach der Glocke. Die Glocke reißt Manuela aus tiefstem Morgenschlaf. Die Glocke jagt sie die Treppe hinunter zur Morgenandacht. Die Glocke schreit: Neun Uhr! Schule! Sie ruft: Zwölf und Spaziergang! Essen und wieder Schule! Wieder Spaziergang und wieder Essen und Schlafengehen! Die Glocke reißt Gedankengänge ab in der Schulstunde, schneidet Plaudereien in der Pause auseinander, trennt Freundinnen im Garten, macht Herzklopfen vor unangenehmen Schulstunden, reißt einem die Tasse vom Mund beim Frühstück. Die Glocke ist Befehl. Unpersönlicher, gnadenloser, ewig gleichbleibender Ordner eines ereignislosen Daseins.

Wo ein Tag dem anderen gleichbleibt, fließen die Tage ineinander. Deshalb haben die Mädchen Kalender an den Innenseiten der Schranktüren, wo jeder verflossene Tag mit schwarzem Stift ausgestrichen wird. Wieder einer vorbei, und man zählt, wie viele noch bis zu den Sommerferien, bis Weihnachten, bis »nach Hause« übrigbleiben.

Manuela hat keinen Kalender. Sie hat kein »Zuhause« mehr. Die Wohnung in Dünheim ist aufgelöst. Wer weiß, ob sie jemals wieder dahin zurückkommen wird. An Fritz, an seine Mutter, die sie liebhatte, wagt sie gar nicht mehr zu denken. Der Schmerz ist fort, sie hat noch nicht einmal Heimweh nach ihnen. Nichts ist geblieben als Trotz – Trotz und Wut, hiersein zu müssen –, und dann etwas anderes, Unbegreifliches, das sie mit Worten nicht schildern könnte und das sie manche Nacht mit weit aufgerissenen Augen wachliegen läßt. Meinhardis ist auf einer Italienreise. Bunte Postkarten mit blauem Meer, Sonne, Orangen, Eseln und alten Kirchen decken langsam die Innenwände an Lelas Schrank.

Fräulein von Bernburg hat die ersten dieser Karten betrachtet, als sie Manuelas Schrank kontrollierte.

»Und deine Mutter?«

Da hatte Manuela stumm eine Fotografie hervorgenommen und in Fräulein von Bernburgs Hände gelegt.

»Mutter ist tot. Ich habe keine Mutter, sonst 'wäre ich doch nicht hier.«

Das klang bitter. Fräulein von Bernburg hatte das Bild lange angesehen und es ihr dann zurückgereicht. Eine Hand auf Manuelas Schulter, hatte sie ihr ernst in die Augen gesehen.

»Du hast dich aber doch schon gut eingelebt bei uns, Manuela. Du hast Freundinnen gefunden?«

»Ja, Fräulein von Bernburg, bloß ...«

»Nun? Du weißt doch, daß du zu mir Vertrauen haben kannst.«

»Ja, Fräulein von Bernburg, aber wenn ...«, und jetzt endlich löst es sich stoßweise, »... wenn Sie nicht hier wären, dann wäre es gar nicht auszuhalten.«

Fräulein von Bernburg verändert ihr Gesicht nicht, sondern sieht Lela weiter forschend an und sagt langsam und eindringlich:

»Das darfst du dir nicht einreden. Alles, was hier geschieht, ist gut und richtig. Wenn du auch nicht weißt, warum manches so und nicht anders ist. Das wirst du erst mit der Zeit verstehen. Du hast nicht zu kritisieren, sondern zu gehorchen. Die größte christliche Tugend ist die Demut. Das hast du doch schon gelernt, nicht wahr?«

Schüchtern kommt es von Lelas Lippen:

»Ja, Fräulein von Bernburg.«

»Wenn du dich trotzig versperrst, wirst du dich hier nie einleben. Du mußt die Überzeugung haben, daß wir alle dein Bestes wollen und tun. Dann wird dir alles leicht.«

»Ja, Fräulein von Bernburg.«

Elisabeth von Bernburgs Hand gleitet von Manuelas Schulter an ihrem Arm herab. Sie hält das Kind fest, als wollte sie es wachrütteln.

»Willst du's versuchen?«

Und Lela blickt auf zu dem gegen sie hingeneigten Gesicht, zu den dunklen Augen, die ergreifend in ihr Innerstes sehen. Da bricht in ihr ein Widerstand, und wie mit einem Schwur, so feierlich, sagt sie in diese gütigen Augen hinein:

»Ja, Fräulein von Bernburg.«

Seither war alles anders. Alles hatte Sinn. Alles war ein Dienst an ihr, Fräulein von Bernburg. Alles und jedes hatte Beziehung zu ihr, und der Tag lief nicht mehr nach der Glocke, sondern nach ihrem Ruf. Ihre Stimme war nicht immer gut, sie war oft hart und befehlend. Aber Manuela wußte, daß es richtig war, was befohlen wurde: Aufstehen, Anziehen, Beten, Lernen, Ausgehen, Warten, Essen, Schlafen. Fräulein von Bernburg war da, und man tat alles für sie.

 

Elisabeth von Bernburg war die Tochter eines hohen Offiziers, wie Fräulein von Kesten, wie fast alle Erzieherinnen der Anstalt. Sie war achtundzwanzig Jahre alt und von diesen achtundzwanzig Jahren nun schon fünf Jahre im Stift, nachdem, wie man munkelte, ihre Verlobung mit einem jungen Dragonerleutnant zurückgegangen war, der Kühle und heftigen seelischen Abwehr des jungen Mädchens wegen, die den Leutnant veranlaßt hatten, kurz vor der Hochzeit die Verbindung zu lösen. Andere wieder wollten wissen, daß Fräulein von Bernburg selbst es gewesen war, die ihrem Verlobten erklärt hatte, sie könne ihn nicht und überhaupt niemals einen Mann heiraten. Diese Äußerung sollte ungeheuer viel Staub aufgewirbelt und zu den verwegensten Deutungen Anlaß gegeben haben. Selbst unter den Zöglingen des Helenenstifts ging sie um; wer sie aufgebracht hatte, wußte niemand so recht genau. Vermutlich aber war es Ilse gewesen, die solche Nachrichten aus den Ferien in Berlin mitbrachte, und zwar geradeswegs von dem sehr jungen zweiten Papa, den sie bekommen hatte, nachdem ihre Mama sich von ihrem Vater getrennt hatte.

»Kinder«, sagte sie, »die Bernburgerin ... Stellt euch doch vor, daß sie hätte heiraten können und daß sie da lieber hierhergekommen ist! Sie will überhaupt keine eigenen Kinder, soll sie gesagt haben – und dann soll sie den Mann einfach vor die Brust gestoßen haben, als er sie küssen wollte.«

Oda und Mia sahen einander an und lachten ihr nicht ganz sauberes Lachen. Aber Manuela fuhr auf.

»Ilse, du sollst nicht immer sagen ›die Bernburgerin‹ – und dann, das sind doch ihre Privatsachen, und keiner weiß doch, wie es wirklich gewesen ist.«

»Na, hör mal«, sagte Ilse gekränkt, »ein Dragonerleutnant! Also, so was sollte mir nicht passieren!«

Alles lachte, nur Marga zischte: »Ruhe!«, denn sie hörte Fräulein von Kesten draußen leise vorbeischleichen. Manuela blieb nachdenklich. In mehr als einer Nacht, wenn Fräulein von Bernburg das Licht im Schlafsaal gelöscht hatte und rings um sie her das Tuscheln begann und die kleinen elektrischen Taschenlampen unter den Kopfkissen hervorgeholt wurden, lag sie und quälte sich ab mit der Frage, was Fräulein von Bernburg nun wohl tat in ihrem Zimmer? Ob sie gern hier war? Ob sie sich nicht doch manchmal sehnte, einen Mann und Kinder zu haben? – Kinder zu haben – ja, das dachte auch Manuela sich schön. Einen Mann, nein, das konnte man sich schwer vorstellen – und Fräulein von Bernburg mit einem Mann, das war ein Gedanke, der sich nicht fassen ließ. Miß Evans, die, die hatte ihren Bräutigam irgendwo in England, und sie sparte sich bloß noch etwas, so hieß es, ehe sie heiraten wollte. Das war ganz in der Ordnung, auch Fräulein von Attems konnte man sich vorstellen als eine Gutsfrau, die in Küche und Keller wirtschaftete – aber Fräulein von Bernburg ...

Von all diesen kindlich-unkindlichen Vorstellungen und Fragen, die sie umkreisten, schien Elisabeth von Bernburg nichts zu ahnen. Sie war da, schweigsam, ordnend, streng und gütig. Ging mit ihrem stillen schönen Gang durch die Tage der Kinder, sie lehrte, sie befahl, sie hörte zu, sie riet – aber sie blieb fern, in sich verschlossen und einsam. In einem einzigen Augenblick nur war es Manuela vergönnt, einen Blick in ihr Herz zu tun. Es war ein Sonntagabend, und Fräulein von Bernburg war wieder wie täglich durch den Schlafsaal gegangen und hatte jedem Kinde den Gutenachtkuß gegeben und da und dort eine Frage beantwortet, eine kurze Weisung erteilt.

Auch von Manuela wurde sie angehalten.

»Fräulein von Bernburg«, sagte sie zögernd. »Ich weiß nicht, ich muß etwas haben – ich glaube, ich bin krank.« Und zögernd kam es heraus, daß sie sich schon den ganzen Tag schlecht gefühlt habe. Schmerzen im Leib, Übelkeit, Kopfschmerz, und jetzt, eben, habe sie bemerkt, daß sie blute.

Fräulein von Bernburg lächelte nicht.

Ernst setzte sie sich am Bettrand des Kindes nieder.

»Das ist keine Krankheit, Manuela«, sagte sie leise. »Das ist nichts als ein Zeichen, daß du schon groß bist und nun beinahe aufgehört hast, ein Kind zu sein. Wäre dies Blut nicht, so könntest du einmal, wenn du erwachsen bist, keine Kinder bekommen. Alle Frauen haben diese Blutungen von vier Wochen zu vier Wochen. Und nun muß ich wohl schon ein wenig Mutterstelle an dir vertreten und dir sagen, was du zu tun hast, wenn sie kommen.«

»Danke, Fräulein von Bernburg«, sagte Manuela.

Sie lag bleich und schön in ihren Kissen und lauschte mehr dem Klang der Stimme, die sie unterwies, als den Worten selber. Als Fräulein von Bernburg sich erheben wollte, hielt Manuela sie fest. »Fräulein von Bernburg ...«

»Ja, was denn noch, Manuela?«

»Sie sagten – alle Frauen. Aber es gibt doch Frauen, die trotzdem niemals Kinder bekommen?«

Fräulein von Bernburg sah sie nicht an.

»Ja, Kind – freilich, alle die, die keinen Mann haben.«

»Fräulein von Bernburg«, stieß Manuela hervor, und ihre heiße Hand faßte nach der Hand der Frau, die über sie geneigt saß. »Ich – ich muß Sie etwas fragen –, ich denke so oft darüber nach – sind Sie glücklich?«

Elisabeth von Bernburg hob den Kopf. Ohne das leiseste Erstaunen, als sei ihr die natürlichste Frage der Welt gestellt worden, sah sie Manuela in die Augen.

»Ja, Kind«, antwortete sie. »Ich habe ja euch.«

Vielleicht hätte sie sagen müssen: Ich habe ja dich. Aber diese Tochter und Enkelin von Soldaten, die ihr Leben lang gewohnt gewesen waren, mit Gefühlen sparsam zu sein und Gefühlsausbrüche zu verachten, dieses Mädchen, von einer puritanischen Mutter gottesfürchtig erzogen, diese junge Frau, die sich selber geschworen hatte, ihre Pflicht an den ihr anvertrauten Kindern rein und gerecht zu erfüllen, hätte solch ein Wort nicht über die Lippen gebracht. Es hatte hier für sie nur »die Kinder« zu geben, es gab kein einzelnes Kind, an das sie ihr Herz hängen durfte. Und nun sie es doch getan hatte, vom ersten Male an, da dieses Kindes Augen und die ihren sich begegnet waren, durfte es nichts anderes für sie geben als Selbstzucht und Verzicht.

Wie eine Wohltat, wie ein ganz unverdientes, niemals gekanntes Glück empfand sie die Liebe dieses Kindes, die um so vieles echter war als die rührende Zuneigung und Vergötterung der anderen Kinder rings um sie. Diese Liebe strömte aus jeder Haltung, jedem ungeschickten Wort Manuelas. Aber sie wäre nicht Elisabeth von Bernburg gewesen, hätte sie sich nicht selber gestraft dafür, daß sie glücklich war durch dieses Kind und daß sie es wiederliebte, grundlos, mit aller Kraft ihres Herzens.

 

Papa Meinhardis hat alle Hände voll zu tun. Ein großer Korb steht vor ihm auf dem Tisch, und der Oberkellner hilft ihm beim Einpacken. Beide beachten das blitzblaue Meer hinter ihnen nicht und nicht die Palmen, die leise wedeln im Morgenwind.

Mit Aufmerksamkeit befühlt Meinhardis die einzelnen Pakete. Kaltes Huhn und etwas Kaviar in Eis. – Wenn das nur nicht schmilzt, denkt er. – Hier Toast. Hier Wein, roter, herber Sizilianer. Die ersten guten Mandarinen – wie sie duften! Meinhardis trägt einen lichtgrauen Anzug. Sein Gesicht ist braun gebrannt von der Sonne. Sein hellgrauer Hut hebt diese Bräune noch mehr hervor. – Na ja, natürlich waren die Damen nicht fertig. Er hatte es ja auch gar nicht erwartet, aber immerhin stand der Wagen vor der Tür. Das Schellengeläut hörte man bis hier herein in die Halle.

Der Kellner verstaute den Korb im Wagen. Als Meinhardis sich umwandte, standen die Damen in der Türe. Helle Ausrufe des Entzückens über die buntbeschirrten Pferde, den lustigen Kutscher, die Blumensträußchen, die den Wagen schmückten, die seidenen Kissen und Staubdecken, begrüßten ihn. Der Oberstleutnant hatte mal wieder an alles gedacht. Während sie Platz nahmen, reichte der Portier Meinhardis auf einem silbernen Teller zwei Briefe, die er schnell in der inneren Rocktasche verstaute, denn er mußte Ray Cammars Füße in die Staubdecke wickeln.

»Ihre Füße dürfen nicht staubig werden«, sagte er und schob den kleinen leichtbeschuhten Fuß in das Wageninnere. Die beiden Damen saßen im Fond, er setzte sich auf den Rücksitz und rief: »Avanti, avanti!«, worauf sich unter Peitschenknall der Wagen in Bewegung setzte.

»Was haben Sie gestern abend noch getrieben, nachdem wir zu Bett waren?« fragte Ray und tat, als spräche sie zu einem ganz kleinen Jungen, den sie zu bemuttern und zu erziehen hatte. Sie war groß und blond. Ihre herrliche Sommertoilette, der große leichte Strohhut und der weiße Schleier um ihre Schultern machten sie etwas jünger, als sie war. Auch schien Miß Hill, eine trockene, kleine Zwetschge, zu diesem Zweck engagiert zu sein.

Meinhardis schien es gern zu haben, daß man in diesem Ton mit ihm sprach. Denn ein geschmeicheltes Lächeln zog über sein hübsches Gesicht.

»Ach, Ray, seien Sie doch nicht immer so streng mit mir! Ich war ganz brav. Ich habe bloß noch ein bißchen Wein getrunken, und dann bin auch ich zu Bett gegangen.«

»Mit wem haben Sie den Wein getrunken? Sicher mit Miß Booth – ich kenne Sie doch, Oberstleutnant.«

»Ach, Miß Booth«, schmollte Meinhardis. »Wie können Sie nur so was glauben! Ich und Miß Booth ...«

»Na, na, die wird immer rot, wenn Sie ihr zuprosten, ich sehe alles, mein Lieber.«

»Ach was«, wehrte Meinhardis bescheiden ab, »sie denkt ja gar nicht daran.« Er fühlte sich aber doch geschmeichelt bei dem Gedanken, denn Miß Booth war sehr hübsch, bedeutend hübscher als Ray. Nur wurde sie von ihren alten Eltern so streng bewacht, daß da wenig zu holen war für einen Mann, der gern allein blieb mit einer jungen Frau.

»Aber, Ray, Sie wissen doch, ich liebe nur Sie!« – Er zog ihre behandschuhte Hand zum Mund in seiner ironisch sein wollenden Geste.

»Hab' ich das nicht fein gemacht für Sie?«

Er machte mit dem Arm eine ganz kleine Bewegung nach dem Meer und dem nunmehr unter ihnen liegenden Palermo hin, als wäre dies alles sein eigenes Werk.

»Herrlich, wunderbar, süß!« stöhnten beide Damen. »Das war eine reizende Idee von Ihnen, ein Picknick auf dem Pellegrino – so poetisch! Sie sind ein fabelhafter Mann!« lobten sie ihn, und er war zufrieden.

»Aber Sie hatten zwei Liebesbriefe und haben sie nicht gelesen. Sind Sie denn nicht neugierig?«

»Ach, neugierig sind nur Frauen. Sie wollen natürlich schon wieder wissen, von wem die Briefe sind. Der eine ist von der Fürstin Trani in Rom, die sich nach mir sehnt, und der andere ist von der Maffia und bedroht mich mit Ermordung, wenn ich Sie liebe.«

Beide Damen lachten. »Kann sein«, sagte Ray, »daß wir Frauen neugierig sind. Aber so schwindeln wie die Männer können wir noch lange nicht.«

Meinhardis griff, ernst geworden, nach den beiden Briefen. Er hatte die Handschrift Manuelas erkannt. Auch der andere Brief war aus Hochdorf, aber er wußte nicht, von wem, und so öffnete er diesen zuerst. Aufmerksam, mit einer Miene, die die Damen an ihm gar nicht kannten, las er. Eine Seite und eine zweite. Plötzlich explodierte er in Lachen.

»Großartig, nein, großartig – das gefällt mir! Wissen Sie, was mir da die Oberin der Schule, wo sie meine Kleine hineingesteckt haben, schreibt? Sie sagt, meine Tochter sei ein begabtes Kind, neige aber leider zur Impertinenz!«

Meinhardis schlug sich auf die Knie, und beide Damen kicherten.

»Ganz der Vater«, erklärte Ray.

Und Meinhardis, als hätte er eine verdienstvolle Tat vollbracht:

»Was, das Mädel ist mir ähnlich, was! Läßt sich von den verrückten alten Schrauben nicht imponieren! Recht hat sie! Gott weiß, was die Tanten da von ihr gewollt haben!« – Eilig nahm er den anderen Brief, den von Lela, zur Hand.

»Lieber Papa!« las er. »Heute ist Sonntag, der einzige Tag, an dem wir Briefe schreiben dürfen. Sonst weiß man sonntags doch nicht recht, was man tun soll. Ich möchte eigentlich gerne, daß Du mal herkommst. Ich kann Dir nur nicht sagen, warum. Ich lerne viel Französisch, damit ich später auch reisen kann wie Du und alle Sprachen sprechen. Englisch kann ich ganz gut. Unsere Miß ist auch sehr nett. Schreibe mir viele Ansichtskarten, bitte, für meinen Schrank!

Kannst Du Italienisch? Das kann man hier nicht lernen.

Viele Grüße von

Deiner dankbaren Tochter

Manuela«

Meinhardis seufzte. – Komisch, so ein Brief. – Auch die Damen waren enttäuscht. Schließlich meinte er mit einem Seufzer: »Was soll das arme Kind aber auch schreiben, die Briefe werden doch alle gelesen. Das ist ja eine Gemeinheit. Sie muß aber doch Krach gehabt haben« – er lachte wieder –, »wenn sie ihre ›Neigung zur Impertinenz‹ gezeigt hat.«

Erneut, nicht mehr ganz echt, lachten die beiden Damen mit. Hauptsächlich, um ihren Begleiter wieder in gute Stimmung zu versetzen, denn mit einem besorgten Papa konnte Ray nichts anfangen. Und Miß Hill half, die Situation zu retten.

»Es ist immer sehr gut, wenn man kleine Mädchen in Pensionen schickt.«

»Ja«, sagte Ray, »ich war auch im Kloster.«

Meinhardis horchte auf: »Was – Sie im Kloster? Na, das kann ich mir nun gar nicht vorstellen.«

»Ich war sogar sehr fromm«, beeilte sie sich, seinen Zweifeln entgegenzutreten.

Aber dennoch schwiegen alle eine Weile. Dann kamen sie an eine Bank an einem Aussichtsplatz, und Meinhardis schlug vor, hier zu rasten. Die Damen stiegen aus, und der Oberstleutnant entnahm dem Korb einige Gläser und einen Fiasco. Drei Gläser klirrten aneinander auf das Wohl der kleinen Manuela – mit dem schönen Wunsch, daß ihre Impertinenz ihr noch lange erhalten bleiben möge.

»Morgen schicke ich ihr Mandarinen«, sagte Meinhardis.

 

»Manuela!« klang es in kurzem Kommandoton in den Schlafsaal, wo Manuela gerade beschäftigt war, als letzte ihr Bett aufzudecken. »Komm einmal her!«

Manuela zitterten die Knie. Fräulein von Bernburgs Stimme klang hart. Sofort ließ sie die Hände sinken und folgte dem Ruf. Als sie mit gesenkten Augen vor Fräulein von Bernburg stand, hatte sie Mühe, sich aufrecht zu halten, und ihr Herz lärmte, daß sie glaubte, man müsse es hören.

»Manuela, was muß ich da von dir erfahren? Seit wann bist du ungezogen?«

Keine Antwort erfolgte, nur Lelas Kopf sank tiefer auf die Brust.

»Du warst ungezogen gegen Frau Oberin.«

Manuela nickte.

»Wie kam denn das? Erzähl mal.«

Stockend und voller Angst begann Manuela, Rede zu stehen. »Wir gingen über den Korridor – Ilse und ich. Und da – und da kam Frau Oberin vorbei und rief mich an, und Mademoiselle Œuillet war auch dabei. Und da sagte Frau Oberin, ich sollte mich gerade halten und – und da habe ich mich gerade gehalten.«

»Du hast eine freche Bewegung gemacht, nicht wahr?«

Manuela nickte schuldbewußt.

»Und warum, Manuela?«

Darüber mußte Manuela erst nachdenken.

»Weil – weil Frau Oberin sagte, wir sollen gehen wie die deutschen Soldaten, und ich dachte, sie sagt das nur wegen Mademoiselle, und Mademoiselle wird sich kränken. Und da habe ich das übertrieben, und da hat Frau Oberin gesagt, ich benehme mich wie ein Junge.«

»Und du hast ihr die Zunge herausgesteckt? Stimmt das?«

»Nein, Fräulein von Bernburg. Ich habe nur eine Fratze geschnitten.«

»Warum?«

»Weil« – plötzlich war es aus mit Manuelas Ruhe –, »weil ich ja ein Junge sein will, ich hasse es, ein Mädel zu sein. Ich mag meine Haare nicht und meinen Rock, zu Hause habe ich immer Hosen getragen, wenn ich mit meinem Bruder geturnt habe, und am liebsten trüge ich sie immer.« Jetzt sieht sie zu Fräulein von Bernburg auf, als könne sie ihr helfen.

»Ich mag keine Frau werden – ich möchte ein Mann sein und immer für Sie dasein, Fräulein von Bernburg, und darum soll sie es nicht sagen – nicht Frau Oberin, nicht sie.«

»Manuela!« Blassen und unbeweglichen Gesichtes steht Fräulein von Bernburg dem erregten Kind gegenüber. »Solche Worte dürfen zwischen uns nicht fallen, hörst du mich? Jetzt gehst du sofort zu Frau Oberin und bittest um Entschuldigung. Verstanden?«

Das war Befehl und nichts dagegen zu tun. Zwei Minuten später steht Lela vor der großen grauen Gestalt, die sie böse betrachtet.

»Ich komme, um Frau Oberin um Entschuldigung zu bitten.«

»Hat Fräulein von Bernburg dich geschickt?«

»Ja, Frau Oberin.«

»So. Gehörst du etwa auch zu denjenigen, die für sie schwärmen?«

Groß starrt Lela die Frau vor ihr an.

»Nein, Frau Oberin.«

»Dann geh – es ist gut.«

Ein Knicks und ein dumpfer Ton, der daher kam, daß der Stock in Frau Oberins Hand unsanft den Boden berührt hatte, und Lela war aus dem Zimmer gegangen.

»Fräulein von Bernburg – auf einen Augenblick.« Das ist die Stimme der Oberin, die in Schärfe umschlägt, kaum daß ihr murmelndes Amen nach der Andacht verklungen ist.

»Einrücken! – Ja, Frau Oberin – bitte?«

Und Fräulein von Bernburg verschwindet hinter Frau Oberin in der Tür jenes Zimmers, das nicht nur die Kinder, das auch die Lehrerinnen nur mit Unbehagen betreten – ausgenommen vielleicht das »Kaninchen«, das niemand mehr ist und also auch nichts auf dieser Welt mehr zu fürchten hat.

»Ich möchte Sie nochmals bitten, Fräulein von Bernburg, der starken Exaltation unter den Kindern, die sich auf Ihre Person richtet und die nun einmal in diesen Jahren zu liegen scheint, keinen Vorschub zu leisten.«

»Frau Oberin können versichert sein, daß ich mein möglichstes tue.«

»Ich hoffe es, Fräulein von Bernburg. Aber wie erklären Sie sich selber Ihre ausgesprochene Vorzugsstellung bei den Kindern?«

Leise ächzend ist die Oberin in ihren Stuhl gefallen. Die Bernburg steht, sie hat den Wink, sich zu setzen, geflissentlich übersehen. Ihre Stimme zittert unmerklich, als sie erwidert:

»Ich liebe die Kinder, Frau Oberin, ich bemühe mich, ihnen gerecht zu werden.«

Finster mustert die alte Frau den Menschen, der in untadeliger Haltung vor ihr steht.

»Vor allem die kleine Meinhardis scheint mir ein überaus extravagantes Kind zu sein. Ich wünsche dieses Kind mit besonderer Strenge zur Disziplin angehalten zu sehen. Sie sind jung, Fräulein von Bernburg. Hätten Sie meine Anstaltserfahrung, so wüßten Sie, daß solche Elemente vergiftend wirken können, wenn man sie nicht in ihre Schranken zurückweist.«

Fräulein von Bernburg zuckt mit keiner Wimper. »Ich werde mich bemühen, Frau Oberin.«

»Es ist gut, Fräulein von Bernburg. Ich verlasse mich auf Sie.«

 

Zwei und zwei gehen die Kinder durch den Park. Sie tragen die gleichen altmodischen Hüte und die gleichen altmodischen Mäntel. Gesprochen wird wenig. Mademoiselle Œuillet geht hinter ihnen her. Sie hat gute Ohren und hört es sofort, wenn man deutsch spricht. Heute ist französischer Tag, und wer ins Deutsche verfällt, bekommt einen Tadel.

Lilly und Lela gehen stumm nebeneinander her. Plötzlich stößt Lilly Manuela an:

»Da, sieh!«

Und sie deutet auf ein Eichhörnchen, das einen Baum hinaufrasselt. Manuela bleibt stehen. Sie liebt Tiere so sehr, und entzückt und selbstvergessen tut sie einen Schritt zur Seite.

»Manuela!« kommt ein Ruf von hinten. Schon treten auch die nachfolgenden Kinder Manuela auf die Füße, die ganze Kolonne ist in Unordnung geraten.

»Es ist nicht erlaubt, stehenzubleiben. Weiter, anschließen!« ertönt auf französisch das Kommando von rückwärts. So geht man weiter. Immer den gleichen Abstand haltend, immer das gleiche vor sich sehend, direkt vor dem Gesicht ein aufgesteckter Zopf, ein Hut, ein Mantel, ein dunkler Kleiderrock, ein Paar dicke schwarze Strümpfe und ein Paar hohe schwarze Stiefel. Nur das führende Paar hat den Weg frei vor sich liegen. Und so ist um dieses Führendürfen immer ein großer Kampf.

Manche »führen« gerne in die Stadt, an Läden vorbei. Da sieht man doch ein wenig von den Auslagen, wenn man auch keinen Laden betreten darf. Man schielt mit Vorliebe in ein Konditoreifenster, auch wenn man sich nichts kaufen darf. Man besieht sich erst recht gerne Modistinnenläden, wenn man einen altmodischen Hut auf dem Kopf hat. Außerdem ist es unter Umständen möglich, einen Brief heimlich in einen Briefkasten gleiten zu lassen, ohne daß die Aufsichtsdame etwas davon bemerkt.

So hat selbst eine äußerlich bescheidene kleine Stadt ihre Reize, wenn man, wie diese Kinder, nach Abwechslung hungert. Es kann auch vorkommen, daß man dem Erbprinzen begegnet, der schlank und elegant in einer engen Uniform auf hohem Gig mit einem feurigen Traber über das holprige Kleinstadtpflaster rast. Dann versinkt die ganze Kolonne der Stiftskinder zu einem tiefen Hofknicks, was den jungen Herrn so göttlich amüsiert, daß er bei nächster Gelegenheit wendet, um sich das Vergnügen womöglich noch einmal zu verschaffen.

Hungrig und müde kehrt man heim. Auch beim Mittagessen ist man schweigsam, denn auch hier soll man französisch sprechen – oder englisch, je nachdem, ob es Donnerstag oder Samstag ist. Nur der Sonntag erlaubt freie Plauderei, wie man es zu Hause gewohnt war. Das Essen ist lau und kalt, weil die Küche sehr weit weg ist. Mit halb gefülltem Magen erhebt man sich wieder. Eine kleine Pause, in der man im Schrankzimmer, in den Wohnräumen und Korridoren oder im Garten herumlaufen darf.

Auf kleinen Beeten, an kahler Mauer, im Garten blühen die ersten Frühlingsblumen. Die Büsche tragen junges Grün. Einzelne Kinder sind mit Graben und Pflanzen beschäftigt. Andere gehen umher, ein Buch in der Hand, und lesen. Manuela hat eine einsame Ecke ausfindig gemacht, und halblaut deklamiert sie Gesangbuchverse. Sie hält sich die Ohren zu, um das Rufen und Lärmen der anderen Kinder nicht zu hören. Dann aber legt sie das Buch auf die Bank neben sich und ruft: »Edelgard, Edelgard!«

Ohne zu antworten, kommt Edelgard langsam um die Büsche herum auf Manuela zu. »Du«, ruft Manuela ihr eifrig zu, »ich glaube, jetzt kann ich's. Und du?«

»Ach, Lela, nichts kann ich – gar nichts!«

Edelgard läßt sich müde auf die Bank neben sie fallen. Manuela rückt dicht neben sie.

»Edelgard ...« Da fängt Edelgard auch schon an zu weinen. »Aber Edelgard, schon wieder. Ist denn was passiert?«

Aber Edelgard verneint mit dem Kopf.

»Heimweh?«

Das Wort löst in Edelgard ein furchtbares Schluchzen aus. Manuela legt ihre Arme um sie.

»Edel! Edel, nicht! Du, ich kann das nicht hören – ich muß mit weinen. Nicht, Edel, bitte, hör auf!«

»Mein Gott, Lel, wenn ich könnte! Aber ich kann nicht, verzeih mir. Seit Tagen muß ich schon weinen und habe mich die ganze Zeit zusammengenommen, aber jetzt, jetzt kann ich einfach nicht mehr! Weißt du, wenn ich die Stiefmütterchen hier sehe und die Schneeglöckchen ... Du weißt ja nicht, wie schön das jetzt zu Hause ist. Gleich beim Eingang vom Park sind lange Rabatten von frühen Tulpen. Vor meinem Fenster Birken und massenhaft Krokusse, weiße, die wie Eier aussehen, und gelbe und lila, und weiterhin, unter den Bäumen, Veilchen. Es ist ja zu dumm« – neues Schluchzen unterbricht sie –, »aber wenn ich nur an die Birken denke, tut es weh.«

Manuela ist still geworden. Dann sagt sie nachdenklich: »Hör mal, Edelgard, warum schreibst du das nicht deiner Mutter? Du kannst es doch vielleicht so ausdrücken, daß die hier – es nicht verstehen. Vielleicht nimmt sie dich dann früher von hier weg, wenn sie weiß, daß du unglücklich bist.«

»Ach, Mutter weiß es! Aber sie sagt, ich muß eben durchhalten. Sie ist auch jahrelang hier gewesen. Und Großmama auch. Das ist immer so gewesen bei uns. Papa war im Kadettenkorps, und meine Brüder sind jetzt auch im Korps. Die sind dort auch nicht gern. Aber sie werden doch einmal Offiziere, und da muß das doch sein.«

»Aber du, bist doch ein Mädchen.«

»Ja, aber wahrscheinlich werde ich einen Offizier heiraten, und meine Söhne werden auch Offiziere, und Mutter sagt, wir dürfen nicht schlapp sein.«

»Meine Mutter«, sagt Lela vor sich hin, »meine Mutter ...« Weiter kommt sie nicht, ein unsinniger Schmerz schüttelt sie, und zu Edelgard kann sie das doch auch nicht sagen: »Wenn meine Mutter lebte, wäre ich nicht hier.«

 

Ilse und Oda kichern mit rotem Kopf über einen Zettel, den sie in einer versteckten Ecke des Schrankzimmers zusammen entziffern.

»Liebe, einzige Oda«, lesen sie. »Ich habe mit Eva von Brettner Freundschaft geschlossen. Wir reden nur von Dir ...«

Beide brechen in laut kreischendes Lachen aus.

»Du, Ilse, die schließen Freundschaft, bloß um von mir zu reden. Zum Piepen, was?«

Und Ilse: »Seit wann schwärmt denn die kleine Eva für dich, schon lange?«

»Ach Gott, ich weiß es nicht! Aber du, die ist ganz toll, sag' ich dir. Jeden Tag schenkt sie mir was. Wo die das Geld her hat, ahne ich nicht. Gestern finde ich ein seidenes Taschentuch mit Parfüm in meinem Bett. Vorgestern eine Tafel Schokolade. Mächtig nobel, was?«

»Lies weiter.«

»Also: ›Es ist so furchtbar traurig, daß Du gar nicht lieb zu mir bist. Bitte, komm doch nur ein einziges Mal abends vor dem Schlafengehen in den Korridor vor der Stiefelkammer – so wie neulich ...‹«

»Was war denn da?«

»Ach, ich bin zufällig da vorbeigegangen, da hat sie mir aufgelauert, wie ich mir die Stiefel geholt habe.«

»Ja, und ...?«

Ilse ist gespannt, aber gerade, als es aufschlußreich werden soll, läßt ein energisches »Kinder, was macht ihr denn da?« sie beide hochfahren. Fräulein von Bernburg steht vor ihnen, die blutrot im Gesicht den Brief zu verbergen suchen.

»Gib her, Oda!« kommt es eiskalt von Fräulein von Bernburgs plötzlich ganz schmalem Mund.

Oda zögert.

»Na, wie lange soll ich warten?« Es stauen sich neugierige Kinder um den Auftritt. Lela steht mit übergroßen Augen an ihren Schrank gelehnt und hält, ohne es zu wissen, Edelgards Hand fest.

»Na, wird's bald?«

Endlich entschließt sich Oda, den zerknitterten Brief hinzureichen. Fräulein von Bernburg nimmt ihn in die Hand, und ohne einen Blick darauf zu werfen, zerreißt sie das Papier in viele kleine Fetzen. Sie betrachtet nur die vor ihr stehenden Kinder, mit denen alle anderen gemeinsam aufatmen.

»Nimm das und trag es zum Papierkorb!« Sie reicht Oda die Schnitzel. »Und merkt euch das ein für allemal, das Briefschreiben unter euch Kindern ist streng verboten.«

Sie wendet sich um und geht. Lelas Spannung läßt nach.

»Du, Edelgard, das war wundervoll! Sie ist ein Gentleman! Sie liest nicht anderer Leute Briefe. Wenn das das ›Kaninchen‹ oder Mademoiselle gewesen wäre! Mit Wonne hätten sie ihn gelesen. Aber sie – sie will es gar nicht wissen.«

Und Edelgard nickt nachdenklich mit dem Kopf.

»Furchtbar anständig – das ist sie.«

 

Der Sonntag wirft den Alltag um. Es beginnt damit, daß Herr Alemann seine Orden putzen muß. Es sind eine ganze Menge. Er hat sie als braver Soldat im Krieg 70/71 erworben. Später war er Lakai bei der Fürstinmutter gewesen, und da dort viele Auslandsbesuche vorsprachen, so hatte man auch ihn bedacht. Herrn Alemanns Scheitel war tadellos, sein schwarzer Gehrock stäubchenfrei. Frau Alemanns Schürzenbänder waren so gestärkt, daß sie in die Luft stachen. Ihre Frisur war mit Wasser geglättet, das Kleid frisch gebügelt, und so warteten beide unten vor ihrer Tür auf den feierlichen Zug, der von oben kam. Die Glocke der kleinen Hauskapelle läutete. Lautlos auf dem roten Teppich stieg Frau Oberin herab. Dicht hinter ihr Fräulein von Kesten. Die anderen Damen kamen einzeln. Sie hatten Zeit, denn erst mußten die Kinder von der Seitentreppe herantreten. Zwei und zwei erschien die erste Klasse. Sie trugen sämtlich graue Zwirnhandschuhe. Fräulein von Gärschner stellte sich an die Spitze und führte die erste Kolonne zur Kirche, die am Ende des Korridors lag. Die zweite Klasse mit lichtblauen Kokarden führte Fräulein von Attems, die noch immer mit ihren weißen Glacéhandschuhen kämpfte. Schon kamen ihnen die Orgelklänge vom Korridorende entgegen. Fräulein von Bernburg übernahm die dritte und Mademoiselle und Miß die letzte Klasse. Dann folgte Marie im schwarzen Kleid mit einer riesigen Brosche, auf der ein Monogramm und eine Kaiserkrone zu sehen waren. Johanna, das Stubenmädchen, zwei andere Stubenmädchen mit rotgescheuerten Gesichtern und die Köchin folgten, Frau Alemann bildete den Schluß.

Herr Alemann zog sich auf seinen Wächterposten zurück. Es konnte ja immerhin geschehen, daß Ihre Hoheit, die Frau Prinzessin, noch zum Gottesdienst erschien – dann mußte man schnell die Türe öffnen. Eine Hofloge stand in der Kirche immer leer und bereit für diesen Fall. Langsam wurde der Gesang von drinnen leiser. Frau Alemann hatte die Tür geschlossen.

Nach dem Gottesdienst blieb gerade ein Augenblick Zeit, und schon begannen die Besuche und Abholungen. Diejenigen, die »Ausgang« hatten, zogen zum Neid der Umstehenden ihre eigenen Kleider an, lösten die Haare und banden riesige Haarschleifen hinein. Sie bildeten im universalen Dunkelblau und Schwarz der Kameradinnen rote, rosa, weiße und hellblaue Flecke. Ihre Gesten waren schnell und aufgeregt. Sie rasselten mit Armbändern und zählten in kleinen Portemonnaies ihr Geld. Aufträge, was sie mitbringen sollten, wurden ihnen zugeflüstert. Ihre Kopfbewegungen waren ruckhaft und nicht immer motiviert. Aber es war eben so ein gutes Gefühl, die seidenweiche Masse des losen Haares an der Wange zu spüren. Die Vorübergehenden bewunderten:

»Was für schöne Haare du hast! – Ist das Seide, dein Kleid? Ist das jetzt Mode?« Eine wirbelt, damit ihr Faltenrock einen Teller in der Luft macht. Steht sie, fällt er wieder brav in die gebügelten Falten zurück. Frau Alemann ruft die Namen auf – ein schneller Kuß, ein »Adieu, viel Vergnügen!« – und schon rennen sie hinunter, ihren Verwandten entgegen. Herr Alemann kann die Tür gar nicht schnell genug aufmachen, damit sie hinaus können.

Das »Vergnügen«, das sie erwartet und um das die Kameradinnen sie beneiden, sieht meist so aus:

Ein Spaziergang durch die Stadt, wobei die abholende Tante unzählige Bekannte trifft, die alle von den gleichen Dingen reden und die gleiche Hochdorfer Sprache sprechen. Es gibt in Hochdorf Worte, die nachlässig ausgesprochen werden müssen, weil dies ein Beweis ist, daß sie einem alltäglich sind. Das lange Wort »Erstes Garderegiment« zum Beispiel muß man in einer Silbe sagen können. Wer aus Hochdorf ist, der kann es. Die Hochdorfer sind ja Menschen, die rein durch die Tatsache, daß sie hier geboren wurden, allen anderen Menschen bei weitem überlegen sind. Sie haben das Privileg, die Prinzen des regierenden Hauses mit Vornamen zu nennen, wenn sie von ihnen sprechen. Ja, wenn der Prinz etwa »Hubert« heißt und verheiratet ist, so spricht man von ihm und seiner Familie als von »Huberts«. Die regierende Familie insgesamt wird »die Herrschaften« genannt und damit der eigene, niedere Grad edelmütig zugegeben. Wenn aber der alte Fürst krank ist, so sagen die Damen gern: »Na ja, der arme Mann hat ja auch viel zu tun ...«, oder: »Die arme Frau pflegt ihn ja aufopfernd.« Man hatte es eigentlich ganz gern, wenn ein kleiner Prinz die Masern bekam: Es war so menschlich.

»Meine Nichte«, stellte die Tante vor.

»So, im Helenenstift sind Sie? Nun, da haben Sie es ja sehr schön ...«

Hernach gab es am Tisch der Tante ein kräftiges und, das mußte man schon sagen, sättigendes Mittagessen, worauf man sich ins Herrenzimmer zum Kaffee zurückzog. – Auch die Herrenzimmer in Hochdorf waren alle einander ähnlich. Ohne Ausnahme waren sie mit Trophäen geschmückt. Diese bestanden, wenn nicht aus Säbeln und Pistolen, so aus Geweihen und Hörnern. Auch ausgestopfte Vögel und Felle selbstgetöteter Tiere, nackte Schädel, Wildzähne und dergleichen schmückten die Wände. Besonders wertvoll waren sie, wenn sie von Hofjagden stammten. Auch viele Gebrauchsgegenstände waren aus Tierteilen gefertigt. Aschenbecher aus Elefantenfuß, Kleiderhaken aus Hirschgeweih, andere Aschenbecher aus Schmetterlingsflügeln unter Glas. Man trug Knöpfe aus Hirschzähnen an den Kleidern.

All das bewunderten die kleinen blassen und meist vor lauter Schüchternheit reichlich sprachlosen Gäste gebührend. Es war schön, es war doch eine Abwechslung, und wenn die Tanten nachmittags noch etwa mit ihnen zu Kaffee und Militärkonzert gingen, waren sie vollkommen glücklich.

Die Zurückgebliebenen zogen sich gelangweilt auf die unbequemen Stühle des Wohnraumes zurück oder lungerten in den Schulzimmern umher, um Briefe zu schreiben. Überall im Hause, gleichmäßig verteilt, saß eine »Dame«, damit auch eine Aufsicht da war. Die Damen langweilten sich ebenfalls und waren heute geneigter, mal hier und da eine Plauderei anzufangen. Aber diejenigen Kinder, die dazu Lust verspürten, wie etwa Marga, die sich gern bei der Kesten einschmeichelte, gehörten zu der gemiedenen und verachteten Rasse der Streber. Die meisten waren froh, wenn sie am Sonntag kein graues Kleid zu sehen brauchten.

Man konnte auch, solange es nicht bemerkt wurde, am Fenster stehen. Heute gingen doch hier und da Leute vorbei. Familien, die von der Kirche kamen. Fast immer ein Offizier mit seiner Frau, die Kinder in Matrosenkleidern. Diese Uniform hat man sich in Hochdorf für die Kinder ausgedacht. Im übrigen ist es in Hochdorf guter Ton, die Mode von vorgestern zu tragen. Einerlei, um was für vorgestrige Auswüchse es sich handelt, sie müssen nur von vorgestern sein. Trug man vor zwanzig Jahren massenhaft falsche Haare, so blieb man dabei, und eine schlichte Frisur war »unmöglich«. Der Grund dafür war der, daß die regierende Frau des Hauses meist eine alte Dame war, die von der Mode ihrer reiferen Jugend aus Gewohnheit nicht lassen konnte. Automatisch blieb darum ihre Weise, sich anzuziehen, guter Ton in der Familie und damit in der Hochdorfer Gesellschaft, die sich ja zur Familie mitzählte. War irgendein Mitglied des Fürstenhauses gestorben, so gingen alle Hochdorfer Damen in Schwarz, als hätten sie ihren eigenen Onkel verloren.

Das war alles nicht eben kurzweilig zu sehen, aber es kann bereits Kurzweil sein, die eine Langeweile mit einer anderen zu vertauschen.

Manuela und Edelgard möchten allein sein. Und gerade das ist das Schwierigste, was man sich in diesem Hause wünschen kann. Hier ist Herde, und in Herde lebt man. Immer ist einer vor, hinter oder neben einem. Beim Schlafen, beim Lernen, beim Essen, beim Spazierengehen. Manuela und Edelgard suchen eine Kammer neben dem Turnsaal auf. Das ist ihre Entdeckung, dort werden Geräte aufbewahrt. Aber heute finden sie auch diesen Platz schon besetzt. Oda und Mia sitzen eng aneinandergedrängt mit hochroten Gesichtern beisammen. Sie fahren auseinander, als die beiden eintreten. Bös zischen sie ihnen entgegen: »Wir waren zuerst hier!«

»Aber wir wollen euch ja nicht stören«, sagt Edelgard, die errötet ist, und beide ersteigen eine schmale Leiter. Sie führt auf den Boden. Der Boden ist so niedrig, daß man nur gebückt gehen kann, aber in seiner Mitte ist die Turmuhr. Von der Uhr sieht man hier natürlich nichts. Sie hat ein Türmchen ganz für sich allein mit einem Dach darauf. Hier sieht es aus wie ein vierkantiger Schrank aus rohem Holz, der zwei große Löcher wie Fenster hat. Da kann man hineinkriechen und sich in diese Fenster setzen. Es tickt sehr laut, und die riesenschweren Gewichte hängen über Manuelas Kopf. Wenn eins herabfiele, wäre sie unfehlbar tot. Aber diese Uhrgewichte fallen nicht herab, sie sinken nur langsam an schweren Ketten, und wenn man sich den Kopf stößt, weiß man, daß es später geworden ist. Das konnte man nun nicht verlangen, daß Frau Alemann Manuela dort finden würde. Tante Irene war zu Besuch gekommen und wartete im unteren Korridor, daß man Manuela benachrichtige. Schließlich drang das Rufen an Lelas Ohr, und schnell, damit man das Versteck nicht entdecke, eilte sie hinunter.

Tante Irene hatte viele kleine Pakete mitgebracht, und Manuela, zum Frühstück nicht satt geworden, konnte es nicht abwarten, bis der Besuch gegangen war, und biß herzhaft in den Kuchen. Auf allen Bänken saßen Besucher mit teils verlegenen, teils gelangweilten, teils vergnügten Stiftskindern in ihrer Mitte. Das »Kaninchen« patrouillierte spionierend, höflich begrüßend und ermahnend auf und ab. Geschenke, wie Schokolade und Bonbons, mußten abgeliefert werden, und es verlangte die ganze Geschicklichkeit von Tante Irene, während eines Scheingesprächs ein Päckchen in Manuelas zu diesem Zweck entleerte Tasche zu schmuggeln. Liebevoll strich sie Lela übers Haar.

»Es geht dir doch gut, mein Kind?« fragte sie zärtlich.

Lela sah glücklich zu ihr auf. In diesem Augenblick, da nur ein Mensch nach ihrem Ergehen fragte, fand sie, daß es ihr wirklich gut gehe. Und dann – Tante Irene hatte wirklich Mutters Stimme, und sie sagte eigentlich auch ganz ähnliche Worte wie Mutti, und wenn sie ihr ins Gesicht sah, so hatte Lela Muttis Gesicht deutlich vor sich und gar nicht mehr das von Tante Irene.

Trotzdem sieht Lela sich einen Augenblick scheu um, ehe sie antwortet:

»Danke, ganz gut.«

Tante Irene scheint erleichtert zu sein. Sie macht sich öfters Sorgen um das Kind. Ihre Sache ist solche Stiftserziehung nicht. Und Manuela sieht immer so blaß aus, wenn sie sie sieht, und ist so wunderbar verschlossen – aber das mag ja wohl auch in diesen Entwicklungsjahren liegen.

Jetzt kommt Fräulein von Kesten vorüber und begrüßt Frau von Kendra.

»Nicht wahr, Fräulein von Kesten, nächsten Sonntag darf Manuela uns doch besuchen kommen?«

Und das »Kaninchen« verneigt sich höflich lächelnd.

»Wenn sie brav ist und diese Woche keinen Tadel bekommt ...«

»Das wollen wir doch nicht hoffen!« Tante Irene verabschiedet sich von Fräulein von Kesten und umarmt das Kind. Vor der Tür draußen atmet sie auf. Die Luft da drin legt sich ihr jedesmal schwer auf die Brust, aber es ist ja möglich, daß Kinder das nicht so empfinden. –

Auf irgendeine Weise verging der Sonntag eben immer. Manuela war Fräulein von Bernburg im oberen Korridor begegnet, und sie hatte ihr über den Kopf gestrichen: »Na, wie geht's?« Und Lela hatte das Herz bis zum Hals geschlagen, weil sie an ihre Tasche voll verbotener Schokolade dachte.

Als abends alle zwölf Kinder in den Betten lagen und das Licht noch brannte, erschien ganz unerwartet das »Kaninchen« in der Tür des Schlafsaals. Sie trug einen großen Kasten, es war die Schublade einer Kommode, und darin befänden sich bereits allerhand Dinge, hauptsächlich Süßigkeiten, Schokolade, Obst – aber auch Parfüm, Schmuck und Geld. Vor Schreck erstarrt, blickten die Kinder sie an.

»Wer hat hier verbotene Sachen im Bett versteckt?« fragte sie fast lächelnd. Man konnte sich dem Eindruck nicht entziehen, daß dieser Raubzug dem »Kaninchen« Spaß machte. Zuerst war alles stumm und verlegen. Dann fing sie an, die einzelnen aufzurufen, die ihr verdächtig schienen. Diejenigen, die Besuch gehabt hatten, und solche, die bei Verwandten und Freunden gewesen waren.

»Ilse!« – und bohrend traf Fräulein von Kestens Blick die arme Ilse, die aber die Haltung nicht aufgab, sondern wie einer, der beim Kartenspielen zu verlieren versteht, mit einem leisen »Na, meinetwegen ...« unter ihre Matratze griff und drei Schlagsahnetörtchen hervorholte. Sie waren zwar etwas zerdrückt, schienen aber doch den Zuschauern noch verlockend genug. Angeblich wurden all diese Dinge aufgehoben und den Kindern zum Ausgang oder zu den Ferien zurückerstattet. Aber erstens verdarb vieles, und am Ende schien auch nicht mehr alles da zu sein. Für jetzt war es Gewißheit, daß die guten Dinge, deren Genuß man sich in Stille, Frieden und Dunkelheit der Nacht hingeben wollte, verloren waren.

Fräulein von Bernburg war nicht da. Das war Manuela ein Trost, als sie, vor aller Augen, mit den nackten Füßen in die Pantoffeln schlüpfend, im Hemd, wie sie war, ihre Schokolade abliefern ging.


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