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Viertes Kapitel

Hell glitzernde Fläche. Die kalte Wintersonne gießt einen goldenen Weg darüber her. Die Musik spielt einen Walzer. Viele Schlittschuhe reißen feine Linien in das harte, spiegelnde Eis. Alle Leute haben helle Gesichter. Man hält einander an der Hand. Kinder machen lange Girlanden. Eine führt an, zieht die Reihe hinter sich her, steht und läßt festhaltend die ganze Reihe sich aufrollen, nur der letzte läßt los und wird weit im großen Bogen fortgeschleudert.

Paare halten die Hände über Kreuz. In stilleren Ecken, von der Musik entfernt, üben Geschicktere Bogen, Achter, Dreier, Rückwärtslaufen und Springen. Beide Arme ausgebreitet, den Kopf schräg über die rechte Schulter geworfen, die Handflächen nach oben und außen gekehrt, auf dem rechten Bein stehend, das linke weit ausgestreckt, läßt Fritz Lennartz in wundervollem Schwung seinen Schlittschuh die Kurve auslaufen. Einen Augenblick faltet sich der Körper zusammen und fährt mit neuer Kraft, von der man nicht weiß, woher sie kommt, auf dem linken Fuß einen Bogen nach der anderen Seite. Auf dem Hinterkopf trägt er eine Pelzmütze, aus der ihm ein blonder Schopf ins Gesicht fällt. Sein dunkelblauer Anzug ist fest zugeknöpft und zeigt bei jeder Bewegung seinen elastischen schlanken Körper. Er trägt Kniehosen, die eng unter dem Knie schließen, und lange, schwarze Strümpfe. Seine Haut ist mädchenhaft zart. Die Winterkälte hat seine Wangen gerötet. Jetzt bleibt er stehen und blickt in die enge Masse der um die Musik kreisenden Menschen. Aus halb geschlossenen, etwas hochmütigen Augen mustert er die Mädels. Ohne es sich anmerken zu lassen, verfolgt er ein Paar mit den Augen. Ein schlankes Mädchen auf hohen Beinen, eine Matrosenmütze nachlässig im Genick, die leicht welligen Haare im Wind. Sie unterhält sich ausgezeichnet. Sie lacht ihrem Partner zu, der sie fest und sicher an beiden Händen über Kreuz hält. Es hat den Anschein, als bemerkten sie Fritz gar nicht. Die beiden legen sich in die Musik und sind auch schon an ihm vorüber. Fritz steht und tut, als suche er jemand anderes. Joachim, der Lelas Hände hält, kann nicht an sich halten: »Hast du Fritz gesehen?«

Und Manuela: »Ja, eingebildet, nicht?«

Joachim ist mit der Antwort zufrieden, über sein gutmütiges Gesicht geht ein gönnerhaftes Lächeln.

»Na ja, er kann ja auch eine ganze Menge. Aber er läuft immer allein«, meint er und betrachtet Lela scharf von der Seite.

»Wenn es ihm Vergnügen macht, soll er doch.«

Joachim hat da irgend etwas weh getan. Es war Lela offenbar nicht recht, daß Fritz immer allein Schlittschuh lief. Joachim hatte plötzlich das Gefühl, es sei unwürdig, bei jeder neuen Runde so an Fritz vorbeizulaufen. Deshalb forderte er Lela auf, im Restaurant etwas Heißes zu trinken. Das Restaurant war eine Bretterbude. Im Innern ein paar Tische mit rotgemusterten Tischtüchern. Man brauchte nicht abzuschnallen. Ungeschickt mit den Händen rudernd, balancierte man sich mit den Schlittschuhen auf dem nassen Holzboden bis zu einem Stuhl, auf dem man plump niederfiel. Lela wollte Tee haben. Joachim bestellte auch Tee, aber mit Rum. Es war dunstig und rauchig und recht laut hier. Aber es machte Lela Spaß, sich mit einem Jungen zusammen an einen Tisch zu setzen, wenn's auch bloß Joachim war. Zufrieden schlürfte sie den heißen Tee. Sie saß dem Eingang gegenüber, dem Joachim den Rücken kehrte. Joachim war Nachbarskind. Joachim pfiff mittags auf der Straße, dann kam Lela heraus, und sie gingen zusammen Schlittschuh laufen. Das war ganz selbstverständlich.

Meinhardis hatte es in dem alten Haus vor der Stadt nicht ausgehalten. Die Erinnerung an Frau Kätes Tod trieb ihn weg von dort. Mit Hilfe einer neu engagierten Hausdame wurde der Umzug in das Stadthaus schnell bewerkstelligt. Nun wohnte man in einer Villenstraße, Bäume vor dem Haus, Gärten ringsum. Lela und Berti hatten so keinen weiten Schulweg mehr, und auch Meinhardis nur wenige Minuten zum Stammtisch.

Fräulein von Helling führte die Wirtschaft. Sie war eine etwas streng aussehende Dame. Ihre Kleiderkragen gingen hoch zum Hals, was ihr eine stolze Kopfhaltung vorschrieb. Sie trug vorwiegend dunkle Farben, wenn nicht überhaupt Schwarz. Ihr Gesicht war frisch, ihr Mund schmal und etwas verbittert. Sie war äußerst sparsam, was Meinhardis sehr angenehm war. Er hatte nie mit Geld umgehen gelernt und trug es meist ungezählt und lose in der Tasche, was Fräulein von Helling entsetzte. Meinhardis liebte es, sie mit seinen schlechten Eigenschaften zu erschrecken. Er lachte dann aus vollem Halse über ihr Kopfschütteln, bis sie zaghaft und nur wie aus Höflichkeit mitlachte. Aber der Wahrheit die Ehre zu geben – sie lachte recht gern. Sie war angenehm berührt von der neckenden Aufmerksamkeit des Oberstleutnants. In Liebessachen hatte sie wohl im Leben wenig Glück gehabt und war als Tochter einer kinderreichen Familie von verarmten Landadligen zu dieser Hausdamen Stellung gezwungen worden.

Manuela konnte Fräulein von Helling nicht leiden. Sie nahm es ihr übel, daß sie in Mutters Bett schlief und Mutters Schrank benutzte. Fräulein von Helling hatte schnell den Widerstand gefühlt und erfahrungsklug, wie sie durch viele Stellungen in fremden Familien geworden war, unternahm sie bei Lela auch keine Eroberungsversuche. Sie schenkte ihre sorgende Aufmerksamkeit lieber den männlichen Bewohnern des Hauses. Berti gedieh an seinen Leibspeisen, und Meinhardis fand an ihr immer muntere Gesellschaft, wenn er nach Tisch bei seinem Glas Wein sitzen bleiben wollte und alle seine alten Geschichten einem neuen, dankbaren Zuhörer vortragen konnte. Dann trank auch Fräulein von Helling auf Zureden ein Gläschen mit, obwohl sie behauptete, sonst nie Wein zu trinken, aber Meinhardis litt es nicht, daß einer »trocken« bei ihm saß. Außerdem machte es ihm Spaß, wenn dem Fräulein das Rot in die Wangen stieg und sie gegen Willen und gute Erziehung recht laut lachen mußte. »Helling« nannte er sie, manchmal in guter Laune auch »Du«, während sie unweigerlich an dem »aber Herr Oberstleutnant« festhielt ...

So störte Manuela niemand in ihren Unternehmungen. So konnte sie ruhig hier sitzen und Tee mit Rum trinken, wenn Jochen sie dazu einlud. Beide Ellbogen auf den Tisch gestützt, ließ sie die belebende Wärme ihre Wirkung tun. Sie saß gerne ein wenig. Ihre schmalen Gelenke schmerzten leicht beim Schlittschuhlaufen. Sie starrte, indem sie Jochens Geschichten von der Reise nach Berlin anhörte, wie zufällig auf die Tür.

Da kam auch, wie erwartet, Fritz herein. Er humpelte nicht so ungeschickt wie die anderen, sondern ging ganz sicher zum Büfett hin und verlangte Zigaretten. Selbstbewußt steckte er das Paket ein, nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte, und ging wieder hinaus, ohne einen Blick nach Lela hin zu werfen. Er tat, als hätte er sie gar nicht bemerkt. Lela wurde unruhig.

»Komm, wir wollen noch ein bißchen laufen«, und Jochen gehorchte sofort. Als sie wieder in die Helle traten, war die Sonne hinter dem Tannenwald untergegangen. Die Musik hatte aufgehört, und die vielen Eisläufer zerstreuten sich schon allmählich.

Jochen und Lela liefen einzeln nebeneinander her. Lela wollte versuchen, Bogen fahren zu lernen. Mit dem rechten Fuß nach außen ging es auch schon ganz gut, und ein wenig von dieser sonderbaren Lust des Schwunges wurde ihr schon zuteil. Ein heißer Wunsch, mehr zu können, stieg in ihr auf – da sah sie Fritz mit Hella Andreas dicht vor sich herlaufen. Hella glühte, sie lachte unnatürlich, und Fritz hielt nachlässig ihre Hände, aus Höflichkeit nur eben Schlittschuh laufend wie alle anderen. Plötzlich war es kalt und Lela müde. Jochen kniete vor ihr und schnallte ihr die Eisen ab. Er trug sie ihr auch auf dem Nachhauseweg. Lela sah noch, daß Fritz mit Hella im Restaurant verschwand.

Zu Hause angekommen, entledigte Manuela sich schnell ihrer Schulaufgaben, nahm dann ein Buch zur Hand und verzog sich in eine Sofaecke. Fräulein von Helling stopfte Wäsche. Lela haßte den Geruch.

»Wenn du ein ordentliches Mädchen wärest, würdest du mir helfen.«

Lela war müde. Sie dachte nur darüber nach, wie sie morgen Bogen laufen würde. Unruhe hatte sie gepackt, sie konnte nicht lesen, sie klappte das Buch zu. Da trat Meinhardis ins Zimmer.

»Na, seid ihr brav?«

Er schob Fräulein von Helling die Lampe näher:

»Kindchen, Sie verderben sich ja die Augen mit dem Zeug da. Nein, wie sie fleißig ist, was, Lela?«

Fräulein von Helling beugte ihren Kopf auf die Arbeit. Das Lampenlicht schien auf ihren zum Nest aufgesteckten dicken blonden Zopf. Meinhardis' Hände lagen auf der Stuhllehne. Er konnte sich nicht enthalten, geschickt und schnell zwei dicke Haarnadeln, die das Gebäude hielten, herauszuziehen. Sofort fiel der Zopf über Fräulein von Hellings Schulter.

»Aber Herr Oberstleutnant!«

Tiefrot und entsetzt sprang sie auf, den Zopf an den Hinterkopf drückend.

Meinhardis schmunzelte und lachte. Lela lachte mit. Sie war gewohnt, daß Papa Spaß machte. Daran war nichts Besonderes. Neu war, daß er nun Helling packte und ihr einen Kuß gab. Es kam Lela so vor, als hätte Helling das gut verhindern können, wenn sie nur den albernen Zopf losgelassen hätte. –

Am nächsten Tag lief Lela dem armen Jochen weg. Sie rannte die abschüssige Straße hinab zur Eisbahn, schnallte in fieberhafter Eile an und steuerte sofort auf eine freie Ecke zu, wo sie zu üben begann. Es wurde ihr heiß vor Anstrengung. Sie war auch schon ein paarmal hingefallen, ihr Mantel war ganz weiß vom Eispulver. Schließlich warf sie den Mantel ganz weg, auch die Handschuhe und den Muff. So, jetzt war ihr besser. Sie hatte gerade zu einem Bogen angesetzt, als sie von hinten zwei starke Hände um den Gürtel packten und sie zu »schieben« begannen. In einer Sekunde hatten sie rasendes Tempo. Das Eis krachte und rauschte unter ihren Füßen. Die schwarzen Tannen rings um die Bahn flogen an ihr vorüber, eisig schnitt ihr der Wind ins Gesicht.

»Nicht fallen, Lela, festhalten, du kannst es ja! Hast du Angst?«

»Nein Fritz, nein! Es ist herrlich!«

»Ach du, du bist leicht wie eine Feder! Ich spür' ja gar nichts. Ich hab' ja viel zuviel Kraft, du«, keuchte er hinter Lela her.

Es war wie eine wilde Jagd, und sie war es, die gejagt wurde, und sie mußte stillhalten, und es war gut so.

»Lel?« fragte er nach einer Pause. »Kannst du noch?«

»Ja, Fritz, ich kann, ich kann, solange du willst.«

Sie wußte gar nicht mehr, was sie sagte, sie fühlte nur, daß die anderen Schlittschuhläufer ihnen auswichen und daß die Hände, die sie hielten, haarscharf an den festgefrorenen, vereisten Rändern der Bahn vorbeisteuerten. Sie fühlte, wie sie bei Kurven instinktiv das Gewicht verlegte. Die Schienbeine schmerzten, sie zitterte ein wenig – aber wenn es auch in die Hölle gegangen wäre, sie hätte ausgehalten.

Jetzt gab ihr Fritz einen energischen Stoß, und Lela flog allein hinaus auf die blendende, glatte Fläche. Eine Kurve, einige Eisklötzchen im Weg, Lela beugte sich, um nicht zu fallen, nach vorn und kämpfte wild gegen den sicheren Sturz an. Vergeblich. Aber da hatte er sie schon im Arm. Obwohl ihre Füße ausgeglitten waren, fiel sie nicht, sie stand. Ihre kalten Wangen lagen an rauhem Tuch, und eisig fühlte sie die harten Knöpfe an Fritzens Jacke.

»Du, das hast du fein gemacht, Lel.«

»Finde ich gar nicht. Wenn du da jetzt nicht gestanden hättest, wäre ich glatt hingeschlagen.«

Beide lachten.

Man mußte sich die Nasen putzen und die Mützen wieder richtig aufsetzen. Lela zog ihr Kleid herunter, das sich bei der Fahrt verschoben hatte, und Fritz kämmte mit der Hand seinen Schopf aus dem Gesicht. Man war wirklich ganz in Unordnung geraten.

Fritz zog seine Stiefel mit den Schlittschuhen aus und hängte sie an einem Riemen um den Nacken, so daß die Stiefel mit den Schlittschuhen auf seiner Brust hingen. Er hatte andere Stiefel angezogen. Jetzt kniete er vor Lela am Boden und schnallte ihr die Schlittschuhe ab. Lela hatte seine unordentlichen blonden Haare direkt vor dem Gesicht. Aber sie steckte ihre Hände schnell in die Manteltasche, als suche sie etwas.

 

Meinhardis hatte sich ein neues Leben zurechtgemacht. An manchen Tagen ging er deprimiert und mit sich beschäftigt umher oder machte große Spaziergänge in die Berge. Er konnte den Gedanken nicht loswerden, daß er zu »Muttchen« nicht gut genug gewesen sei. Jeder Augenblick der letzten Jahre, wo er, verärgert vom Dienst gekommen, seine schlechte Laune an ihr ausgelassen hatte, fiel ihm ein und ging ihm nach. Dann wieder schien es, als hätte er alles überwunden. Er stürzte sich in lustige Gesellschaft, und keiner konnte so gute Geschichten erzählen wie er, keiner so reizend den Hof machen, keiner so vergnügte Spaße ausdenken wie er.

Seine Kinder machten ihm manchmal Sorgen. Aber er hoffte, Helling würde es schon recht machen. Ängstlich beobachtete er Lelas Aussehen. Freunde sagten ihm mitunter angenehme Dinge: Manuela werde eine Schönheit werden. Er freute sich, daß sie seine Augen hatte und seine Gestalt. Er wollte gerne eine schöne Tochter haben, und dann, ein Mädel mußte doch hübsch sein, wenn sie einen reichen Mann haben wollte. Und daß seine Tochter einen reichen Mann kriegen würde, war bei ihm abgemachte Sache. »Einen mit 'ner Hirschjagd«, pflegte er zu sagen. Er sah sich gerne als Schwiegerpapa auf einem schönen Gut in Norddeutschland, im Garten spazierend, oder bei Rotspon und dicker Zigarre die Jagdgäste unterhalten. Das Geld, das dagewesen war, als Käte starb, wurde immer weniger. Die Pension war verflucht gering. Gott, Meinhardis hatte immer gehofft, daß er mal ein bißchen reisen könnte, wenn er a. D. war. Aber dazu reichte es nicht. Im stillen hoffte er, daß das Mädel, wie er Lela vor seinen Kameraden nannte, die Familie »herausreißen« würde.

Mit größerem Bangen dachte er an Bertis Zukunft. Der Junge mußte Diplomat werden. Im Auswärtigen Amt brauchte man solche Leute. Die Matura bekam er ja dieses Jahr, und dann mußte er natürlich erst mal in ein ausgesuchtes Corps eintreten, etwa in Heidelberg. Damit er Verbindungen kriegte.

Verbindungen brauchte so ein Junge im Leben. Gute Familien, reiche Familien kennenzulernen, das war die Hauptsache. So kam man weiter. Na, der Berti war ja ein fixer Kerl. Wie dem jetzt schon die Weiber nachliefen, war einfach toll. Der würde es schon machen. Da war er ihm doch, weiß Gott, neulich mit einer bildhübschen Frau begegnet. Na, er hatte nicht hingesehen. In solch einem Fall ist man als Vater diskret. Und sein Stammtisch lachte. Ja, Meinhardis war eben anders als andere Väter. Er ließ seine Kinder in Ruhe. Mit dem ewigen Verbieten kam man ja auch nicht weiter. Auf ihn, Meinhardis, hatte auch nie einer aufgepaßt, das hätte er sich wahrscheinlich schönstens verbeten.

Man trank dem Idealvater zu und prostete ihn an.

»Na, auf die Zukunft Ihrer kleinen Schönheit! Wollen sie mal leben lassen!«

Und Meinhardis tat gerne Bescheid.

Am nächsten Tag wurden ein Maiblumenstrauß und ein Kärtchen für Lela abgegeben:

»Ich muß Geige üben für den Weihnachtsbasar am Samstag. Kann deshalb nicht Schlittschuhlaufen gehen. Herzlichen Gruß Fritz Lennartz.«

Lelas kleine, braune Hände öffneten behutsam das Seidenpapier. Die Blumen dufteten wundervoll. In der Küche füllte sie eine Vase mit Wasser. Die Köchin stand frech lächelnd daneben.

»Vom Verehrer?«

Lela antwortete nicht.

»Warum auch nicht?« meinte die Köchin. Marie war liberal. Obwohl sie gerne andere Leute vor der Liebe warnte. Sie selbst hatte keine guten Erfahrungen gemacht. Sie erzählte gern davon, und Lela hatte ihr schon oft zugehört. Der Ihre war Sergeant. Aber kein braver. Maries Zimmer stand voll merkwürdiger Nippesgegenstände. Aus graubrauner Masse waren der Fotorahmen, ein Tintenfaß, ja ein nacktes Mädchen, welches ein bißchen wie eine Pfefferkuchenfigur aussah, es stand neben einer Palme aus derselben mysteriösen Masse. Die Masse war Kommißbrot. Maries Karl war ein Künstler und hielt sich anscheinend öfters im Loch auf, denn nur dort konnte er Muße haben zu seiner Passion, aus Kommißbrot so schöne Dinge zu kneten. Brot und Wasser waren das einzige, was man dort hatte – und Zeit. Karl verband die drei vorhandenen Dinge und machte Kunst daraus.

Marie war verlegen-stolz auf die Leistungen. Sie war eine gute Person, liebte Lela, und Lela verbrachte viel Zeit in der warmen Küche und erfuhr dabei manche nützlichen Dinge.

»Zeigen Sie die Blumen nicht dem gnädigen Fräulein, Fräulein Lela!« mahnte Marie wohlwollend. »Die zerreißt sich noch den Mund darüber – überhaupt braucht die nicht alles zu wissen.«

Lela trug ihre Blumen vorsichtig, um kein Wasser zu verschütten, die Treppe hinauf. Sie hatte sich eben noch gefreut, und nun überkam sie plötzlich ein ungutes Gefühl. Helling kam ja fast nie in ihr Zimmer – sie würde sie also kaum zu sehen bekommen, ihre Maiglöckchen, aber ... Man rief sie zum Essen, und froh, nicht weiter nachdenken zu müssen, lief sie hinunter.

Berti kündigte an, daß es tauen werde, und beobachtete scharf die Wirkung seiner Worte auf Lela.

Lela empfand einen stechenden Schmerz in der Brustgegend und beugte sich über ihre gefalteten Hände auf der Stuhllehne. So standen sie vor dem Eßtisch, und Berti sprach das Tischgebet: »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.« Alle fielen ein in das »Amen«. Dann erst setzte man sich zum Essen.

 

Lela hat das Programm auf ihrem Schoß zerknittert. Sie hält es fest in ihren heißen Händen. Fräulein von Helling neben ihr hat ihr »Bestes« an, ein schwarzes Taftkleid. Sie sitzt neben einer bekannten Dame, und beide sind in ihre Kritiken über die Darbietungen vertieft. Lela nimmt das Programm noch einmal auseinander. Wirklich, die nächste Nummer ist: Geigensolo – Friedrich Lennartz. Wenn sie sich das vorstellte, daß Fritz ganz allein auf der hohen, breiten Bühne dastehen sollte, und die vielen, vielen Menschen hier unten würden ihn, ihn ganz alleine anschauen, überfiel sie eine zitternde Angst, als sei es sie selber, die da oben stehen mußte, und ihr, hilflos im armen Kleidchen, würde man eine Geige in die Hand drücken und alles sie aus erwartender Stille heraus anbrüllen: Spiel, spiel, spiel! –

Da fiel Licht gegen den dunklen Vorhang, und Ruhe trat ein. Der Vorhang flog auseinander. Da stand ein großer, schwarzer Flügel und davor stand ein Stuhl. Von der kleinen Seitentür her trat Fritz heraus. Die Geige unter dem linken Arm, blieb er in der Mitte stehen und verbeugte sich. Es war ihm nicht anzumerken, ob er sich fürchtete. Es schien ihm sehr einfach zu sein, so, als habe er nie etwas anderes getan als dies: sich anstarren lassen und sich verbeugen.

Lelas Angst legte sich, nun er da war. Sie stieß einen kleinen Seufzer der Befreiung aus, den Helling bemerkte. Sie und ihre Nachbarin beobachteten die ahnungslose Lela. Helling war fest entschlossen, heute »Mutterstelle« zu vertreten, wie sie es nannte. Und das arme Kind vor unrechten Gedanken zu retten, indem sie sie scharf beobachtete.

Lela wußte von alledem nichts. Sie hatte nur Augen für Fritz, der sich jetzt zur Seite wandte, wo eine junge, blonde Frau am Flügel saß und zu ihm aufschaute. Als Lela dieses neue Gesicht sah, erstarrte etwas in ihr. Unwillkürlich rückte sie auf ihrem Stuhl etwas vor, um näher hinsehen zu können. Was war das? Diese Frau hatte Fritzens Gesicht – nur schöner, weicher, liebreizender, und jetzt lächelte sie ihm aufmunternd zu, und er lächelte mit einem kurzen Nicken des Kopfes zurück. Die beiden verstanden sich, und nun wußte Lela auf einmal, warum Fritz keine Angst hatte. Natürlich – sie war da, und wenn sie da war, war alles in Ordnung.

Sie strich noch einmal über die Notenblätter, und Fritz wendete sich mit einem fast hochmütigen Blick gegen die Zuschauer und ließ von den zwei weißen Händen am Flügel das Vorspiel in den Saal hinunterziehen, vor ihm hin – bis er mit einem Ruck einsetzte, der seine Haare in Unordnung brachte. Von nun an war er es, der führte, und das Klavierspiel begleitete ihn, hinauf, hinab, wartete ab, schlug ein Thema an, das er aufgriff – und beide, die Frau und Fritz, hatten die gleichen Bewegungen des Kopfes. Ihr fiel eine Locke in die Stirn, die sie, um die Noten sehen zu können, rasch zurückstrich, aber es gelang nicht – auch ihm nicht, wenn er den Kopf zurückwarf. Es war keine Zeit, man mußte weiter und hinauf und vorwärts, und die Prismen am Lüster zitterten und gaben zirpende Töne, und die Menschen blieben totenstill, als hielten sie den Atem an.

Lelas Mund war offengeblieben, ihre Augen blickten gebannt auf die Bühne. Sie wußte nicht, daß sie die Lehne des vor ihr stehenden Stuhles gefaßt hatte. Lelas Ohren färbten sich rot, ihr Gesicht erblaßte vor Anstrengung. Ihr Mund trocknete aus, ihre Handflächen wurden feucht. Was war es nur, was? Es tat weh, furchtbar weh, und auch wieder nicht. Die beiden da oben waren eins. In eins zusammengeschmolzen und galten als eins und liebten dasselbe und fühlten dasselbe und waren nicht zu trennen. Fritz war zerschmolzen, er war nicht mehr da, er war nur ein Teil und war wieder doch so da wie vorher nicht. Denn er füllte den Saal ganz aus, und er war ganz allein im Raum – aber er wurde geführt, getragen von ihr, und ohne sie hätte er nicht dasein können und nicht die Musik. Da packte etwas und schüttelte die Menschen und riß an ihnen, und sie waren alle geduldig und ließen sich reißen. Und dann lachte etwas sie aus und war wieder lieb und streichelte sie und beruhigte, und dann war es, als sängen alle zusammen, alle und Lela waren mitten drin und ein Teil davon. Ohne sie wäre es eben auch nicht da – aber was eigentlich ...? Da war es aus. Einen Augenblick mußten sich die Zuhörer von der Überraschung erholen. Es blieb still. Fritz hatte Zeit, seine Geige auf den Flügel zu legen, und die Frau, sich zu erheben. Da erst fiel Applaus ein. Als hätten die Menschen es nötig, zu schreien und zu lärmen, weil sie sonst erstickt wären, so tobten sie. Mit einem zärtlichen Schritt trat die junge Frau zu Fritz hin und legte ihren Arm um seine Schulter. Fritz genierte das gar nicht, er sah ihr strahlend ins Gesicht und verbeugte sich dankend gegen den Saal zu. Wieder und wieder zog er an der Hand seine Mutter vor die Rampe. Man lärmte und rief. – Seine Mutter. Er hat eine Mutter! dachte Lela.

Sie drängte sich nach vorn, aber Fräulein von Helling griff nach ihr:

»Du bleibst da.«

Lela fuhr herum und sah in ein fremdes, böses, neidisches Gesicht.

»Man läuft Jungens nicht nach. Das ist unpassend.«

Lela legte sich eine eiskalte Hand aufs Herz. Mechanisch wendete sie sich um und ging auf ihren Platz.

Plötzlich wurde es wieder dunkel im Saal, und die Leute mußten sich setzen. Es entstand eine Unordnung, und neben Lela blieben einige Stühle bis zum Gang frei. Jetzt sollte das eigentliche Weihnachtsspiel folgen. Lela begleitete es mit den Augen, aber den Sinn der Handlung erfaßte sie nicht. Man ging, man sprach, trat ab. Kinder, Erwachsene. Im Publikum hustete man hie und da, knabberte man Schokolade. Ein Stuhl rückte, man tuschelte und versuchte im Programm etwas über die nächste Nummer zu erfahren.

Auf einmal bemerkte Lela Fritz, der sich langsam an der Wand entlangschob und auf sie zukam. Er zwängte sich, ohne Geräusch zu verursachen, durch die Stuhlreihe und setzte sich neben sie.

Lela wußte nicht, was man sagen mußte, wenn jemand gut gespielt hatte, und sah angstvoll zu ihm auf. Er schien es zu verstehen und lachte sie ermunternd an, wie um sie zu trösten. Er nahm ihre Hand in die seine, als wollte er sagen: Nein, so schlimm bin ich ja nicht.

Dann mußten sie stille sein. Ihre Hand blieb liegen, wo er sie hingelegt hatte, auf seinem Knie, und er legte die seine schützend darüber.

»Wie gefällt dir meine Mutter?« fragte er leise in ihr Ohr. Und Lela, ohne ihn anzusehen, antwortete:

»Sie ist wunder-, wunderschön.«

Mehr konnte sie um alles in der Welt nicht sagen, sonst hätte sie geweint. Sie kämpfte und kämpfte einen Knoten in ihrem Hals hinunter und zwinkerte rasch mit den Augen, um die Tränen, die ganz dumm, lächerlich und ungerufen in ihren Augen standen, zu bändigen. Sie schluckte so gut sie konnte, und Fritz kam ihrem Ohr ganz nahe, so daß sie seine Haare fühlte.

»Du – ich bring' dich nachher zu ihr, sie will dich sehen!« Lela biß sich auf die Lippen vor Erregung. Ihr Mund wurde rot und dunkel. Die Tränen hatte sie zurückgedrängt, aber es blieb ein Glanz zurück. Ihre Haare waren gescheitelt und fielen auf ihre Schultern. Ihre Arme waren nackt, mager und hilflos. Sie schämte sich für ihre Arme. Fritzens Mutter hatte weiche, weiße Arme und schöne Hände – schöner als Fritz. Fritzens Hand begann ihr weh zu tun. Sie war knochig. Die Hände seiner Mutter waren sicher sehr weich und zart zum Anfassen, das sah man schon, wenn sie spielte. Und ganz kleine Füße hatte sie. Fritz hatte große Füße. –

Jetzt wurde die Bühne taghell, noch heller, noch und noch heller. Eine hohe Treppe führte in den Himmel hinauf, ganz von Engeln getragen. Eine Orgel spielte, und die vielen, vielen Engel sangen ein Weihnachtslied.

»Jetzt kommt sie!« sagte Fritz.

Es war nicht mehr nötig zu sagen, wer. Fritz wußte, daß Lela an seine Mutter dachte. Ganz oben trat etwas Glitzerndes auf die Treppe. Es blendete so sehr, daß man zuerst nicht sehen konnte, wer es war. Eine ganz leise Musik begann, und eine wunderbar siegreiche Stimme begann den Engelsgruß zu singen. Ein feinfaltiger, langer Rock entfiel einem eng anliegenden, silbernen Hemd, das auch die Arme eng umschloß. Nur der Hals war frei, die blonden Haare offen, und ein silberner Helm saß fest um das junge Gesicht. Die blauen Augen strahlten alle Lichter der Scheinwerfer zurück.

Sicher, klar und rein eroberte sich die Stimme den Raum. Die Stimme machte gut, die Stimme machte froh, sie zog einen hin – da hinauf. Lela hielt sich fest an ihrem Stuhl wie in Abwehr. Fritz hatte seine Nachbarin vergessen. Gebannt und verloren starrte er da hinauf. So schön war niemand wie seine Mutter, fühlte auch er, niemand.

»Und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!« rief es von dort oben. Die Engel fielen ein, das Orchester, Posaunen dröhnten und nahmen die Stimme mit: »... den Menschen ein Wohlgefallen!«, und der dunkle Vorhang rauschte zu.

Fritz sagte Fräulein von Helling und ihrer Freundin, der alten Frau Professor Metzner, mit einem weltmännischen Diener guten Abend und führte die drei an einen kleinen Tisch im Nebensaal, wo er den beiden Damen half, sich Tee und Kuchen zu bestellen. Dann nahm er Lela an die Hand und sagte ganz einfach: »Komm, Mama wartet auf uns.« Es war ein furchtbares Gedränge. In den Türen stauten sich die Menschen. In Buden wurden zugunsten armer Kinder geschenkte und gestiftete Dinge verkauft. Fritz hielt Lela an der Hand und zog sie hinter sich her. Oft mußte er stehenbleiben, weil ihm irgendein alter Herr auf die Schulter schlug und sagte: »Brav, mein Sohn!« – oder eine alte Dame: »Ein Talent ist das, ein Talent ...« Lela war stolz auf Fritz. Aber ihn hielt das alles nur auf, und er wollte weiter.

»Mama verkauft Blumen«, sagte er. Und beide suchten im Gedränge den Blumenstand. Richtig – dort! Aber sie wartete gar nicht auf die Kinder. Sie war umringt und hatte alle Hände voll zu tun. Die beiden krochen hinter sie in ihre Bude. Kaum war auf einer Kiste so viel Platz, daß Lela sitzen konnte. Aber sie fühlte sich geborgen und war froh, aus dem Trubel heraus zu sein, und froh, daß Frau Lennartz nicht gleich Zeit hatte. Lela saß zwischen Riesenhaufen von Blumen. Auf dem Tisch vorn lagen gebundene Sträußchen. Drei Rosen oder drei Nelken. Da langte Frau Lennartz nach den nassen Blumen und dem Faden.

Ohne zu wissen, was sie tat, schob Lela die Hand zurück.

»Nein«, sagte sie fest, »das mache ich.«

Lachend über das energische kleine Mädchen und erstaunt über die Hilfe, die ihr da erstand, beugte sich Fritzens Mutter herab und, die Hand unter Lelas Kinn, hob sie deren gesenkten Kopf zu sich herauf.

»Das ist Manuela von Meinhardis, Mama«, sagte Fritz verlegen.

Einen Augenblick sah Lela diese blauen Augen über sich, hielt den Atem an und erwiderte dann das Lächeln, das ihr entgegenkam.

»Das ist ja wundervoll, daß du mir helfen willst – aber das kann ich doch gar nicht annehmen, du willst doch sicher herumlaufen und dich amüsieren.«

Lela schüttelte energisch den Kopf.

»Nein, Mama, Lela bleibt gern hier. Kann ich dir auch was helfen?«

Lela war froh, daß nicht mehr von ihr die Rede war, und stürzte sich in die Arbeit.

»Ja – sei so gut und laß mir das Geld wechseln.« Frau Lennartz gab Fritz eine Handvoll Scheine, und Fritz wandte sich zum Gehen. Seine Mutter strich ihm die Haare aus der Stirn, ehe sie ihn entließ. Lela gab sich alle Mühe, daß auch ihre Haare so ins Gesicht hingen, und wartete, ob dann Frau Inge, wie sie sie hatte nennen hören, auch ihr die Haare aus der Stirn streichen würde. Wild riß sie am rostigen Draht, daß ihre Finger schmerzten: ohne Schonung griff sie in die Dornen der dickstieligen Rosen. Sie biß mit den Zähnen den widerspenstigen Bast auseinander. Sie griff in das eiskalte Wasser, bis ihre Finger klamm und starr wurden. Tief sog sie den bitteren Blätterduft in ihre Lungen ein und wagte nicht, hinaufzusehen zu Frau Inge. Nur ihrer Stimme hörte sie zu und ihrem Lachen.

 

»Ja, sehen Sie, Frau Professor«, sagte Fräulein von Helling zu ihrer Nachbarin, »so ist das Kind, immer hat sie die Jungens im Kopf. Es ist einfach schrecklich. Und wie soll man da aufpassen? Ich kann hier doch unmöglich hinter ihr herlaufen. Dieser Fritz macht ihr den Hof – na, und sie läßt sich das gefallen. Sie ist ja verliebt über beide Ohren, und das in dem Alter, ich bitte Sie: dreizehneinhalb Jahre. Gott, wenn das die Mutter von dem Kind erlebt hätte! Es ist nur gut, daß sie es nie erfahren hat, wie faustdick ihre Tochter es hinter den Ohren hat.« Helling holte einen tiefen Seufzer. »Sehen Sie, ich hab's wirklich schwer. Die Tanten schreiben mir, ich soll aufpassen. Aufpassen! Sie rennt doch aus dem Haus, und kein Mensch weiß, was sie treibt. Ich hab' ja versucht, mit dem Vater ein ernstes Wort zu reden, aber Männer ... Na ja, sie hat es sowieso vom Vater, der ist ja genauso hinter jeder Schürze her – da kann man sich nicht wundern. Aber jetzt habe ich es doch nun einmal mit eigenen Augen gesehen, und jetzt werde ich es ihm doch wohl klarmachen können, wie seine ›schöne‹ Tochter es treibt. Ich lehne jede Verantwortung ab. Und der Exzellenz von Ehrenhardt schreibe ich heute abend noch einen Brief. Meiner Ansicht nach muß das Kind aus dem Haus. Was die nicht alles schon zu sehen und zu hören kriegt! Ewig steckt sie bei den Dienstboten in der Küche. Na, und der Bertram – wissen Sie, daß der Junge sogar nachts manchmal nicht da ist? Ja, da wundern Sie sich. Das sind Kinder heutzutage ...«

Fritz bekam den Auftrag, Brötchen und Bowle zu holen. Der Betrieb war anstrengend. Endlich wurde Frau Inge auf einige Zeit abgelöst. Sie setzte sich auf die Kiste zwischen die Blumen. Ein Stuhl war nicht da. Deshalb zog sie Lela mit einem selbstverständlichen Griff auf ihren Schoß.

»Komm her, ruh dich aus.«

Lela überkam eine heiß siedende Seligkeit. Sie wagte sich nicht zu rühren. Um nicht zu fallen, mußte sie ihren Arm um die fremde Frau legen. Sie fühlte den warmen Hals und die Haare weich an ihrer Hand. Sie fühlte die Brust Frau Inges. In diesem Augenblick versank alles, die Blumen, der Basar, Fritz, alles ein Meer. Das war Dämmerstunde. Dämmerstunde mit Mutter. Lela schloß die Augen und atmete den Duft, der von der fremden Frau kam. Die Geräusche kamen von der Straße, so war ihr, und gleich würden die Abendglocken läuten vom Dom her – und der Pulvergarten lag grau und ... Eva, ja, Eva hatte doch auch solche Haare. Das wußte sie plötzlich ganz genau und vielleicht hatte sie solche Arme auch gehabt – ihre Hände packten so ... Unbewußt legte Lela ihren Kopf müde nieder auf Frau Inges Schulter. Vor ihr war der Ausschnitt, gerne hätte sie dahin einen Kuß gegeben, aber das wagte sie nicht. Ganz gegen ihren Willen begann sie zu zittern. Frau Inge blickte sich nach ihr um und faßte mit der linken Hand in Lelas Haare. Eine Sekunde legte sie ihren Kopf an Lela an und sagte leise:

»Dummchen, du bist ja noch ein Baby. Ist das wahr, daß du so schön Schlittschuh laufen kannst?«

Lela versuchte sich zu fassen, aber um reden zu können, mußte sie herunter von dem Schoß und stehen – damit man sah, daß sie kein Baby war.

Fritz stand an der Sektbude und goß ein Glas schnell hinunter. Dann ging er weiter zur Künstlergarderobe. Welke Blumen lagen auf dem Tisch. Seine Geige daneben. Vorsichtig öffnete er den Kasten. Erst zupfte er ein wenig an den Saiten, als prüfe er nach, ob sie vielleicht plötzlich keinen Ton mehr gaben. Dann nahm er das weiße Seidentuch, das seine Mutter ihm geschenkt hatte, legte es unter sein Kinn und bettete die Geige darauf. Ganz leise für sich allein und für niemand anders setzte er den Bogen an. Ganz ruhig stand er da, seine Hand so sicher wie nie. Aber etwas preßte, und er versuchte, es durch eine Kopfbewegung aus dem Hals zu schleudern, allein es blieb und zwang und drückte und zerrte an ihm. Seine Backenzähne malmten aufeinander. Nicht, nicht nachgeben. Spielen, spielen, spielen ...

 

Oberstleutnant von Meinhardis ging, dicke Rauchwolken paffend, im Zimmer auf und ab. Manchmal knurrte er vor sich hin. Von Fräulein von Helling, die handarbeitend am Fenster saß, nahm er anscheinend keine Notiz. Sie beugte sich geflissentlich über ihre Stickerei. Es dämmerte, und er hatte heute gar keine Sorge, daß Helling sich die Augen verderben würde. Anderes beschäftigte ihn. Plötzlich blieb er stehen, und indem er den Oberkörper rasch nach vorne bog, um seine Worte zu bekräftigen, sagte er, als fahre er in einem Gespräch fort: »Also, was machen denn andere Leute mit ihren Mädels?«

Fräulein von Helling schien es nicht zu wissen, oder, was sie wußte, schon gesagt zu haben, denn sie zuckte nur die Achseln.

»Es ist doch zum Verrücktwerden«, fuhr er fort. »Ich kann sie doch nicht einsperren. Ist doch kein Soldat, der was ausgefressen hat, wie?«

Die Dame am Fenster machte eine Bewegung, als sähe sie nicht ein, warum nicht. Aber sie sagte nichts.

»Gott, was ist denn eigentlich dabei, wenn sie sich mal in einen Jungen verknallt? Ist doch auch kein solches Unglück.«

Jetzt regte es sich drüben.

»Man spricht doch darüber, Herr Oberstleutnant. Der gute Ruf ...«

»Na ja, ich weiß. Na schön. Und da fällt euch Weibern weiter nichts ein, als so ein armes Kind ins Kloster zu sperren, was? Damit ihr sie los seid. Kann euch so passen. So'n paar verrückte alte Schrauben sollen dem Kind das Leben sauer machen. Kenne ich. Beten tun sie da den ganzen Tag. Nee, Lela ...«

»Es ist doch nur ihr Bestes, was wir da vorschlagen, Herr Oberstleutnant. Auch Exzellenz von Ehrenhardt meint ...«

Da wurde Helling unterbrochen.

»Damit kommen Sie mir bloß nicht! Die Frau hat nie Kinder gehabt. Die hat keine Ahnung!«

»Ja, aber Frau von Kendra, Frau Irene ...«

»Die ja, die ist 'ne Frau, hat sechs Töchter und keine einzige in einer Pension.«

Hier konnte Helling einhaken. »Ganz recht, eine vorzügliche Mutter. Aber Lela hat eben keine Mutter. Das ist es doch, Herr Oberstleutnant, eine Fremde kann da keinen genügenden Einfluß haben. Manuela ist frühreif und weit über ihre Jahre selbständig. Sie macht eben, was sie will – mit noch nicht vierzehn Jahren.«

Meinhardis nahm seinen Gang wieder auf. Er fing an, diese Person da am Fenster zu hassen. Da stickte sie doch wahrhaftig an einem Vorhang, den Käte noch vor ihrem Tode angefangen hatte. Die Person wollte er los sein. Und natürlich, wenn Lela wirklich nicht da wäre – Bertram kam ja im Frühling nach Heidelberg –, dann konnte er das Haus zumachen oder gleich ganz verkaufen und selber wirklich mal auf Reisen gehen. Er sah sich schon in Italien, an der Riviera. Gott, er war doch nun wahrhaftig bald ein alter Knacker und hatte nichts von der Welt gesehen. Eigentlich hatte er ja so ein bißchen Freiheit mal verdient.

»Was soll ich denn nun Exzellenz von Ehrenhardt antworten?« kam's vom Fenster her.

Meinhardis erwachte. »Ach ja, wegen Lela. Na ja, dann sagen Sie ihr mal, schön fände ich die Sache nicht, aber weiß der Teufel, ich verstehe ja wohl wirklich nichts von Jungmädchenerziehung. Meinetwegen soll sie sich umsehen. Aber dann schon lieber in der Nähe von Frau von Kendra, damit die ein Auge auf das Kind haben kann.«

Helling erhob sich und legte die Arbeit sorgfältig zusammen. Sie ging aus dem Zimmer. Seufzend trat Meinhardis zu einem kleinen Wandschrank, zog aus der Tasche ein Schlüsselbund und schloß das Schränkchen auf. Er legte seine Zigarre beiseite, nahm eine Flasche heraus und ein kleines Gläschen. Vorsichtig goß er es voll. Blickte das Glas traurig an, setzte, indem er mit einem Ruck den Kopf nach hinten warf, das Glas an und stellte es leer in den Schrank zurück. Dann wischte er sich mit dem Taschentuch den Schnurrbart nach rechts und links ab und verschloß mit einem tiefen Seufzer den Schrank.

 

Lela steht vor einem Blumenladen. Alpenveilchen? Nein, flattrig, denkt sie. Sie will Fritzens Mutter etwas schenken. Natürlich Blumen. Ein Verehrer schenkt seiner Angebeteten Blumen. Dann weiß sie, daß sie geliebt wird. Aber die Mutter – im stillen nennt Manuela sie nur »die Mutter« – sagt, Lela ist noch ein Baby. Warum ist sie noch nicht erwachsen? Manuela brennt vor Ungeduld, erwachsen zu sein. Fritz, der älter ist als sie, der ist ein Kind. Hat er nicht neulich geweint? Ein Junge. Er hat es zwar zu verbergen gesucht, aber die roten Augen hat Lela doch gesehen. Sie sind abends alle drei zusammen weggegangen, nachdem Helling ihre säuerliche Erlaubnis dazu gegeben hatte, und die beiden Kinder haben sich rechts und links bei der Mutter einhängen dürfen. An Lelas Tür hat Frau Lennartz sie für heute nachmittag eingeladen. So wollte sie nun etwas mitbringen. Lela suchte das Schaufenster ab. Nelken? Nein, die hatten Ringe um den Hals, damit die einzelnen Blättchen nicht herabfielen, und ihr Rot war hell und schreiend. Eigentlich müßten es Lilien sein. Aber Lilien gab es keine. Es gab sehr eitle, eingebildete Tulpen, mit krachenden, fetten Blättern. Nein, die nicht. Mimosen? Ja, wenn man zwei ganze Arme voll davon kaufen könnte, daß Mutti glaubte, Lela bringe einen Wald von gelben Bällchen aus Sonnenschein. Aber wenig? Nein. Viele konnte sie nicht nehmen, dazu hatte sie kein Geld.

Sie griff in die Tasche und betrat unentschlossen den Laden. Die Azaleen waren zu teuer. Sie fielen auch so leicht ab. Da bemerkte sie ganz in der Ecke eine einzelne, hohe weiße Kerze, halb erblüht, eine Hyazinthe von besonderem Wuchs. Eine hohe, volle Dolde auf festem, kantigem Stiel. Mit prachtvoll sattgrünen Blättern. Ein reiner, starker Duft ging von der Pflanze aus. In viel weiches, weißes Papier gehüllt, legte man Lela die Blume in den Arm. Vorsichtig trug sie sie heim, hinauf in ihr Zimmer.

Am Fenster stellte sie den Topf auf. Hell und kühl. Kaum beseitigte sie das Papier, so duftete auch schon das ganze Zimmer. »Liebe Blume«, sagte sie leise. »Brauchst du Wasser?« fragte sie und befühlte die feuchte Erde. »Nein, die gnädige Frau ist versorgt«, sagte sie lachend. Die dicke Dolde schien mit dem Kopf zu wackeln. Lela sprang pfeifend die Treppe hinab.

Leider bekam ihre Heiterkeit einen Dämpfer. Man war wortkarg beim Essen heute. Das war manchmal so. Entweder hatte Papa »Sorgen« oder »Schulden«, oder Helling hatte Krach gehabt mit Marie, oder Bertram hatte eine Standrede gekriegt wegen schlechten Betragens. Lela wollte sich nicht weiter berühren lassen und löffelte stillvergnügt ihre Suppe. Es schmeckte heute himmlisch. Lela hatte Hunger. Da sonst niemand Appetit zu haben schien, erregte ihre Eßlust Staunen und erschien fast wie eine Ungehörigkeit. Aber ihr war heute einfach alles gleich. In einer Stunde war sie bei Mutter Inge, und dann war ja doch alles gut. Was sie wohl sagen würde zu der Dame Hyazinthe? Ob sie ihr gefallen würde? Ob sie daran sehen würde, wieviel und was Lela alles für sie tun möchte, wenn sie nur könnte? Und was sie ihr alles schenken würde, wenn sie einmal groß war. – Man rückte die Stühle vom Tisch, und Lela hatte schon den Türgriff in der Hand, als Papa, auf einen bedeutungsvollen Blick von Fräulein von Helling, Lela zurückrief. Er mußte sich räuspern. Seine Stimme war belegt. Bertram drückte sich, und Helling segelte hinaus.

»Ja, Papa?«

Papa wischte sich den Mund mit der Serviette ab und kaute an einem Stückchen gerösteten Brotes. Er sah Lela nicht an, sondern fragte sie:

»Wo rennst du denn schon wieder hin? Kannst du denn nicht mal ein bißchen bei deinem Vater bleiben?«

Erschrocken setzte sich Lela ihm gegenüber an den Tisch.

»Doch Papa, aber ich dachte, Helling ...«

»Ach, Helling ...«, kam es wegwerfend von drüben. Und dann, sich verbessernd: »Nee, Fräulein von Helling hat heute keine Zeit, und ich habe mit dir zu reden.«

Lela erschrak im Innersten. Eine Vorahnung erfüllte sie. Jetzt, jetzt kam irgend etwas auf sie zu! Was nur ...?

Sie brauchte nicht lange zu warten, Meinhardis hatte sich schon alles überlegt. Und wie auswendig gelernt, kam es heraus: »Also, das geht nicht so weiter, mein Kind. Du bist ja ganz verwildert. Mir ist da allerhand zu Ohren gekommen, was mir nicht gefällt, und es ist meine Pflicht als Vater, dich darauf aufmerksam zu machen, daß dein Betragen unerhört ist. Keineswegs das einer jungen Dame, du setzest deinen Ruf aufs Spiel mit deinem Benehmen.«

Lela fühlte heiß: Helling, das war Helling – das sprach gar nicht Papa, das war Tante Luise, das war ...

»Deine Tanten, die dich liebhaben, und Fräulein von Helling, die dein Bestes will, haben beschlossen, daß du in eine Pension geschickt wirst.«

»Ich, Papa?« Nur ein Wahnsinnsgedanke: Nicht jetzt, jetzt nicht, bitte, bitte! Vor einigen Tagen wäre es ihr noch einerlei gewesen – aber nicht jetzt, nicht weg von Mutter Inge!

»Na ja, Gott, Kind, sieh mich nicht so an, das ist doch nicht so schlimm. Deine Mutter war ja auch in so einer Pension, und die meisten Mädels kommen mal weg von zu Hause. Wir haben an Hochdorf gedacht. Das soll da ganz nett sein, und du bist in der Nähe von Tante Irene, die paßt dann ein bißchen mit auf.«

Lela riß sich zusammen: »Papa?«

»Ja, mein Kind?«

»Bitte, bitte, lieber Papa – bitte nicht jetzt!« Mehr konnte sie nicht herausbringen.

Meinhardis lächelte ein wenig. Da hatte er ja den Beweis, die Helling schien recht zu haben, das Mädel war entschieden verliebt. Beruhigend legte er seine Hand auf die des Kindes.

»Na, es ist doch ganz egal, wann? Warum nicht jetzt? Dann hast du den Anfang hinter dir, und die Sache ist erledigt.«

»Bitte, Papa, ich kann jetzt nicht weg von hier, du weißt nicht ...«

»Doch Lela, Kind, ich weiß. Der Fritz Lennartz hat meiner Tochter den Kopf verdreht. Aber ich lasse mir mein Kind nicht plötzlich verrückt machen von so 'nem dummen Jungen.«

Lela sah ihren Vater sprachlos an. Sie schüttelte ernst den Kopf, und ganz fest antwortete sie:

»Nein Papa, es ist nicht wegen Fritz – es ist wegen seiner Mama.«

Meinhardis brach in ein schallendes Gelächter aus. Er stand auf, packte Lela um die Schultern, und noch immer lachend, sagte er: »Ach, du bist ja großartig! Mädel, bist du mir ähnlich! Eine Ausrede hat sie gleich bei der Hand! Nee, bloß nicht ins Bockshorn jagen lassen! – Kind, du machst mir Spaß! Aber, weißt du, eins mußt du noch lernen. Wenn du dich 'rausreden willst, mußt du das besser machen. So fällt keiner drauf 'rein.«

Lela war stumm wieder auf den Stuhl gefallen, von dem sie der Vater in seiner Begeisterung in die Höhe gerissen hatte. Jetzt ging er um den Tisch herum, schenkte Lela einen Schluck Wein ein, schob ihr das Glas hin: »Da, stoß mal mit mir an!«

Lela tat ihm mechanisch Bescheid.

»So, und nun geh zu Helling. Ihr müßt da wohl noch allerhand besprechen, vielleicht brauchst du noch was zur Reise.«

Jetzt mußte schnell etwas geschehen. Und Lela faßte sich ein Herz.

»Papa, ich muß aber weg heute – ich, ich bin eingeladen.«

Meinhardis sah zum Fenster hinaus.

»Soso – wo denn?«

»Bei Frau Lennartz.«

»Nee, mein Kind, damit ist nun Schluß, da gehst du mir nicht erst hin.«

»Aber ich habe es doch versprochen.«

»Na ja, dann schicken wir eben die Minna hin, und ich schreibe ein paar höfliche Worte und entschuldige dich.« Energisch sprang Meinhardis auf.

Wie er in Lelas Gesicht sah, die sich nun auch gleichsam todmüde erhob, grau im Gesicht, wie plötzlich alt geworden, erschrak er. Schallend schlug er ihr auf die Schulter.

»Na, Kindchen, was denn! Das geht alles wieder vorbei! Paß mal auf, wenn du erst in Hochdorf bist, dann hast du das alles vergessen!«

An der Tür kehrte er nochmals um. Es war ihm ein Gedanke gekommen.

»Du«, sagte er und sah sie ernst an, »mach mir keine Dummheiten! Versprich mir, daß du dich gut benimmst. Stubenarrest. Ausgehen nur mit Helling. Verstanden?«

Tonlos kam die Antwort von drüben: »Ja, Papa.«


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