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Tangenten

 

Idole

Reinheit

Klarheit

Helligkeit

Ordnung

Stille

 

Rechtfertigung

Ich habe mehr Verse unterdrückt als geschrieben.

 

Ideal

Es muß Harmonien geben, die wir während unseres ganzen Lebens nicht zu hören vermögen, weil ununterbrochen andere Geräusche vorhanden sind, die sie übertönen.

 

Korrespondenzen

Klug und böse,
dumm und gut,
weise und gütig.

 

Formalismus

Man schelte nicht die Formalisten! Der Geist an sich ist unfaßbar, nicht apparent. Seine Anschauung geschieht nur durch die Form, die er sich bildet.

Je vollkommener die Form, desto vollkommener die Erscheinung des Geistes.

Eine Form, die sich als hohl erweist, spricht nichts dagegen.

Das wäre, als wollte man eine ausgetrocknete Muschelschale, die auf dem Strand liegt, mit einer im Wasser lebenden Qualle vergleichen.

 

Kunst und Künstler

Zuweilen zeigt sich die Materie der Harmlosigkeit gnädig gesinnt.

 

Kreuzweg

Heute muß der Dichter, um das Gesetzhafte, um die Leistung des autonomen Kunstwerks zu erreichen, erst durch das Chaos alles Gesetzlosen und durch das Labyrinth seines Ichs hindurchgegangen sein.

Kein Zeitstil, der hilft. Es geht um den absoluten Stil.

Der Wille zur Leistung ist der leitende Faden. Viele verlieren ihn, bleiben im Sonderbar-Persönlichen stecken.

Dennoch: der Weg geht von der verworren aufgeregten Vielfalt zur stillen Einfalt, zur Gestaltung des Überzeitlich-Außerräumlichen: des ewig Seienden.

Eine Kunst, die nichts den Zufälligkeiten ihrer Zeit verdankt.

 

Geliebte Umrisslinien

Delphine, Fische, Puttenflügel, Leier, Gitarre, Notenschlüssel, Lorbeer, Buchstaben.

 

Ave Poeta

Der Künstler gilt heute bei seiner Familie und beim Durchschnitt seiner Zeitgenossen als unnütz oder als verworfen oder im besten Fall als lächerlich, weil seine zeitliche Erscheinung, die infolge ihrer höheren Bestimmung über diese Zeit hinauszielt, ja sich geradezu gegen sie wendet, sofern diese geistlos ist, notwendigerweise »negativ« wirkt.

Unbekümmertsein um die herkömmliche Moral. Verachtung aller Kompromisse. Ablehnung des fundamentalen bürgerlichen Daseinsprinzips: gagner sa vie.

Künstler sind heute die einzigen Menschen, die noch mit Bewußtsein Menschen sind. Bei ihnen allein ist das Leben noch etwas Angeschautes und etwas Mitgetanes: ein im höheren Sinne gemeintes Spiel.

 

(–)

Man muß arm sein können, ohne den Reichtum zu schmähen. Er ist und bleibt bewunderungswürdig.

 

Cave!

Leben ein Positivum?

Wenn ja, dann darf das Leiden keinen geistigen Wert erhalten. Unmöglich, daß ein Künstler – sicherlich derjenige Mensch, der am meisten leidet – das Leiden anerkennt. Leiden als Selbstzweck ist die gründlichste aller Verneinungen der Schöpfung.

 

Menschliche Bewährung

Auch vom Schmerz zerschlagen muß die Seele noch Bauwerk genug sein, um eine andere, die Unterkunft sucht, beherbergen zu können.

 

Beispiel

Auf der anderen Seite aber müssen wir werden wie die Tiere. Sie erwecken den Eindruck, als ertrügen sie den Schmerz so rasch als möglich, nur um bald wieder in die schöne Ausgeglichenheit ihres Daseins zurückkehren zu können.

 

(–)

Um die Stille zu kosten, muß man im Besitz eines Gehörs sein, das noch empfindlicher ist als ein musikalisches.

 

Sei eingedenk!

Selbst das göttlichste Standbild besteht aus einem simplen Stück Metall oder einem Brocken Stein. Und die erhabenste Musik dringt nicht zu unserer Seele, ohne nicht die Nervenstränge des Gehörs passiert zu haben.

Wir leben nur dadurch, daß wir nicht ganz Geist sind.

 

Maßstab

Die genaueste Auskunft über unsere Persönlichkeit gibt uns die Wirklichkeit der Dinge. Vor diese unumwundene Form des Daseins gestellt, vor dieser Klarheit erkennen wir jeweils die Mängel unseres geistigen Konturs.

 

Für Arbeitstiere

Wahrer Genuß ist kein Sich-Gehen-Lassen, kein Sich-Erholen, – wahnsinnige Behauptung, durch die Beschäftigung mit dem Schönen sich erholen zu wollen! – sondern Anspannung der Kräfte, gesteigertes Leben, zuhöchst gesteigertes!

 

Ausweg

Bei der Entwertung des Menschen und der menschlichen Arbeit, wodurch unsere Zeit ausgezeichnet ist, besitzt das Ethos des praktischen Lebens keine Wirklichkeit mehr. Bleibt also dem Bewußt-Lebenden nur noch das Spiel, die Kunst.

 

Falscher Stolz

Familien-feindlich, – religionslos: – ich bin es, suche aber, untröstlich darüber, es vor mir selbst zu verbergen.

Wie kann es Leute geben, die, behaftet mit diesen Mängeln, um die der geistige Mensch sich seine Unabhängigkeit teuer genug erkauft, sich eine Ehre aus ihnen machen und damit prahlen!

 

Anspruch

Das eigentliche Leben fängt dort an, wo das Leben der meisten Menschen endet: bei der Sicherung der materiellen Existenz.

Für ein geistiges Leben ist diese Sicherung die conditio sine qua non. Gelderwerb verdirbt den Geist.

Maßstab:

Ich schätze eine Person nicht nach dem, was sie tut, sondern nach dem, was sie ist.

 

Denkende

Von einem individuell verschieden bestimmten Alter ab hören die meisten Leute auf zu denken.

Man stelle beliebig einige Vierzigjährige zusammen. Es wird sich zeigen, daß der eine mit achtzehn, der andere mit neunzehn, ein dritter, ein Handelsmann, gar schon mit vierzehn Jahren zu denken aufgehört hat. Ein anderer vielleicht erst mit zweiundzwanzig, vierundzwanzig. Dies ist dann ein Vertreter der Bildung.

Mit jenen in einem bestimmten Alter gewonnenen Begriffen über Leben, Liebe, Geist und Kunst behelfen sich diese Leute über die ganze Dauer ihres Daseins hinweg. Sie sammeln nur noch Erfahrungen, die in diese festgelegten Schemata passen.

Selten einer, für den Leben und Denken identisch sind, für den das eine ebenso ständig im Fluß ist wie das andere.

 

Distinguendum est

Charakterstärke hat ihre häufige Ursache in einer Trägheit des Herzens oder in einer Beschränktheit des Geistes.

 

Vergeblich

Es gibt Begriffe, denen alles Menschlich-Persönliche geopfert wird, ohne daß sie dadurch konkreter würden ... Ströme von Blut fließen für sie: – sie bleiben blutleer.

 

Verdächtig

Da sind Leute, die, weil sie zu unfähig oder zu träge sind, um die eingeborene Vernunft zu gebrauchen, sich als Pflichtmenschen ausgeben.

 

Indicium der Verrohung

Noch im 18. Jahrhundert hatte die Kirche und die Gesellschaft ein sicheres Gefühl für die Schamlosigkeit des Schauspielers, der durch sein Tun die Empfindungen des Menschlichen an den Pranger stellt, prostituiert, und sei es auch auf die Art einer heiligen Tempelprostitution, und durch diese Prostitution seinen Lebensunterhalt gewinnt.

Die geistige Existenz des Schauspielers liegt nun einmal im Fragwürdigen. Die Feinfühligkeit dafür ging verloren, und zwar hat ihr Verlust in demselben Augenblick eingesetzt, als man begann, die Schauspielerei unter die »ehrlichen« Berufe einzureihen, ein Verlust, der noch einen anderen zur Folge hatte, nämlich den eines raffinierten Genusses, der entsteht, wenn man sich des Dualismus bewußt wird, den der Schauspieler verkörpert: einerseits die sinnliche Wirklichkeit seiner körperlichen Erscheinung, anderseits die Unwirklichkeit seiner jeweiligen Rolle.

Aber man sucht ja heute im Schauspieler keine Manifestation, sondern Illusion, – im Schauspiel kein Spiel, sondern Ersatz für Wirklichkeit.

 

Berichtigung

Der Gegensatz zu dem Aktivum Geist ist nicht das Passivum Ungeist, sondern ein Aktivum von der gleichen Stärke: der Antigeist.

 

Umsonst

Sokrates hatte gut leben mit seiner Menschenliebe.

Wie aber, wenn einem schon mit achtzehn Jahren das grundlegende Erlebnis von der halsstarrigen Dummheit der Menschen zuteil geworden ist?

Sokrates: Wer das Rechte weiß, tut auch das Rechte.

Die meisten aber von den wenigen, die es wissen, verharren aus Trägheit im Zustand des Falschen. Die Unverbindlichkeit der Wahrheit ist eines der hervorstechenden Kennzeichen unserer Zeit. Wenn noch etwas als verbindlich gilt, so sind es die Konventionen des Falschen.

 

Schlechte Zeiten

Schlechte Zeit für Zwerge. Sie fristen ihr Leben als Clowns in Zirkussen, die früher als Hofnarren dienten oder als geheime Seelen in den mechanischen homunculi des 18. Jahrhunderts.

 

Bürgerliche Gebärde

Erzürnt geriet sie in eine wütende Erregung derart, daß sie nacheinander zwei Teller ergriff und sie mit Nachdruck auf dem Boden zerschmetterte.

Welche Umsicht! Es waren die beiden einzigen aus billigem Porzellan, während sonst der Tisch mit Sèvres gedeckt war.

 

Lauheit?

Ich glaube (mit aller nötigen Vorsicht), daß es mir möglich ist zu lieben. Nie aber vermag ich Haß zu empfinden. Sollte ein Objekt eigentlich Haß in mir erregen, so erscheint es mir augenblicklich im Lichte einer unwiderstehlichen Lächerlichkeit und erregt so nichts als meinen Spott.

 

Der neue Diogenes

Man führte einen Wilden, den Häuptling eines noch unbezwungenen Stammes, aus den unzugänglichsten Gegenden der Erde, um ihn einzuschüchtern, auf einen Turm, den man so hoch gebaut hatte, daß es möglich war, die ganze Größe unserer Zeit, unserer Kultur und unserer Technik zu überblicken.

Der Wilde tat es mit ruhigem Auge. Nichts an ihm ließ auf die abergläubische Furcht schließen, die man diesen Leuten gemeinhin nachsagt. Enttäuscht kehrte man um.

Doch als man eben die Kabine des Aufzugs betreten wollte, um wieder an den Fuß des Turmes hinabzugelangen (infolge der ungeheuren Höhe hatte man auf das Anbringen einer Treppe verzichten müssen), sprach der Wilde:

»Laßt mich ein Mensch sein!« und stürzte sich durch eine Luke in die Tiefe.

 

Komponenten

Zwei Wirkungsmöglichkeiten des Eros: die eine innerhalb des Menschlichen, die andere innerhalb des Geistigen. Die eine scheint die andere auszuschließen. Jedenfalls besteht beim Künstler zeitlich die eine regelmäßig auf Kosten der anderen. Im Falle der Produktivität sieht er sich unfähig zu menschlichen Beziehungen und ebenso umgekehrt. Menschliche Tragik des Künstlers. Zu bedenken ist, daß selbst eine vergeistigte Liebe immer noch Gefühl, somit immer noch Genuß ist (passiv), und daß anderseits selbst die sinnlichste Kunst immer noch geistige Leistung bedeutet (aktiv).

 

Bescheidung

Zwischen Mann und Frau liegt – und sei dies auch nur die Möglichkeit des einen oder anderen Todes – eine unüberbrückbare Kluft. Deshalb ist dem Absoluten einer völligen Vereinigung die Relativität wiederholter und immer neuer Annäherungen vorzuziehen.

Entweder – oder! Trennung oder Vereinigung! Der Mittelweg ist bei aller Relativität das Erfüllendere.

Wenn zwischen dem Erstrebten und dem Erreichten eine Distanz bleibt, so müssen wir uns in Demut damit abfinden. Der jeweils übrigbleibende Zwischenraum entspricht der Größe der Trauer des einzelnen Lebens.

 

Offenheit

Unabhängig von der Liebe existiert ein sinnlicher Trieb als menschliches Bedürfnis wie Durst und Schlaf.

Ihn anzuerkennen ist weniger schamlos als ihn mit dem Liebesgefühl zu identifizieren.

 

Entschuldigung

Ich ergebe mich nur dann der Ausschweifung, wenn mich der gute Geist verläßt.

Meine Ausschweifung zerstört nie eine vorhandene Fülle. Sie sucht nur eine peinvolle unerträgliche Leere zu ersetzen.

 

Gottesbegriff

Diejenigen Götter sind zu preisen, die, nicht den Anreiz von Belohnungen aussetzend, damit die Sterblichen das Rechte tun, das um seiner selbst willen geleistete Rechte (das Schöne) als von ihrer eigenen Art bewundern und die, das Tun des Unrechten nicht durch Strafen bedrohend (welch billiges Begnügen!), wenn es dennoch geschehen ist, alles aufwenden, um mittels ihrer göttlichen Kraft seine vernichtenden Wirkungen gütigst aufzuheben.


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