Ludwig Winder
Die jüdische Orgel
Ludwig Winder

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Fünftes Kapitel

Wolf Wolf, ein Diener Gottes, lag im Sterben. Einen hellen Schein sah er zu seiner Linken, das war des Weibes Haar, vor der Zeit weiß geworden, der helle Schein zur Linken war Milde und Erbarmen. Traumhaft erinnerte er sich: seit langer Zeit umwehte ihn dieser tröstliche Schein, seit vielen Tagen, vielleicht schon seit Wochen. Aber immer mußte er den Kopf abwenden, dem Dunkeln zu, das Tag und Nacht zu seiner Rechten kauerte; auch dieses Dunkle kannte er, aber nicht erst seit Tagen oder Wochen. Seit undenklichen Zeiten verfolgte ihn auf allen Wegen der unheimliche Schatten, das sprungbereite Gespenst. Wolf Wolf richtete sich auf, ihm zur Linken erhob sich eine Gestalt, flößte ihm Milch ein, kühlte ihm die Stirn. Jetzt erkannte er sie, krampfhaft hielt er ihre Hand, er hatte diese Hand immer gemieden, immer war er ihr ausgewichen, nun duldete er sie und erkannte ihre gute Macht. Aber nicht lange war ihm erlaubt, den Frieden von Lottes Hand entgegenzunehmen; den 125 Sohn mußte er anblicken, den unbeweglich hingekauerten Sohn zu seiner Rechten. Nun sah er: auch der Sohn wollte ihm die Hand reichen, der Sohn stand auf und wollte ihn berühren. Angstvoll starrte der Kranke den Sohn an, jetzt stand der Sohn über ihn gebeugt, jetzt erhob der Sohn den Arm und warf Bücher auf das Bett, schwere Gebetbücher, den Talmud, die fünf Bücher Moses, ein Bücherberg begrub das Bett, drohend stand der Sohn über dem Berg und streckte die Zunge heraus, aber es war keine Menschenzunge, es war ein Stück Schinken, rosig und langgestreckt wie eine Menschenzunge. Zum erstenmal roch der Sterbende das seit Moses verbotene Fleisch. Mühsam wandte er sich ab, haschte nach Lottes Hand, nun war der Spuk verschwunden und der Kranke erkannte alles. »Er soll weggehn«, flüsterte er. Der Sohn verließ das Zimmer.

Das war das Sterben Wolf Wolfs, erst dem Toten durfte der Sohn die Hand reichen. Zu viel hatte er gebeichtet, so viel konnte Wolf nicht verzeihen, noch im Tode war Groll und Entsetzen in seinem 126 Gesicht. Die Gemeinde kam herangewackelt, der Kultusvorstand Blum stand mit wichtigem Gesicht im Totenzimmer, Fleischhändler, Pferdehändler, Lederhändler, Getreidehändler gaben der Mutter Trost, drückten dem Sohn die Hand, murmelten Gebete. Am dritten Tag bestatteten sie den Toten, ein Ehrengrab gaben sie ihm, »ein frommer Mann war er«, sagten sie am offenen Grab, aber sie dachten nicht mehr an den Toten; über den Sohn dachten sie nach. Was für ein Mensch ist das, dachten sie, aussehn tut er wie ein Verbrecher.

Im Sterbezimmer saß Albert nach jüdischem Brauch »Schiwwe«, Trauer auf der Trauerbank, alle Gedanken wollte er dem Toten weihen; es ging nicht. In der Judengasse traten Menschen, die er nicht kannte, auf ihn zu und fragten: »Wie lange bleiben Sie noch hier?« Alle stellten diese Frage, in die Felder lief er, um ihr zu entgehen. Er wußte nichts, nichts, er fühlte, sie wollten ihn vertreiben, alle waren ihm feind, alle hatten von seinem sündigen Leben, von seinen Verfehlungen und von seinem Zusammenbruch gehört, alle wußten alles, es war 127 unerträglich. »Morgen reise ich ab«, sagte er zur Mutter. »Wohin?«, fragte sie. »Ich weiß nicht; vielleicht nach Amerika.« Sie erschrak: »Geh nicht nach Amerika, nur ganz verkommene Menschen gehn nach Amerika, die Abgestraften, die Zuchthäusler gehn nach Amerika, denk' nach, vielleicht wird sich hier etwas finden für dich, vielleicht kannst du noch zu Ende studieren, zu alt ist man nie.« »Gut,« sagte er, »ein paar Tage will ich noch bleiben.«

Der Kultusvorstand Blum holte ihn ab, schleppte ihn in das Vorstandshaus in die Privatwohnung, setzte ihm Wein vor und trank selbst, wohlwollend und sensationslüstern. Vorsichtig tastete er sich mit vielen Fragen heran, alles wollte er wissen, endlich platzte er heraus: »Nu, Sie haben doch auf Rabbiner studiert? Wann werden Sie fertig? Sie sind doch schon unberufen ein ausgewachsener Mann?« »Ich werde nicht Rabbiner«, sagte Albert und wollte aufstehen; der alte Müßiggänger wollte ihn nur quälen, jeder Mensch im ganzen Ort wußte alles, nun wollten sie ihren Spott treiben. »Bleiben Sie sitzen« – der Kultusvorstand goß ihm noch 128 ein Glas Wein ein – »mit mir kann man reden, mit mir können Sie sich ausschmusen, ich hab' keine andern Sorgen, es soll mir ein Vergnügen sein, wenn ich Ihnen helfen kann.« Albert schwieg. »Nicht – nicht!« sagte der Alte, dann besann er sich und lächelte pfiffig und sagte: »Vielleicht werden Sie sich mit meiner Nichte besser unterhalten, Sie kennen sie doch noch, die Malvin Spitzkopf, Sie sind doch mit ihr in die Schule gegangen, oder war sie etwas älter?« Er ging hinaus und kam mit Malvine Spitzkopf zurück.

»Guten Tag, mein herzliches Beileid«, sagte sie. »Ich danke Ihnen«, sagte er beklommen und betrachtete das Mädchen, die häßliche Hopfenstange, einen Zwicker trug sie auf der lächerlich dünnen langen Nase, ein dünner Mund lächelte süßlich, zwei Zähne stolperten wie Betrunkene über die andern Zähne und hielten sich krampfhaft am Unterkiefer fest. »Was heißt das, ihr werd'ts euch doch nicht Sie sagen, das wär' noch schöner, alte Schulkollegen«, lächelte der Kultusvorstand. Auch Malvine mußte Wein trinken, erst nach zwei Stunden durfte Albert 129 gehen. »Kommen Sie bald wieder, kommen Sie jeden Tag, Sie sind immer gern gesehen«, rief der Alte ihm nach.

Am Samstag kam der Kultusvorstand wieder, hielt Albert an zwei Rockknöpfen fest: »Sie müssen in den Tempel gehn, die Leute erwarten das von einem Rabbinatskandidaten,« sagte er, »seit Ihr seliger Vater tot ist, singt der Prerauer Oberkantor bei uns, Sie kennen ihn doch, kommen Sie sich ihn anhören. Brüllen tut er noch immer wie ein Stier.« Albert ging in den Tempel, der Prerauer Oberkantor sang und brüllte, dort war der Vater gestanden Tag für Tag, des Vaters verhaßte Stimme hatte dort Gott gedient, hatte dort geherrscht. nun stand der Prerauer Oberkantor dort, benommen horchte Albert, ein Bett knarrte, in seinem Knabenbett lag er und horchte entsetzt, endlich ermannte er sich und verließ den Tempel. Blum rannte ihm nach: »Gehn Sie zurück in den Tempel, Sie müssen das Totengebet sagen! Jeder jüdische Sohn muß Kaddisch sagen! Stoßen Sie nicht die Leute vor den Kopf!« Albert kehrte in den Tempel zurück, die 130 Gemeinde sprach mit ihm das Totengebet, alle Blicke fühlte er auf sich gerichtet, man war mit ihm unzufrieden, hundert Feinde starrten ihn an. Nur der Prerauer Oberkantor winkte ihm verstohlen zu und der Kultusvorstand lächelte zufrieden, er hatte die Situation gerettet. Nach dem Gottesdienst wich er nicht von Alberts Seite: »Dreimal täglich müssen Sie in den Tempel gehn Kaddisch sagen, sonst beschmutzen Sie das Andenken Ihres Vaters, Sie müssen sich ja nichts dabei denken, ich bin ja auch nicht fromm, unter uns gesagt, ich bin genau so ein Freigeist wie Sie, aber man muß es den Leuten nicht zeigen. Es kostet ja nichts, und wer weiß, wozu es gut ist.« »Ich bin kein Freigeist, ich glaube an Gott«, erwiderte Albert. »Mir müssen Sie doch nichts erzählen,« fiel der Alte ein, »was brauchen Sie mir vorzumachen? Ich sag' Ihnen doch, daß ich ein Freigeist bin, ich bin doch nur zum Zeitvertreib Kultusvorstand. Gewählt hat man mich, weil ich reich bin, nicht weil ich fromm bin. Man spielt den Leuten die Komödie vor und hat Ruh', merken Sie sich das.« 131

Dreimal täglich sagte Albert Kaddisch, wie zur Folterung ging er in den Tempel, Mißtrauen, stechende Blicke ringsum. Du Lump, du Gottesleugner, du verworfener Mensch, sagten diese Blicke; sogar die bezahlten Schnorrer, die zum Morgengottesdienst erschienen, zeigten ihre Verachtung. In einer schlaflosen Nacht ging ihm das Verständnis für diese Folterzeit auf. So mußte es kommen, so war es gerecht, so war es gut, jede Strafe wollte er erleiden, dies war eine von den vielen Strafen, um die er Gott angefleht hatte. Ein böser Rückfall war der Hochmut der letzten Tage gewesen, nun erst wußte er es. Nicht mehr wartete er das Mahnwort des Kultusvorstands ab: um halb sechs Uhr morgens stand er schon vor der Tempeltür, als erster betrat er den Tempel, als erster begann er zu beten, staunend sah es die Gemeinde, sensationslüstern sah sie, wie er sich anklagte, wie er die Hände rang, wie er rang um den Segen Gottes. Keinen zehnten Mann mußte man mehr suchen, um »Minje« zu haben, die vorgeschriebene Zehnzahl der Beter, als erster kam Albert und als letzter ging er – 132 der Tempeldiener mußte ihn gewaltsam entfernen. Der Kultusvorstand rieb sich die Hände. Er glaubte, ihm gebühre das Verdienst dieser Wandlung, gern wäre er von Mann zu Mann gegangen, um sich mit seinem Erfolg zu brüsten; aber das wäre unklug gewesen, das hätte seine Pläne gestört. Sorgfältig erwog er seine Pläne, sehr lange verglich er das Für und Wider, endlich war sein Entschluß gefaßt, diplomatisch begann er den Feldzug.

Er ging zur Witwe Wolf und schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn und sagte: »Bös, bös steht es mit Ihrem Sohn, schad um den jungen Menschen.« Dann legte er den Zeigefinger und Daumen ans Kinn und dachte nach und murmelte: »Und doch und doch möcht' ich ihm gern helfen; wenn er auch ein Lump gewesen ist, vielleicht kann noch ein anständiger Mensch aus ihm werden.« Lotte ergriff seinen Arm und jammerte: »Rabbiner könnt' er schon sein, durch ein schlechtes Frauenzimmer ist er auf Abwege geraten, aber schlecht ist er nicht, nur sehr unglücklich ist er. Er muß einem leid tun, sagen Sie selbst.« Blum sagte gar nichts und ging. 133

Am nächsten Tag kam er wieder zur Witwe Wolf und sagte: »Es wäre ihm vielleicht zu helfen, man sieht ja, daß er bereut und daß er fromm geworden ist und daß er guten Willen hat; aber er allein ist zu schwach. Jemand müßte ihm helfen. Und dieser Jemand kann ich nicht sein und können Sie nicht sein, wenn Sie auch die Mutter sind: helfen kann ihm nur eine anständige brave Frau, die ihn nimmt und die ihn gern hat.«

Keine Geriebene und Durchtriebene war Lotte, keine Ahnung hatte sie, wohin Blum mit seinen Reden wollte. »Auf was hinauf soll er eine solche Frau bekommen, welche wird ihn nehmen, er kann nichts, er hat nichts, er ist nichts«, sagte sie bekümmert. Da lachte der Kultusvorstand: »Er kann nichts und er hat nichts und er ist nichts, das stimmt alles, und doch wird sich eine finden. Und wenn er will, geb' ich ihm meine eigene Nichte.«

Triumphierend blickte er der Witwe ins Gesicht. Jetzt wird sie mir vor Freude um den Hals fallen, dachte er. Sie rührte sich aber nicht und blickte bekümmert auf ihre Hände nieder und dachte an 134 die häßliche Hopfenstange mit dem Zwicker auf der lächerlich dünnen langen Nase. Daß ihr unglücklicher Sohn sich an das häßlichste Mädchen der ganzen Gemeinde klammern müsse und sich noch eine Ehre daraus machen solle: das lähmte sie. Andrerseits aber war das Mädchen gut erzogen und die Nichte des Kultusvorstands und unbescholten. In solchem Zwiespalt saß die Witwe und wollte sich einen Entschluß abringen, endlich fiel ihr etwas ein: »Und wenn der Schiddach schon zusammenginge, wovon sollen die jungen Leute leben, wenn er nichts verdient? Von der Mitgift vielleicht?« »Das nicht,« sagte Blum, »eine Mitgift hat meine Nichte vorderhand nicht, aber ich verschaffe Ihrem Sohn einen guten Posten, damit er heiraten kann.« Staunend hörte die Witwe, der Sohn solle den Posten des Vaters bekleiden; es werde zwar Schwierigkeiten geben, aber was Blum wolle, das setze Blum durch, das wisse jeder Mensch und jedes Vieh in der ganzen Gemeinde.

Blum ging von Mann zu Mann und begann unauffällig ein Gespräch über Albert. Die Männer 135 sagten: »Ein verkommener Mensch nach allem, was man von ihm hört.« Andere sagten: »Viel muß der auf dem Gewissen haben, ich möcht' nicht in seiner Haut stecken.« Andere sagten: »Albert Wolf? Zehn Schritt vom Leib!« Die Gutmütigsten aber sagten: »Dem Mann ist nicht zu helfen, das seht man ihm an.« Blum hörte zu und schüttelte mißbilligend den Kopf: »Sie kennen ihn nicht, ich aber hab' mit ihm gesprochen heute und gestern und jeden Tag, der junge Mann ist ein Gelehrter, eine Prüfung fehlt ihm nur noch zum Rabbiner, fromm ist er wie sein Vater, Sie sehn doch, den ganzen Tag tut er nichts als beten und studieren. Wenn er sich entschließen könnte, den Posten nach seinem Vater zu übernehmen, das wäre ein Glück für die Gemeinde; aber er wird nicht wollen. Er kann werden Oberrabbiner in Wien. Vielleicht aber gelingt es mir doch, ihn für die Gemeinde zu gewinnen.« Manche sagten: »Das ist ja alles möglich, ich kenn' ihn ja nicht, ich weiß nur, was man so redt«, und manche sagten: »Wenn Sie meinen – ich hab' nichts dagegen!« Niemand wagte 136 Widerspruch, denn die halbe Gemeinde war dem Kultusvorstand Geld schuldig. Die meisten aber wußten, was Blum bezweckte, denn sie sahen jeden Tag Albert mit Malvine Spitzkopf auf der Gasse.

Albert wußte weniger als die andern. Die Mutter verschwieg ihm Blums Pläne, sie wollte die Entscheidung hinausschieben, solange es ging. Albert sprach wenig mit ihr. Die Zeit, die er nicht im Tempel zubringen konnte, war nicht wert, ausgefüllt zu werden. Nichts wollte er, nur im Tempel sitzen und den Hohn, Haß, Spott der Gemeinde fühlen. Er merkte nicht den Umschwung, der sich vorbereitete, er saß in seinen Gebetmantel gehüllt und fühlte: alle Gerechten verfluchen mich, alle Gerechten hassen mich, Gerechtigkeit wird mir endlich zuteil.

Malvine besprach jeden Tag den Heiratsplan mit ihrem Onkel. Der junge Mann gefiel ihr, er war aber schwerfällig, man konnte kaum ein Wort mit ihm reden, er ließ sich von seinen Gedanken nicht losreißen, er ließ Malvine reden und antwortete Ja oder Nein oder Vielleicht. Die Hoffnung auf eine intime Aussprache blieb gering. »Hast du zehn 137 Jahre auf einen Mann gewartet, wirst du noch ein halbes Jahr warten,« sagte Blum, »du versäumst nichts, er entgeht dir nicht, laß mich nur machen.« »Aber er sieht mich gar nicht,« warf Malvine ein, »er weiß gar nicht, mit wem er geht; ich kann ihn doch nicht zwingen, mich anzuschauen und mit mir intim zu werden.« »Das kannst du nicht,« sagte Blum, »aber du kannst etwas andres, du kannst versuchen, von hintenherum in seine Gedanken einzudringen. Der junge Mann ist unglücklich, du darfst ihn nicht mit dummem Geschwätz abschrecken, du darfst ihm nicht Sachen erzählen, für die er keinen Sinn hat, sondern du mußt auf seinen Ton eingehn und ihm zeigen, daß du für einen unglücklichen Menschen Verständnis hast. Am besten wird es sein, wenn du ihm erzählst, daß du auch unglücklich bist, dann wird er dich vielleicht bemitleiden und wird sich für dich interessieren und wird meinen, du bist eine verwandte Seele.«

Das war ein guter Rat. Malvine erzählte Albert, sie habe nie Liebe erfahren und nie ein gutes Wort vernommen; der Onkel sei zwar ein braver Mensch, 138 aber mit dummen Weibern gebe er sich nicht ab – einen andern Menschen habe sie nie gekannt, seit ihrer Kindheit sei sie verwaist. Niemand könne sich eine Vorstellung von ihrem traurigen Leben machen. Diese Reden rüttelten Albert auf; er fühlte sich verpflichtet, an des Mädchens Unglück teilzunehmen. Es war egoistisch, immer nur über das eigene Elend nachzugrübeln. Eine Gelegenheit sah er, eine gute Tat zu tun, einem armen Menschen Trost zu geben, diese Gelegenheit durfte er sich nicht entgehen lassen. Nun konnte Malvine beginnen, deutlicher zu werden, an diesem Tag erst sah er, daß sie ein Weib war, er sah die häßliche Hopfenstange, einen Zwicker trug sie auf der lächerlich dünnen langen Nase, ihr dünner Mund lächelte süßlich, zwei Zähne stolperten wie Betrunkene über die andern Zähne und hielten sich krampfhaft am Unterkiefer fest. Und er verglich sie mit Etelka und mit allen andern Frauen, die er kannte. Er sah, daß sie häßlicher als alle war; und er beschloß, sie zu lieben, sie, die so häßlich war, daß niemand sie lieben konnte. Gott selbst hat sie auf meinen Weg gestellt, dachte er, um meine 139 Wandlung zu erproben. Gott hat sie so häßlich gemacht, damit ich vor ihm und vor allen Menschen meine Reue bezeugen könne.

Der Kultusvorstand rieb sich die Hände und berief eine Sitzung der Gemeinderäte ein und klagte, der Prerauer Oberkantor sei ein Gauner, hundert Kronen berechne er für jeden Gottesdienst, die Gemeinde dürfe die Wahl des neuen Kantors nicht länger hinausschieben, und keinen Geeigneteren könne man finden als den Sohn des Verstorbenen. Man könne den Posten auch öffentlich ausschreiben, aber das koste wieder Geld und führe zu nichts, denn wer werde sich schon melden? Der Kantor von Damboritz vielleicht oder der zweite Unterkantor von Olmütz oder ein Unbekannter aus Ungarn oder Polen, von dem man nichts wüßte. Albert Wolf hingegen, ein Rabbinatskandidat aus der Gemeinde, erzogen in den Traditionen der Gemeinde, Sohn, Enkel, Urenkel berühmter Talmudisten, biete jede Gewähr dafür, daß man die Wahl nicht bereuen werde. Albert Wolf habe noch nicht zugesagt, daß er die Wahl annehme; erst wenn er einstimmig gewählt 140 wäre, hätte die Gemeinde das Recht, zu verlangen, daß er sich einer ehrenvollen Pflicht nicht entziehe.

Albert wurde einstimmig gewählt. Blum suchte ihn sofort auf und fragte: »Wie lange wollen Sie noch hier bleiben?« Vergessen hatte Albert, daß alle so gefragt hatten, mörderisch überfiel ihn nun die Frage. »Nicht mehr lange«, sagte er und bemühte sich, aufsteigenden Zorn zu unterdrücken. Er wollte nicht zornig sein, er hatte kein Recht, zornig zu sein, die Prüfungszeit hatte erst begonnen, nur ein Anfang war gemacht; er aber hatte sich vermessen, die Wollust des Märtyrertums dreimal täglich im Tempel zu genießen.

Der Kultusvorstand sah ihn kämpfen und entbrennen und fragte lauernd: »Und wohin wollen Sie? Und was wollen Sie machen? Rabbiner studieren?«

Albert antwortete nicht; dieses Schweigen war ein gutes Zeichen. Der junge Mann hing in der Luft. So sah man nicht aus, wenn man sich von einem liederlichen Frauenzimmer ernähren lassen wollte; sicherlich hatten die Leute übertrieben und 141 Verleumdungen nachgeplappert. Blum faßte Albert scharf ins Auge und sagte. »Wenn Sie wollen, können Sie in der Gemeinde bleiben und ein Amt haben und eine Familie gründen; aber nur, wenn Sie wollen.« Dann machte er eine kleine Kunstpause und setzte fort: »Über meinen Vorschlag sind Sie heute einstimmig zum Nachfolger Ihres Vaters gewählt worden. Nehmen Sie an oder nehmen Sie nicht an, ganz wie es Ihnen paßt, ich will Ihnen nichts dreinreden, von mir ist nur die Idee und der Vorschlag und der Beschluß.«

Albert sprang auf, Blum sah ihn an und sagte: »Mir scheint, Sie trifft der Schlag, regen Sie sich nicht so auf, es ist doch keine solche Sache!« »Ich komme zu Ihnen, lassen Sie mich jetzt allein«, bat Albert. Blum ging und sagte in der Tür: »Aber noch heute oder spätestens morgen, wir können nicht länger warten.«

Die Witwe ließ sich vor dem Hause alles von Blum erzählen. »Es ist doch ein Glück für ihn, warum wird er nicht wollen«, sagte er, als sie Bedenken äußerte. »Natürlich ist es ein Glück für ihn«, nickte 142 sie. Aber als sie allein war, konnte sie sich nicht recht freuen, ihr Sohn war doch zu etwas Größerem bestimmt, und wenn er auch als ein Nichts ins Elternhaus zurückgekehrt war und böse Zeiten hinter sich hatte – sie hatte nie gering von ihm gedacht und wollte auch heute noch an seine große Zukunft glauben. Am Abend beobachtete sie ihn heimlich und wollte sprechen und konnte nicht und fragte endlich: »Nun, Albertl, was ist?« Aber er hörte sie nicht und gab keine Antwort.

In der Nacht kam er zur Erkenntnis, eine neue Falle des Dämons sei dies alles. Prellen wollte ihn der Dämon um die hohe Zeit der Buße und der Reue, alles war klar. Alle Sünden zu krönen mit einem frechsten Meisterstück, wollte der Dämon ihn einsetzen in das heilige Amt; den Schuldbeladenen, den Sünder wollte der Dämon auf den Sitz des Seelenhirten setzen und zum Lehrer und Tröster der Gläubigen machen. Die Gebete der ganzen Gemeinde wollte der Dämon auf den Lippen des Verworfenen versammeln, damit Lästerung werde jedes Gebet und Hohn jedes fromme Gelübde und jede 143 Anrufung des Herrn. Prellen wollte ihn der Dämon auch um den guten Anfang der Sühne, dreimal täglich hatte ihn der Dämon im Tempel geprellt, stechende Blicke hatte der Sühnende im Tempel gefühlt, hundert Feinde hatte er gesehen, durchschaut hatte er sich geglaubt, das hatte ihn gestärkt, das hatte ihm den Mut gegeben, Gott für die verdiente Strafe zu danken und Gott um neue Strafen anzuflehen. Nun war alles Lästerung und Spott und Hohn des Dämons, niemand hatte den Sühnenden mit stechenden Blicken gestraft, niemand hatte ihn durchschaut, die verblendete Gemeinde hatte ihn einstimmig zum Seelsorger und Kantor gewählt, so groß war die Macht des Dämons.

Am Morgen ging er zum Kultusvorstand und sagte, er fühle sich außerstande, das Amt zu übernehmen; unwürdig sei er solcher Ehrung. Man möge ihm ersparen, weitere Gründe zu nennen, genug daran, daß er selbst sich aller unverzeihlichen Sünden anklagen müsse, genug daran, daß er sich glücklich fühle, im verstecktesten Winkel des Tempels sitzen zu dürfen und aus der Gemeinde der Würdigen 144 und Frommen nicht ausgestoßen zu sein. Blum hörte ihm ruhig zu und meinte dann, mindestens ein Widerspruch müsse aufgeklärt werden; vor kurzer Zeit habe Albert behauptet, er sei fromm geworden. Als Albert bei seiner Weigerung blieb, wurde Blum zornig, denn er hatte schon fest mit dem Gelingen seines Plans gerechnet und gehofft, die Mitgift zu ersparen, da ja das Amt genau so viel wert war wie eine Mitgift. Erbittert hielt er Albert vor, die Weigerung sei kindisch und undankbar; jeder andere Kandidat würde sich alle zehn Finger ablecken, und nun gar einer ohne Prüfungen. All dies verfing nicht. Schließlich ging Blum in die Küche zu seiner Nichte und stellte ihr anheim, den Versuch zu machen, den Widerspenstigen umzustimmen.

Sie setzte sich zu Albert und fragte mit weinerlicher Stimme, ob es denn wirklich wahr sei, daß er sie verlassen wolle. Da blickte er ihr ins Gesicht – das war schon ein Erfolg, denn an Blum hatte er vorbeigeblickt mit dem Blick des schlechten Gewissens. Als sie sah, daß er ihr zuhörte, sagte sie: »Nimm die Stelle an – tu's mir zuliebe!« Er sah, daß 145 es in seine Gewalt gegeben war, einen Menschen glücklich oder unglücklich zu machen und daß er die Macht hatte, ein ganzes Menschenleben durch ein einziges Wort zu retten. Und er wußte, daß sie so häßlich war, damit er vor Gott und den Menschen seine Reue bezeugen könne. Er sagte: »Ja.« Und er küßte demütig den häßlichen Mund.

Der Kultusvorstand hatte hinter der Tür gehorcht. Er trat schmunzelnd ein und umarmte »seine Kinder« und brachte Wein, sie tranken, er und Malvine waren freudig erregt, nur Albert war bedrückt, denn er wußte: viel Schweres hatte er sich in dieser Stunde auferlegt, fast Übermenschliches. Aber gerade das stärkte ihn, war doch diese Stunde das Zeichen einer neuen Kraft, die Gott ihm geschenkt hatte.

Das Mädchen saß dicht neben ihm und küßte ihn oft, unbekümmert um die listigen Augen des Onkels. Albert erschauerte in Ekel unter diesen Küssen und zwang sich, des Ekels Herr zu werden, denn er hoffte, Gott werde sich durch dieses Opfer versöhnen lassen. Er erwiderte die Küsse und trank dem 146 Kultusvorstand zu, der unbewußt aus einem Werkzeug des Dämons in ein Werkzeug göttlicher Barmherzigkeit verwandelt worden war.

In der folgenden Nacht träumte Albert von seinem Vater. Groß stand der Vater in den Wolken, ein finsteres Schattenhaupt. Wie Donner klang seine Stimme, es donnerte die Stimme: »Nicht dir räume ich meinen Platz, du sollst nicht schänden mein Werk, unwürdig bist du, mich fortzusetzen.« Der Vater verschwand und Albert saß in der hebräischen Schule und blickte zur Decke, da kroch oben ganz langsam eine riesige Spinne.

Nach diesem Traum erwachte er und konnte nicht mehr einschlafen. Nicht die Erscheinung des Vaters drückte ihn nieder, denn er hielt an des Vaters Schuld fest. Aber ein wahres Wort hatte der Vater gesprochen: Albert fühlte sich unwürdig, den Platz auszufüllen, der ihm angewiesen war. Darüber half auch der Gedanke an Malvine nicht hinweg. Er glaubte sich zwar nun der Luft Gottes näher und hoffte, ihr immer näher zu kommen, aber er wußte nicht, ob seine Kraft ausreichen werde, auch 147 das Lichte zu ertragen, das ihm noch bestimmt sein mochte.

Der Kultusvorstand ließ ihm keine Zeit. Schon am nächsten Morgen führte er ihn in das Amt ein, am nächsten Samstag hatte der neue Seelsorger die Antrittspredigt zu halten.

Um zehn Uhr morgens begann der Gottesdienst. Der Tempel war überfüllt, die Frauengalerie im ersten Stock drohte einzustürzen, wie im Theater lehnten die Leute sich zurück und erwarteten das Schauspiel. Albert betrat den Platz des Kantors, schlug das Gebetbuch auf, wollte beginnen, da versagten ihm die Knie, er mußte sich auf die Bank setzen, auf der die Thora aufgerollt werden sollte. Auf der Samtbank in Etelkas Nachtcafé sah er sich sitzen, Rauchwolkenriesen beugten sich über ihn, er schloß die Augen, wollte hinaustaumeln – da rüttelte ihn der Kultusvorstand und sagte leise: »Machen Sie keine Dummheiten, es wird schon gehn.« Albert stand auf, heller Tag war rings, ein Summen war im Saal, hämische Bemerkungen. Über das Gebetbuch gebeugt, begann er vorzubeten. 148 »Lauter, lauter!«, riefen Stimmen. »Haste Stimm' gehabt!«, rief der Tuchhändler Mandl. »Wie ä heiserer Zeisig!«, lachte der Trafikant Buxbaum. Albert richtete sich auf, sah um sich, stechende Blicke rings, hundert Feinde. Ah, das tat wohl, das war gut, besser als die vorzeitige Begnadigung. Es erhob sich Alberts Stimme, nun konnte er singen das Klagelied und das Freudenlied, nun fühlte er sich sicher. Er betrat die Kanzel und es tönte sein Wort. Er sprach von der Reinheit des Herzens und von dem Gesetz der Liebe, das jeder Mensch erfüllen müsse; auch der böseste Mensch könne, bekehrt zu diesem Gesetz, Gott versöhnen. Boshaft lachten Männer und Frauen, denn sie meinten, er denke an Malvine. Nach dem Gottesdienst kamen Besucher in Alberts Wohnung und lobten den Gesang und die Predigt, auch manche Lacher und Lacherinnen kamen und sagten Schmeicheleien. Er aber hatte das Gelächter nicht gehört, er hörte auch die Schmeicheleien nicht, die Mutter mußte für ihn antworten. Vor jeden Gast stellte sie ein Glas Wein und einen Teller mit duftendem Mandelgebäck, daran taten sich die 149 Besucher gütlich und vergaßen ihre Bosheit und schieden in Freundschaft und Wohlwollen.

Albert ging in sein Zimmer und rang mit einem Entschluß. Kein Amt gab es für ihn, und nie und nimmer dieses Amt. Im Tempel hatte er es gefühlt. Was wußte er von seinen Mitmenschen, was von ihren Sünden; nur von seiner eigenen Sünde konnte er sprechen, sie verdrängte jeden Gedanken an andere. Nur für seine eigene Seele konnte er sorgen: das durfte kein Seelsorger.

Am Nachmittag kam Blum mit Malvine, jetzt wollte er Malvine bitten, sie solle ihn ziehen lassen, auch diese Hingabe war ja nichts als Egoismus. Aber als er zum erstenmal die Mutter und Malvine an einem Tisch sitzen sah und den Spott bemerkte, mit dem die sonst Gutmütige und Milde das häßliche Mädchen behandelte, fand er zurück zu dem Entschluß, all dies Schwere auf sich zu nehmen.

Die Mutter wehrte sich im Innersten gegen den Anblick des Brautpaares; sie ahnte, daß es ein Verzweiflungsschritt war, den Albert tat. Als Blum das Glas erhob, um auf die Zukunft der jungen 150 Leute zu trinken, hob sie ohne Freude ihr Glas und ließ eine Träne des Zorns in den Wein fallen. Albert beobachtete die Mutter, ihr Hochmut erzürnte ihn; er fühlte, daß es nicht Hochmut war, das erzürnte ihn noch mehr, blanker Hochmut hätte ihn kaltgelassen. Verstohlen warf er ihr mahnende Blicke zu. Das Mädchen küßte er vielemal, obwohl es ihm widerwärtig war, vor einem Fremden Zärtlichkeiten auszutauschen. Die Küsse widerten ihn an, er empfand Ekel vor dem häßlichen Mädchenmund, aber er bezwang sich und verdoppelte seine Zärtlichkeit, um die Mutter zu belehren und um sich selbst zu strafen.

Erst nach dem Trauerjahr sollte die Hochzeit sein; ungeduldig wartete Malvine. Viel hatte sie an dem Mann auszusetzen, sie wollte ihn ändern. Manchmal zweifelte sie an seinem Verstand, das Einfachste machte ihn kopfscheu und kleinmütig, er konnte Wichtiges von Unwichtigem nicht unterscheiden. Nichts tat er, um das Vertrauen der Gemeinde zu gewinnen, die Besuche der angesehensten Leute erwiderte er nicht. Seine Predigten waren einfach 151 und ohne Glanz. Unwichtige Dinge rieben ihn auf. Das rituelle Schlachten von Geflügel, eine Handlung, die von altersher ohne Aufregung im Schlachthof vollzogen wurde, brachte ihn dem Wahnsinn nahe. Zum erstenmal hielt er ein Schlachtmesser in der Hand, das Schlachtmesser des Vaters. Seit Jahrzehnten hatte dieses Messer alle Gänse, Hühner, Tauben der Gemeinde geschlachtet, wie das rituelle Gesetz es verlangte. Die Dienstmagd des Tuchhändlers Mandl brachte eine Gans zum Schlachten und wartete ungeduldig, sie hatte keine Zeit, eine Sekunde hatte das Schlachten immer gedauert. Albert blickte auf das gebundene Tier nieder, er glaubte ein Zittern der Gans zu bemerken, er selbst zitterte, gleichzeitig warf er Tier und Messer zu Boden. Die Magd schrie: »Schnell, schnell, die Gans erstickt!« Albert winkte, sie solle gehen. Die Magd lief zu ihrer Herrin, die Frau lief zum Kultusvorstand, alle drei kamen auf den Schlachthof gelaufen. Blum schrie: »Was machen Sie wieder für Sachen! Wenn Sie nicht sofort schlachten, müssen Sie auf Ihren Posten verzichten!« Dann 152 nahm Blum die Gans in die Hand und sagte: »Sie lebt noch; jetzt aber eins zwei, sonst ist es zu spät!« Albert schloß die Augen und schlachtete die Gans. Von diesem Vorfall sprach die ganze Gemeinde. Malvine konnte ihre Wut kaum unterdrücken, sie nannte Albert unvernünftig und überspannt, eine böse Falte war senkrecht über ihre Stirn gespannt. Alle Fehler warf sie ihm vor, die er seit dem Amtsantritt begangen hatte, alles wollte sie besser wissen und besser verstehen als er. Es genüge nicht, fromm zu sein, sagte sie, man müsse auch praktisch sein; das sei das Wichtigste im Leben. Albert sah die böse Falte auf ihrer Stirn und den Zwicker auf der lächerlich dünnen langen Nase und den verkniffenen, zornigen, dünnen Mund, er sah sich im Tempel, stechende Blicke rings, hundert Feinde, er sah sich im Schlachthof, das blutige Messer in der Hand, ein Leben sah er vor sich, angefüllt mit Ekel und Abscheu. Mit einem Kuß der Dankbarkeit entließ er das Mädchen; zufrieden war er an diesem Tag. Malvine bereute aber, daß sie sich verraten hatte, sie wollte ihr Wesen bis zum Hochzeitstag verbergen. 153 Dem Mann war nicht zu trauen, er lebte wie im Traum, sie wollte ihn nicht wecken. Auch Blum war des Erfolgs niemals ganz sicher und mahnte zur Vorsicht. In Alberts Abwesenheit lachten sie über den »Schwachkopf« und freuten sich seiner »Dummheit«, denn »sonst hätte er eine Malvine Spitzkopf nicht genommen«; sie war klug genug, sich darüber klar zu sein. Er aber merkte, daß sie Falschheiten redeten und ein Komödiantenlächeln zur Schau trugen, er durchschaute sie und wußte jeden ihrer Gedanken. Sie konnten ihn nicht betrügen, er wollte das Gräßlichste und Widerlichste am Halse haben, er sehnte sich tief nach dem Strick Gottes.

Dreizehn Monate nach Wolf Wolfs Tod fand im Tempel die Trauung statt. Wie ein Gespenst stand Albert im schwarzen Gehrock neben der Braut. Der Olmützer Rabbiner traute sie, ein lächelnder Skeptiker mit blondem Theaterbart, lächelnd über den armseligen Bräutigam und die häßliche Braut; wie häßlich werden ihre Kinder sein, lächelte er und hielt eine forsche Trauungsrede. In Blums Wohnung war eine reiche Tafel gedeckt, lange schmutzige Bärte 154 schlürften süßen Wein, es grinste der Kultusvorstand, es grinste die ganze Gemeinde, nur Alberts Mutter aß nicht und trank nicht und sah den Hohn, der aus allen Flaschen und Gläsern und Augen und Lippen über ihren Sohn sich ausgoß. Unerschöpflich war der Weinvorrat, viel Geld ließ sich der Kultusvorstand die Hochzeit kosten. »Und noch eine Gans,« kommandierte er, »und noch zwei Gänse, und noch ein paar Hühner, und noch ein paar Torten, und noch und noch!« Die Gäste fraßen alles, sie zeigten, daß sie auch saufen konnten, wenn auch nur einmal im Jahre; sie gingen vor die Tür, sie steckten die Finger in den Mund.

In großem Gerülpse und Gewieher saß Albert neben Malvine, Rauchwolkenriesen beugten sich über ihn, in großem Gerülpse und Gewieher saß er in Etelkas Nachtcafé. Er nahm den Arm der Frau und schritt durch das Gewieher und ging in sein Haus. Sehr allein war er in dieser Nacht. Er beugte sich über sein Bett und sah die häßliche Hopfenstange im Bett liegen, die lächerlich dünne lange Nase war ohne Zwicker noch dünner und länger als sonst, der 155 dünne Mund lächelte süßlich, zwei Zähne stolperten wie Betrunkene über die andern Zähne und hielten sich krampfhaft am Unterkiefer fest.

Gebeugt über das Bett der Buße stand der Büßer, er legte sich in das Bett der Buße und umarmte die Frau.

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