Ludwig Winder
Die jüdische Orgel
Ludwig Winder

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Viertes Kapitel

Ein Jahr in Wien verging rasch, Albert wohnte im Hotel, die Tage verbrachte er in Bibliotheken und Cafés, die Abende in Theatern oder im Prater. Noch in Budapest hatte er sich daran gewöhnt, von Etelka Geld zu nehmen; sie legte es immer vor dem Abschied unauffällig auf einen Sessel oder aufs Nachtkästchen. Als sie zum erstenmal es tat, verfiel er in Weinkrämpfe, sie stand schon bei der Tür, sie hatte gehofft, daß er die kleine Handbewegung nicht bemerken werde; seine Tränen, die ersten Mannestränen, die sie sah, erschütterten sie, sie setzte sich noch einmal auf seinen Schoß und sagte immer wieder: »Sei gescheit.« »Wenn das meine Mutter wüßte«, schluchzte er. Sie sagte: »Jetzt bin eben ich deine Mutter«, darauf schalt er sich sentimentales Schaf und winkte, sie solle gehen. Nach kurzer Zeit gelang es ihm, das Geld, das sie ihm brachte, wirklich nicht zu sehen, solange sie im Zimmer war. Er hob es erst auf, bevor er das Zimmer verließ. Einmal ließ er es absichtlich liegen; als er 85 zurückkam, war es verschwunden. Da freute er sich, noch war er nicht der schlechteste Mensch, es gab Diebe, Leute, die gemeine Verbrechen begingen. Später verlor er auch diese Scham, er kontrollierte Etelkas Handbewegung, es kam vor, daß der Betrag ihm nicht genügte.

Eine große Welle von Gleichgültigkeit trug ihn; eine Erregung erlebte er nur noch, wenn Briefe der Eltern kamen. Nach Empfang der frechen Karte war der Vater nach Budapest gekommen, der alte Mann hatte geflucht, getobt, gebettelt, vergebens, ganze Abschnitte aus der Bibel hatte Wolf Wolf wie ein Schulkind deklamiert, vergebens, der Sohn war aufgefahren: »Wenn du mich noch länger peinigst, Vater, lass' ich mich taufen.« Wider seine Überzeugung hatte er das gesagt, er verachtete jeden getauften Juden. Da war der Vater wortlos gegangen. Dann kamen hilflos-verzweifelte Briefe in hebräischer Schrift, hie und da war ein deutschgeschriebenes Wort eingestreut, die Mutter fügte immer am Schluß ein Wort hinzu.

In diesem Jahr dachte Albert weder über sich noch 86 über Etelka nach. Er lebte wie ein Mensch, der sich abgefunden hat, nichts mehr sucht und versucht. Auch die Vision war verschwunden. Etelka war ihm nur noch ein Sinnenreiz, der sich regelmäßig einstellte, wenn sie die Kleider ablegte, allmählich nahm auch die Intensität dieses Reizes ab, er mußte manchmal die Augen zudrücken und an andere Frauen denken, um sich zu entflammen. Von dem Mäzen sprach er nicht mehr. Etelka hatte einmal erwähnt, ihr Freund sei Generaldirektor eines Industrieunternehmens, da hatte Albert ironisch gelächelt, er beneidete nicht den Mann, der erst Generaldirektor hatte werden müssen, um Etelka zu gewinnen, ja er hatte sogar ein wenig Mitleid mit ihm, er fand es nicht in der Ordnung, daß jemand eine Ware nobel bezahlte und sozusagen nur die Emballage erhielt. Als Etelka erzählte, der Generaldirektor habe ihr ein Engagement an der Volksoper verschafft und die maßgebenden Persönlichkeiten für sie interessiert, hatte Albert großen Respekt vor dem Mann, der so viel Freude daran zu haben schien, den geliebten Menschen glücklich zu machen. Es 87 schien Albert ungeheuer schwer, einen Menschen zu lieben, er glaubte, daß er es nicht mehr konnte. Etelka das zu sagen, war sein Traum; ihr zu sagen, daß er nicht mehr sie, sondern höchstens noch ihre Brüste, ihre Beine liebte, die Wollust, die sie ihm schenkte – und das Geld. Er wußte aber nicht, ob das die Wahrheit war; manchmal liebte er Etelka, wie er sie nie geliebt hatte, auch das sagte er ihr nicht, er wollte überhaupt kein wichtiges Wort mit ihr sprechen. So sehr er das Gefühl des Verkommens und Versinkens hatte, so sehr fürchtete er sich vor jeder Änderung. Zukunft war ihm immer unheimlich gewesen, er hatte sie immer zu leugnen versucht.

Im zweiten Wiener Jahr meldete Etelka eines Tages, der Generaldirektor wolle mit ihr eine längere Reise unternehmen. Albert nahm es zur Kenntnis und sagte, er wolle ebenfalls reisen, selbstverständlich in respektvoller Entfernung. Sie leistete Widerstand. Nach langen ergebnislosen Auseinandersetzungen sagte ihm sein Gefühl: Es ist aus. Herannahen spürte er das Dunkle, vor dem ihm 88 so lange gegraut hatte, das Feindliche wälzte sich heran, es hatte keinen Sinn, die Augen zu schließen. Höhnisch fragte er, was sie eigentlich durch ihren Freund schon erreicht habe, in der Oper sei sie noch nie aufgetreten, das sei doch ihr einziges Ziel gewesen. Etelka erklärte kühl, die Sachlage sei verändert, sie beginne einzusehen, daß ihre Stimme ein großes Theater nicht fülle, unter diesen Umständen könne die Kunst nicht ihre einzige Chance sein. Albert lachte auf; sie ließ ihn lachen und ging. Das Dunkle naht, das Dunkle ist da, fühlte er, nun erst wußte er, daß ein Leben ohne Etelka unmöglich war und daß seine Liebe nichts als Furcht vor Einsamkeit war, grenzenlose Furcht vor Einsamkeit, Reue, Abrechnung. Er schrieb ihr einen Brief, der ihn demütigte, jede Demütigung hätte er gern ertragen, furchtsam wartete er auf Antwort. Etelka kam, um Abschied zu nehmen. Sie küßte ihn, es war ein Kuß, über den er später oft nachdachte. Am nächsten Morgen sandte sie ihm Rosen, da wußte er, daß sie abgereist war.

Er verdunkelte das Zimmer, er warf sich aufs Bett, 89 er schloß die Augen, er hielt sich die Ohren zu: längst Vergessenes war wieder da, von den Wänden rieselte es, ein Wecker in seiner Brust läutete wahnsinnig. Er biß die Zähne zusammen. Nur nicht zu schreien anfangen, sonst muß ich schreien bis zum Wahnsinn, der Rosenstrauß atmete Wahnsinn aus. Auf den Fußspitzen näherte Albert sich dem Tisch, mit beiden Händen packte er die Rosen, drückte sie an die Brust, mit den Rosen sprang er aufs Bett; und nun zog er den Duft ein, nun ließ er sich betäuben. In seinem Bett lag er aufgebahrt, in der Dunkelheit lag das höhnische Rot, kühl lagen die Blätter an der Wange, der heiße Körper wurde kühl, im Zimmer war Moderduft, es läutete nicht mehr im Zimmer, gespannt lauschte er der Stille.

Er begann zu denken, die einzige Rettung vor Wahnsinn war es, daß alles sich ausdenken ließ, ausdenken jedes Geschehnis vom Anfang bis zum Ende. Ausdenken, daß nichts ewig war, alles veränderlich, alles im Fluß, wie Wasser, das dem Meere zufließt, alles nur Einbildung, ein Krampf, der sich löst, ein Gefühl, das sich als trügerisch 90 erweist, eine Überzeugung, die sich als falsch entpuppt. Etelkas Stimme zum Beispiel: hat es jemals etwas so Lächerliches gegeben, mehr als sich und mich hat sie ihre Stimme geliebt, ihr ganzes Leben war ihre Stimme, und auf einmal ist alles aus, schmerzlos aus, auf einmal sagt sie, es sei ein Irrtum gewesen, sie habe sich getäuscht, alles war nur ein kleiner Irrtum, eine kleine Selbsttäuschung, man bemerkt den Irrtum und stellt ihn richtig, als ob nichts gewesen wäre. Und so wird sie nun feststellen, sie habe sich auch in ihrer Liebe geirrt, auch sie war nur eine kleine Selbsttäuschung, eine kleine Episode, nun beginnt eine neue. Und ich selbst, ich werde genau so denken, denke heimlich schon seit Monaten so, ich darf ihr keinen Vorwurf machen, ich bin tausendmal böser als sie, nein, nicht einmal das stimmt, gut und böse gibt es ja nicht, es gibt nur kleine Irrtümer, die man richtigstellt. Wenn aber alles nur ein Irrtum ist, soll niemand mich zwingen, zur Besinnung zu kommen und den Irrtum zu erkennen, und wenn Gott der Irrtum der Irrtümer ist, will ich auf meine Weise fromm 91 sein, ganz auftun will ich mich dem Gott des Irrsinns, ganz auftun soll er sich mir!

Hemmungslos gab er sich fieberndem Rauschleben hin. Bei Tag ging er nicht mehr aus, die sommerliche Großstadt widerte ihn an. Am Abend, wenn kleine Ladenmädchen, Putzmacherinnen, Kontoristinnen durch die Straßen gingen, verließ er das Haus, Geld bauschte seine Brieftasche, käuflich ist die Welt, käuflich ist der Mensch, zwinkerten seine Augen. Jede Scheu verlor er, nichts schreckte ihn ab, keine Zurückweisung beleidigte ihn. Einen unerschöpflichen Kübel stinkender Zoten, Frechheiten, Unverschämtheiten schüttete sein Mund aus, am liebsten hätte er sich in einen Neger verwandelt, um die Weiber, nach denen er lechzte, zu erschrecken. Eine Genugtuung war es ihm, Etelka untreu zu sein, dreimal täglich untreu Etelka, die kein thronendes Weib mehr war, sondern eine überflügelte Lehrmeisterin, die Lehrgeld zahlte dem ehemaligen Schüler. Alle Laster las er ab vom Gesicht jedes Menschen, in jedem Blick entdeckte er Betrug, jedes Wort deutete er zur Schamlosigkeit um, jede Geste 92 war eine Aufforderung zur Schamlosigkeit. Nun erst lebe ich mein wahres Leben, dachte er, ungesund war die Hemmung, zu der ich mich zwang, deshalb lachte man mich aus, deshalb war ich eine lächerliche Figur, deshalb hielt man mich für minderwertig. Jetzt erst komme ich zu mir, alle meine Ahnen mache ich frei, herausströmen sie aus tausendjährigem Kerker, aufspringt der Springbrunn tausendjährigen Bluts, rein oder unrein, es lebt, es soll düngen die Welt, es soll ausfüllen die Welt.

Aufstand das Blut seiner Väter gegen diese Lästerung. Der Vater schrieb: Ehrliche, gerechte, gottesfürchtige Männer waren dein Großvater und dein Urgroßvater, geachtet war immer der Name unserer Familie, geehrt war immer unser Geschlecht, wir sind arm geblieben, kein Geschäftsmann ist aus unserer Familie hervorgegangen, dem Wort des Allmächtigen zu dienen war uns Lohn genug, warum willst du anders sein, Sohn, warum mußt du verleugnen unser Geschlecht? In Fetzen riß der Zurechtgewiesene diese Briefe, verscheuchen wollte er die Erinnerung, der Erste und der Letzte eines neuen 93 Geschlechts wollte er sein, eines Geschlechts ohne Namen und ohne Glauben und ohne Zucht, eine Rasse für sich wollte er sein, alle andern zu höhnen, zu schänden, zu verneinen.

Der Sommer verging, Etelka kam nicht, das Geld war größtenteils verbraucht, Albert lief mit dem bellenden Rudel seiner Gedanken Straßen auf und ab. Im Frühling war er zuweilen mit Etelka in den Prater gegangen, damals hatte es noch Minuten der Ruhe, des Geborgenseins gegeben. Nun zog es ihn wieder in den Prater, weil immer weniger Menschen hinkamen, die Menschen wurden ihm immer widerlicher; es reizte ihn nicht einmal mehr, sie in Gedanken zu bespeien.

An einem regnerischen Oktoberabend stand er in der Hauptallee des Praters und zählte den Rest seines Geldes, er hatte noch eine Hundertkronennote und einige kleinere Noten. Etwas muß geschehen, dachte er, etwas wird geschehen. Jeden Tag hatte er darüber nachgedacht, ob es nicht am besten wäre, Selbstmord zu begehen; immer hatte er den Gedanken verjagt, er war nicht lebensüberdrüssig, war 94 es noch nicht genug. Vielleicht stehle ich doch einmal das Bild im Kunsthistorischen Museum, überlegte er; es war ein alter Plan, dessen Ausführung er sich genau zurechtgelegt hatte, er wollte nur noch bis zum Tag der äußersten Not warten, er wußte jedoch, daß er das Bild längst gestohlen hätte, wenn er den Mut besessen hätte. Jedenfalls kann ich noch einmal elegant speisen, sagte er sich; er sah die Lichter eines berühmten Praterrestaurants, er trat ein. Ein Profil in einer Nische fiel ihm auf, eine Sekunde schwankte er, dann trat er vor, glutübergossen blieb er stehen, in der Nische saß Etelkas Generaldirektor mit einer Dame.

In diesem Augenblick fühlte Albert Haß gegen den Mann aufsteigen, der ihm Etelka genommen hatte. Immer hatte er sich eingeredet, daß er ihn nicht hasse, nun wußte er es besser. Hätte ich dich doch erschlagen, du Hund, dachte er, mir wäre wohl. Hätte ich dir doch in deinem Schlafzimmer aufgelauert und dich meuchlings ermordet, das wäre eine anständige Tat gewesen, ehrlich kämpfen kann man nicht mit dir, deine Millionen sind eine zu 95 sichere Waffe. Aber jetzt ist es ja aus – nun erst faßte er es – jetzt hat der Generaldirektor eine andre, wo ist Etelka? Mechanisch bestellte er Essen; während er es verzehrte, beobachtete er den Generaldirektor. Die starken Hände des Vierzigers spielten mit dem Handtäschchen der Dame, erbittert betrachtete Albert das kühle kluge Gesicht des Mannes, die gelassenen grauen Augen, die zarten Gesten, die gewandte Höflichkeit, die der Dame galt. Wie eine Herzogin behandelt er sie, dachte Albert zornig, dieser Mensch kann sich nicht gehen lassen, auf diese Weise nimmt er die Mädchen gefangen, das gefällt ihnen, das imponiert ihnen. Wie sehr muß so ein Mann Etelka imponiert haben, ihr, die nur mich, nur meine Ungezogenheiten, meine Flegeleien, meine barbarischen Manieren kannte. Ob er wohl noch Mann genug ist, vollblütige Mädchen wie Etelka oder die Neue zufriedenzustellen? dachte er und betrachtete neidisch den mächtigen Brustkorb. Zwischen vierzig und fünfzig ist er ja doch, das konnte er mit seinen Millionen nicht verhindern, wahrscheinlich ist es nicht mehr 96 weit her mit seiner Männlichkeit, solche Leute leben zu rasch, zu ausgiebig, mit vierzig sind sie fertig. In diesem Augenblick reichte die Dame dem Generaldirektor unter dem Tischtuch verstohlen die Hand, er hielt sie fest; in diesem Spiel lag so viel Zärtlichkeit, daß Albert die Augen schließen mußte. Dem Generaldirektor gegenüber sah er Etelka sitzen, Etelkas Hand sah er unter dem Tischtuch, Etelkas Augen strahlten dem ruhigen, beherrschten Manne entgegen. Albert spürte ein Würgen im Hals, die gelassene Heiterkeit des Mannes machte ihn toll. Aber er geht mich ja gar nichts an, beschwichtigte er sich, wahrscheinlich denkt er gar nicht mehr an Etelka, wahrscheinlich hat er schon vergessen, daß er sie gehabt hat, diese großen Herren vergessen ja leicht. Vielleicht war diese zufällige Begegnung sogar ein freundlicher Wink des Schicksals, jedenfalls konnte man zu erfahren versuchen, wo Etelka steckte. In Wien war sie nicht; der Beschäftigungslose hatte sehr oft in ihrer Wohnung und im polizeilichen Meldeamt nach ihr gefragt. Wenn ich einen Augenblick mit ihm sprechen könnte, dachte er, ich wollte 97 ihm meine Meinung sagen! Er wollte sich einen Satz zurechtlegen, einen Gesprächsbeginn, aber es ging nicht. Du Hund, mußte er immer denken, du Hund, du Hund . . . Plötzlich rief der Generaldirektor den Oberkellner, zahlte und brach mit der Dame auf. Albert erhob sich, ging ihnen nach, sie waren schon im Freien, große Regentropfen klatschten nieder, schwermütiger Herbsthimmel brach nieder. O ich Feigling, stöhnte Albert, ich darf die Gelegenheit nicht versäumen, ich muß mit ihm sprechen. Besinnungslos sprang er vor, lief dem Paar nach, besinnungslos verstellte er dem Generaldirektor den Weg.

»Auf ein Wort, Herr Generaldirektor«, sagte er. seine Zähne klapperten hörbar. Der Angesprochene blickte ihn erstaunt an und sagte unwillig: »Was wünschen Sie?« »Wenn die Dame die Güte hätte . . . nur einen kleinen Augenblick . . . den Herrn Generaldirektor und mich . . .« stotterte Albert. Die Dame lächelte spöttisch; es gibt noch verschämte Bittsteller, sagte ihr Lächeln, sie ging, der Generaldirektor blieb stehen. »Was wollen 98 Sie?« fragte er noch einmal, er war wütend. Albert sah es und Haß stieg wieder auf, verdrängte die Verlegenheit, plötzlich sagte er herausfordernd: »Wo ist Etelka?«

Der Generaldirektor trat einen Schritt zurück, dann sagte er: »Ich verstehe nicht.«

»Wo Etelka ist, will ich wissen, Etelka Tirey, meine und Ihre Freundin Etelka«, jedes Wort betonte Albert höhnisch, jedes Wort war eine Verhöhnung.

Der Generaldirektor lächelte und sagte nicht unfreundlich: »Etelka ist meines Wissens in Budapest.« Dann ging er, im rauschenden Regen blieb Albert stehen.

Langsam kehrte er ins Restaurant zurück, von allen Seiten verhöhnte ihn das Gelächter fröhlicher Menschen. Er zahlte rasch, stürzte hinaus in den Regen, fiel über sich her, beschimpfte sich, viel hätte er mit dem Generaldirektor zu reden gehabt und nichts hatte er gesagt, jetzt wußte er gar nichts, nicht einmal, ob Etelka bestimmt in Budapest war, seit wann und weshalb, das alles war ungeheuer wichtig, 99 das alles mußte der Generaldirektor wissen, über alles hätte der Generaldirektor Rechenschaft geben müssen, jetzt steht man da im Regen im Oktober in Wien mit hundert Kronen in der Tasche und kein Mensch kümmert sich um einen und kein Mensch würde sich drum kümmern, wenn man umfiele und tot wäre.

An Etelka dachte er die ganze Nacht. Unwichtig war, ob er sie liebte oder nicht, wichtig war nur, ob sie ihn noch liebte, ob er noch die Wahl hatte zwischen ihr und dem Kunsthistorischen Museum. Keinen Brief von ihr besaß er, nur Ansichtskarten, im Nachtkästchen lagen sie, nach dem Datum geordnet; in der Nacht zog er sie hervor, betrachtete Alpenlandschaften, Waldhotels, fremde Länder und Städte, überall hatte sie mit dem Generaldirektor geschlafen, in jedem Hotel war ein Bett, das sie mit dem Generaldirektor geteilt hatte, in jedem Wald eine Bank, wo sie mit dem Generaldirektor geruht hatte. »Es geht mir gut, es ist hier sehr schön«, stand auf jeder Ansichtskarte, auf keiner stand: wie geht es dir. Wenn ich nach Budapest fahre, überlegte er, riskiere ich erstens, daß sie nicht 100 dort ist, zweitens, daß sie nichts mehr von mir wissen will, drittens, daß ich ohne Heller in Budapest dastehe; ich will ihr lieber ein gescheites Telegramm schicken. Um acht Uhr morgens telegraphierte er an ihre alte Adresse: Bitte sofort nach Wien kommen, bin schwer erkrankt, Albert. Wenn sie kommt, ist alles gewonnen, alles richte ich mir mit einem Schlag, dachte er; wenn sie kommt, weiß ich, daß sie mich noch liebt, daß sie mir helfen will, daß alles noch gut wird. Für alle Fälle ging er noch einmal ins Kunsthistorische Museum, ein Raum war dort schlecht bewacht und wenig besucht, dort hing sein Bild, ein winziges Stück von unbekannter Hand aus der Zeit des Franz Hals, im zerrissenen Futter des Mantels konnte das Bild bequem verschwinden. Drei Tage wollte er auf Etelka warten, dann mußte der Diebstahl versucht werden. Höchstens werde ich eingesperrt, lächelte er, die Verachtung der Leute läßt mich kalt, und die Eltern werden sich endgültig von mir losreißen, es ist höchste Zeit. Am nächsten Tag hielt er sich auf dem Bahnhof auf, jedem Budapester Zug lauerte er auf, am Abend 101 kam Etelka an. Er küßte sie ungeschickt auf die Wange, sie sagte müde: »Du bist also nicht krank«, er lachte: »Nein, es geht mir nur dreckig.« Sie nahm ein Auto, »nobel geht die Welt zugrund«, lächelte er. Sie gingen in sein Zimmer. Während der ganzen Fahrt hatten sie nichts gesprochen. Sie war sehr elegant, er beschloß sie gut zu behandeln. Er wollte etwas aus dem Restaurant holen lassen, sie lehnte ab; wir gehen später aus, sagte sie, er nickte und wartete.

Einst war das Leben schön, Liebe war einst und gute Gemeinschaft; jetzt ist Herbst und wir sind kahlgebrannt, dachte er, lauernd saß er neben ihr, fremd war sie ihm, fremd war er sich, mit zwei fremden Menschen saß er im Zimmer. Feine Strümpfe stachen ihm in die Augen, die hat sie vom Generaldirektor, fuhr ihm durch den Kopf, neugierig öffnete er ihre Handtasche, kostbare Wäsche lag in der Tasche, alles vom Generaldirektor, auch die blassen Wangen, auch die Ringe unter den Augen, alles von diesem Kerl, von diesem Kerl . . . Er schloß die Augen. Noch einmal die Vision, die 102 guten, die reinen Augenblicke! wünschte er sich. Aber die Vision kam nicht, konnte nicht kommen, denn sein Herz wünschte sie zu schwach, sein Herz lag auf der Lauer. Jetzt wird sich alles entscheiden, lauerte sein Herz. Etelka schwieg, sie war müde, zu müde, den Druck seiner Hand zu erwidern – oder wollte sie keine Zärtlichkeit? Will sie mich nicht? dachte er. Wenn sie mich nicht liebte, wäre sie nicht gekommen. Aber furchtbar war das Schweigen in dem unfreundlichen Hotelzimmer, es machte ihn nervös, ja geradezu verlegen. Damit etwas geschehe, öffnete er noch einmal ihre Handtasche und fand eine ganze Sammlung von Schminkutensilien. »Seit wann schminkst du dich, du hast dich doch nie geschminkt«, sagte er erstaunt, da winkte sie ihn heftig heran, ganz nahe zu ihr mußte er sich setzen, dann sagte sie: »Es ist alles anders, als du glaubst, ich bin eine ganz gewöhnliche Hure.« Sie begann wild zu schluchzen, sie wollte sprechen und konnte kein Wort sagen, vergebens wollte er sie beruhigen, vergebens streichelte er ihr Hände und Wangen und Haar, ihr ganzer Körper bebte unter diesem Weinen, 103 zu lang war es zurückgedrängt worden, jetzt ließ es sich nicht hemmen. »Erzähl' doch zusammenhängend, es ist ja nicht so schlimm, ich weiß doch alles«, log er, aber sie hörte ihn nicht; endlich legte er ihr den Mantel um und zwang sie, mit ihm auf die Straße zu gehen, da gelang es ihr, sich zu beherrschen. Er führte sie in ein Restaurant, dann gingen sie durch dunkle Straßen, nach einer Stunde waren sie wieder in seinem Zimmer. Er fragte nichts, er wußte, jetzt werde sie sprechen.

Er täuschte sich nicht. Alles brach aus ihr hervor, nichts verschwieg sie, sie klagte an, auch ihn klagte sie an. Er müsse wissen, sagte sie, daß sie sein Erkalten schon lange gefühlt habe, vielleicht früher als er selbst, genau gefühlt habe sie, daß er nur ihren Körper geliebt habe, deshalb habe sie diese Liebe geringgeachtet und alles auf eine Karte gesetzt, die Kunst hätte sie retten sollen. Gerade zur rechten Zeit sei ihr der Generaldirektor in den Weg gelaufen, damals habe sie gehofft, ihre Stimme werde ihr Lebensinhalt sein. Dann sei in Wien die Erkenntnis über sie gekommen, die Stimme tauge 104 nichts, das sei so viel wie ein Todesurteil für sie gewesen, nun erst habe sie ganz dem Generaldirektor gehört, wie eine Prinzessin habe er sie gehalten, eines Tages auch dies vorbei. Dann sei ein andrer gekommen und immer wieder ein andrer, deshalb sei sie nicht mehr nach Wien zurückgekehrt, und jetzt gehe sie in Budapest auf den Strich. Und wenn er nicht telegraphiert hätte, er sei schwer krank – nie mehr hätte er sie zu Gesicht bekommen.

Es gab Albert einen Schlag. Das ist der Mensch, den ich geliebt habe, dachte er, das ist nun Etelka! »Das alles ist irrsinnig«, sagte er, das war alles, was er zu sagen hatte. Sie aber sagte: »Wir allein sind schuld, wir haben nichts Besseres verdient, es geschieht nichts Ungerechtes.« »Gerechtigkeit,« lachte er, »was heißt Gerechtigkeit, alle Menschen sind gemein, der eine bringt es mit seiner Gemeinheit zu Ehren und Reichtum und jedem Ziel, der andre macht mit seiner Gemeinheit kein Geschäft und sinkt immer tiefer, bis er versinkt.« Und nun zeigte er sich ohne Scheu, das Leitmotiv seines früheren Lebens fiel ihm ein: »Wenn sie alles wüßte, wäre 105 alles aus.« Nun soll sie alles wissen, nun darf sie alles wissen, frohlockte er, die Erbitterung eines ganzen Jahres spie er in dieser Stunde aus, allen Haß, alle Feindschaft, alles Trübe und Schmutzige quoll aus seinem Munde, entsetzt saß sie da, welcher Dämon saß neben ihr!

»Man könnte sich vor dir fürchten«, sagte sie, da besann er sich, verstummte, sah ihr in die Augen. »Wir hätten uns nicht trennen sollen, wir gehören zusammen«, sagte er. Sie schwieg, da wurde er zärtlich und flüsterte, alles könne noch gut werden, es sei noch nichts verloren, man könne immer wieder neu anfangen. »Vor allem müssen wir uns vor der äußersten Not schützen,« sagte er lauernd, »ich werde versuchen, etwas zu verdienen.« »Not mußt du nicht leiden, ich kann dir Geld geben«, sagte sie feuerrot. Er horchte auf, gesenkten Hauptes sagte sie: »Ich habe sehr hübsch verdient, die Präsente des Generaldirektors und das andere macht zusammen beinahe fünfzigtausend Kronen aus.«

Er sprang auf, er konnte sich nicht beherrschen, er war überwältigt. Fünfzigtausend Kronen, dachte er, 106 fünfzigtausend Kronen, fünfzigtausend Kronen! Damit könnte man lange Zeit auskommen, ein neues Leben könnte man beginnen, studieren könnte man, ein anständiger Mensch werden, Arzt oder Geschäftsmann oder Advokat oder meinetwegen sogar Rabbiner, das wäre egal, Betrüger ist man ja doch in jedem Beruf. Im nächsten Augenblick ließ er alle Pläne dieser Art fallen, das alles war nichts für ihn, ehrlich ist nur das Laster, alles andre ist Schwindel und Hochstapelei, ging es ihm durch den Kopf. »Hör' gut zu, ich hab' eine Idee,« sagte er, »wir gründen mit deinem Geld ein Nachtlokal!« Im Nu hatte er den ganzen Plan fertig, er wollte eine Lasterhöhle für die Lebewelt eröffnen, so etwas müsse eine Goldgrube werden, besonders wenn man sich auf Psychologie verstünde, diesbezüglich verlasse er sich ganz auf sein Talent, und Etelka wäre gewiß ein Anziehungspunkt ersten Ranges. »Gerade mit dir schäme ich mich«, wollte sie einwenden, da fuhr er auf, das sei Unsinn, sie müsse nur den gemeinen Witz des Schicksals verstehen, diesen gemeinen Witz müsse man eben mit einem noch gemeineren Witz 107 übertrumpfen, da sagte sie: »Nein, wenigstens die Erinnerung will ich mir rein erhalten.« Lächerlich, erwiderte er, daß seien Sentimentalitäten, überdies sei es brutal von ihr, von »Erinnerungen« zu sprechen, sein Schicksal sei mit dem ihren eng verkettet, jetzt und für alle Zeiten, nun biete sich ihnen eine Möglichkeit, den Kampf mit dem Leben aufzunehmen, und er schilderte, wie herrlich alles sein werde, vergöttern werde er sie, auf den Händen werde er sie tragen. Endlich willigte sie ein.

Als er ihre Einwilligung hatte, erschrak er. Ihm war, als ginge ein wahnsinniger Traum in Erfüllung, ihm graute vor dem Leben, das nun beginnen sollte. Ich bin nur ein theoretischer Zyniker, raunte er sich zu; wenn es Ernst wird, wehrt sich das Killejüngel in mir. Aber es ist meine einzige Rettung, verteidigte er sich, sonst müßte ich ein Dieb werden, ein gemeiner Verbrecher. Lieber Dieb, lieber gemeiner Verbrecher als Etelkas Zuhälter, widersprach eine Stimme in ihm, so tief darfst du nicht sinken. Eine Nacht dauerte der Kampf, am Morgen stürzte er sich in die Arbeit, er wollte nicht mehr 108 nachdenken, wollte keine Zeit zum Nachdenken haben. Tag und Nacht war er auf der Suche nach einem Lokal, nach Personal, der Kauf der Konzession war schwierig, nichts schreckte ihn ab, er hatte unendliche Geduld, unendliche Zähigkeit, seine Zähigkeit erreichte alles, eines Tages war alles fertig, das Geschäft konnte eröffnet werden, in der Roten Löwengasse strahlte Etelkas Nachtlokal.

Widerstrebend gab Etelka sich darein, immer mußte sie Albert nachblicken, sie hatte Furcht vor ihm, wie ein Gespenst ging er umher, im schwarzen Gehrock flatterte er wie ein Gespenst. Als alles zum Empfang der ersten Gäste bereit war, preßte er Etelka in die Arme, in den letzten Nächten war sie wachgelegen, über sein Antlitz gebeugt, sie fürchtete sich vor dem verfallenen Verbrechergesicht. Nun sah sie dem Gespenst zu, wie es kommandierte, wie es gehetzt von Tisch zu Tisch lief, eine Aschenschale zurechtrückte, eine Weinkarte revidierte, den Teppich auf dem Podium der Damenkapelle glattstrich. Sie mußte sich abwenden.

Die Primgeigerin begann zu spielen, Gäste kamen, 109 zuerst neugieriges minderwertiges Publikum aus den Nachbargassen, später zahlungsfähige Kavaliere, Sektgäste. In Separées war Weibergekreisch, im Lokal schwelte dicker Rauch, Albert stand im Rauch, er fühlte sich überanstrengt, die letzten Wochen hatten ihm hart zugesetzt, er mußte sich setzen. Der Rauch lag ihm schwer auf der Brust, drohende Gestalten wuchsen aus dem Rauch. Rauchriesenwolken beugten sich über ihn, er mußte auf die Straße gehen, betäubt stand er unter dem Sternenhimmel, er hörte gedämpftes Gefiedel und Gejohle. Mein Gott, dachte er, wer ist das, der Mann, der hier steht und in die Sterne blickt, wer ist das.

Nach der Polizeistunde ging er mit Etelka nach Hause, sie hatten eine Zweizimmerwohnung in der Roten Löwengasse. Etelka hatte sich den ganzen Abend nicht gerührt, mit keinem Gast hatte sie gesprochen. Vor dem Einschlafen wollte er zärtlich sein, sie wandte sich ab, sie ertrug nicht seine Berührung; ich mag ihn nicht mehr, dachte sie, jetzt weiß ich es.

Das Geschäft ging, die Einnahmen überstiegen alle 110 Erwartungen; Etelka mußte zugeben, daß er die Sache geschickt angepackt hatte, er ist halt doch ein Jud, dachte sie, bisher hatte sie nie daran gedacht. Daß der Generaldirektor Jude war, hatte sie immer bedacht, das war sonderbar, der Generaldirektor war immer nur »der Jud« gewesen, auch das fiel ihr jetzt erst ein. Erst jetzt fiel ihr ein, daß beide Juden waren, Albert und der Generaldirektor, die Juden hatten sie dem Laster zugeführt, das war das Ende ihrer Gedankengänge, o wie widerwärtig waren ihr diese Juden, o wie haßte sie diese Juden!

Albert merkte bald, daß sie ihm auswich, sie wollte allein wohnen und setzte es durch, im Geschäft sprach sie mit ihm nur das Notwendigste, auch mit dem Personal ließ sie sich in kein Gespräch ein, die Gäste sahen sie fast nie. Das Geschäft ging trotzdem; es freute Albert, daß die Attraktion Etelka unnötig war. Vielleicht bleibt es so, hoffte er, und ich bin kein Zuhälter. Aber das Geld machte ihm keine Freude, am Abend begann immer das Haus und die Welt einzustürzen, er fürchtete sich vor den Rauchwolkenriesen, die ihm jede Nacht drohten, er hatte 111 Schwindelanfälle, er mußte immer häufiger auf die Straße gehen, mein Gott, dachte er immer, wer ist das, wer ist der Mann, der hier steht und in die Sterne blickt, wer ist das.

Nach drei Monaten setzte Etelka sich zum erstenmal zu einem Gast, verstohlen beobachtete es Albert, eine Männerhand lag auf Etelkas Nacken, Etelka schmiegte sich an einen Mann, sie flüsterten, sie lachten, sie tändelten, sie trank aus des Mannes Glas. »Gehn wir ins Separée«, sagte sie, der Mann zögerte, sie nahm seinen Arm, sie gingen, sie verschwanden im Separée, sie läuteten, sie ließen Wein bringen, eine Stunde starrte Albert die rote Tür an, Rauchwolkenriesen beugten sich über ihn. Das habe ich gewollt, flüsterte er, das ist mein Werk, das war meine Idee, mein Vorschlag, ich darf ihr keinen Vorwurf machen, ich selbst habe ihr gesagt, sie werde ein Anziehungspunkt ersten Ranges sein, ich selbst, ich selbst, was ist aus mir geworden! Die Tür des Separées öffnete sich, Etelka kam getorkelt, sie hatte einen leichten Rausch. »Wenn ich will, versteh ich das Geschäft,« sagte sie zu Albert, »von112 jetzt an sollst du überhaupt mit mir zufrieden sein.« Ich darf nichts sagen, dachte Albert, kein Wort darf ich sagen, was ist aus mir geworden! Er ging auf die Straße. Wie glücklich sind alle andern, dachte er, wohin hast du mich geführt, mein Dämon, wohin wirst du mich noch führen! Immer tiefer sinke ich zu dir, bald bin ich bei dir!

Er riß die Tür auf, ein Mädchen schleppte er ins Separée. »Ah, der Herr Chef selbst, welche Ehre«, lachte das Mädchen, in strotzende Brüste tauchte er verzweifelt das Gesicht, Weib, Rausch, Trunkenheit atmete er ein, nicht mehr wußte er, war es Etelka, die er küßte, war es eine andre, es ist mir ja immer egal gewesen, erkannte er, nie hab' ich Liebe gesucht, immer nur Dämonie des Fleisches. Brennend stand er in der Tür und rief: »Alle zu mir, Mizzi, Toni, Hansi!« Die Mädchen kamen, Dämonie des Fleisches schlug über ihm zusammen, betrunken blieb er liegen. Etelka klopfte ihm die Schulter: »Endlich am Ziel, das war ja doch immer dein Ziel!«

Alle folgenden Nächte glichen dieser Nacht, die Tiere 113 tobten sich aus. Nur manchmal, wenn ihre Blicke sich trafen, erschraken sie tief; wie siehst du aus, sagte Etelkas Blick, wie siehst du aus, sagte Alberts Blick, wer bist du, fragten ihre Blicke, ich kenne dich nicht mehr, ich hab' dich nie gekannt. »Der Herr richtet sich zugrund«, sagten die Mädchen zu Etelka, sie nickte, im Spiegel betrachtete sie sich lange, noch bin ich schön, dachte sie, noch kann ich mich retten. Ein Sicherheitswachmann gefiel ihr, ein robuster Mann mit großem Mund und großen Bauernhänden. Jeden Abend kam er das Lokal inspizieren, sie lachte ihn an, lockte ihn an, täppisch ließ er sich's gefallen, täppisch griff er nach ihrer Brust, täppisch brummte er ihr verliebte Laute ins Ohr. Eines Abends trat er auf Albert zu, salutierte: »Herr von Wolf, mit Verlaub, Ihr Fräulein Braut is jetz mein Fräulein Braut, daß Sie's wissen!« Nun hat sie endlich ihren arischen Riesen, lächelte Albert, es gibt doch noch Naturgesetze. Staunend nahm er wahr, daß er keinen Schmerz empfand, nicht die leiseste Kränkung, nicht einmal seine Eitelkeit war 114 verletzt, nichts, nichts, ein Naturgesetz erfüllte sich, er beobachtete es wie einen Sonnenuntergang oder einen Wasserfall.

Stumpf geworden, endlich stumpf geworden, dachte er. Wie im Kino saß er im Nachtlokal, es rollte vorüber der Film der Brunst und Film der Entspannung, Film der Zerfleischung, Film der Besessenheit, Gleichgültigkeit ging in Ekel über, mit geschlossenen Augen sah er die Bilder des Ekels, bis in den Traum verfolgten sie ihn. Er aber war verdammt, zu warten; noch immer kamen Minuten der Verzauberung, Minuten der Raserei, furchtbar war dann die Ernüchterung. Nachts, wenn die Primgeigerin aufs Podium stieg, wenn Paare sich fanden, Betrunkene zu rülpsen begannen, stand er auf und ging vor die Tür. Halbe Nächte stand er vor der Tür und blickte in die Sterne und dachte: Mein Gott, wer ist das, der Mann, der hier steht und in die Sterne blickt. Wie ein Kind, das Gott in den Sternen erblickt, begann er Gott zu suchen, das hielt ihn aufrecht in diesen Nächten. Es mußte einen Gott im Himmel 115 geben, Gott meldete sich nicht, immer kindlicher suchte der Sucher Gottes.

Endlich beginnst du dich mir zu offenbaren, sprach er zu Gott, endlich erbarmst du dich meiner, endlich schenkst du mir den Ekel vor mir selbst. O wie ekelhaft bin ich mir, keine Ratte ist so ekelhaft, o wie stinke ich mich an, kein Gestank der Welt ist so widerlich wie der Gestank, der ich bin, o welcher Gestank war mein ganzes Leben. Gott hilft mir endlich. Dadurch, daß ich an ihn glaube, gibt er mir schon ein Zeichen, Gott ist gut, er gibt mir den Ekel vor mir selbst. Er will mich nur noch prüfen, hohe Prüfungszeit bricht an, ausharren muß ich im Gefängnis meiner Sünde, bis die hohe Prüfung bestanden ist.

Kein Mädchen durfte ihm mehr nahen. Nun war er es, der Etelka auswich. Mitleidig wollte sie ihn trösten, Güte wollte sie ihm zeigen, »der halbe Reingewinn gehört dir, das Geschäft ist dein Werk, du sollst den Lohn einheimsen«, sagte sie, verständnislos nickte er: »Nur noch kurze Zeit – dann ist die Prüfung zu Ende.« 116

Unbarmherzig verschärfte er seine Strafe, mitten im Ekel blieb er sitzen und wartete auf die Stunde der Versuchung. Nicht mehr erlaubte er sich, in der Nacht vor das Haus zu gehen, reine Luft zu atmen; im Rauch, im Gerülpse der Hölle blieb er sitzen, noch zu mild war ihm die Strafe. – Strafe mich mit Syphilis, strafe mich mit Paralyse, mein Gott, segne mich mit deinen grausamsten Strafen, bat er, ausschütte über mich die schmutzigsten Eitereimer deiner Hölle, sie werden mich reinwaschen, in den Eiterkeimen aller Krankheiten, in den Eitereimern aller Verfluchungen will ich mich reinbaden, segne mich mit deinem Fluch, mein Gott!

Verwundert betrachtete ihn Etelka, Reue stieg in ihr auf; zu helfen war ihm nicht, das sah sie, reuevoll riet sie ihm, aufs Land zu fahren, in einem Sanatorium Genesung zu suchen, Geld spiele keine Rolle. »Nur noch kurze Zeit,« antwortete er, »hab' nur noch kurze Zeit Geduld, dann verschwinde ich.« Wie ein Kind sprach er, wie ein Kind saß er in Etelkas Nachtcafé, keine Beleidigung konnte ihn treffen, Hohn der Mädchen, Hohn der Gäste glitt 117 an ihm ab, nur sein Körper war noch da, sein Geist mühte sich Tag und Nacht, sich zu entfernen. Tage der Kindheit suchte er zu ertasten, zurück tastete er sich zu längst Vergangenem, das Vaterhaus sah er wieder, die hebräische Schule. Immer häufiger träumte er von den Eltern, das Schlammbett seines Lebens durchmaß er Schritt für Schritt, beschwerlich war der Weg, endlich wich der Schlamm, endlich hatte er die Kraft, den Eltern zu schreiben. Er ging noch nicht den richtigen Weg, er ging nur den Weg des Zusammenbrechenden, den Weg des Kranken, der Arznei und ein Bett zum Schlafen sucht, weiter war er noch nicht. Noch war er nicht so weit, den letzten Stolz abzulegen, letzte Wahrheit zu bekennen. Nur einen nichtssagenden Brief schrieb er den Eltern, nach Jahren den ersten Brief ohne Feindschaft, ohne Bosheit, ohne Rachegedanken. Noch mußte er lügen, »ich bin gesund und es geht mir gut,« schrieb er, »aber ich bin besorgt um Eure Gesundheit und um Euer Wohlbefinden.« Diese Lüge schrieb er und wußte, daß er krank war und daß es ihm schlecht ging und daß er schmachtete 118 nach der Arznei des Vergessens und nach dem Bett der Versöhnung.

Schon nach vier Tagen antworteten ihm die Eltern, mühsam entzifferte er die hebräischen Zeilen des Vaters. Nichts Neues schrieb der Vater, er schrieb: Ehrliche, gerechte, gottesfürchtige Männer waren dein Großvater und dein Urgroßvater, geachtet war immer der Name unseres Geschlechts, arm sind wir geblieben, kein Verdiener war jemals in unserer Familie, dem Wort des Allmächtigen zu dienen, war uns Lohn genug, warum willst du anders sein, Sohn, warum mußt du verleugnen unser Geschlecht! Aber nach allen Beschwörungen und Predigten kam ein Satz: Komm doch einmal nach Hause zu Deinen Eltern, Du machst ihnen eine Freude.

Die Mutter schrieb einen langen Brief voll Verlegenheit und versteckter Hoffnung, über die ganze Gemeinde erstattete sie Bericht. »Der Herr Kultusvorstand Blum wird sich bald zur Ruhe setzen. Die Olga Kohn hat nach Brünn geheiratet. Die Ritschi Rosenblatt hat sich mit einem reichen türkischen Teppichhändler verlobt und die ganze Familie 119 schwimmt in Glück. Die Fantschi Zwicker hat die französische Staatsprüfung gemacht und wird am Olmützer Mädchenlyzeum unterrichten, ausgesorgt hat sie für ihr ganzes Leben. Die Malvin Spitzkopf, die Nichte vom Herrn Kultusvorstand Blum, die ihm die Wirtschaft führt, seit er Witwer ist, interessiert sich für Dich und fragt immer nach Dir, mein Albertl. Der Josef Tänzer, der mit Dir in die Schul gegangen ist, hat vorige Woche sein Doktorat gemacht und wird in Berlin praktizieren. Die alte Schnabel, die neben uns wohnt, hat der Schlag getroffen, sie wird nebbich nicht mehr lang leben.« Am Schluß hieß es: »Der Vater will nicht, daß Du es erfährst, aber ich muß es Dir doch schreiben, seit vorigem Monat ist er nicht ganz gesund, der Doktor weiß nicht, was es ist. Sei so gut und komm einmal nach Hause, es ist zwar, Gott sei Dank, nicht gefährlich, aber wenn Du kommst und er ist schon gesund, um so mehr werden wir uns freuen.«

Noch nicht reif zu dieser Reise war er, noch wollte er warten, Gott selbst mußte ihn rufen. Nicht schmutzbeladen wollte er treten an des Vaters 120 Krankenbett, er wollte sich den Weg nicht leicht machen, nicht mehr sich betrügen, nicht mehr Gott betrügen. Wenn der Vater aber stirbt?, überlegte er und legte sein Herz siebenmal auf die Wagschale. Es schlug nicht für den Vater. Das ist die geringste meiner Sünden, erkannte er. Auch er ist ein großer Sünder, auch er ohne Liebe. Auch der Brief der Mutter war keine Hilfe, er nährte mit manchem Wort den Dämon. Olga Kohn, Ritschi Rosenblatt, Fantschi Zwicker, Malvine Spitzkopf, Josef Tänzer, sie alle hatten einmal »Fangerl« gespielt hinter dem Tempel, er aber war vorbeigezerrt worden von der furchtbaren Hand des Vaters. »Komm mitspielen«, hatten sie gerufen, er aber war ausgeschlossen gewesen von Anbeginn, Glocken des Schreckens die Musik seines Lebens, und so war es geblieben, die andern auf der hellen Seite, er auf der dunkeln, die andern auf guten Wegen und viele schon am Ziel, sie heirateten, sie waren geachtet und geehrt – und er noch nicht einmal würdig, sich verkriechen zu dürfen, noch nicht einmal reif, seine Sünde und seine Reue zu bekennen. 121 Auf der Samtbank seiner Hölle sah er sie vor sich: Olga Kohn, Ritschi Rosenblatt, Fantschi Zwicker, Malvine Spitzkopf, Josef Tänzer, höhnend zogen sie an ihm vorbei, Zug der Spötter, Zug der Geborgenen, Zug der Satten. In ihren Häusern sah er sie sitzen, gewissenhaft und selbstbewußt erfüllten sie ihre Pflichten, auf sicherem Grund standen ihre Häuser, geschützt waren sie vor jedem Sturm, gut verriegelten sie Tür und Tor vor verdächtigem Gesindel, sie freuten sich ihrer Geborgenheit und zeigten mit den Fingern nach ihm, dem Verkommenen und Verfluchten, sie sprachen böse Worte und stießen ihn in den dunkelsten Schacht der Verzweiflung – da sagte eine Stimme in ihm: Auserwählt bist du doch, immer wieder aufzustehn, immer wieder du zu sein, heute und in tausend Jahren. Und er wußte den Geist Gottes über sich. Da wußte er, daß seine Zeit nicht mehr fern war. Er rüstete sich zur Reise und nahm Abschied. Niemand wußte, daß er Abschied nahm, auch Etelka wußte es nicht, sie sah ihn gar nicht mehr. Ausgefüllt waren ihre Tage und ihre Nächte, immer 122 ähnlicher ward sie dem Sicherheitswachmann, das Gespenst Albert beunruhigte sie nicht mehr, das Gespenst Albert war nur noch Rauch im Rauch des Cafés, Rauch der Vergangenheit.

Vom Kunsthistorischen Museum nahm Albert Abschied, eine Stunde hielt er sich in dem schlecht bewachten, wenig besuchten Kabinett auf, wo sein Bild hing, das winzige Stück von unbekannter Hand aus der Zeit des Franz Hals. In dieser Stunde büßte er die Kerkerstrafe für Bilderdiebstahl ab. Ich habe gestohlen, bekannte er, ich bin ein Verbrecher, aber dieses ist eines meiner kleinsten Verbrechen, ich habe größere begangen.

Tagelang wanderte er durch die Straßen der Stadt, überall hatte er gesündigt, in allen Straßen hatte er Menschen und Gott gelästert, von allen nahm er Abschied. Er hielt Heerschau über das Heer seiner tierischen Taten, zusammenzählen wollte er die unreinen Taten seines Lebens, die Summe ziehen, damit nichts vergessen werde im Buch seiner Schuld und alles aufgezeichnet sei am Tag der Rechenschaft. Auch dem Vater wollte er Gerechtigkeit zuteil 123 werden lassen, auch ihn wollte er löschen von der Tafel der Schuld. Auch den Neid warf er ab, werdet glücklich, ihr alle, Gott segne deine Ehe, Olga Kohn in Brünn, möge dein türkischer Teppichhändler nie deine Erwartungen enttäuschen, Ritschi Rosenblatt, Gott schenke dir Zufriedenheit, Fantschi Zwicker in Olmütz, und auch dir, Josef Tänzer, euch allen.

Dann setzte er sich in den Personenzug und fuhr nach Hause, fuhr hinein in die Nacht der mährischen Ebenen, längst vergessene Stationen tauchten auf, überwältigt saß er da und schloß die Augen, da sah er zum letztenmal Etelka, sah die Vision von Blond und Blau, ängstlich wehrte er ab, auf seiner Stirn war Schweiß. Lass' mich ziehen, sprach er im Traum, da zerfloß die Vision.

Er öffnete die Augen, ein trübes Lämpchen flackerte über Schlafenden, einer lächelte im Traum, einer stöhnte, einer saß wach und konnte nicht einschlafen, jeder war unermeßlich einsam, so fuhren sie hin, Nacht im Haar und unermeßliche Wünsche in verkrampften Händen. 124

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