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Actus primus

in prologi modum

Wohnzimmer.

Dunkle Tapete, weißgestrichene Türen und Fenster, grauer Spannteppich, außerdem einige Perser. Links vorne schmale Tapetentür, weiter rückwärts, schräg ins Zimmer hereingestellt, ein schöner schwarzer Flügel, rechter Hand neben ihm eine Ständerlampe mit smaragdgrünem Seidenschirm. Rechts vorne an der Wand, fast bis an die Decke emporreichend, eine offene Bibliothek, davor ein behäbiger Schreibtisch mit bequemem Armstuhl. Zwanglos um ihn gruppiert einige weitläufige Lederfauteuils. Weiter rückwärts in der Rechtswand hohes dreiteiliges Fenster mit Spitzenstores. In der Mitte der Hintergrundwand breite offene Tür ins Speisezimmer. Sonst noch an den Wänden Radierungen und Stiche: Porträts von Beethoven, Brahms und Bruckner, alte Stadtansichten. Auf dem Schreibtisch außer einer bronzenen Garnitur elektrische Lampe mit gleichfalls smaragdgrünem Schirm und ein Telephonapparat. In der Mitte des Plafonds einfache Deckenbeleuchtung.

Wenn der Vorhang aufgeht, ist der Raum nur durch die Deckenbeleuchtung matt erhellt. Das Fenster ist offen. Der Mond zeichnet das zarte Muster der Spitzenstores auf den Teppich. Sie bewegen sich manchmal im leisen Luftzug des Maiabends. Von der Straße herauf abwechselnd Schritte und Stimmen Vorübergehender, einmal ein leises wohllautendes Pfeifen.

Im Speisezimmer sitzen am gedeckten Tische, von dem das Essen jedoch schon abgetragen ist,

Martin und Anna beide schweigend vor sich hindenkend. Nun wendet sich Martin mit einem Blicke an Anna. Beide erheben sich. Martin kommt in das Wohnzimmer, setzt sich zum Schreibtisch, schlägt ein umfangreiches wissenschaftliches Werk auf und vertieft sich darein,

Martin, ungefähr siebenunddreißig Jahre alt, ist der Typus des modernen Großstadtmenschen von geistigem Beruf. Sein von der Arbeit etwas müdes Gesicht trägt die Spuren sonntäglicher Bewegung in freier Luft, Seine Nervosität ist vollkommen beherrscht durch gute Erziehung und liebevolle Rücksicht. Seine Gestalt schlank, seine Kleidung – er trag! dunklen Saccoanzug – von einfacher Eleganz.

Anna, anfangs der Dreißig, sieht bedeutend jünger aus, als sie ist. Schlanke, seingliedrige, mädchenhafte Gestalt, Typus der Tochter aus gutem bürgerlichem Hause. Sie trägt ein leichtes, lose fließendes, sehr reizvolles Hauskleid, außer dem Eheringe jedoch keinerlei Schmuck. Ihr reiches Haar ist sorgfältig frisiert. Die Anmut ihres Gesichtes hat etwas Verschlossenes, ihr ganzes Wesen etwas leise Gehemmtes.

Nun kommt auch Anna in das Wohnzimmer, bleibt jedoch nahe der Tür stehen und betrachtet unschlüssig, ob sie nicht lieber gehen solle, und einigermaßen enttäuscht ihren lesenden Gatten.

Martin bemerkt sie, freundlich aber etwas unsicher lächelnd

Willst du nicht ein wenig Klavier spielen?

Anna mühsam

Das bedeutet: du möchtest ungestört lesen.

Martin freundlich

Da mir untertags dazu leider die Zeit fehlt, habe ich eben bisweilen abends das Bedürfnis, ein wenig Mensch zu sein.

Anna sehr gehalten

Und wenn ich nun das gleiche Bedürfnis hätte?

Martin durchaus verträglich

Darum schlage ich dir ja vor, Musik zu machen.

Anna hat eine Erwiderung sein lassen, wendet sich zum Klavier und blättert in einem auf dem Pulte befindlichen Notenbuch

Welche Art Musik paßt am besten zu deiner Lektüre?

Martin leicht und liebenswürdig auflachend

Hast du nicht gerade Beethoven aufgeschlagen?

Anna müde lächelnd

Ja.

Martin

Also gut, eine Sonate von Beethoven!

Anna

Welche?

Martin

Sagen wir – die Mondscheinsonate.

Anna

Weil der Mond scheint, nicht wahr?

Martin wie oben

Oder auch opus 111!

Anna

Sag doch lieber, daß es dir alleseins ist!

Martin

Nur insoferne, als du eben alles mit gleicher Vollkommenheit spielst.

Anna

Du bist sehr liebenswürdig.

Martin sehr friedfertig

Warum nicht?

Anna spielt mit edlem Ausdruck ein Adagio von Beethoven. Martin hört ihr einige Augenblicke aufmerksam zu, dann zündet er sich eine Zigarette an und vertieft sich in sein Buch.

Anna unterbricht plötzlich ihr Spiel, läßt die Hände in den Schoß sinken und beherrscht ihre Nervosität zu einem trostlosen Vor-sich-hin-Schauen.

Martin mit mühsamer Freundlichkeit

Was ist dir?

Anna fast verzweifelt

Ich kann heute nicht spielen.

Martin

Warum denn?

Anna rauh, aber hilflos

Es ist mir einfach – Ich weiß nicht – Vielleicht langweilt es mich ...

Martin das Buch zuklappend, gelassen

Das hättest du gleich sagen sollen.

Anna nervös

Laß dich doch nicht stören, kümmere dich nicht um mich, lies doch, bitte!

Martin

Keineswegs. Ich widme mich ebensogerne dir. Plaudern wir ein wenig.

Anna müd

Wovon denn?

Martin

Es wird sich schon ein Thema finden.

Anna mehr wie zu sich

Ja, und dann beginnen wir wieder zu streiten –

Martin mild-vorwurfsvoll

Du bist sehr ungerecht. Ich erinnere mich nicht, daß wir in den letzten Jahren jemals gestritten hätten.

Anna

Weil es dir nicht mehr dafürsteht.

Martin

Nein, sondern weil, Gott sei Dank, kein Anlaß dazu vorliegt!

Anna

Früher, bevor das Kind da war, hat es schon manchmal, auch ohne sogenannten Anlaß, Streit gegeben! Dafür aber auch ...

Martin behutsam ablenkend

Seien wir doch froh, daß wir über jene Zeit schmerzhafter Anpassung hinweg sind.

Anna sehr verhalten

Es war aber auch manches Schöne damals.

Martin etwas gedankenlos

Das ist uns ja geblieben.

Anna rauh

Das glaubst du doch selbst nicht! Nichts ist uns geblieben.

Martin unsicher

Nichts? – Das ist Gefühlssache. Für mein Gefühl –

Anna in der Oberhand

Sprich es lieber nicht aus! Du bist doch sonst nicht der Mann, dir und anderen etwas vorzumachen.

Martin in sich versinkend, schwer

Da hast du wohl recht.

Pause. Man hört von der Straße herauf ein helles, eigentümlich sinnliches Frauenlachen.

Anna von diesem Lachen irgendwie berührt, geht etwas schleppend zum Fenster und starrt einige Augenblicke vor sich hin in das Mondlicht

An einem solchen Abend sollte man überhaupt nicht zwischen seinen dumpfigen vier Wänden sitzen ...

Martin wirklich bereitwillig

Wir könnten ja noch auf eine Stunde ins Freie hinausfahren und irgendwo draußen ein Glas Wein trinken.

Anna mit herber Wehmut

Unter blühenden Kastanienbäumen –

Martin mit herzlicher Wärme

Bei leichter Musik, in der Nähe fröhlicher Menschen. Willst du?

Anna sehr gehemmt

Dahin passen wir ja nicht.

Martin

Das ist bloß deine Einbildung!

Anna etwas hysterisch

Nein, nein, nein! Immer nur zusehen, wie die anderen jung sind, leben, vergnügt und verliebt sind! – Wir sind recht alt geworden, Martin!

Martin nachdenklich

Und dabei sind wir doch beide, jedes für sich, noch so lächerlich jung! Alt sind wir nur aneinander.

Anna

Woher kommt das?

Martin ganz sachlich

Das kommt vermutlich daher, daß unser Reizbedürfnis mit den Jahren zunimmt, während die Reize, die wir auf einander ausüben, immer schwächer werden.

Anna mit leichter Aggressivität

Vielleicht hättest du eben eine andere Frau nehmen müssen.

Martin schlicht

Das glaube ich nicht.

Anna

Eine, derer du nicht so rasch überdrüssig geworden wärest.

Martin mit Wärme

Ich bin deiner nicht überdrüssig, Anna!

Anna

Oh doch, du sagst ja selbst, daß ich auf dich keinen Reiz mehr ausübe.

Martin

Du hast mich nicht verstanden.

Anna

So etwas kann eine Frau auch nicht verstehen, die ihren Mann – liebhat.

Martin nahe bei ihr

Auch ich habe dich ja lieb, Anna.

Anna

Aber nicht so wie ich dich.

Martin tief

Wie denn hast du mich lieb?

Anna mit gesenktem Blick

Immer noch so – wie im Anfang.

Martin mit einer Glut, die nicht dem Weibe, sondern der Wahrheit gilt

Mich? Wirklich mich? Als diesen Mann, der ich bin? Oder mich als den dir Nächsten eines Geschlechtes, das du begehrst, eines Lebens, nach dem du dich sehnst und das manchmal in einem hellen verliebten Lachen heraufklingt durchs offene Fenster in einer Maiennacht? Kannst du mir das beantworten?

Anna verschlossen, nicht ohne eine gewisse innere Auflehnung

So habe ich es noch nicht betrachtet.

Martin

So müssen wir es aber betrachten, wenn wir als Menschen in Wahrheit mit einander weiterleben wollen!

Anna rauh

Ich weiß nicht – ich kann dir nicht antworten.

Martin in schwerer Erschlaffung, fast verzweifelt

Das ist eben der Abgrund zwischen Mann und Weib –

Anna weh

Oh nein, Martin, das ist vielmehr der Abgrund zwischen einem kalten und einem zärtlichen Herzen. Sie wendet sich von ihm ab.

Stubenmädchen tritt durch das Speisezimmer auf und überreicht Martin eine Visitenkarte.

Martin nach einem erstaunt-zweifelnden Blick auf die Karte in heller Freude

Wie? Ist das möglich? Vitus Werdegast!! Der mit einer Geige und drei Frackhemden nach Australien durchgebrannt ist! Der, von dem ich dir soviel erzählt habe! Zum Stubenmädchen Lassen Sie den Herrn doch herein! – Eilt selbst durchs Speisezimmer entgegen Ja, wo steckst du denn, Mensch des Erbarmens!?

Anna zum Stubenmädchen

Geben Sie mir rasch ein anderes Kleid! Beide links ab.

Martin und Vitus kommen durch das Speisezimmer.

Vitus Werdegast, Mann in der Mitte der Dreißiger, mittelgroße sportgeübte Gestalt, scharfes glattrasiertes meerluftgebräuntes Gesicht, volles, glatt und seitlich gescheiteltes Haar. Er trägt dunklen Sakkoanzug, Stehumlegkragen, Lackhalbschuhe. Er liebt es, mit leichtem englischem Akzent zu sprechen, den er besonders dann affektiert, wenn er für ein Gefühl, das ihn übermannt, oder eine Wahrheit, die er anbringen will, eine Maske braucht.

Martin ganz außer sich

Mensch, Freund, Bruder! Nach fünfzehn Jahren –!

Vitus mit besonders englischem Akzent

Dämpfe die Freude des Wiedersehens ein wenig, my dear!

Martin

Ach was! Du wirst doch erlauben, daß ich einfach toll bin!

Vitus

Vorgestern in Genua an Land gegangen, gestern noch mit Madame Susanne Fleuret in Monte Carlo diniert, vor einer Stunde hier eingetroffen und schon bei dir!

Martin höchst animiert

Wer ist Susanne Fleuret?!

Vitus

Eine von den Vielen, von den Zufälligen, die man gerade trifft und deren Taxe verschieden ist.

Martin wie oben

Und das schämst du dich nicht, mir gleich in der ersten Minute zu verraten?

Vitus

Warum auch? Ich habe ja kein Gelübde abgelegt. Und auch sonstige Bande verkümmern mich längst nicht mehr.

Martin

Gab es denn jemals Bande, die dich –?

Vitus mit komischer Feierlichkeit

Gewiß! Denn auch ich war eine Zeitlang so abgeschmackt –

Martin auflachend

Verheiratet zu sein –?

Vitus mit drolligem Ernst

Allerdings! Und habe die Geschichte verteufelt ernst genommen. Wurde mir jedoch recht übel gelohnt – Meine Frau betrog mich.

Martin

Ehe du ihr darin zuvorgekommen warst? Erzähle mir keine Räubergeschichten!

Vitus mit gravitätischem Humor

Ehe ich ihr darin zuvorgekommen! Immer mehr mit der seelischen Maske des englischen Akzentes Was mich zunächst nur aus rein sportlichem Ehrgeiz wurmte.

Martin

lacht, hält inne, dann mit behutsam forschendem Freundesblick

Eigentlich ist das vielleicht gar nicht so sehr zum Lachen –

Vitus sich gegen allen Anteil verwahrend

Oh, warum nicht? Eine Wette, ein Spiel, ein Rennen wie andre! Ziel: der Ehebruch. Ich habe einfach verloren. Und zwar um viele Nasenlängen. Denn ich selbst hatte noch gar nicht daran gedacht zu starten. Das ist nicht tragisch. Im Gegenteil! So wurde ich eben wieder frei. Es lebe die Freiheit!

Martin wie oben Auch wenn die Freiheit bloß – Madame Fleuret heißt?

Vitus unentwegt um jeden Preis

Auch dann!! Denn nur hier in Europa führt sie diesen schalen Kokottennamen. Aber was ist dieses Europa?! Dieser ganze Erdteil schwelt sozusagen von der Sentimentalität der Geschlechter, die jede Sinnenfreude mit den Bleigewichten der sogenannten Liebe beschweren. Liebe!! Ein Wort, an dem die Fröhlichkeit von Generationen zugrundegehen könnte! Nur der Orientale versteht, was Freude ist! Mit plötzlichem Gewahren Aber du wirst mir ja ganz trübsinnig, Alter!

Martin in verlegen-forciertes Lachen ausbrechend

Ganz im Gegenteil Deine Paradoxe belustigen mich aufs innigste.

Anna tritt auf. Sie hat sich umgekleidet und ein reizendes dunkles, einfaches Kleid angezogen.

Martin vorstellend, nicht ohne Bewegtheit

Meine Frau.

Vitus mit großer Verbeugung, sichtlich überrascht

Ah, Madonna! Meine Hochachtung! Für eine Europäerin sind Sie in der Tat überraschend – begehrenswert!

Anna zuerst etwas unsicher, dann fröhlich herauslachend

Seien Sie herzlich willkommen!

Martin wohlgelaunt zu Anna

Darauf warst du wohl nicht gefaßt! Aber an diesen Ton wirst du dich jetzt gewöhnen müssen, Liebste.

Vitus

immer in der Maske forcierten englischen Akzents

Sage nicht »Liebste«, o Freund! Man kann nämlich nie wissen, ob man nicht eine noch Liebere findet.

Martin

Für einen Ehemann ist das gänzlich ausgeschlossen – hier in Europa wenigstens.

Vitus nachdem Anna und er links vorne Platz genommen

Ja, in Europa! Da magst du wohl recht haben. Zu Anna im vollen Zuge geistreichen Übermuts Ich sagte soeben – oder sagte ich es noch nicht? – daß mir die europäischen Frauen wie Kühe vorkommen, die lieber gemalte Blumen aus Goldrahmen als frischen, süßen Klee von grüner, freier Weide fräßen! Bildlich gesprochen. Sie aber, Madonna, scheinen mir hievon eine löbliche Ausnahme zu bilden.

Anna belustigt

Sehr liebenswürdig! Eine Kuh bin ich allerdings nicht.

Vitus enthusiastisch

Nein bei Gott nicht! Eher eine Gazelle, ein Rehjunges – wenn auch immerhin über Dreißig!

Anna

Aber noch nicht sehr lange.

Vitus

Tut nichts. Nicht auf die Lenze, sondern auf das anatomische Moment kommt es an! Und Sie, meine Gnädigste, haben, wie es scheint, ganz geistvolle – Füße!

Anna

verlegen geschmeichelt, zieht ihre Füße an sich, lacht

Aber –!

Martin gleichfalls geschmeichelt auflachend

Solche Galanterien muß ich mir ausbitten!

Vitus mit drolliger Emphase

Ach, warum? Entziehen Sie doch, bitte, diese göttlichen Gebilde nicht geizig dem Zublick des verzückten Betrachters! Denn sehen Sie, ich beaugenscheine dergleichen begnadete Gliedmaßen ohne jede sträfliche Lüsternheit ...

Martin mit Humor dazwischen

Das will ich hoffen!

Vitus

Sondern mit den gleichsam eisgekühlten Blicken eines Wissenschaftlers der Freude! Sie müssen nämlich wissen, daß ich die Menschen im allgemeinen und die Frauen im besonderen nach der Intelligenz ihrer Füße einteile.

Anna

Das ist zum mindesten neu!

Vitus

Das mag neu, paradox, geistreich, originell, grotesk oder gar pervers sein! Die Hauptsache bleibt, daß meine Einteilung richtig ist. Mit Emphase Daher auch der Dichter an die Geliebte:

In dieser Füße keusches Heimlichsein
Sendet das Herz sein rotes Pochen nieder,
Und alles zage Beben deiner Glieder
Und viele Nerven kehren in sie ein.

Das Gegenstück hiezu sind eben dumme Füße!

Anna lacht belustigt

Martin

Es ist etwas Wahres daran.

Vitus

Es ist so viel daran, daß ich bisher unter tausend Europäerinnen kaum fünf gefunden habe, die darin meinen allerdings hochgespannten Erwartungen entsprochen hätten.

Anna

Sie werden sich bei den Frauen dieses Weltteiles unbeliebt machen.

Vitus

Wenn sie unbeliebt in dem Sinne von ungeliebt gelten lassen wollen, so habe ich keinen dringenderen Wunsch.

Anna

Das verstehe ich nicht.

Vitus

Nun denn, Madonna: geliebt werden ist, wie schon die leidende Form des Zeitwortes andeutet, ein höchst passives Vergnügen und heißt im Grunde soviel, als von jemandem anderen gelebt werden. Und ich lasse mich von niemandem leben! Ich lebe die andern.

Martin

So hast du auch nicht immer gedacht. Ich kenne dich besser.

Vitus

Gerade weil ich nicht immer so gedacht habe, empfinde ich es als ein besonderes Glück, in der zweiten Hälfte meines Lebens endlich so zu denken.

Anna

Sie müssen schwere Enttäuschungen erfahren haben.

Vitus

Früher einmal, in jener Zeit, wo ich mich noch zum Instrumente fremder Leidenschaften, Gefühle, Hoffnungen, Wünsche hergegeben habe. Heute bin ich, Gott sei Dank, so weit, daß die Frauen für mich Instrumente sind, auf denen ich meine Leidenschaften spiele.

Anna

Und finden Sie solche Frauen?

Vitus

Man findet sie in schwerer Menge.

Anna

Da sind Sie vielleicht nicht wählerisch?

Vitus

Ich glaube doch.

Anna

Dann aber nur innerhalb einer – gewissen Kategorie.

Vitus

Hier in Europa ist es allerdings nur eine gewisse übelbeleumundete Kategorie, die unsentimentale, lieblose Freude zu spenden vermag.

Anna

Freude, ist denn das mehr als Liebe?

Vitus

Liebe verhält sich zu Freude wie Parfüm zu einer Alpenwiese. Das wissen nur die göttlich-tierischen Kinder des Ostens.

Anna

Warum sind Sie dann eigentlich nach dem Westen gekommen?

Vitus

Gott, man hat doch schließlich auch noch andere Interessen als gerade diese Art von Freude! Glaubt mir, wie ich endlich hier dasitze, gehetzt von den Hunden dreier oder vierer Weltteile, habe ich eines Tages ein sehr banales Gefühl kennen gelernt –

Martin lachend

Das ist dann immer besonders originell, wenn du einmal in dir ein banales Gefühl entdeckst!

Vitus

Ein Gefühl, an das ich nie geglaubt hatte.

Anna gespannt

Was war es denn für ein Gefühl?

Vitus schlicht

Heimweh – einfach Heimweh.

Martin bewegt

Nicht möglich.

Vitus

Ja. In irgend einem dieser gottverlassenen australischen Goldgräbernester – mitten in Sand gebaut, ohne einen Schimmer Grün, ohne eine Pfütze Wasser! – gewahre ich eines Abends einen – Wurstladen, genau so einen wie jenen, an dem ich jeden Tag meiner Schulzeit vorüberging. Und auch die Würste im Schaufenster schienen mir die meiner Kindheit. In den Laden hineingehen und solch eine Wurst kaufen war eines. Und – mit Tränen in den Augen habe ich sie, die elend und kaum genießbar war, hernach in meinem Hotelzimmer bei verschlossenen Türen gegessen. – So hat es angefangen.

Martin mit Wärme, behutsam

Nun bleibst du aber ein wenig bei uns in der Heimat!

Vitus nach einem Blick auf Anna, die ihn mit heimlichem Leuchten erwidert

Nicht allzulange, fürcht' ich.

Anna

Sie müssen aber!

Vitus

»Einer wie ich ist immer nur zu Gaste« – selbst in der Heimat.

Anna Glauben Sie, wir in Europa wissen nicht auch gute Geiger zu schätzen?

Vitus

Ich bin kein guter Geiger, gnädige Frau. Ich bin in erster Linie Mensch, Müßiggänger, Abenteurer – mit einem Wort: ein arbeitsscheues, vagierendes Individuum. Nebenbei geige ich zufällig – um des lieben Mammons willen. Das reicht für herüben nicht aus, für jenseits von Suez genügt es.

Martin

Das werden wir beurteilen, wenn du nächstens deine Geige mitbringst.

Vitus

Lüstet es dich nach einem Violinsolo?

Martin I

m Gegenteil, meine Frau wird dich begleiten.

Vitus mit einer Überraschtheit, die er lieber nicht merken ließe

Können Sie denn das, meine Freundin?

Anna mit bescheidenem Stolze

Ich hoffe.

Vitus

Ja, das habt Ihr Europäerinnen: Musik und Seele! Nur zuviel Seele meistens und zuviel Musik und beides auf Kosten des Leibes, und der ist doch die Hauptsache Mit plötzlich geänderter Stimme Señora, womit ich die Ehre habe! Er erhebt und verbeugt sich.

Anna mit Wärme

Sie bleiben nicht noch ein wenig?

Martin identische Bewegung

Vitus weich

Für heute verzeiht mir, Kinder! Ich bin nämlich nicht nur aus kulinarischen Gründen in die Stadt meiner Jugend gekommen. – Ich sehne mich nach der ›Traurigen Weise‹ des Hirtenknaben auf Careols Fels. ›Von Tristan und Isolde weiß ich ein traurig Stück‹, fünfzehn Jahre nicht vernommen! Man ist eigentlich kein anständiger Mensch, wenn man ohne das so lange Zeit leben kann. Er sieht auf seine Taschenuhr Wenn ich mich beeile, komme ich noch zum Anfange des dritten Aktes zurecht.

Martin

Dann beeile dich, Alter! Denn das verstehen wir.

Vitus

Und nächstens komme ich und bleibe einen Abend lang bei Euch!

Anna

Und bringen die Geige mit!

Vitus Zuverlässig. Englisch akzentuiert

Und wenn Sie sonst etwas von mir benötigen, Ausnahme unter den Europäerinnen, so genügt ein telephonischer Anruf. Ich wohne Bristol Hotel. Auf Wiedersehen!

Anna mit Wärme und Bedeutung

Bald!

Vitus verbeugt sich und geht, von Martin begleitet, ab.

Anna sieht den beiden einen Augenblick nach, dann geht sie ein paarmal mit elastischen Schritten durchs Zimmer, nicht ohne flüchtig in den Wandspiegel zu blicken, lächelnd, angeregt.

Martin gleichfalls animiert zurückkommend

Nun, was sagst du zu meinem Freunde Vitus Werdegast? Habe ich dir zuviel von ihm erzählt?

Anna mit unbefangener lebhafter Zustimmung

Er ist entschieden von all deinen Freunden der interessanteste.

Martin

Verstehst du jetzt, daß dieser Mensch auf mich immer wie ein wahres Lebenselixier gewirkt hat? Und er ist heute gerade noch so jung wie damals.

Anna

Obwohl er inzwischen mancherlei mitgemacht haben muß.

Martin

Aber es wächst ihm aus allem etwas zu!

Anna mit einer Freude, die sie nicht zeigen will

Glaubst du, daß er wirklich mit seiner Geige kommen wird?

Martin

Darauf kannst du dich verlassen. Ich hab' es ihm doch angesehen, wie froh er überrascht war, daß du ihn begleiten wirst.

Anna behutsam

Seine Unterscheidung von Liebe und Freude ist aber doch etwas gesucht.

Martin lachend

Sie ist nicht so gesucht, als es den Anschein hat.

Anna etwas abwesend

Wirklich?

Martin Anna wohlgefällig betrachtend

Du warst übrigens heute abends ganz besonders schön, Anna –

Anna sehr gehalten

So? – Man sollte eben vielleicht doch hie und da – auch andere Menschen sehen.

Martin gut gelaunt

Da magst du schon rechthaben, das wollen wir auch von nun an!

Anna etwas abwesend

Ja?

Martin

Wenn du Lust hast, so fahren wir vielleicht doch noch auf eine Stunde hinaus ins Freie –

Anna

Jetzt noch?

Martin aufgeräumt

Warum nicht? Ich bin nachgerade in der Laune, heute noch irgend etwas anzustellen!

Anna nach einem flüchtig forschenden Blick mit feinem Lächeln

Mit mir?

Martin etwas befremdet

Warum nicht mit dir?

Anna wie oben

Wirklich mit mir als der Frau, die ich bin? Oder mit mir als der dir Nächsten eines Geschlechtes, das du begehrst, eines Lebens –?

Martin empfindlich

Soll das ein Scherz sein, Anna?

Anna mit einem gewissen Triumph

Kannst du mir diese Frage beantworten?

Martin schwer

Du hast recht – man soll solche Fragen nicht stellen.

Anna nach einer Pause, in der die ganze angeregte Stimmung der beiden Menschen wie ein Kartenhaus zusammengefallen ist, mit müder, belegter Stimme

Gehen wir schlafen.

Martin leise seufzend

Ja, gehen wir schlafen.

Anna geht zur Ständerlampe und dreht sie ab, dann bringt sie das Klavier in Ordnung. Martin hat sich indessen wieder zum Schreibtisch gesetzt und das Buch aufgeschlagen, in dem er gedankenlos blättert.

Anna mit dem Aufräumen fertig, nachdem sie Martin einige Augenblicke zugesehen

Bleibst du noch?

Martin freundlich

Geh nur voraus, ich komme bald nach.

Anna mühsam

Wann? – Wenn ich schon schlafe?

Martin

Ich werde dich nicht wecken.

Anna sehr verhalten

Wirklich nicht?

Martin liebevoll bereit

Oder soll ich?

Anna ohne alle Spitze

Oh nein! – Ich verstehe ja, daß du am Abend bisweilen auch ein bißchen – Mensch sein willst.

In diesem Augenblicke kommt wieder von der Straße herauf der gedämpfte Zusammenklang von fröhlich plaudernden und leise singenden Stimmen. Beide Menschen sehen, bis die Stimmen in der Ferne verklungen sind, zum Fenster hin.

Anna weh und weich, aber sehr verhalten

Gute Nacht.

Martin traurig und gütig

Gute Nacht, Anna.

Er reicht ihr vom Sessel aus die Hand hin, die sie mit einer ganz unbetonten Bewegung erfaßt. Er küßt ihre Hand, blickt zu ihr auf. Sie lächelt traurig über ihn hinweg und wendet sich zum Gehen. Er sieht ihr, die in dem vom Mondlicht dämmerigen Speisezimmer verschwindet, nach und versinkt dann über seinem Buch in trübes Nachdenken.

Vorhang, langsam, leise.


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