Ernst von Wildenbruch
Das wandernde Licht
Ernst von Wildenbruch

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Der Tag blieb dem Morgen treu, heiter und schön bis zum Ende. Aber weil er so schön war, wurde er für Eberhard von Fahrenwald anstrengend. Anna nahm ihn vollständig in Beschlag und schleppte ihn vom Morgen bis zum Abend im Park umher. Kaum daß sie ihm zu den Mahlzeiten Ruhe vergönnte.

Der Park hatte es ihr angethan; sie war geradezu darein verliebt. Bisher hatte sie ihn nur im allgemeinen kennen gelernt, nun sollte Eberhard ihr alle Winkelchen und Eckchen zeigen. Sie war in der Stadt groß geworden; die Natur, in die sie zum erstenmal hineinblickte, war für sie wie ein Märchenbuch, das man vor den Augen des Kindes aufschlägt. Jeder kleinste Vorgang darin war ihr ein Gegenstand des Staunens und Bewunderns. Unter jedem Baume, in dem eine Nachtigall saß, mußte Eberhard mit ihr stehen bleiben und dem Gesange lauschen; wenn ein Buchfink über den Weg vor ihnen herhüpfte, hielt sie ihren Begleiter am Arme fest, mit ausgestrecktem Finger zeigend: »Sieh doch nur, sieh! was für ein reizendes Tierchen!« Sie war vollständig zum Kinde geworden; sie brauchte nichts weiter, verlangte nichts weiter, sie war glücklich.

Der gestrige Abend mit seiner schwülen Erregung, seiner dumpfen Niedergeschlagenheit war in ihr ausgelöscht. Sie hatte ja ihren Gatten nicht recht begriffen, allerdings, aber sie hatte ja auch durch Erfahrung gelernt, daß man in solchen Augenblicken nicht in ihn dringen, ihn nicht fragen durfte; also fragte sie nicht.

Eine sinnliche Natur war sie nicht. Es kamen wohl Stunden und waren sogar dagewesen, wo ihr Blut heißer wurde – aber für gewöhnlich war ihr das Verlangen der Sinne fremd, und es bereitete ihr keine Schwierigkeiten, sich eine Ehe zu denken, in welcher die Eheleute wie zwei gute Freunde nebeneinander hergingen.

Und sie begann sich mit der Vorstellung vertraut zu machen, daß ihr beiderseitiges Verhältnis fortan in dieser Art weitergehen würde.

Ob der Mann, der müden Schrittes hinter ihr drein kam, diese Gedanken in ihrer Seele las? Vielleicht.

Er war etwas hinter ihr zurückgeblieben, denn weil er ihr zu langsam ging, hatte sie sich von seinem Arme losgerissen. Nun sah er sie vor sich dahintrippeln mit hastigen, fröhlichen Bewegungen, den grün übersponnenen Laubgang entlang, durch dessen Dach die Sonne ihr Licht in verstreuten Funken herniederschickte, die junge Gestalt wie mit Edelsteinen übersäend.

Wie glücklich sie war! Und wie ihr Glück ihm die tiefste Seele erwärmte!

Aber wie harmlos auch, wie sorglos sie war! Wie so keine Ahnung sich in ihr regte von dem, was gestern abend in ihm vorgegangen war, von all dem Dunklen, Entsetzlichen!

War es nicht gut, daß es also war? Freilich war es gut. Aber warum seufzte er trotzdem innerlich auf?

Er fühlte, daß er dieses alles vor ihr verstecken mußte. Den einen Menschen, der in ihm war, den gütigen, liebevollen, edlen Menschen, den durfte er ihr zeigen, – den andern mußte die Nacht bedecken und das Dunkel, daß sie nie in sein Gesicht sah – denn wenn sie es gesehen hätte – Und also mußte er stark sein und immer stark, und allein für sich tragen und schweigen.

Und so, indem er sie vor sich herschlendern sah, im Sonnenlichte gebadet, sie selbst wie ein verkörperter Sonnenstrahl, kam er sich vor wie das dunkle Gewölk, das hinter dem Lichte einherzieht, in dessen Schoß das Ungewitter brütet, der Untergang des Lichtes und sein Tod. Wer war vorhanden, um das vertrauensvolle Licht davor zu bewahren, daß das Ungewitter es verschlang? Nur er selbst. Er selbst war ihre Gefahr und sollte ihr Beschützer vor ihm selbst sein. Indem er die furchtbare Anforderung empfand, die von nun an jede Stunde und Minute, jeder Anblick des ersehnten Weibes an seine Selbstbeherrschung stellte, überlief es ihn wie ein Grausen.

Würde er Kraft behalten? Immer? Es legte sich schwer auf seine Brust, beinahe wie eine Todesangst.

Und dieses Angstgefühl verließ ihn nicht mehr; es wurde zu einer bleibenden, körperlichen Beklemmung, und diese Beklemmung wuchs, je mehr der Tag sich zum Ende neigte. Das Dunkel erschreckte ihn; er fürchtete sich vor der Nacht. Als er daher gegen Abend mit seiner Frau ins Schloß zurückgekehrt war, ließ er alles, was an Lampen aufzutreiben war, anzünden, damit Licht würde, damit er sich das Tageslicht einbilden könnte. Denn bei Tage, so schien es ihm, hatte der Dämon keine Gewalt über ihn. Nur hatte er dabei vergessen, daß in dem Lichte, das jetzt, aus allen Spiegeln widerstrahlend, die Gemächer füllte, auch die Gestalt des Weibes um so leuchtender hervortreten mußte. Und gerade vor ihr fürchtete er sich ja am meisten. Heute, im Laufe des Tages, als sie mit ihm den Park durchtändelt hatte, war sie ihm wie ein kleines Mädchen, wie ein Kind erschienen, dem gegenüber die Sinne schweigen – jetzt, da die Nacht kam, wurde sie wieder zum Weibe. Jede Bewegung ihrer Glieder wuchs in seiner Phantasie zu einer verstrickenden Umarmung, jedes Rauschen ihres Kleides zu einem sinnbethörenden Lockruf.

»Ich ziehe mir meinen Morgenrock an,« hatte Anna gesagt, als sie ins Schloß zurückkehrten, und es hatte ihm auf der Zunge geschwebt, zu sagen, »thu's nicht!«

Aber er sagte es nicht. Was hätte sie denken müssen? Wie hätte sie es verstehen können? Sollte er sagen, daß er wahnsinnig sei? Er selbst? Er lächelte.

»Freilich, freilich; wir gehen wohl heute früh zu Bett? Du wirst dich müde gelaufen haben?«

Als er zu ihr zurückkam, stand sie vor einem Bilde, mit einer Lampe hinaufleuchtend. Der weite Aermel des Schlafrocks war zurückgefallen, der volle weiße Arm kam bis über den Ellbogen hervor. Alles vergessend, wollte er mit einem Sprunge sich über sie stürzen – da wandte sie sich lächelnd um. Ein harmloses, ahnungsloses Kinderlächeln. Alles war für den Augenblick vorbei. Ruhig trat er zu ihr heran und nahm ihr die Lampe ab.

Heute, nachdem sie zu Abend gespeist hatten, wartete er nicht, bis die Uhr auf dem Kamin elf schlug.

»Du bist müde?« fragte er.

Sie nickte ihm mit traumverschleierten Augen zu.

In einem Armstuhl saß sie da, behaglich hintenüber gelehnt, die Füße weit ausgestreckt und übereinander gelegt.

»Die Frühlingsluft macht so müde,« sagte sie mit dämmernder Stimme, »und es ist so schön, einzuschlafen, während man die Nachtigallen singen hört – horch doch nur, wie das klingt – entzückend.«

Er war an das geöffnete Fenster getreten – sie hatte recht. Wie die Stimme des Frühlings drang der süße Ton der Nachtigallen aus dem nachtdunklen Parke herauf. Liebe war es, die ihren Gesang erweckte, und es war, als riefen sie allen Geschöpfen der Erde zu »liebt euch, jetzt ist die Zeit der Liebe«. Und da stand er und durfte nicht lieben. Die Qual, die er empfand, war so groß, daß er lange Zeit lautlos am offenen Fenster stehen bleiben mußte. Dann trat er zu ihr.

»Nun gute Nacht,« sagte er. Er stand über sie gebeugt; sie blickte lieblich zu ihm auf.

Plötzlich griff er mit der Hand hinunter und riß ihr den einen Schuh vom Fuße.

Sie erschrak beinah.

»Aber Eberhard.«

Sie wollte nach ihrem Schuh greifen, aber er hielt ihn fest.

»Ein Andenken,« rief er, »ein Andenken,« er lachte dabei laut, beinahe gellend, und dann, indem er den Schuh, in dem noch die ganze Wärme ihres Fußes war, an die Lippen drückte, schoß er auf die Thür zu und war hinaus. Kopfschüttelnd saß Anna und sah ihm nach; dann erhob sie sich, und den einen Fuß im Schuh, den andern im Strumpfe, wanderte sie in ihr Schlafgemach.

Eine Reihe von Tagen folgte, alle diesem Tage gleich. Luft und Himmel voll Sonnenschein, das Laubgezelt des Parks immer dichter anschwellend zum grünen, rauschenden Wald, von Düften durchflutet, von Vogelstimmen durchtönt, und durch die grünende Wildnis dahinwandelnd die rosige blühende Frau und der bleiche hohläugige Mann.

Immer größer wurde der Abstand, in dem sie gingen; immer weiter flog sie ihm voran, immer müder blieb er zurück, und es kam auch schon vor, daß er sich auf eine Bank niedersetzte und sie allein auf Entdeckungen ausziehen ließ.

Die schlaflosen Nächte griffen ihn zu furchtbar an. Seine Nerven waren des Morgens wie aufgeweicht, um sich dann im Laufe des Tages allmählich aufzustraffen, bis daß sie am Abende wieder angespannt waren, wie die Saiten eines Streichinstrumentes, jeden Augenblick zum Springen bereit.

Jeden Abend dann wieder das Aufsteigen des wütenden Verlangens und das Niederkämpfen desselben, so daß sein Inneres einem Schlachtfelde glich, und jeden Abend die Wiederkehr einer Erscheinung, die er sich nicht zu erklären vermochte, und die trotzdem vorhanden war, die er empfand, mit Grauen empfand:

Jeden Abend, wenn er in sein Zimmer gekommen war, hatte er ein Gefühl, als stände etwas hinter ihm, irgend etwas, er hätte nicht sagen können, was. Etwas Fürchterliches, das unablässig auf ihn hinblickte, mit grünen Augen, mit einem wartenden Blick. So deutlich empfand er die Anwesenheit dieses schrecklichen, unsichtbaren Etwas, daß ihm manchmal geradezu war, als hörte er ein leises, keuchendes Atemholen, so daß er die Lampe aufnahm und Winkel und Ecken seiner Zimmer durchstöberte, bis daß er die Lampe wieder niedersetzte und sich sagte, daß niemand da war und nichts, daß alles nur in ihm selbst war, ein Spukgebilde seiner Seele, der Wahnsinn, der Wahnsinn.

Eines freilich sah er bei diesen Gelegenheiten nicht: wenn er mit der Lampe in der Hand durch seine Zimmer stöberte und der Thür nahe kam, die zum Flur ging, dann sah er nicht, wie sich draußen an der Thür eine hagere Gestalt aufrichtete, die bis dahin lauernd zum Schlüsselloch gebeugt, mit leise keuchendem Atemholen gestanden hatte und nun, wenn sie seine Schritte nahen hörte, über den Flur hinweg huschte und sich in den Schatten des großen Schrankes drückte, der an der Wand des Flurs, neben der Thür stand.

Anna hatte in den letzten Tagen sein übles Aussehen bemerkt und ihn zärtlich besorgt gefragt, ob ihm etwas fehle. Aber er hatte hastig und entschieden verneint, »Gar nichts fehlte ihm, er war vollkommen wohl!« Und um sie zu beruhigen, hatte er sogleich einen weiten Spaziergang mit ihr durch den Park gemacht.

Mit aller Gewalt hatte er sich zusammengenommen und zusammengerafft; liebenswürdig und freundlich war er gewesen, wie nur je zuvor.

»Daß nur sie nichts merkte! Um Gottes willen, nur nicht sie!«

Aber diese letzte gewaltsame Anspannung gab ihm den Rest.

Da er sich heute, seiner Versicherung nach, so wohl fühlte, hatte Anna ihn wieder durch den ganzen Park mit sich genommen, herauf und herab, die Kreuz und die Quer. Mehrere Vogelnester hatte sie entdeckt, die noch im Bau begriffen waren, und das Treiben der Vögel dabei war doch zu reizend, jedes einzelne mußte sie ihm zeigen. Und nachdem das erledigt war, hatte er ihr dahin folgen müssen, wo sie ihren Gemüsegarten anzulegen gedachte; sie hatte ihm die einzelnen Felder schon gezeigt, wo Salat gebaut werden sollte, und Bohnen, Rüben und Tomaten, und was es alles gab. Am Abend war sie daher schläfrig geworden wie ein Kind, das sich tagsüber müde gespielt hat.

»Heute werde ich aber gehörig schlafen,« sagte sie, als sie sich erhob, um ihm gute Nacht zu wünschen.

Er war heut so besonders liebenswürdig gewesen, dafür war sie ihm Dank schuldig. Zärtlich hing sie sich um seinen Hals, um ihn zu küssen. Wie es jetzt in seiner Gewohnheit lag, richtete er den Oberleib steif auf, als wollte er ihren Lippen ausweichen, aber sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, heute sollte er einmal seinen Kuß bekommen. Lachend versuchte sie, mit ihrem Munde an den seinen zu gelangen, und weil ihre Körperlänge dazu nicht ausreichte, stieg sie mit den Füßen auf seine Füße. Indem sie sich auf den Spitzen erhob, reichte sie ihm bis an den Mund, und nun erhielt er einen langen, warmen, liebevollen Kuß.

Ihre Lippen lagen auf den seinen, ihr junger Leib drängte sich an ihn, auf seinen Füßen empfand er ihre warmen weichen Füßchen.

In dem Augenblick war ihm zu Mute, als risse etwas in ihm, beinah, als spränge eine Saite, so daß er das Nachsummen des Schlags in seinen Ohren zu vernehmen meinte.

Er schob sie von sich.

»Gehst du jetzt zu Bett?« fragte er; der Ton seiner Stimme war lallend.

»Freilich geh' ich zu Bett.«

An der Thür des Schlafzimmers blieb sie noch einmal stehen und warf ihm, traumselig nickend, Kußfinger zu.

Kaum daß sie dann ihr Lager erreicht hatte, war sie schon eingeschlafen.

Einige Zeit später, sie hätte kaum sagen können, ob Stunden oder nur Minuten, wurde sie durch ein Geräusch geweckt, und als sie blinzelnd die verschlafenen Augen öffnete, bemerkte sie, daß ein Lichtschein im Zimmer war. Wie kam das? Sie hatte doch vor dem Einschlafen alles Licht gelöscht?

Indem sie sich allmählich ermunterte, sah sie, daß das Licht von der Thür herkam, und durch den blauseidenen Bettvorhang hindurch gewahrte sie eine dunkle Gestalt, die in der Thür stand. Genau zu erkennen vermochte sie nicht, wer es war.

»Bist du's, Eberhard?« fragte sie schläfrig.

Es erfolgte keine Antwort. Die Gestalt rührte sich nicht. Sie richtete sich auf den Ellenbogen auf.

»Eberhard, bist du's?« fragte sie noch einmal.

Jetzt kam die Gestalt mit einem Schritt heran, bis an das Fußende ihres Bettes, schlug den Vorhang zurück – ein Licht in Händen, stand ihr Gatte vor ihr, Eberhard von Fahrenwald.

Er gab keinen Laut von sich, seine Augen ruhten auf ihr, mit stierendem, beinahe gläsernem Blick.

Sie wußte nicht, was sie denken sollte, verwirrt schaute sie ihn an. Dann streckte sie den Arm nach ihm aus.

»Aber Eberhard – was machst du denn?«

In dem Augenblick hatte er das Licht auf den Nachttisch gesetzt und ihren Arm mit beiden Händen ergriffen. Als wäre ihr Arm in einen Schraubstock gespannt – so war es. Es wurde ihr unheimlich.

»Aber – so sprich doch nur ein Wort,« bat sie leise.

Er sprach nicht; es war, als hörte er sie überhaupt nicht. Plötzlich ließ er ihren Arm fahren, griff sie mit beiden Händen an den Schultern und drückte sie in die Kissen zurück. Sie lag wie gefesselt unter seinen Händen, unfähig sich zu bewegen; ihre Augen blickten angstvoll in sein Gesicht empor, das mit steinernem, rätselhaftem Ausdruck über sie gebeugt war.

»Was thust du denn?« stammelte sie; dabei warf sie die Schultern hin und her und versuchte, sich seinem Griffe zu entwinden.

Als er die windenden Bewegungen ihres Körpers fühlte, bog er plötzlich den Oberleib zurück, richtete sich auf, sein Anblick wurde wie der eines wilden Tieres, das sich zum Sprunge auf die Beute anschickt.

Von Todesangst gepackt, fuhr sie auf und aus dem Bette. Keuchend stand sie, zu ihm hinüberblickend, der auf der andern Seite des Bettes stand. In das Zimmer ihrer Jungfer zu gelangen, vermochte sie nicht, weil er zwischen Bett und Thür war.

Als er jetzt aber eine Bewegung machte, als wollte er auf sie zu, stieß sie einen gellenden Schrei aus, und so wie sie war, mit nackten Füßen, nur im Hemd, rannte sie durch die Thür, durch die er gekommen und die hinter ihm offen geblieben war, in ihr Wohnzimmer. Halb sinnlos vor Angst drückte sie sich hinter dem Ruhebett nieder, das an der gegenüberliegenden Wand stand. Ein Augenblick verging – dann erschien der Verfolger auf der Schwelle, das Licht haltend, mit dem Lichte nach ihr suchend.

Jetzt hatte er sie entdeckt – und wieder sprang sie auf und flüchtete weiter, in das nächste Zimmer. Hinter ihr kam er her, mit langen Sprüngen. Aus dem zweiten Zimmer ging es in das dritte, in das vierte und weiter, immer weiter, durch alle Zimmer hindurch, die Galerie entlang, bis daß sie endlich im Bibliotheksaale, am Ende der Zimmerflucht angelangt war und sich bewußt wurde, daß es nun nicht weiter ging, daß sie gefangen war, verloren war. – Mitten im Saale, die entsetzten Augen auf ihn gerichtet, blieb sie stehen, beide Arme reckte sie in die Höhe, – ein verzweifeltes Geschrei – und jählings, mit schwerem Fall schlug sie auf den Fußboden nieder, ohnmächtig, wie eine Leiche anzusehen.

Als dies geschah, als er den Schrei vernahm und die weiße Gestalt zusammenbrechen sah, blieb der Mann stehen und sah sich einen Augenblick wie verwundert um. Es sah aus, als müßte er seine Erinnerung sammeln. Dann kam er, das Licht hoch haltend, mit vorsichtigen Schritten da heran, wo das da am Boden lag, das Weiße. Er senkte das Licht und leuchtete über die regungslose Gestalt hin, richtete sich wieder auf und trat einen Schritt zurück. Er setzte das Licht auf den Tisch, und auf die Tischplatte niederstarrend, fing er wieder an, sich zu besinnen, nachzudenken, nachzudenken. Dann erhob er die Augen, richtete sie dumpf brütend den Fenstern zu, hinter denen die schwarze Nacht hing, und nun war es, als käme aus weiter Ferne der Nacht ein Licht heran, ganz fern erst, ganz klein, aber näher kommend, immer näher, bis daß es sein Gesicht erreicht hatte, bis daß es in seine Augen gestiegen war. Und nun begannen die Augen, die bis dahin gläsern gestiert hatten, wieder zu sehen, die Züge des verwandelten Gesichts wandelten sich wieder zurück, und nun war es wieder Eberhard von Fahrenwald, der dort am Tische stand.

Mit einem Ruck, daß die Gelenke in seinem Leibe krachten, richtete er sich plötzlich in die Höhe, ergriff noch einmal das Licht und trat heran – im nämlichen Augenblick aber flog er rückwärts, als wenn ein Stoß ihn zurückgeworfen hätte. Auf dem glatten Parkett des Fußbodens schlug er der Länge lang hin, mit dem Gesicht am Boden, beide Hände in den Mund stopfend, mit den Zähnen in die Hände beißend, daß das Blut herabtroff. Ein gurgelndes Röcheln, ein ersticktes Heulen wühlte sich aus ihm heraus und in den Fußboden hinein; dann kroch er bis zu dem nächsten Stuhle, arbeitete sich mühselig an dem Stuhle auf, bis daß er auf den Füßen stand, und nun, wie ein Mensch, der nicht mehr gehen kann, dem das Rückgrat gebrochen ist, schleppte er sich, die Augen immerfort auf die Gestalt am Boden dort gerichtet, bis an die Thür, die aus dem Bibliotheksaale auf den Flur führte. An der Thürklinke hielt er sich mit beiden Händen aufrecht, das Haar klebte ihm im Gesicht, eine dicke Feuchtigkeit – war es Schweiß, war es Blut, waren es Thränen – rieselte ihm vom Gesicht; es war, als wenn er weinen wollte, aber er vermochte es nicht – als wenn er etwas sagen wollte, aber er vermochte es nicht – nur ein Aechzen wurde vernehmbar: »Anna – Anna – Anna« und diesen Namen wiederholend und fortwährend, sinnlos wiederholend, schob er sich zur Thür hinaus. Sobald er aber die Thür hinter sich hatte, fühlte er sich von einem eisernen Arm umschlungen und aufrecht gehalten. Der Mann war da, der ihn als Kind auf den Armen getragen hatte, und dem er nun wieder gehörte, der alte Johann.

»Kommen Sie nur, gnädiger Herr,« sagte er mit starker, harter Stimme, »kommen Sie nur und lassen Sie mich machen. Jetzt wird sich alles wieder geben.«

Er führte den gebrochenen Mann, der hülflos, willenlos in seinem Arme schwankte, die Treppe hinauf, in sein Zimmer; er brachte ihn zu Bett, wie ein Kind; er deckte ihn zu.

»Nun schlafen Sie,« sagte er laut, beinah befehlend; dann sah er sich noch einmal in den Zimmern um: kein Messer da? Keine Schere? Kein Werkzeug irgend welcher Art? Nichts. Er rieb sich die Hände; so stolz war er! so vergnügt! An den Fenstern machte er sich noch zu schaffen, und es dauerte ziemlich lange, bis er damit fertig war; er hatte einen Schraubenbohrer in der Tasche und Schrauben; sämtliche Fenster in den Zimmern des Barons schraubte er zu – für alle Fälle – man konnte ja nicht wissen. – Dann riegelte er die Räume seines Herrn von außen ab und nun war er fertig, nun hatte er ihn da drin, nun hatte er ihn sicher. Als er auf dem Flur draußen stand, reckte er sich lang auf, »Ah« – sagte er laut vor sich hin und jetzt brauchte er sich ja keinen Zwang mehr anzuthun, jetzt konnte er lachen und er lachte, laut, immer lauter, zuletzt brüllend. Mit den flachen Händen schlug er sich auf die Lenden; »wer hatte nun recht behalten?«

Vom Augenblick an, als der Baron in der Nacht sein Zimmer verlassen hatte und hinuntergegangen war, hatte er ja alles mit angehört.

»Jetzt kommt's,« hatte er sich gesagt, indem er im Dunkel hinter ihm hergeschlichen war. Dann hatte er den Ruf in Annas Schlafgemach vernommen, das Jagen und Laufen durch die Zimmer, endlich den letzten Schrei und das Fallen des Körpers im Bibliotheksaale.

»Jetzt hat er sie totgeschlagen,« hatte er sich gesagt, und er hatte an sich halten müssen, um nicht schon da lachend herauszuplatzen. In dem Augenblick war er ja noch Diener gewesen, da hätte es sich nicht geschickt.

Aber jetzt – jetzt blieb nur noch zu thun, daß er sich danach umsah, wo der Leichnam lag. Zu dem Zwecke ging er jetzt nach dem Bibliotheksaal.

Einen dicken Stock trug er in der einen, eine brennende Laterne in der andern Hand. Warum er den Stock mitnahm? Er hatte so ein Gefühl, als könnte sich möglicherweise eine Gelegenheit bieten, – er wünschte sich eine Gelegenheit – er hatte so ein Bedürfnis, auf irgend etwas loszuhauen, irgend etwas zu zerschmettern, irgend etwas, am liebsten aber menschliche Glieder und einen menschlichen Körper. Er hieb mit dem Stock auf das Treppengeländer, daß es krachte. Ah – wie ihm das wohl that! Wenn »sie« so vor ihm gelegen hätte! Wenn er so auf »sie« hätte loshauen können, daß ihre Glieder unter seinen Streichen zerflogen wären wie Glas! Aber der Baron hatte ihm ja schon vorgearbeitet. Jetzt war er nur noch neugierig zu sehen, wie er es gemacht haben, wie er »sie« zugerichtet haben würde. Mit der lüsternen Begier der blutdürstigen Natur, die dem Anblick von irgend etwas Gräßlichem entgegengeht, trat er in den Bibliotheksaal ein, sah sich um – und blieb enttäuscht stehen. Der Saal war ja leer?

Die Jungfer, die Thür an Thür mit ihrer Gebieterin schlief, war von dem dumpfen Rumoren in Annas Schlafzimmer aufgewacht. Anfangs nur halb ermuntert, war sie ganz wach geworden, als sie den gellenden Schrei nebenan vernahm.

Rasch war sie aufgestanden, hatte Licht angezündet und war eingetreten. Nun sah sie Annas zerstörtes Bett, von dem die Decken heruntergeworfen waren, in dem die Kissen wüst und wild durcheinander lagen. Sie sah die Thür zum Nebenzimmer offen, und in dem Augenblick vernahm sie von drüben, aus der Ferne, Annas verzweifelten Schrei. Im ersten Augenblick hatte sie in ihr Zimmer zurücklaufen und den Kopf unter die Bettdecke stecken wollen. Aber dann hatte sie sich gesagt, daß das nicht recht wäre, daß der Frau Baronin etwas zugestoßen sein müßte, der armen jungen Frau Baronin, die so gut zu ihr war, von der sie nie ein böses Wort zu hören bekam, und daß es ihre Pflicht sei, zuzusehen, was geschehen war. Darum hatte sie sich rasch in die notdürftigste Kleidung gesteckt, und zitternd, mit schlotternden Gliedern, war sie die Zimmerflucht entlang bis nach dem Bibliotheksaale gegangen.

Wie sah es hier aus! Ein Leuchter lag am Fußboden; das Licht war nicht erloschen, die Flamme hatte schon angefangen, ein glimmendes Loch in das Parkett zu brennen, und einige Schritte weiter war noch etwas, etwas lang Hingestrecktes, Weißes, das sich jetzt stöhnend zu regen begann, die junge Frau Baronin, die nur mit dem Hemde bedeckt, mit aufgelöstem Haare ohnmächtig am Boden lag.

Bei dem Anblick brachen dem Mädchen die Thränen aus den Augen. Sie hob das schwälende Licht auf, kniete zu ihrer Gebieterin nieder und nahm ihren Kopf in ihren Schooß.

»Gnädige Frau Baronin,« sagte sie, »Frau Baronin, Frau Baronin!«

Anna schlug die Augen auf, und als sie die Jungfer erkannte, klammerte sie sich um ihren Hals.

»Hilf mir!« seufzte sie »hilf mir!«

Das Mädchen riß den Mantel ab, den sie um die Schultern geworfen hatte, und verhüllte damit die schutzlosen Glieder ihrer Gebieterin, dann umfaßte sie sie unter den Achseln und half ihr aufstehen. Aengstlich aneinandergeschmiegt wanderten die beiden Frauen nach Annas Schlafgemach zurück.

Hier sank Anna auf einen Stuhl, wie in Betäubung vor sich niederstarrend. Das Mädchen holte ihre Kleidungsstücke heran und begann sie anzuziehen; eine Ahnung sagte ihr, daß man sich auf weiteres gefaßt zu machen hatte und daß man sich rüsten müsse. Anna ließ sie schweigend gewähren.

»Wo ist denn mein Mann?« fragte sie nach einiger Zeit.

»Der Herr Baron? Ich weiß nicht,« versetzte das Mädchen. »Soll ich einmal nach ihm seh'n?«

»Ja, ja,« sagte Anna.

Das Mädchen schlüpfte hinaus, auf den Flur, die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf. Sie kam gerade zurecht, um zu sehen, wie der alte Johann die Thür des Barons von außen verriegelte, wie er dann in sein Zimmer ging und mit der Laterne in der einen, dem Stock in der andern Hand wieder herauskam; unhörbar glitt sie die Treppe hinab, dann kam sie zu Anna zurückgelaufen.

»Gnädige Frau Baronin – eben hab' ich's geseh'n – der Johann hat den gnädigen Herrn eingesperrt – und ich glaube jetzt kommt der Johann herunter – und einen dicken Stock hat er mit sich – und er sieht aus, wie ich's gar nicht sagen kann – gar so fürchterlich – o Herr Jeses ne, Herr Jeses ne!«

Sie war ganz außer sich, ihr Atem flog, zu Annas Füßen niedergekauert, umschlang sie sie mit den Armen. Hülflos, ratlos drückten sich die beiden Frauen aneinander.

Nach einiger Zeit vernahmen sie ein dumpfes Geräusch; schwere Schritte stampften vom Bibliotheksaale heran. Dazwischen hörten sie eine Stimme; es sprach jemand ganz laut.

Das Mädchen beugte lauschend den Kopf vor.

»Das ist der Johann,« flüsterte sie.

Anna saß, wie in Eis gebadet.

»Mit wem spricht er denn nur?«

Das Mädchen zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf.

Jetzt konnte man schon einzelnes von dem verstehen, was er sagte: »Aber tot muß sie sein! Muß sie sein! Lebendig aus'm Haus lass' ich sie nicht! Lass' ich sie nicht!«

Dann plötzlich blieb er stehen, und im nächsten Augenblick gab es einen fürchterlichen Krach; mit dem dicken Knotenstock hatte er in einen der hohen Spiegel hineingehauen, die vorn in den Zimmern hingen.

»Siehste du!« kreischte er, und während das klirrende Glas zu Boden rauschte, stieß er ein Gelächter aus, daß den beiden Frauen die Haare zu Berge stiegen.

Weiter gingen die Schritte, Stühle flogen beiseite, Tische schmetterten zu Boden, wie wenn ein Ungeheuer durch die Zimmer stapfte und alles hinwegschleuderte, was ihm in den Weg kam. Im nächsten Zimmer war wieder ein Spiegel zwischen den Fenstern – klirr – ging der Knüppel hinein und – klirr – kam das splitternde Glas herunter. Wieder kam das »siehste du!« wieder das gellende Lachen und das wahnwitzige Schwatzen: »Tot muß sie sein! tot muß sie sein! muß sie sein!«

Jetzt war kein Zweifel mehr, auf das Schlafzimmer kam er zu.

»Frau Baronin!« sagte das Mädchen, indem es, kreideweiß im Gesicht, auf die Füße sprang.

Anna saß wie leblos.

»Frau Baronin!« sie schüttelte sie an den Schultern, »um Jesus und aller Heiligen willen, kommen Sie fort!«

Mit einem Griff packte sie Anna um den Leib, riß sie vom Stuhle auf und zog sie aus dem Schlafzimmer in ihre nebenanstoßende Kammer, deren Thür sie hastig von innen verriegelte.

Es war höchste Zeit gewesen.

Im Augenblick, als sie sich hinter die Thür gebracht hatten, erdröhnten die Schritte in Annas Wohnzimmer, und im nächsten Augenblicke erschien auf der Schwelle des Schlafgemachs eine grauenvolle Gestalt, die Gestalt eines Wahnsinnigen, Tobsüchtigen, des alten Johann.

In der Linken hielt er die Laterne hoch, dann hörten die Frauen, die sich draußen zähneklappernd an die Thür drängten, seine Stimme, die jetzt pfeifend, in schneidenden Fisteltönen herauskam: »Siehste du, Kurnallje! Itze hab' ich dich!«

Dann ein Sausen durch die Luft und ein schwerer schmetternder Streich; sein Stock hatte mit aller Gewalt in Annas Bett hineingeschlagen. Die gepolsterte Rolle die unter Annas Kopfkissen gelegen hatte, war während des Kampfes verschoben worden und lag jetzt mitten im Bett. Die längliche runde Gestalt des Polsters täuschte seinen wahnsinnumnachteten Sinnen vor, daß die junge Frau selber vor ihm läge; auf sie hatte er eingehauen. Ein wütendes Lachen folgte dem Streiche.

»Hat's gut gethan? Hat's gut gethan?«

Dann wurde seine Stimme undeutlich und verworren, als hätte er einen Brei im Munde, den er nicht mehr zu Worten zu zerkauen vermochte, wie die Stimme eines bösen Hundes, den die Wut so übermannt hat, daß er nicht mehr bellen kann.

»Noch leben willst de? Noch mucken willst de? Tot mußt de sein! Tot mußt de sein! mußt de sein!«

Und »krach«, »krach« und »krach« wie eine schaudervolle Begleitung zu den schaudervollen Worten schmetterte der Stock wieder, wieder und wieder in das Bett hinein.

Nun schien er befriedigt.

Ein langgezogenes »so – siehste itze war's recht«, dann noch ein wortloses unverständliches Wühlen und Rumoren, und dann vernahmen die Frauen, wie er stampfenden Schrittes, so wie er gekommen war, das Schlafzimmer wieder verließ.

Was that er jetzt? Wo ging er hin? Den Finger auf den Mund gelegt, bedeutete das Mädchen Anna, daß sie sich ruhig verhalten, daß sie zurückbleiben sollte, dann öffnete sie leise, leise, die Thür, streifte die Schuhe ab und schlich barfuß dem Alten im Dunkel nach. Nach längerer Zeit erst kam sie zurück.

»Frau Baronin,« sagte sie, »Frau Baronin, kommen Sie schnell, seh'n Sie, was er jetzt angibt.«

Sie warf Anna einen Mantel um, dann ergriff sie sie an der Hand und riß sie durch die dunklen Räume des Schlosses, über eine Hintertreppe in den Garten hinunter.

In einiger Entfernung vor ihnen schritt der Alte, die Laterne in der einen, statt des Stocks jetzt einen Spaten in der andern Hand. Im linken Arme trug er die weiße Kopfrolle aus Annas Bett, die infolge seiner Streiche mitten durchgeknickt war und in zwei bammelnden Enden über seinen Arm hing.

»Er glaubt, das sind Frau Baronin, die er da trägt,« stammelte das Mädchen Anna ins Ohr.

Anna blickte starr.

Das Mädchen zog sie am Arme und bedeutete sie, weiterzugehen: »aber leise,« mahnte sie, »leise!«

Mit angehaltenem Atem schlichen sie hinter dem Alten her, so weit entfernt, daß sie seine von der Laterne beleuchtete Gestalt gerade noch zu erkennen vermochten.

Jetzt sahen sie, wie er vom Wege in das Gebüsch abbog, und nachdem er sich einige Schritte weit hineingearbeitet hatte, blieb er stehen. An der Stelle, wo er sich befand, war eine kleine Lichtung im Dickicht, einige Fuß im Geviert. Er hing die Laterne an einen Ast, warf das Polster zur Erde, spuckte sich in die Hände und mit einem »nu jetzt aber 'mal« stieß er den Spaten in die Erde und fing an, eine Grube auszuwerfen.

Die beiden Frauen hatten sich bis an den äußeren Rand des Gebüsches herangemacht; sie verfolgten jede seiner Bewegungen. Er arbeitete mit grimmiger Verbissenheit; ein dumpfes Grunzen begleitete jeden Spatenwurf. Dann richtete er sich auf, so daß das Licht der Laterne sich in seinen blutunterlaufenen, gräßlichen Augen spiegelte. Er raffte das Polster vom Erdboden auf, hob es mit beiden Armen empor und dann mit aller Gewalt schleuderte er es in das gähnende schwarze Loch, so daß man den dumpfen Puff vernahm, mit dem es unten aufschlug.

Er stierte in die Grube hinunter.

»Da gehste nein,« sagte er, »da bleibste und kommst all dein Lebtag nicht wieder heraus!«

Dann griff er wieder zum Spaten und schaufelte das Loch zu.

»Frau Baronin, kommen Sie fort,« flüsterte das Mädchen. Der Alte hatte sein Werk vollbracht, gleich würde er jetzt zurückkommen, auf die Stelle zu, wo die beiden standen. Sie wichen einige Schritte in dem dunklen Laubgang zurück. Durch das Dickicht brach er sich hindurch und an ihnen vorbei trottete er nach dem Schloß zurück.

»Jetzt meint er, hat er Frau Baronin begraben,« sagte das Mädchen.

Anna konnte nichts erwidern.

Die gutgemeinte aber plumpe Art, mit der ihre Begleiterin ihr all das Schreckliche, was sie erlebte und sah, noch einmal wiederholte, steigerte die Entsetzensqual, die auf ihr lastete, bis zum Unerträglichen; der Atem versagte ihr, sie schluckte, schluckte und schluckte noch einmal, dann taumelte sie und wäre ohnmächtig zur Erde gefallen, wenn sie nicht mit dem Rücken gegen einen Baumstamm gesunken wäre, und wenn nicht das Mädchen mit beiden Händen zugegriffen und sie aufrecht gehalten hätte.

Erst allmählich hob sich der Druck, der ihr wie ein eiserner Reif die Brust umspannte. Endlich vermochte sie tief Atem zu holen, und nun brach sie in einen endlosen Thränenstrom aus.

»Was soll ich jetzt machen?« schluchzte sie, »ins Schloß kann ich doch nicht mehr zurück!«

Vom Jammer überwältigt, kniete das Mädchen vor ihr nieder und umfing sie mit den Armen.

»Frau Baronin,« sagte sie flehend, »liebe, gutte, gnädige Frau Baronin, weinen Se och nich so! Gott is gutt, Gott wird Sie nicht verlassen! Ins Schloß dürfen Frau Baronin nicht zurück, das is ja klar; also will ich Frau Baronin etwas sagen: Frau Baronin gehen mit mir, zu meinen Eltern ins Dorf« – in ihrer Erregung hatte sie all ihr Hochdeutsch vergessen und war wieder ganz das schlesische Landmädchen geworden –, »meine Eltern haben halt nur a paar kleene Stiebchen, aber 's sind gutte Leite, gutte Leite! Frau Baronin können ganz gutt a paar Tage bei ihnen wohnen. A Bett für Frau Baronin find't sich schon und a Brinkel zum essen auch, und murne is wieder a Tag, und da werden wir schon weiter seh'n, schon weiter seh'n.«

Mit diesen Worten hatte sie Anna unter den Arm gefaßt und führte sie, die willenlos alles mit sich geschehen ließ, durch den Park auf das freie Feld hinaus und dann im weiten Bogen in das Dorf, zum Hause ihrer Eltern, wo sie in tiefer nächtlicher Stunde an die Fensterläden klopfte und die alten Leute aus dem Schlaf pochte.

Eine halbe Stunde später lag Anna im Bette der alten Tagelöhnersfrau, während diese und ihr Mann sich mit ihrer Tochter, der Franzel, nebenan in die Küche setzten und mit offenem Mund und Augen die fürchterlichen Dinge anhörten, die sich droben auf dem Schlosse begeben hatten.

Am nächsten Morgen saß Eberhard von Fahrenwald oben in seinem Zimmer, in einen Armstuhl geschmiegt, die Kniee mit einer wollenen Decke umhüllt, müde, gebrochen, wie ein plötzlich alt gewordener Mann.

Die Thür that sich auf, und der alte Johann erschien, eine Platte in Händen, auf der er ein Frühstück trug. Er setzte sie auf den Tisch neben seinen Herrn.

»Frühstücken Herr Baron jetzt!« befahl er.

Seine ehemalige demütige Haltung war nicht mehr; er stand neben seinem einstigen Herrn wie ein Aufseher bei einem Gefangenen.

Der Baron senkte die Augen, es sah aus, als fürchtete er sich vor seinem Diener.

»Frühstücken Sie,« gebot dieser noch einmal, und während Eberhard von Fahrenwald einige Bissen zum Munde zu führen versuchte, ging er, die Hände in den Hosentaschen, in den Zimmern auf und ab, die Fenster und Thüren untersuchend. Dann kam er zurück, um das Frühstück wieder abzuräumen.

Eberhard sah mit scheuen Blicken an ihm vorbei. Seine Hände zupften an der wollenen Decke; man merkte ihm an, daß eine Frage auf seiner Seele lag, die sich nicht über die Lippen getraute. Endlich kam sie heraus: »Wo – ist denn – meine Frau?«

Der Alte zuckte die Achseln, als verlohnte es sich nicht, auf solche Frage überhaupt zu antworten, und ging auf die Thür zu.

»Wo ist meine Frau?« wiederholte Eberhard mit heiserer Stimme.

Jetzt drehte der Alte die Augen zu ihm herum, die giftigen Augen.

»Denken Herr Baron denn immer noch daran? Wäre abgethan, die Geschichte, hätt' ich gemeint. Wär' schon am besten, Herr Baron fingen an, an andres zu denken.«

Eberhard ruckte und zuckte in seinem Stuhl; es sah aus, als ob er aufstehen wollte, aber der gefährliche Blick des Alten hielt ihn am Platze fest.

Beide sahen sich eine Zeitlang stumm in die Augen. Dann traten Schweißtropfen auf die Stirn des Barons; erst nur vereinzelt, dann immer mehr, immer dicker, so daß ihm der Schweiß plötzlich über das Gesicht zu laufen begann. Er wollte sprechen, aber es sah aus, als wären seine Kinnladen verrenkt.

»Aber – sie ist nicht –«

Er kam mit der Frage nicht zu Ende.

»Ja, versteht sich!« fiel ihm der Alte mit wüster Brutalität ins Wort. »Was soll sie denn sonst auch sein? Da können Herr Baron warten, eh' die wiederkommt!«

Eberhard stierte ihn an.

»Fortgegangen?« fragte er tonlos.

Jetzt kam der Alte von der Thür zurück, setzte die Platte wieder auf den Tisch und sah grinsend auf ihn herab.

»Tot ist sie! Was haben Sie denn auch gedacht?«

Eberhards Kniee zogen sich wie im Krampfe empor, sein Mund ging auf, als wenn er nach Luft schnappte, er stopfte beide Fäuste in den Mund, dann fiel sein Oberleib vornüber, so daß seine Brust beinah die Kniee berührte. Ein konvulsivisches Zucken ging durch seinen Körper.

Wie ein Teufel stand der Alte neben ihm.

»Das alles,« sagte er mit eiserner Stimme, »habe ich Herrn Baron zuvor gesagt, Herr Baron haben nicht hören wollen.«

Eberhard gab keine Antwort. Er hatte die Hände unter den Kopf gestützt, er dachte nach. Merkwürdig – mitten in der Zerrüttung seiner Seele fühlte er deutlich, daß er ganz klar dachte. Der ganze gestrige Abend war ihm gegenwärtig, alle Einzelheiten standen vor seiner Seele. Mit einem Ruck warf er den Kopf auf. »Aber als ich sie zuletzt sah, war sie nicht tot,« sagte er.

Es war ihm plötzlich in Erinnerung gekommen, daß als er aus dem Bibliotheksaale ging, Annas lebloser Körper sich zu regen begonnen hatte.

Der Alte that einen Schritt zurück; seine herabhängenden Hände ballten sich. Wollte der elende, verrückte Mensch da sich unterstehen, ihm zu sagen, daß sie nicht tot wäre? Es kam ihm vor, als sollte er um sein gutes Recht bestohlen werden.

Eberhard hatte sich erhoben.

»Wo ist meine Frau?« fragte er keuchend.

»Tot ist sie!« brüllte ihm der Alte ins Gesicht. »Und das hab' ich Herrn Baron immer gesagt, und Herr Baron haben nicht hören wollen, und nun ist es gekommen, wie ich's gesagt habe! Und wenn Herr Baron mir nicht glauben wollen, dann ziehen Herr Baron sich an und kommen mit hinunter; will ich Herrn Baron zeigen, allwo daß sie da unten liegt!«

Eberhard drückte beide Hände an den Kopf.

»Gib mir meine Sachen!« sagte er dann, »gib mir meine Sachen!«

In fliegender Hast kleidete er sich an.

»Also jetzt,« sagte er dann, »vorwärts!«

Schwankenden Schritts trat er auf den Flur, am Geländer sich haltend, wie ein Greis, arbeitete er sich, Stufe nach Stufe, die Treppe hinunter, und so ging es weiter, bis in den Garten hinab.

Der Alte faßte ihn unter den Arm, weil er seine hülflose Schwäche sah, Eberhard machte eine Bewegung, als wollte er es nicht dulden, aber die Zeit war vorüber, da er zu gebieten hatte,

»Kommen Sie,« sagte der Diener barsch. Jetzt hatte der gnädige Herr zu gehorchen.

Den Laubgang führte er ihn entlang, bis an das Gebüsch, dann brach er sich durch die Büsche hindurch, und einen Augenblick darauf stand Eberhard vor dem frisch zugeworfenen Loch.

Als er das sah, fiel er mit einem heulenden Schluchzen nieder, dann griff er mit den Händen in das Erdreich und begann, die Erde aufzuwühlen. Mit rauher Gewalt riß der Alte ihn fort.

»Ah, was soll denn so etwas!« sagte er.

Er nahm ihn wieder unter den Arm, noch fester als vorhin, ungefähr wie ein Polizist, der einen Entsprungenen geleitet. So führte er ihn aus dem Laubgange auf den Rasenplatz hinaus, in den Sonnenschein, und dort an eine Bank.

»Setzen Herr Baron sich hier,« gebot er.

Eberhards Widerstandskraft war gebrochen, er ließ sich nieder und drückte sich in die Ecke der Bank.

Der Alte ging um den Rasen herum und dann, auf der andern Seite des Platzes, so daß er Eberhard fortwährend unter Augen behielt, auf und nieder. Mit dem Knüppel, den er jetzt immer bei sich trug, schlug er in den Erdboden, daß der Kies raschelte. Dann setzte er sich auf eine Bank, Eberhard gerade gegenüber, und von dort aus stierte er unverwandt auf diesen hin. Er hätte tagelang so sitzen können, ohne sich zu langweilen.

Die »Einbrecherin« war beseitigt, er war wieder, was ihm von Gottes und Rechts wegen zukam, der Wärter seines »elenden, verrückten« Herrn – er war zufrieden.

Und inzwischen saß der unglückliche Mann, die Augen zu Boden gesenkt, weil er unablässig den fürchterlichen Beobachterblick auf sich gerichtet fühlte, erdrückt unter der Last seines Bewußtseins, das ihm jede Willens- und Widerstandskraft raubte, das ihn zum hülflosen Kinde in den Händen des grauenvollen Alten da drüben machte. Er war ja ein Verbrecher, ein Mörder! Was für ein Recht hat ein solcher, sich aufzulehnen? Er hat zu schweigen und dankbar zu sein, wenn man ihm das Leben läßt. Und warum ließ man ihm das Leben? Weil man annahm, daß er verrückt sei. Also – er war verrückt. Sein Kinn senkte sich auf die Brust, sein Körper kroch förmlich in sich zusammen.

Und dann kam immer wieder das merkwürdige Bewußtsein, daß er trotzdem ganz klar dachte. Er sträubte sich beinah dagegen. Kann ein Verrückter klar denken? Und dennoch war es so, und immer wieder und wieder tauchte die Erinnerung auf, daß sie sich zu regen begonnen hatte, als er aus dem Bibliotheksaale ging. Wäre nur der Alte nicht gleich bei der Hand gewesen, der ihn fortriß, so daß er nicht mehr Zeit behielt, noch einmal zurückzugehen und sich nach ihr umzusehen!

Und dennoch also war sie tot? So war sie wohl nachher gestorben, nachdem er den Saal verlassen hatte? Er hatte ja die Grube mit eigenen Augen gesehen, in der sie lag – also tot war sie wirklich?

Und während er sich das alles sagte, kam immer und immer wieder ein Gefühl, als sei alles nicht so, als wäre sie nicht tot, nur irgendwo versteckt. Von der Bank, auf der er saß, konnte er die Buchenallee hinuntersehen, durch welche er damals mit ihr in den Park eingetreten war, bis hinunter an den Eichbaum, an den er damals den Kranz gehängt hatte. Immerfort gingen seine Augen die Allee entlang, immer war es ihm, als würde er dort unten am Ende der Allee plötzlich eine Gestalt erscheinen sehen, von der Sonne umleuchtet, eine ersehnte, geliebte Gestalt, als würde er auf sie zustürzen und sie ihm entgegenfliegen, als würde er in ihren Armen aufwachen aus gräßlichem, gräßlichem Traume, aufwachen als ein glückseliger Mensch zu neuem glückseligen Leben.

So stark war seine Einbildung, daß er unwillkürlich von der Bank aufstand. Im selben Augenblick aber war schon der Aufpasser an seiner Seite. Er hatte die Blicke des Barons verfolgt, er sah in die Allee hinein – war da etwas? Nichts.

»Kommen Herr Baron,« sagte er, »es wird Zeit, daß Herr Baron etwas essen.« Er faßte ihn unter den Arm und schleppte ihn ins Schloß.

So kam der Abend heran, und als es dunkel wurde, erfaßte eine qualvolle Unruhe den gepeinigten Mann. War es denn wirklich wahr, daß sie da draußen in der finsteren Nacht in dem finsteren tiefen Loche lag? Nein, nein, nein! Wenn er sich nur hätte überzeugen, nur die Grube aufwühlen und hineinschauen können, ob sie wirklich da unten war! Aber der Alte stand hinter ihm; er fühlte, wie er ihn von hinten ansah; seine Blicke lagen auf ihm wie Keulen. Wenn er den Versuch gemacht hätte, in den Garten hinauszukommen, würde jener sich wie ein Bullenbeißer auf ihn geworfen haben. Es schauderte ihn, schweigend kroch er wieder in sich zusammen.

»Gehen Herr Baron jetzt zu Bett,« sagte der Alte, indem er, mit dem brennenden Lichte in der Hand, an die Thür des Bibliotheksaales trat.

Eberhard erhob sich, dann aber, mit einem plötzlichen Griff, entriß er dem Diener das Licht, und ehe dieser es zu hindern vermochte, stürzte er damit ins Nebenzimmer.

»Anna!« rief er laut und klagend, »Anna! Anna!«

So lief er durch die Galerie und so von Zimmer zu Zimmer, das Licht emporhebend, im Kreise umherführend, mit den Augen umhersuchend in allen Ecken, ob er sie nicht irgendwo entdecken würde, irgendwo. Aber sie war nicht mehr da.

So kam er in ihr Wohnzimmer, wo ihre Möbel standen und ihr Schreibtisch und ihre Blumen, wo alles noch erfüllt schien vom Dufte ihrer Persönlichkeit, und so endlich in ihr Schlafgemach. Da stand noch das Bett, in dem sie gelegen hatte, das einst so zierliche, jetzt so verwüstete Bett, und nun erfaßte es ihn wirklich wie Raserei, und er fing an, mit dem Lichte unter die Sofas zu leuchten und unter das Bett, als müßte sie da irgendwo versteckt sein, als müßte, müßte er sie finden.

In dem Augenblick aber ertönte hinter ihm die eiserne Stimme: »Was soll denn so etwas? Herr Baron stecken ja noch das ganze Schloß in Brand.«

Die harte Faust des Alten riß das Licht aus seiner Hand und hielt es hoch, so daß es ruhig stand, dann zog er ihn vom Boden empor, nahm seinen Arm unter seinen Arm, und indem er ihn wie in einer Zwinge gefangen hielt, führte er ihn hinaus, die Treppe hinauf in sein Zimmer. Er brachte ihn zu Bett, wie ein Kind, untersuchte noch einmal die Fenster.

»Nun schlafen Herr Baron,« befahl er; dann riegelte er von außen die Thür zu.

So verging Tag nach Tag, und so ein Abend nach dem andern. Jeden Tag das stundenlange Sitzen am Rasenplatze auf der Bank, das stumme Suchen mit den Augen in der Allee, jeden Abend das wandernde Licht von Zimmer zu Zimmer, das Suchen und Suchen und Nichtfinden, und bei Tage und am Abend, immerfort der Alte um ihn, hinter ihm, neben ihm, immer und immerfort.

Im Dorfe und in der Umgegend verbreitete sich unterdessen die Nachricht, daß die junge Frau Baronin plötzlich gestorben sei, und dieser Nachricht folgte ein Gerücht, das man sich nur unter der Hand zuraunte: Der Herr Baron hatte seine eigene Frau umgebracht.

Er war verrückt geworden, der Baron, und der alte Johann bewachte ihn. Der brave alte Johann!

Er hatte immer großes Ansehen im Dorfe genossen, jetzt aber war er geradezu eine imposante Persönlichkeit geworden. Eigentlich war doch er jetzt der Herr vom Schloß.

Wenn er mit seinem dicken Stock die Dorfstraße entlang kam, flogen die Mützen und Hüte von den Köpfen; er aber war ein stolzer Mann, er erwiderte keinen Gruß; wie ein Stier mit vorgestrecktem Kopf ging er seines Wegs. »Er hat jetzt halt so einen zornigen Blick,« flüsterten sich die Leute zu, wenn er vorüberging.

Ja, er hatte einen zornigen Blick, und besonders, wenn er bei dem Taglöhnershause vorbeikam, wo die Eltern des Mädchens, der Franzel, wohnten.

Die Frau war tot und hin, das wußte er ja, aber das Mädchen, das seit dem Abende verschwunden war, wo war das Mädchen geblieben?

Jeden Vormittag, bevor er seinen Herrn herausließ, ging er durch das Dorf und jeden Vormittag trat er bei den alten Leuten ein.

»Wißt ihr's immer noch nicht, wo daß euer Mädchen ist?«

Die alten Leute zitterten am ganzen Leibe.

»Nein, gnädiger Herr Johann, nischte wissen wir.«

Das war die Antwort, die ihnen die Franzel eingelernt hatte, und währenddem saß diese auf dem Heuboden, unter dem Heu versteckt, zitternd wie Espenlaub.

Anna war fort. Im Morgengrauen des Tages, der auf die schreckliche Nacht folgte, war sie, von der Franzel begleitet, zu Fuß nach der Eisenbahnstation gegangen. In der Tasche ihres Kleides hatte sie ihr Portemonnaie und in diesem ein paar Groschen Geld gefunden. So war sie nach Breslau zurückgelangt und hatte bei dem Onkel und der Tante wieder angeklopft. Wo sollte sie sonst bleiben? Und nun saß sie, eine verheiratete Frau, da, wo sie als Mädchen gesessen hatte, in wahrhaft jammervollem Zustande. Wie eine Prinzessin ausgezogen, war sie wie eine Bettlerin zurückgekommen.

Dem Onkel und der Tante hatte sie erklären müssen, warum sie kam; schweren Herzens hatte sie es gethan, denn indem sie die Ereignisse jener Nacht andeutungsweise enthüllte, war ihr, als beginge sie einen Verrat an dem unglücklichen, trotz allem immer noch tief geliebten Manne.

Der Onkel hatte nun mit einemmal »von vornherein gewußt und vorhergesagt, daß die ganze Geschichte Blödsinn sei und schlimm endigen würde«. Er gab sich kaum die Mühe, Anna zu verheimlichen, wie lästig ihre Anwesenheit ihm war, die er noch dazu, um nicht ins Gerede der Leute zu kommen, vor aller Welt verschweigen mußte. Der Zustand wurde mit der Zeit schier unerträglich. Da eines Tags kam aus Fahrenwald ein Brief für Anna, mit plumpen Schriftzügen zusammengefügt, ein Brief von der Franzel.

Im Dorfe war es ruchbar geworden, wie der Baron Tag für Tag stundenlang am Rasenplatze saß, in die Allee blickend, wie er am Abend mit dem Lichte in der Hand durch die Zimmer lief und nach seiner Frau suchte und nach ihr rief. Dies alles berichtete ihr die Franzel.

Als Anna dieses las, als sie erfuhr, wie er nach ihr verlangte, traf es sie wie ein Vorwurf ins Herz. Sie kam sich wie eine Pflichtvergessene vor, die von ihrem kranken Manne davongelaufen war, statt bei ihm auszuharren. Ein Entschluß stand in ihr auf, von dem sie zu niemand ein Wort sagte – am nächsten Morgen war sie lautlos aus dem Hause des Onkels und der Tante verschwunden.

Es war um die Mittagsstunde. Die Sonne stand hoch, und im Sonnenschein saß Eberhard von Fahrenwald, in Decken gehüllt, auf seiner Bank. Ihm gegenüber, wie immer, der Alte als Aufpasser. Plötzlich sah dieser, wie der Baron, die Augen in die Allee gerichtet, aus der einen Ecke der Bank in die andre rutschte. Er schlug ein paarmal mit dem Stock in die Erde, als wollte er dem da drüben sagen, »nimm dich in acht, ich passe auf«.

Aber der Baron achtete nicht auf ihn.

Das war doch keine Täuschung, was er da eben gesehen hatte, daß da hinten eine Gestalt in hellem Kleide hinter den Büschen des Parks entlang und hinter den Eichbaum geschlüpft war, hinter dem sie sich jetzt verbarg?

Und diese Gestalt – war das nicht – ?

Und jetzt bog sich ein Hutrand hinter dem Baumstamme vor, ein gelber Hutrand, und unter dem Hutrande ein Gesicht –

Gerade aufgereckt wie eine Eisenstange stand er von der Bank auf – in demselben Augenblick trat die Gestalt hinter dem Baume hervor und breitete beide Arme aus –

»Anna!!« – Es war Eberhard von Fahrenwald, der den Schrei ausgestoßen hatte, aber es hatte geklungen, wie wenn zehn Männer aufschrieen.

Jetzt aber kam der Alte in Sprüngen über den Rasenplatz heran. Ein Blick in die Allee – ein momentanes Erstarren – dann ein Geifern und Knirschen wie von einem tollen Hunde. Die Allee entlang, gerade auf den Rasenplatz zu kam eine geschritten – und diese eine war sie – die Tote! Jählings, bevor Eberhard, der immer noch wie in Erstarrung dastand, es verhindern konnte, stürmte der Alte, mit gesenktem Haupte, auf die Allee zu, Anna entgegen. Den Stock hatte er wie zum Schlage hoch erhoben, ein Gebrüll ertönte aus seinem Munde. Anna war unwillkürlich stehen geblieben, jetzt wandte sie sich um und fing an, die Allee zurückzulaufen. Endlich war Eberhard zu sich gekommen und zum Bewußtsein dessen, was sich begab. Mit einem Ruck schleuderte er den dicken Ueberzieher ab, den ihm der Diener heute früh angezogen hatte. Dann kam er gestreckten Laufes hinter dem Alten her.

»Johann!« donnerte er. Seine Stimme hatte wieder den Klang früherer Tage, es war wieder die Stimme des Herrn.

Für einen Augenblick regte sich in dem Alten wieder der Knecht; sein Gebrüll verstummte und einen Augenblick schwankte er auf die Seite.

Dann aber brach die Wut von neuem in ihm los.

»Das ist nicht wahr, daß sie lebendig sein will! Tot ist sie! Tot ist sie! Tot ist sie!«

Und jetzt mit verdoppelter Wut raste er hinter dem flüchtenden Weibe her.

Annas Kniee wankten und schwankten – immer näher kamen die dröhnenden Schritte – immer deutlicher vernahm sie das heisere Keuchen in ihrem Rücken, das belfernde Schnappen – ihre Kräfte verließen sie – vor ihren Augen wurde es dunkel – ein schriller Schrei: »Eberhard – «

Und in dem Augenblick hörte sie hinter sich ein Geräusch, wie sie es bis dahin nie gehört – und als sie zusammenbrechend gegen einen Baum taumelte und sich umsah, erblickte sie Eberhard von Fahrenwald, der sich in dem Augenblick über den Alten gestürzt, ihn mit beiden Händen an der Gurgel gepackt hatte und mit einer Gewalt zu Boden schleuderte, daß der Körper sich um und um rollte und krachend in die Büsche flog.

Mit einem gräßlichen Schrei raffte der Alte sich auf, mit geschwungenem Stock ging er seinem Herrn zu Leibe, und nun entspann sich zwischen den beiden Männern ein Kampf wie zwischen zwei Bären.

Den Stock hatte ihm der Baron beim ersten Anprall entrissen, mit fletschenden Zähnen drang der Alte auf ihn ein, mit beiden Händen hielt Eberhard ihn am Halse gepackt, um ihn am Beißen zu verhindern. Und nun straffte der Körper des Barons sich zu einer letzten ungeheuren Anstrengung auf; mit einer Kraft, als wenn es gälte, einen Baum aus der Erde zu reißen, schwenkte er den Alten von rechts nach links und von links nach rechts, so daß er zu taumeln begann und seine Füße den Halt verloren, dann gab es einen schmetternden Krach, der Länge lang fiel der Alte zur Erde und im selben Augenblick kniete Eberhard auf seinem Rücken, ihm die Hände hinter dem Rücken zusammenpressend.

Ein Gebrüll, das nichts Menschliches mehr hatte, ein Geblöck, wie das eines wütigen Stieres, brach aus der Brust des Alten; mit den Zähnen biß er in die Erde; bläulicher Schaum stand auf seinen Lippen.

In diesem Augenblick kamen mehrere Männer, die auf den Feldern in der Nähe beschäftigt gewesen waren und die furchtbaren Töne im Innern des Parks vernommen hatten, eilend die Allee entlang.

»Hierher, Leute, hierher!« rief Eberhard ihnen entgegen.

Als sie aber den Baron auf dem Johann knieen sahen, wurden sie stutzig und blieben stehen. Sie glaubten nicht anders, als daß der Wahnsinnige seinen Wärter überwältigt hatte. Was sollten sie thun? Jetzt trat Anna auf sie zu.

»Helft dem Herrn Baron, lieben Leute, helft ihm!«

Die Männer prallten zurück – die Frau Baronin? Aber die Frau Baronin war ja tot?

Anna begriff ihr Zaudern und Stutzen.

»Es ist nicht wahr, was euch der Johann gesagt hat! Ich bin nicht tot; der Johann ist wahnsinnig, nicht der Baron, nicht der Baron!«

Noch einen Augenblick standen die Männer wie besinnungslos; ihre schweren Gehirne konnten einen so völligen Umschwung aller Verhältnisse nicht so rasch fassen.

Dann aber kamen sie im Sturm heran; im nächsten Augenblick war der Alte von zehn kräftigen Händen gepackt, weggerissen und unschädlich gemacht.

»Bringt ihn ins Schloß,« gebot Eberhard von Fahrenwald, noch atemlos, aber mit ruhiger Sicherheit in der Stimme. »In die Stube unten, neben der Küche, mit den Eisengittern vor dem Fenster. Heute nachmittag fahre ich selbst mit ihm nach Breslau und bringe ihn ins Irrenhaus.«

»Is gutt, gnädiger Herr Baron, is gutt,« kam es zur Antwort. Wer so sprechen und befehlen konnte, war vernünftig, das war ihnen klar.

Die Männer zogen mit dem Wahnsinnigen ab; Anna und der Baron blieben zurück; an der Stätte, die eben von dem furchtbaren Lärm erfüllt gewesen war, trat eine tiefe Stille ein. Annas Kraft war zu Ende; sie saß am Rande des Wegs, hatte ihr Taschentuch hervorgezogen und weinte still in ihr Tuch hinein.

Ihr gegenüber, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, stand Eberhard von Fahrenwald. Seine breite Brust arbeitete noch von dem überstandenen Kampfe; seine Augen ruhten stumm auf seiner Frau.

So verging geraume Zeit. Dann erhob sie langsam das Haupt und wandte es zu ihm herum. Er that einen Schritt auf sie zu; es sah aus, als wollte er etwas sagen, aber bevor er noch dazu gelangt war, sprang sie auf, breitete die Arme aus und mit einem Schrei der Liebe flog sie an seine Brust.

»Umarme mich,« sagte sie, »ich will, daß die Arme mich umfangen, die mich vom Tode gerettet haben!«

Als sie das sagte, brachen auch ihm die Thränen aus den Augen, unaufhaltsam, wie ein Strom. Ja – er hatte sie zum Leben errettet; und sie wußte es und hatte es ihm gesagt.

Er drückte sie an sich, nicht mit der wilden Glut und nicht mit der ängstlichen Scheu der früheren Tage, sondern mit der Sicherheit der warmen bewußten Liebe.

»Anna,« sagte er leise und innig; und er küßte ihr Gesicht, das hingegeben zu ihm aufblickte.

Dann legte er die Arme um sie, und sie schlugen den Weg zum Schlosse ein.

»Siehst du nun,« sagte er, »wie es mir ergangen ist; »dreißig Jahre bin ich alt geworden, und heute ist der erste Tag, da ich lebe. Siehst du, es ist wunderbar, wie sich einem das ganze Leben in einem Augenblick zusammendrängen kann: solch ein Augenblick ist es für mich gewesen, als ich den Alten zu Boden gekriegt hatte und auf ihm kniete. In dem Augenblick – ich kann's mir nicht anders erklären – ist der Bann gebrochen gewesen, der mich dreißig Jahre lang gehalten hat. Der Alte, siehst du, war mir gewissermaßen von meinem Vater vermacht; darum ist er von meiner Kindheit an fortwährend um mich gewesen und ich habe wie an etwas Unfehlbares an ihn geglaubt. Und weil er sich vom ersten Tage an eingebildet hat, daß er zum Wärter eines Wahnsinnigen bestellt wäre, so ist es ihm allmählich zur fixen Idee geworden, daß ich wahnsinnig sei und nichts andres sein dürfte.«

Von der schrecklichen Vorstellung überwältigt, schwieg er. Dann preßte er sie leise mit dem Arm.

»Mir ist das alles in dem einen Augenblick klar geworden. Kannst du es dir vorstellen?«

An seine Schulter gelehnt, mit ihm dahinschreitend, drückte Anna seine Hand.

»Ja, vollkommen,« erwiderte sie, »das was sich in dir geregt hat, war die Gesundheit, die sich wider die Krankheit wehrte, die man ihr aufzwingen wollte. Du warst vernünftig und bist bewacht worden von einem Wahnsinnigen. Nun aber wollen wir leben!«

Es war, als wenn ein frischer Lebensquell in ihr aufgesprungen wäre; in der Stunde, da sie auf der Schwelle des Todes gestanden und ihr Gatte sie ins Leben zurückgerissen hatte, war sie zur Lebensgefährtin ihres Mannes gereift.

Sie betraten das Schloß.

An den Wänden hingen die zerschmetterten Spiegel, das Glas bedeckte noch jetzt den Fußboden, Annas Schlafgemach stand noch in der Unordnung, in der es sich befunden hatte, als sie damals das Schloß verließ – ein Bild der Verwahrlosung und Verwüstung.

Anna blieb stehen und faßte ihren Gatten an beiden Händen.

»Eberhard,« sagte sie, »wir müssen zu einem Entschluß kommen. Dein Vater hat dir den alten Diener vermacht; er hat geglaubt, dir einen Segen damit zu bereiten – du hast erfahren, was es gewesen ist. Siehst du, wie soll ich's dir sagen, ich meine, man kann nur leben, wenn sein Leben einem gehört; und dein Leben hat dir bis heute nicht gehört. Du hast es wie ein Erbteil empfunden, das zur Hälfte dir, zur andern Hälfte deinen Vorfahren gehörte. Komm und laß uns überlegen, wie wir's anfangen, daß wir nun wirklich unser eigenes Leben leben.«

Er sah sie mit strahlenden Augen an.

»Den Anfang dazu weiß ich,« versetzte er. »Diese Ahnengalerie, die hier seit Jahrhunderten gehangen hat und jetzt als eine Sammlung Abgeschiedener immer noch mitten in unsren Wohnräumen hängt, lass' ich hinausschaffen in den oberen Stock. Da mögen sie hängen, als das, was sie sind, als historische Reliquien. Denn die Erinnerung, scheint mir, ist schließlich doch wie ein Leichnam im lebendigen Dasein, und darum ist mir immer zu Mute gewesen, als lebte ich fortwährend in der Gesellschaft von Toten.«

»So ist's recht,« erwiderte sie, »und nun noch eins. Wir können über die Erinnerung an jenen bewußten bösen Abend nicht so hinweg, und wenn wir's mit Gewalt versuchen, werden wir wieder krank. Du hast mich einmal gefragt, ob wir eine Hochzeitreise machen wollten, ich hab's damals nicht gewollt – nun schlag' ich dir vor, Eberhard, wir wollen reisen, und wenn wir wiederkommen, bringen wir die große weite Welt in unsren Seelen mit und schließen uns nicht mehr, wie bisher, in unsrem Schlosse ein, sondern denken und sorgen für die Menschen um uns her – und wenn man für Menschen zu sorgen hat, behält man keine Zeit, sich vor Gespenstern zu sorgen.«

In tiefer Freude schloß er seine junge, kluge, mutige Frau in die Arme.

»Heute nachmittag,« sagte er, »fange ich mit meinen Pflichten an, indem ich den Alten nach Breslau in die Anstalt bringe, und morgen früh reisen wir in die Welt. Reisen wir ganz allein?«

»Nur eine soll uns begleiten,« erwiderte sie lächelnd, »die gute treue Franzel.«

Und so geschah es.

Im August reiste der Freiherr von Fahrenwald mit seiner Gattin ab, und als im Mai des nächsten Jahres der Frühling wieder in das schlesische Paradies herabstieg, kamen sie zum Schlosse Fahrenwald zurück.

Heute stiegen sie nicht am Parkrande aus, heute fuhren sie durch das Dorf, heute gingen sie nicht, einsam wie damals, vor der Welt versteckt, durch den einsamen Park, heute durchschritten sie, Hände schüttelnd, grüßend und lächelnd, die Bewohnerschaft des Dorfes, die sich festlich gesammelt hatte und, den Schulzen an der Spitze, die Herrschaft bewillkommnete.

Der Schritt des Barons war elastisch und frisch, der der jungen Frau Baronin, die an seinem Arme hing, etwas gehemmt, und auf ihrem freundlichen Gesichte lag eine leise schamhafte Röte.

»Nu sag mir, Franzel,« sagte am Abende nach der Ankunft die alte Taglöhnersfrau, die in der Zwischenzeit mit ihrem Manne die Obhut über das Schloß geführt hatte und jetzt auf ihm als wohlbestallte Verwalterin eingesetzt war, »nu sag mir. Mit unsrer Frau Baronin – hm?«

Die Franzel nickte und kicherte, und was die beiden sich mit halben Worten unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatten, kam im Juni ans Licht, als in dem Schlafgemache, zu dessen geöffneten Fenstern die Frühlingsluft hereinströmte und der Sang der Vögel hereintönte, unter dem blauseidenen Betthimmel ein reizender, rosiger, kleiner Fahrenwald neben der blassen, glückseligen jungen Mutter lag.

»Daß du doch das Schenken nicht lassen kannst, du Unverbesserlicher,« sagte sie lächelnd zu dem Manne, der glücküberströmt neben ihr stand und soeben einen großen köstlichen, mit einem Brillantenbande zusammengebundenen Blumenstrauß auf ihr Bett gelegt hatte.

»Seit einem Jahr das erste Mal wieder,« entgegnete er, indem er sein Gesicht auf das ihrige niederbeugte und sie mit tiefer Seligkeit auf Mund und Stirn und Augen küßte.

Und wieder einige Zeit später, als der Sommer in voller schwerer Wucht auf der Erde lag, vernahm der Mann, der dort oben in seinem Bette eben vom Schlaf erwachte, einen Ruf von unten, wie den Ruf der Lerche, die zum Leben weckt. Aber es war nicht die Lerche und auch nicht die Nachtigall, und als er ans Fenster stürzte, sah er im Garten dort unten, zwischen den Blumenbeeten wandelnd, seine Frau, seine Anna, die heute zum erstenmal ins Freie gekommen war.

Das Kindermädchen ging hinter ihr, den Kleinen im Kissen tragend; und als am Fenster droben das Gesicht des Vaters erschien, nahm Anna das Kind in ihre Arme. Nicht mit dem Taschentuche wehte sie heute, heute winkte sie mit dem Kinde: »Komm herunter, Eberhard, hier unten ist's wundervoll.«

Und er kam, wie ein Sturmwind kam er hinunter zu Mutter und Kind, und es war, wie sie gesagt hatte – wundervoll – wundervoll.

Ende.


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