Ernst von Wildenbruch
Das wandernde Licht
Ernst von Wildenbruch

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In seinem Coupé brachte er sie zu ihrer Wohnung; im Hausflur nahmen sie Abschied voneinander.

»Du siehst so müde aus,« sagte er, indem er sie in die Arme nahm. »Wirst du auch gut schlafen?«

Sie nickte stumm.

Er stand noch immer und hielt sie umschlungen; sie fühlte, wie schwer es ihm wurde, von ihr zu gehen. Es war, als wenn er noch eines guten Wortes, eines Trostes bedürfte. Sie nahm sich zusammen und sah ihn freundlich lächelnd an.

»Ich werde gut schlafen,« versicherte sie, »sei ganz unbesorgt, und morgen holst du mich ab, damit wir uns die Tapeten ansehen.«

Das gab ihm das Leben wieder. Freudig drückte er ihre Hand.

»Ja, ja, morgen komm' ich, und dann holen wir uns das neue Leben in das alte Haus!«

Als Anna zu dem Onkel und der Tante zurückkam, saßen die beiden alten Leute und spielten »Rabouge«, ein Kartenspiel ältester Art, das heutzutage kaum jemand mehr kennt. Das war ihre Beschäftigung, einen Abend wie alle Abende. Von dem jungen Mädchen, das mit leisem »guten Abend« zu ihnen eintrat, nahmen sie so gut wie keine Notiz. Man konnte zweifeln, ob sie überhaupt wußten, daß sie den Tag über fortgewesen war.

Anna war daran gewöhnt. Ohne weiter zu sprechen, setzte sie sich in einiger Entfernung von den Spielenden nieder, so daß die Lampe, die auf dem runden Tisch stand, gerade noch genug Licht für ihre Handarbeit abgab, dann häkelte sie still vor sich hin und dachte nach.

Welch ein Kontrast! Heut am Tage das Fahrenwaldsche Schloß, und jetzt hier diese Behausung! Daß die Wohnung ärmlich war, hatte sie wohl immer gewußt – wie erbärmlich sie war, fühlte sie heut abend zum erstenmal ganz. Als sie nach Haus gekommen war, hatte sie das Behagen empfunden, daß sie wieder in Sicherheit sei – jetzt, da sie in Sicherheit saß, fühlte sie, daß diese gleichbedeutend mit Oede und Langeweile war.

Hier diese dumpfen, stumpfen alten Menschen, die vom Leben nichts mehr wissen wollten, die kein Wort, kaum einen Blick für sie übrig hatten – und dort drüben der Mann, der nur ein Verlangen hatte, aus Nacht und Grauen ins helle gesunde Leben zu gelangen, der nach ihrer Persönlichkeit lechzte, wie der Verschmachtende nach dem Wasser!

Als sie heute mittag auf Schloß Fahrenwald beim Frühstück gesessen und das Todesgrauen empfunden hatte, mit dem all das Unverständliche, Unbegreifliche über sie herfiel, war der Gedanke in ihr aufgestanden, daß es ihr unmöglich sein würde, dort in Zukunft zu leben, daß sie das Verhältnis mit Eberhard von Fahrenwald abbrechen müsse – jetzt verblaßten die Schrecken und das Schöne blieb.

Sie dachte an den Park zurück, den herrlichen, walddunkeln, waldtiefen Park, und vergegenwärtigte sich, wie schön es sein würde, wenn er im Frühling, Sommer und Herbst ihr zu Häupten rauschte. An die Räume des Schlosses dachte sie, die schweigenden, feierlichen Gemächer, an die Bilder der Männer und Frauen, mit den edlen leidvollen Gesichtern. War es ihr nicht, indem sie an sie dachte, als wenn sie die Lippen aufthäten und sprächen: »Fürchte dich nicht vor uns – wir sind nur unglücklich, nicht böse.« War es nicht, als zeigten sie mit den stummen dunklen Augen auf ihn, den Letzten ihres Stammes, und als sprächen sie: »Hilf ihm – nur du kannst ihm helfen – und auch er ist nicht böse.«

Ach – ob sie es wußte, daß er nicht böse war!

Als sie am späteren Abende ihr Schlafkämmerchen aufgesucht hatte, lag sie knieend vor ihrem dürftigen Bett, die gefalteten Hände in die Kissen gestützt, bitterlich weinend.

Es war ihr, als stände er vor ihr und sähe sie an mit den schwermütigen, bittenden Augen, als hätte er in ihrem Herzen die Gedanken gelesen, die ihm die Treue gebrochen hatten, und als müßte sie ihm abbitten, alles was sie gedacht.

»Nein, nein, nein, ich will dich nicht verlassen! Furcht und Feigheit sollen nicht stärker sein in mir, als die Liebe in deinem gütigen, geliebten Herzen! Was auch das Leben bringen mag, an deiner Seite will ich ihm entgegengehen – das will ich – ja.« Und während ihre Lippen noch das beteuernde »ja« sprachen, sank ihr Köpfchen in die Kissen zurück, und sanft und ruhig schlief sie ein.

Am nächsten Vormittage, seinem Versprechen getreu, erschien der Baron, um Anna abzuholen.

Bei drei Tapetenhandlungen fuhr man vor, und alle drei Lager wurden von oben bis unten durchstöbert, bis man das Muster gefunden hatte, das für die beiden Zimmer als das passendste erschien; eine weiße Tapete mit blaugoldenen Frucht- und Blumenstücken für das Wohngemach, eine himmelblaue für das Schlafzimmer; beide das Lieblichste, Freundlichste, was man sich denken konnte. Anna war ganz erschöpft, der Baron zeigte keine Spur von Müdigkeit.

»Jetzt,« meinte er, »sollten wir gleich noch an die Möbel denken.«

Anna verweigerte lachend den Gehorsam.

»Morgen,« sagte sie, »das hat Zeit bis morgen.«

»Gut, so wollen wir jetzt aber frühstücken.«

Es half ihr nichts, daß sie auf das nah bevorstehende Mittagessen verwies. »Ach was, dein Onkel und deine Tante können auch ohne dich essen.«

Er war ganz ausgelassen, ganz glücklich, daß er das geliebte Wesen einmal in seiner Gewalt hatte.

So mußte sie ihm zu einem Restaurant folgen, und es war natürlich nicht das schlechteste von Breslau. Dort tafelten sie.

Als sie auf die Straße hinaustraten und den Wagen wieder bestiegen, glühte Annas Gesicht und ihr Köpfchen sank ganz schwer zurück.

»Aber Eberhard,« sagte sie, »du hast mich ganz betrunken gemacht mit dem vielen Champagner.«

Sie lächelte, ihre Augen hatten einen schwimmenden Glanz; indem sie sich lässig in die Wagenkissen zurücklehnte, war eine Auflösung in ihrer ganzen Gestalt, wie er sie noch nie an ihr gesehen hatte.

Er schlang den Arm um sie und küßte sie mit einer Glut, wie nie zuvor. »Weißt du,« sagte er, »das ist köstlich. So wollen wir es jetzt alle Tage machen; so reizend wie heut bist du mir noch nie erschienen.«

Ihr Körper lag warm und weich in seinen Armen; das nachgiebige Widerstreben des jungen Leibes verlieh ihm eine berauschende Lebendigkeit; es war das erste Mal, daß das Blut der beiden Menschen zu einander zu sprechen begann.

Am nächsten Tage ging es in gleicher Weise durch alle Möbelhandlungen der Stadt, und endlich war ein Mobiliar für die beiden Zimmer ausfindig gemacht, so zart und duftig, als wären die Gemächer für eine Elfe bestimmt. Das Frühstück durfte natürlich auch heut nicht fehlen, und so folgte nun ein Tag dem andern.

Der Baron war unerschöpflich in der Erfindung von Notwendigkeiten.

An Teppiche war ja noch gar nicht gedacht worden, und als auch diese besorgt waren, fiel es ihm ein, daß Portieren über den Thüren, Gardinen und Vorhänge vor den Fenstern fehlten.

Anna ergab sich lachend. Der Rausch, der ihn erfüllte, teilte sich ihr allmählich mit; die täglichen Rundfahrten und Einkäufe fingen an, ihr gar nicht übel zu gefallen. Es war ja, als wenn sie das Märchen vom »Tischlein deck dich« leibhaftig erlebte; kaum daß sie einen Wunsch gedacht hatte, war er schon erfüllt. Und wie unter seinen leidenschaftlichen Küssen ihr Blut in immer heißeren Wellen zu rollen begann, war es, als reckte und streckte sich ihre ganze Persönlichkeit; aus der unscheinbaren Hülse des kleinen Mädchens blühte die Jungfrau auf.

An einem dieser Tage, als sie durch Blumen- und Samenhandlungen gestreift waren, um Sämereien für den Garten zu kaufen, und nun wieder im Wagen saßen, rückte er, den Arm um sie geschlungen, dicht an sie heran.

»Weißt du,« flüsterte er ihr ins Ohr, »nun hätte ich eine große Bitte.«

Sie lächelte vor sich hin; sie wußte ja, daß, um ihm etwas zu geben, sie nur still zu halten brauchte und zu nehmen.

»Was denn also?« fragte sie.

»Siehst du, ich habe mir das in meiner Phantasie so ausgedacht: Wenn ich dich so in den Armen halte und an mir fühle, komme ich mir vor, wie ein Gärtner, der eine Blume groß zieht. Den Winter hindurch hat meine Blume ihr altes, unscheinbares Gewand getragen, aber nun wird es Frühling, siehst du, und da ist es doch in der Natur geboten, daß sie sich anders und reicher und schöner kleidet? Nicht wahr?«

Anna senkte die Augen und sah stumm an sich hernieder. Aermlich genug war sie ja freilich angezogen.

»Und siehst du,« fuhr er fort, »was ich dich nun bitten wollte: daß wir morgen in Kleiderhandlungen und Modemagazine gehen und uns Stoffe aussuchen zu Kleidern für dich, wie sie dir gefallen und am besten stehen?«

Sie errötete in Scham.

»Aber Eberhard,« erwiderte sie leise, »für seine Ausstattung muß doch ein jedes Mädchen selbst sorgen!«

Indem sie das aber sagte, fragte sie sich im stillen, wer denn ihre Ausstattung besorgen sollte. Der Onkel und die Tante etwa? Oder sie selbst, aus ihrem eigenen Vermögen? Ja, wo war denn ihr eigenes Vermögen?

»Nein, siehst du,« nahm er wieder eifrig auf, »das ist mit uns etwas ganz andres. Das hab' ich dir ja gesagt, daß du das Licht in meinem Leben bist, und ein Licht, siehst du, das muß man sich selbst anzünden. Und sein Glück muß man sich selbst erschaffen, wenn's ein echtes Glück sein soll und einem Kraft und Mut verleihen soll. Und darum, verstehst du, wenn ich dich so von Kopf bis zu den Füßen einkleide in Stoffe, die ich dir geschenkt habe, dann wird mir zu Mute sein, als hätte ich mir die ganze geliebte Gestalt, die dann vor mir steht, selber erschaffen, und das wird mir dann eine solche Kraft und Wonne und Seligkeit verleihen, und das wirst du mir nicht verweigern. Nicht wahr? Nicht wahr?«

Sie vermochte nichts zu erwidern. Anfänglich, als sie nur Mitleid mit dem Mann gefühlt hatte, der um ihre Liebe flehte, war nur ihre Seele wach gewesen; jetzt, da er stark und fröhlich war und sie am lebendig klopfenden Herzen hielt, waren auch ihre Sinne erwacht. Sie hatte angefangen, sich in ihn zu verlieben, und in dem großen Strome des süßen, unbestimmten Gefühls trieb sie willenlos dem Manne zu. Sie drückte ihr erglühendes Gesicht an seinen Hals.

»Thu, wie du willst,« flüsterte sie.

Und nun war es, als wären alle diese Besorgungen nur Vorbereitungen für das Eigentliche und Wahre gewesen.

Die Seidenwarenlager wurden förmlich geplündert, und als sie damit fertig waren, wollte er sie in Wäschehandlungen führen. Dem aber widersetzte sie sich.

»Ich müßte mich ja zu Tode schämen, wenn mich ein Mann dabei begleitete.«

Er fügte sich ihrem Willen. Aber sie mußte versprechen, daß sie sich das schönste Linnen, die zartesten seidenen Strümpfe und das zierlichste Schuhwerk kaufen wollte. Die Rechnungen sollten auf ihren Namen geschrieben werden, er würde sie bei ihr abholen und alles abmachen.

Wenn sie nicht gewußt hätte, daß er reich war, so hätte sie ihn für einen rasenden Verschwender halten müssen.

Ganze Ballen von Seidenstoffen und Leinen liefen nun bei Anna ein; vierzehn Tage lang wurde geschneidert und geschustert, als gälte es, den Brautstaat einer jungen Königin fertigzustellen; der Onkel und die Tante gingen mit dumpf verblüfften Gesichtern umher und wußten nicht, was sie sagen sollten. Anna wußte es selber kaum: die Welt war nicht mehr die Welt.

Der Baron ließ sich in diesen Tagen nur von Zeit zu Zeit sehen, und wenn er kam, war er in fliegender Hast. Er war jetzt vielfach auf dem Schlosse draußen, wo die Zimmer für Anna eingerichtet wurden. So oft er bei ihr in der Stadt erschien, wurde er rasch wieder hinauskomplimentiert – Frauen, die in solcher Thätigkeit stecken, können Männer nicht brauchen. Gegen Ende der vierzehn Tage aber, als sie ihn auf den Flur hinausbegleitete, hielt sie ihn an der Hand fest.

»Heute abend,« sagte sie leise, mit lieblichem Erröten, »wird das crèmefarbige Seidenkleid fertig, das du so besonders gern magst. Es hat einen sehr hübschen Schnitt und wird mir vielleicht leidlich stehen.« Sie beugte sich näher zu ihm.

»Wenn du willst, kannst du morgen mittag kommen, und ich will mich dir zeigen.«

Er schloß sie an die Brust, als wollte er sie erdrücken.

»Du Engel,« erwiderte er.

Ein Glutstrom floß aus seinen Augen. Dann riß er sich los, eilte die Treppe hinab, kehrte vom Absatz noch einmal zurück, schloß sie noch einmal wie rasend in die Arme und schoß dann zum Hause hinaus.

Anna begriff kaum, was ihn so erregt hatte; aber die Glut, die ihn erfüllte, setzte auch sie in Feuer, und als das Kleid am Abend angekommen war, beschloß sie, sich am nächsten Vormittage recht schön für ihn herauszuputzen.

Es war das erste Mal im Leben, daß sie sich in so kostbare Stoffe hüllte. Sie schloß sich in ihr Schlafkämmerchen ein und kleidete sich von Kopf bis zu Füßen um, weil es sie nun doch gelüstete, die neuangeschafften Sachen wirklich einmal zu probieren,

Wie das alles anders war als das, was sie bisher getragen hatte! Wie grob das Hemd war, das sie auszog, und wie weich sich das neue zarte Linnen um ihren Leib schmiegte! Und die seidenen Strümpfe, in die ihre Füßchen, nachdem sie die alten baumwollenen abgestreift hatte, beinahe schüchtern hineinschlüpften, als wagten sie gar nicht zu glauben, daß sie wirklich da hinein gehörten! Sie saß ganz schamrot auf ihrem Stuhl und kicherte vor sich hin, wie ein Kind, das etwas Unerlaubtes thut und jeden Augenblick gewärtig ist, daß es ertappt und ausgescholten werden wird. In den Spiegel zu sehen, hatte sie noch kaum gewagt, auch befand sich in ihrem Schlafzimmer nur ein kleiner Handspiegel, der ihr nicht sagen konnte, ob das Kleid ihr saß. Dazu mußte sie in das Gesellschaftszimmer gehen, wo zwischen den Fenstern ein größerer Wandspiegel angebracht war.

Als sie nun hier, die Bänder an ihrer Taille zurechtzupfend, vor dem Spiegel, mit dem Rücken gegen die Thür stand, wurde diese von außen aufgerissen und auf der Schwelle erschien der Baron. Sie sah, wie er stehen blieb und ihre Gestalt mit den Augen verschlang; in seinem Blick war eine verzehrende Gier. Anna sah wirklich niedlich genug aus. Das Kleid war tief ausgeschnitten, am oberen Rande und an den Aermelöffnungen mit einem Spitzenbesatze eingefaßt, und aus den zarten Spitzen quollen die runden, weichen Schultern, die nackten Arme in jugendlicher Fülle hervor. Sie wollte ihn bedeuten, daß er sich noch einen Augenblick gedulden müsse, aber bevor sie dazu gekommen war, stand er schon hinter ihr, und gleichzeitig fühlte sie sich von seinen Armen umfaßt, vom Boden emporgehoben und mit einer Gewalt, wie von einem Orkane, an seine Brust gerissen. Ihre Schultern, ihr Nacken und ihr Hals loderten unter seinen Küssen.

»Du zerdrückst mir ja das ganze Kleid,« wandte sie ein. Der Ueberfall war ihr zu jäh gekommen; sie sträubte sich in seinen Armen, aber er hörte nicht auf ihre Worte, achtete nicht auf ihre sträubenden Bewegungen; in der Art, wie er mit ihr umging, war etwas Gewaltsames. Seine Liebkosungen hatten etwas Erstickendes, Erdrückendes, Zermalmendes; seine Küsse fühlten sich an, als wenn er am liebsten in Annas Fleisch hineingebissen hätte.

Den einen Arm hatte er unter sie geschoben, so daß sie halb darauf saß, mit dem andern drückte er ihren Oberleib an seine Brust, ihr Gesicht an sein Gesicht, und so, indem er sie in seinen riesenstarken Armen wie ein Kind, wie eine Puppe, ein Spielzeug drückte, preßte und trug, ging er mit ihr im Zimmer auf und ab, dumpf abgerissene Laute von sich gebend, wie trunken, beinah wie sinnlos.

Er merkte gar nicht, wie peinvoll dem jungen Mädchen die Lage wurde, in der sie sich befand, wie keuchend ihre Brust sich hob und senkte, weil sie, an ihn gepreßt, kaum noch Luft zum Atmen fand. Endlich warf sie mit äußerster Anstrengung den Kopf zurück, stemmte beide Hände gegen seine Brust und »laß mich los!« stieß sie wie in Verzweiflung hervor. Der Ton kam so rauh, so zornig heraus, daß, er erschrak. Er hielt in seinem Auf- und Niedergehen inne, sah ihr ins Gesicht und sah, daß sie die Augen geschlossen hatte.

Nun ließ er sie aus den Armen gleiten; sie warf sich in den Lehnstuhl, der ihr zunächst stand, drehte sich mit ganzem Leibe von ihm ab, legte beide Arme auf die Lehne des Sessels, das Gesicht auf die Arme, und brach in schluchzendes Weinen aus.

Der Baron stand totenblaß vor ihr. »Anna,« stammelte er, »was ist dir?«

Sie gab keine Antwort und weinte immer heftiger.

Mitten im Zimmer lag einer von ihren kleinen seidenen Schuhen, der ihr vorhin, als er sie vom Boden emporgehoben hatte, vom Fuße geflogen war. In seiner Ratlosigkeit hob der Baron ihn auf, als er sich aber zu Anna niederbeugte, um ihr den Schuh wieder anzuziehen, riß sie denselben aus seiner Hand und verbarg ihren Fuß unter dem Kleide.

»Nein!« rief sie, »faß mich nicht an! Du sollst mich nicht mehr anfassen! Ich weiß gar nicht, wie du bist!«

Sie sprach aus, was sie empfand; sie konnte sich in der That die Art des Mannes nicht erklären. Das war ja gewesen, als wenn ein wildes Tier sich über sie gestürzt hätte.

Bei der zornigen Bewegung, mit der sie ihm den Schuh entrissen hatte, war er einen Schritt zurückgewichen; jetzt stand er wie zerschmettert da.

»Aber Anna,« fing er wieder an, »bist du mir denn böse, daß ich dich so liebe?«

Sie warf den Leib herum und heftete die verweinten Augen auf ihn. »Liebe?« sagte sie zornig, »ist das Liebe, wenn man jemand so anfaßt? so behandelt? Faßt man eine Frau so an?«

Sie blickte an sich herab und strich mit bebender Hand das zerknitterte und zerdrückte Kleid glatt, dann schlüpfte sie wieder in den Schuh, und als sie den Fuß aufsetzte, stampfte sie beinah auf.

»Du hast keine Achtung vor mir,« fuhr sie fort, »du denkst, weil du mir all die schönen Sachen geschenkt hast, die ich da trage, ich gehöre dir, und du kannst mit mir machen, was dir beliebt! Und darum gehst du so mit mir um – und behandelst mich wie – wie – « sie wollte von neuem in Thränen ausbrechen, aber sie kam nicht dazu. Indem sie die letzten Worte dem Baron ins Gesicht schleuderte, sah sie, wie seine Gestalt zusammenzuckte, als wenn ein Stich ihm mitten durch den Leib gegangen wäre.

»Anna – « sagte er schweren Tones, »das kannst du von mir denken?«

Er war langsam in die Kniee gesunken, seine Augen waren den ihrigen nah gegenüber, und indem sie das namenlose Leid in seinen Augen gewahrte, fühlte sie, daß sie dem Manne mit häßlichen Gedanken ein häßliches Unrecht angethan hatte.

»Nein, Eberhard,« sagte sie, »was ich da eben gesagt habe, das war nicht recht; ich fühl's, das war häßlich; und ich bitte dich um Vergebung dafür.«

Nun legte er auch seinerseits die Arme um sie, aber so leise, als fürchtete er, sie zu zerbrechen, und ihr Köpfchen lag wieder an seinem Halse.

»Aber siehst du,« fuhr sie zagend fort, »wenn du so bist, wie vorhin, so wild, so – ich weiß gar nicht, wie ich's nennen soll – dann verstehe ich dich nicht, und dann – siehst du – muß ich mich ja vor dir fürchten.«

Sie hatte das letzte ganz leise, wie eine Beichte, ihm ins Ohr geflüstert, und wie eine solche nahm er es auf. Aber nicht ihre Schuld war es, die sie ihm beichtete, es war die seine, seine Schuld, der er nicht geachtet hatte auf die Scham, auf die Angst des lieben, vertrauenden Geschöpfes, der er nahe daran gewesen war, das Wesen, das ihm Leben und Seligkeit bedeutete, in seinen wahnwitzigen Armen zu zertrümmern, wie ein Knabe, der eine unersetzliche Kostbarkeit mit thörichten Händen zerstört.

Von dem allen hatte er nichts gefühlt – das alles kam ihm jetzt zum Bewußtsein,

Ein peinvoller Gram lagerte sich auf seinen Zügen, mit leiser Hand schob er Anna von sich hinweg.

»Armer Engel,« sagte er dumpf und schwer.

Dann erhob er sich, trat von ihr hinweg, und mitten im Zimmer, den Kopf nachdenklich gesenkt, blieb er stehen.

Eine schweigende Pause trat ein, und als sich Anna nach ihm umwandte, sah sie ihn noch immer, in düsteres Sinnen verloren, an seinem Platze. Ein Schatten überwölkte sein Gesicht; man sah ihm an, wie er mit den finsteren Gewalten Zwiesprache hielt, die in seinem Innern emporstiegen.

»Eberhard,« rief sie ihn an, »warum gehst du von mir fort?«

Es war, als wenn er aus seinem Brüten erwachte. Langsam kam er zu ihr zurück. Er schob einen Sessel neben den Stuhl, auf dem sie saß, ließ sich nieder und verharrte dann abermals, den Blick zu Boden gesenkt, in langem Schweigen. Endlich rückte er sich dichter an ihre Seite, aber ohne aufzusehen, ohne sie zu berühren.

»Anna,« sagte er, »ich muß dir etwas anvertrauen.«

Wieder stockte er – das Bekenntnis wurde ihm schwer. Er nahm ihre Hand in seine Hand.

»Anna – ich hatte bis heute noch nie eine Frau berührt – heute war es das erste Mal – und du bist die erste gewesen, die ich geküßt habe.«

Sie drückte leise seine Hand.

»Aber du hattest mich doch schon vorher geküßt.« –

»Ja,« versetzte er, und eine dunkle Röte färbte sein Gesicht, »aber es war mir noch nie so zu Mute gewesen, wie heute. Damals, siehst du, war es noch weit bis zu unsrer Hochzeit, und jetzt steht es nahe vor der Thür, daß wir heiraten. Und darum – siehst du – als ich vorhin zu dir hereintrat, war mir doch in dem Augenblick, als wäre es schon so weit und wir wären schon Mann und Frau. Und wie ich dich nun so stehen sah – siehst du – da überkam mich etwas – «

Er verstummte, sein Oberleib bog sich vornüber, als läge eine Centnerlast auf seinem Rücken, langsam glitt er vom Stuhle, ihr zu Füßen, und seiner Gewohnheit nach drückte er das Gesicht in ihren Schoß.

»Ich kann's dir ja nicht beschreiben,« murmelte er, »was es war; und ich kann dich ja nur anflehen, daß du mir verzeihst; und wenn du jetzt den Fuß aufhöbest und mich trätest, so geschähe mir ja nur recht; aber siehst du, ich konnte nicht anders, und es war etwas so Wundervolles, so rasend göttlich Herrliches, Himmlisches – « Er hatte beide Arme um ihre Kniee geschlungen und preßte ihre Kniee aneinander, als wollte er sie zermalmen.

»Bleib ruhig,« flüsterte Anna.

Sie fühlte, wie die verzehrende Glut wieder in ihm aufstieg.

Ein wundersames Gemisch von Grauen und Lust schwoll ihr zum Herzen, indem sie schweigend auf ihn hinabsah, auf den riesenstarken Mann, der sich gebrochen zu ihren Füßen wand.

Kein Weib hatte er noch berührt – sie war die erste, und sie war die Brandfackel, die ihn verzehrte.

Vernunft und Gewissen sagten ihr, daß sie aufstehen, ihn wecken mußte aus seiner Phantasie – aber stärker als Vernunft und Gewissen war in diesem Augenblicke das Weib, das mit heimlicher, beinahe lüsterner Neugier zu erfahren begehrte, was für einen Eindruck sie auf den Mann zu machen vermocht hatte.

Sollte sie immer nur Arzt sein? Immer nur Wärterin? War sie nicht auch ein Weib? Mit jungem, blühendem Fleisch und Blut? Stand nicht auch sie zum erstenmal vor der dunklen, geheimnisvollen Flut, in die alle Geschöpfe der Erde hinein müssen, sei es zum Leben, sei es zum Ertrinken, die man die Liebe nennt? War nicht die warme Welle des großen Wassers auch zu ihr schon herangerollt und hatte ihr den Saum des Kleides und die nackten Füße genetzt, leise winkend und rufend: »Komm herab – steig herab!«

Von der Stirn herab, über Wangen und Hals und bis tief in die Brust, die schwer atmend aus der seidenen Umhüllung des Kleides hervorstrebte, senkte sich purpurne Glut, als sie sich über den Mann zu ihren Füßen herbeugte, die Lippen an sein Ohr andrückend.

»Sag mir,« hauchte sie, »was du gefühlt hast, als du mich sahst?«

Er beugte sich zurück, so daß er ihr ins Gesicht sehen konnte. Warum fragte sie? Als er jedoch ihr glutübergossenes Gesicht gewahrte, merkte er, daß der Dämon auch in ihrem Blute zu wühlen begann. Rasch war er vom Boden empor, auf seinem Stuhle, und nun saßen sie, wie zwei Schuldgenossen, die sich gegenseitig ein Geheimnis anvertrauen.

»Siehst du,« hob er leise an, indem er mit dem Kopfe nach dem Fenster deutete, »es ist doch heut ein grauer Tag, und nun denk dir, wie merkwürdig: im Augenblick, als ich die Thür aufmachte und dich stehen sah – aber du mußt nicht denken, daß ich übertreibe oder in Bildern rede – war mir's, als wäre hier im Zimmer heller Sonnenschein. Richtiger Sonnenschein, siehst du, war es eigentlich nicht, sondern es war wie eine Feuersbrunst, wie wenn das Licht, das im Zimmer war, von Flammen herrührte. Und mitten in den Flammen standest du drin. Aber es war, als wenn sie dir nicht weh thäten, denn es sah mir in dem Augenblick so aus, als ob du mich ansähest und die Arme nach mir ausstrecktest und riefest: Komm herein.«

»Aber, Eberhard,« unterbrach sie ihn, »ich drehte dir doch den Rücken zu und habe kein Wort gesagt?«

»Das weiß ich ja,« erwiderte er hastig, »das weiß ich ja, ich sage dir ja nur, wie es mir in dem Augenblick erschien. Und als ich das sah, siehst du, da mußte ich hinzuspringen und dich in die Arme schließen, und nun war mir's, als stände auch ich in der Flamme, und das Feuer schlug in mich hinein, daß ich fühlte, wie es in mir hinaufstieg, in die Brust, in die Augen, ins Gehirn, daß ich nichts mehr sah, nichts mehr hörte und nur noch fühlte, daß ich etwas in den Armen trug, etwas Köstliches, Göttliches, Unbeschreibliches, wie ich es nie im ganzen Leben noch gefühlt hatte, etwas Warmes und Weiches, und wie ich das so an meinem Leibe fühlte, da überkam mich ein Verlangen – «

Er brach plötzlich ab.

Anna wartete, daß er fortfahren sollte, aber er schwieg.

»Also – « forschte sie leise, »da kam dir ein Verlangen – «

Er wandte das Haupt zur Seite.

»Nein, nein,« sagte er, wie in Angst, »frage danach nicht.«

Sie blickte ihn von der Seite an; sie faßte seine Hand und drückte sie; dann schob sie ihre heiße Wange an seine Wange; die Neugier war zu mächtig in ihr geworden, sie mußte erfahren, was für ein geheimnisvolles Verlangen das gewesen war.

»Sag's mir doch,« hauchte sie, »sag's mir, ich bitte dich.«

Er wandte den Kopf zurück und drückte ihn an ihre Schulter, als wollte er sich verbergen, zugleich aber fühlte sie, wie seine Hände sich an ihren Leib preßten.

»Da überkam mich ein Verlangen,« sagte er dumpf, »dieses, was ich in den Armen trug, dies Köstliche, dies Warme, Weiche in meinen Armen zu zerdrücken, zu ersticken, zu zermalmen – «

Seine Stimme, anfänglich dumpf und schwer, war immer lauter geworden; sein Atem flog, und als er jetzt die flackernden Augen auf Anna richtete, sah es aus, als würde er sich von neuem über sie herstürzen, wie er vorhin gethan hatte. Von Annas Gesicht war die Röte jählings gewichen, unwillkürlich streckte sie, wie abwehrend, die Hände gegen ihn aus.

»Eberhard –« preßte sie hervor.

Im Augenblick, als er ihre erschrockene Stimme vernahm, ließ der Taumel von ihm ab; sein Körper sank kraftlos in sich zusammen. Er ließ die Arme an ihr niedergleiten, drehte sich im Sessel herum und legte das Gesicht auf die Stuhllehne.

»Warum fragtest du auch?« stöhnte er dumpf.

Anna stand vor ihm; sie fühlte sich so schuldig. Begütigend streichelte sie über sein Haar.

»Eberhard,« sagte sie, »sei doch nicht so außer dir; es war ja alles nur eine Einbildung.«

Er gab keine Antwort, aber er schüttelte das Haupt, daß es aussah, wie ein trostloses »Nein«. Dann sprang er auf, und beide Hände an die Schläfen gedrückt, ging er im Zimmer auf und ab.

Endlich blieb er stehen, plötzlich und wie mit einem Ruck. Sein Körper richtete sich straff empor, beide Arme streckte er vor sich hin, wagerecht und mit geballten Fäusten.

»Nein!« sagte er laut, »nein! nein!«

Es sah aus, als spräche er mit irgend einem Unsichtbaren. Anna blickte sprachlos zu ihm hinüber, sie wagte nicht zu fragen, mit wem er sich unterhielt.

Er ließ die Arme sinken und wandte sich um. Als er ihren entsetzten Blick gewahrte, kam er auf sie zu.

»Aengstige dich nicht,« sagte er, »ich habe es in der Gewohnheit, manchmal laut zu denken.« Er war völlig beruhigt, seine Stimme klang sicher und fest.

Sie schöpfte wieder Mut.

»Was dachtest du denn?« fragte sie, zärtlich an ihn geschmiegt.

»Ich habe mir das Versprechen gegeben,« erwiderte er, »daß mir das nie wieder begegnen soll. Das, was ich dir vorhin erzählt habe, ist in mir gewesen, ja. Aber es ist gewesen, verstehst du, und nun ist es nicht mehr da. Nun kommt es nicht wieder, das verspreche ich mir, das verspreche ich dir! Niemals!«

Er hatte den Arm um sie gelegt, er stand neben ihr, stark und gesund, wie einer, der Herr seiner selbst ist, wie ein ganzer Mann.

»Siehst du,« fuhr er fort, »ich habe dir kein Hehl gemacht über meine Schwäche, darum darfst du mir glauben, was ich dir jetzt sage: ich liebe dich, Anna. Ich liebe dich so unsäglich, daß der Gedanke, es könnte dir ein Leid geschehen, mich umbringt und vernichtet. Glaubst du mir das?«

Er blickte auf sie nieder; ein Strom von tiefem, warmem Gefühl floß über sie hin; aus allen Schatten und Wolken, die unverständlich, unbegreiflich und unberechenbar in dieses Menschen Seele wogten, tauchte immer wieder das edle, herrliche Herz wie ein leuchtender Stern empor.

»Ja, Eberhard,« versetzte sie, »das glaube ich dir so sicher, daß ich es weiß,«

Sie legte die Arme um ihn und drückte die Lippen auf seine Brust.

»Wo solch ein Herz ist,« sagte sie, »da ist ja alles andre ganz gleichgültig. Darum glaube auch du mir, was ich dir sage: ich fürchte mich nicht vor dir, Eberhard, gar nicht. Ich liebe dich, Eberhard, wie nur eine Frau einen Mann lieben kann.«

Er küßte sie auf den Scheitel, und die Berührung seiner Lippen war wie ein Hauch. Man fühlte, wie er nur seiner Seele noch Zutritt zur Geliebten gestatten wollte und seinen Sinnen Einhalt gebot. Und so kam nach der Erregung, die vorangegangen war, eine Stunde so tiefer Ruhe für die beiden Menschen, wie sie sie kaum je zuvor genossen hatten.

Als er dann aber von ihr ging und die Thür hinter sich geschlossen hatte, so daß Anna ihn nicht mehr sah, schwellte ein Seufzer seine Brust – der schwere Seufzer der Entsagung.

Inzwischen war es Mai geworden, und der Frühling hielt seinen siegprangenden Einzug.

Eines Tages, als der Baron vom Schlosse draußen hereinkam, brachte er Anna die Kunde mit, daß auch im Fahrenwalder Parke der Lenz eingekehrt sei, daß die Kastanien blühten und der Flieder.

»Auch in deinen Zimmern im Schlosse selbst,« sagte er, »ist es Frühling geworden; sie sehen aus, wie zwei junge fröhliche Augen in einem alten Gesicht – die Einrichtung ist fertig – wenn du, nun willst, so ist die Zeit gekommen, daß Frau von Fahrenwald ihr Reich betritt – willst du?«

Sie wollte.

Er hatte ihr seine Mitteilungen leise und beinahe feierlich gemacht, wie jemand, der an eine große Entscheidung herantritt. In derselben Art hatte Anna sie hingenommen. Die Vorbereitungen zum neuen Dasein waren vollbracht, nun kam das neue Dasein selbst; durch dunkle und helle Stunden war sie hindurchgegangen, nun sollte es sich entscheiden, ob ihr Leben fortan ein großes Licht oder ein großes Dunkel sein würde. Ein Schauer ging über ihr Herz – aber ihr Entschluß war gefaßt, sie wollte. –

In verborgenster Stille, beinahe verschwiegen, fand die Hochzeit statt.

Der standesamtlichen Trauung folgte eine kirchliche Einsegnung im Hause, wo Anna bei dem Onkel und der Tante gewohnt hatte. Anna fühlte kein Bedürfnis, sich in einer Kirche öffentlich zur Schau zu stellen und die klatschsüchtige Neugier zu Gast dazu zu laden.

Ihr Gesicht war kaum minder weiß, als das weiße Brautkleid, in dem sie erschien; als sie, mit dem Myrtenkränze im Haare, vor dem Geistlichen kniete und ihre Hand in die Hand des Bräutigams legte, mochte mancher von den wenigen Trauzeugen für sich denken: »Ein Opfer, das zum Altar geführt wird.«

Blaß, schweigsam, mit einem Ausdruck unergründlichen Ernstes in den Zügen, stand Eberhard von Fahrenwald an ihrer Seite.

Ein leises Mittagsmahl, dem nur wenige Gäste anwohnten, schloß die Feierlichkeit ab. Reden wurden nicht gehalten; es lag wie ein Gewölk über der Versammlung. Bei jeder Hochzeit steht man wie vor einem geschlossenen Vorhang. Hier aber war der Vorhang von dunkler Farbe und geheimnisvolle Zeichen waren in ihn verwebt.

Nachdem die Tafel aufgehoben war, kehrte Anna zum letztenmal dahin zurück, wo sie als Mädchen gewohnt hatte. In aller Stille wollten sie beide am Nachmittage nach Fahrenwald hinaus fahren. Koffer und Kisten waren schon am Tage vorher vorausgegangen.

Nachdem sie den Brautstaat abgelegt und das Reisekleid angethan hatte, erschien ihr Gemahl, um sie abzuholen. Bald darauf saßen sie im Eisenbahnwagen, und wieder einige Zeit darauf stampften die Rosse vor dem Wagen, der sie zum Schlosse hinaustragen sollte – heute für immer.

Wie anders, wie viel schöner sah sich heut alles an, als damals, da sie zum erstenmal diesen Weg gefahren war. Der reiche Ackerboden, der so lange unter Schnee und Regen begraben gelegen hatte, kochte förmlich von Fruchtbarkeit; die jungen Saaten schossen empor, daß es aussah, als wollte ein Feld das andre im Wachstum überbieten; die Sonne, die sich zum Untergange neigte, warf lange, warme, rotgoldene Lichter über das junge samtartige Grün.

Heute brauchte man keine Fußsäcke und keine Decken. Schweigend, Hand in Hand, saßen Anna und der Baron in ihrem Wagen, mit stillen Augen hinausblickend in das stille Land, die Wangen von der linden Abendluft umspielt, den Duft einatmend, der aus der frühlingsfeuchten Erde emporstieg.

Die Dorfbewohnerschaft hatte das junge Paar mit schmetternder Festlichkeit empfangen wollen; der Baron hatte alles abgelehnt und, damit die Leute nicht um ihre Freude kämen, sich durch reiche Geldspenden von dem geplanten Empfange losgekauft. Damit hatte er ganz in Annas Sinn gehandelt. Auch ihr war nicht nach rauschendem Jubel zu Mute; Arm in Arm mit ihm, wie sie es am ersten Tage gemacht hatte, wollte sie auch heute durch den Park zum Schlosse gehen.

An der bewußten Stelle, wo die Parkwege sich mit der Fahrstraße vereinigten, hielt darum auch heute der Wagen an und beide Fahrenwalds stiegen aus.

Da lag er wieder vor ihr, der Park, an den sie so oft in stillen Stunden gedacht, nach dem sie sich gesehnt, den sie so lieb gewonnen hatte, der ihr wie ein Vermittler zwischen dem bisherigen und dem zukünftigen Leben erschien; da lag er, und wenn die Bezeichnung, die er trug, jemals auf ihn gepaßt hatte, so war es heute der Fall: »das Schlesische Paradies«.

An der Kreuzung der Wege blieb Anna stehen, beide Arme in kindlicher Wonne ausbreitend.

»O Eberhard!« seufzte sie aus tiefster Brust, »wie herrlich! wie schön!«

Am Eingang des Parks, wie ein Grenzpfahl, stand ein mächtiger Eichbaum. Am knorrigen Stamme, einige Fuß über dem Erdboden, war ein Kranz aufgehängt, von bunten Bändern umflattert, in dessen Mitte sich eine Tafel mit einer Inschrift befand.

»Was ist denn das?« fragte Anna.

Sie trat heran und las:

»Tritt gern herein, in Freuden bleib,
Und sei mein Leben und mein Weib.«

Sie wandte sich um.

»Von wem ist denn das?«

Eberhard von Fahrenwald stand ganz verlegen da.

Jauchzend flog sie ihm um den Hals.

»Eberhard, du? Du hast das gedichtet?«

Er hielt lächelnd ihr Haupt in seinen Händen.

»Gedichtet?« erwiderte er, »nun – jedenfalls siehst du, ein großer Dichter bin ich nicht.«

Sie blickte ihm in die Augen,

»Ach, siehst du, das ist nun wirklich ein ganz entzückender Gedanke von dir! Auf so etwas, siehst du, kann wirklich nur ein so guter Mensch kommen, wie du es bist! Nun aber mußt du mir den Kranz herunterholen, damit ich ihn bei mir aufhängen kann.«

»Aufhängen willst du ihn? Bei dir?«

»Ja!« erklärte sie. »Den hänge ich in meinem Zimmer, womöglich in meinem Schlafzimmer auf, und alle Abend, wenn ich zu Bette gehe, und jeden Morgen, wenn ich aufstehe, lese ich, was du geschrieben hast.«

»Gut,« versetzte er, »heute bekomme ich ihn nicht herunter, dazu braucht es eine Leiter, aber morgen soll er in deinem Zimmer sein.«

Den Weg, den sie das erste Mal gegangen waren, die Buchenallee, wandelten sie nun entlang. Heute war kein Aufruhr in der Natur wie damals; das magere junge Laub hing still zu ihren Häupten; heute brauchte sie sich nicht an ihn zu drängen in ängstlicher Beklommenheit; alles war so friedlich, so ruhig, auch er, an dessen Arm sie ging. Ja – er war so ruhig, daß es beinahe wie eine leise Schwermut aussah.

In den Seitenweg bogen sie alsdann ein, und nun war es wirklich ein Meer von wogenden grünen Wipfeln, das ihr entgegenrauschte. Die weißen Kastanien hatten schon abgeblüht, aber wie versprengte Rubinen flammten hie und da die Blüten der roten im Blätterdickicht auf. Am Himmel lag purpurner Wiederschein der gesunkenen Sonne, und alles war so groß, so wunderbar und schön, daß Annas Herz in tiefer, wonnevoller Seligkeit überschwoll.

»O Eberhard,« flüsterte sie, »freust du dich denn auch so wie ich?«

Er blickte zärtlich auf sie nieder und drückte schweigend ihren Arm. Sie befanden sich gerade an der Stelle, wo er ihr damals gesagt hatte, daß sie seine Sonne sein sollte und daß er die Erde wäre, die sich um die Sonne dreht.

Wie wild hatte er sie damals umfaßt – wie sanft und ruhig war er heute. Hatte sich etwas in ihm verändert seitdem? Nun – jedenfalls war es besser so, wie es heute war. Jetzt kamen sie in die Nähe des Schlosses, und wieder blieb Anna mit einem Ausrufe der Ueberraschung stehen; von oben bis unten war das mächtige alte Gebäude mit frischem hellen Farbenanstrich versehen.

Eberhard lächelte.

»Es war eigentlich noch zu früh im Jahre zum Anstreichen,« sagte er, »aber ich wollte, daß dir das Haus ein freundlicheres Gesicht zeigen sollte, als das erste Mal.«

Sie neigte das Haupt in stummen Gedanken. Jeder ihrer Wünsche war in seinem Gedächtnis niedergelegt, wie ein Wertstück in den Händen eines treuen Verwalters.

Durch die Halle mit den Jagdtrophäen schritten sie hindurch, welche heute abend durch zwei große, in den Ecken aufgestellte Kandelaber erhellt wurde, und eben solche Kandelaber standen im Flure am Fuße der großen Treppe. Große, schwere, altertümliche Leuchter, mit steif gestreckten Armen von Messing, mit dicken Wachskerzen besteckt.

Auf jedem Treppenabsatze stand ein solcher Kandelaber und in gleicher Weise waren Flur und Gänge beleuchtet. Ein stilles, schweres, goldiges Licht.

»Heut gehen wir nicht durch die Bibliothek, sondern gleich in dein Zimmer,« sagte der Baron, als sie die Treppe erstiegen hatten. Er führte sie den Gang entlang, der auf den Flur stieß, dann that er eine Thür auf, die sich von links auf den Gang öffnete, und nun schlug Anna, geradezu entzückt, beide Hände ineinander. Sie waren in ihren Gemächern angelangt, die Fenster standen offen, und durch sie hinaus blickte man in den Park und über den Park hinaus in die weite grünende Landschaft. Im Kamin, den Fenstern gegenüber, flackerte ein lustiges Feuer von Fichtenscheiten; der harzige Duft des brennenden Holzes vermengte sich mit der einströmenden Frühlingsluft zu einem feinen, köstlichen Wohlgeruch. An den Wänden, die mit einer hellfarbigen, mit blaugoldenen Mustern geschmückten Tapete bedeckt waren, hingen Landschaftsbilder, die aus den nebenanliegenden Gemächern hierhergeschafft worden waren; ein Schreibtisch in allerliebstem Schnörkelstile in einer Fensterecke, Stühle mit silberdamastenen Polstern, und ein Ruhebett von dem gleichen Stoffe; zwischen den Fenstern ein hoher Wandspiegel, in schwerem goldbronzenen Rahmen, und das Ganze überflutet vom sanften Lichte eines zierlichen, von der Decke herabhängenden Kronleuchters, und mehrerer, in den Ecken verteilter Lampen, deren Glocken mit roter Seide umhüllt waren. Ein Aufenthalt, wie für eine Fee, hergerichtet von einem guten Geiste.

Der Baron öffnete die Thür zum Nebenzimmer, wo eine große Glasglocke, blau verschleiert, von der Decke schwebte und ein trauliches Licht verbreitete. An der gegenüberliegenden Wand, unter einem Zelte von mattblauer Seide, stand ein Bett, kostbar und reich im Gestell, schneeweiß leuchtend mit seinen Kissen und Linnen vom feinsten Gespinst.

Sprachlos, von Dankbarkeit überwältigt, hing Anna am Halse ihres Gatten; so viel hatte sie von ihm empfangen, dies aber war doch das Höchste. So beschenkt nur ein Mensch, dessen Seele uns nachgeht, ununterbrochen und überall.

»Ich denke,« sagte der Baron, »wir rufen jetzt deine Jungfer, damit du die Reisekleidung abthust und es dir bequem machst!«

Er ließ den Blick umhergehen; auf Stühlen und Sofas des Schlafzimmers lagen Annas eben ausgepackte Kleidungsstücke verstreut; eine Haus- und Morgentoilette von rosarotem Wollenstoff lag obenan, zum Gebrauche bereit.

»Ich gehe unterdes zu mir hinauf,« fuhr er fort, »und wenn ich wiederkomme, abendbroten wir, und wenn es dir recht ist, lassen wir hier in deinem Zimmer anrichten, hier ist es gemütlicher, als da drüben.«

»Zu mir hinauf,« hatte er gesagt – sie sah ihn fragend an.

»Wo wohnst denn du eigentlich?«

»O – ziemlich weit von hier,« gab er zur Antwort, »da oben im zweiten Stock.«

Er sah die Ueberraschung auf ihrem Gesicht; aber es war, als wollte er weitere Fragen abschneiden. Er nahm ihren Kopf zwischen die Hände, küßte sie auf den Scheitel und mit einem »auf Wiedersehen« ging er hinaus.

Von der Thür aus hatte er ihr lächelnd zugenickt. Bildete sie es sich nur ein, oder war in seinem Lächeln etwas Gezwungenes gewesen?

Sie begab sich in ihr Schlafgemach, wo die Jungfer bereits auf sie wartete. Es war ein Mädchen vom Dorfe, nicht übermäßig geübt in den Künsten feinerer Bedienung. Schweigend, und nicht ohne Verlegenheit wartete sie ihres Amtes. Kaum weniger verlegen aber war die Gebieterin selbst. Es war das erste Mal, daß Anna sich beim Aus- und Ankleiden bedienen ließ; mit innerlichem Lächeln gestand sie sich, daß das Prinzessinsein gelernt sein wollte.

Als sie in ihr Wohnzimmer zurückkehrte, stand inmitten desselben der Tisch mit dem Abendbrote bereits angerichtet. Eberhard war noch nicht wiedergekommen, sie war allein. Sie trat an eines der beiden Fenster, kniete auf einen Stuhl und lehnte sich auf das Fensterbrett, in die weiche dunkle Luft hinausträumend.

Nachdem sie ein Weilchen so gelegen, fuhr sie auf und sah sich um – und richtig, da stand er hinter ihr in der Thür. Sie hatte ein Gefühl, als hätte er sie schon längere Zeit schweigend betrachtet.

Er stand so regungslos – in seiner aufgereckten Gestalt war eine Art von lautloser Spannung, in seinen Gesichtszügen eine Art von Starrheit, als hätte ein Kampf getobt, der zur Ruhe gezwungen worden war.

Indem Anna sich aufrichtete, glitt ihr eines der braunsamtnen Pantöffelchen, die sie trug, vom Fuße; jählings neigte er sich herab und küßte sie auf die Fußsohle, die nur noch vom seidenen Strumpfe bedeckt war.

Ebenso rasch richtete er sich wieder auf.

»Verzeih!« sagte er. In Verwirrung trat er zurück.

Lachend warf sie sich an seine Brust.

»Aber was soll ich dir denn verzeihen?«

In seinen Augen flackerte es auf, um gleich darauf wieder zu erlöschen. Er küßte sie, beinah wie abwehrend, auf die Stirn.

»Ja, ja,« sagte er heiser, »nichts, nichts!«

Dann rückte er ihr den Stuhl zurecht und setzte sich mit ihr an den Tisch.

Das Abendessen zu zweien verlief in glücklicher Gemütlichkeit, man aß, man trank und plauderte. Als sie abgespeist hatten, sah Anna mit einer gewissen Ängstlichkeit nach der Thür. Würde nun der alte Johann erscheinen, um abzuräumen?

Eberhard schien ihre Gedanken erraten zu haben.

»Der Johann wartet nicht mehr bei Tische auf,« beruhigte er sie. »Ich denke, wir lassen alles, wie es ist. Wozu sollen wir uns stören lassen?«

Damit war sie einverstanden. Sie ließ sich von ihm Champagner einschenken.

»Aber du trinkst ja gar nicht!« unterbrach sie sich.

»Doch, doch,« erwiderte er, und hastig leerte er sein Glas.

Sie hatte aber ganz recht gesehen; er trank nur sehr wenig. Er saß vom Tische etwas abgerückt, und sah seine junge Frau an und sah, wie der Wein ihr Blut zu erwärmen begann, so daß ihr Gesicht sich leise rötete und der junge Leib aus dem zarten rosafarbenen Morgenkleide hervorzuatmen und herauszublühen schien.

Einen starren, beinah stieren Ausdruck nahmen seine Augen dabei an, bis daß er, wie plötzlich zu sich kommend, den Blick von ihr hinweg zur Seite wandte.

Anna merkte nichts davon. Sie erzählte von ihren Blumen, mit denen sie gleich morgen anfangen wollte; daneben plante sie einen großen Gemüsegarten, der natürlich auch unter ihrer Obhut stehen sollte. Sie war ganz vertieft in ihre Entwürfe und glücklich wie ein Kind.

Unterdessen saß der bleiche Mann schweigend ihr zur Seite. Ob er hörte, was sie sprach? Ob er acht darauf gab? Es sah nicht so aus. Seine Seele schien mit den dunklen Gewalten beschäftigt, die wieder übermächtig über ihn wurden.

Es war spät geworden; die Stutzuhr auf dem Kaminsimse schlug elf Uhr. Zeit zum Zubettegehen.

Anna wurde still, der Baron blieb stumm wie bisher – es trat das verlegene Schweigen ein, wenn zwei Menschen dasselbe denken und keiner von beiden zu sprechen anfängt.

Annas Gesicht erglühte immer tiefer, ihre Hände spielten mit den Quasten der Schnur, mit der ihr Kleid gegürtet war; sie senkte die Augen in den Schoß und blickte verstohlen zu ihm auf. Jetzt erst bemerkte sie, wie verschattet sein Antlitz war.

Noch eine Weile peinlichen Schweigens, dann erhob er sich. Seine Bewegung hatte etwas Unsicheres, wie die eines Menschen, der nicht recht weiß, was er thun soll.

Langsam war auch Anna aufgestanden; nun stand sie mitten im Zimmer, Nacken und Haupt schamhaft geneigt.

Sein unstäter Blick ging rund im Zimmer umher, dann blieb er an ihr haften, und der Ausdruck flackerte wieder darin auf, wie an dem Tage in Breslau.

Wie sie vor ihm stand! Unbewußt in keuscher Hingabe, wie eine demütige Magd! Wie sie lieblich war, wie sie reizend, schön und entzückend war!

Ein dumpfer Laut rang sich aus seiner Brust; wie damals, als sie vor dem Spiegel stand, umschlang er sie und riß sie an sich; mit dem Munde drückte er ihr Haupt nach hintenüber und dann wühlten sich seine Lippen auf ihren Mund, in ihr Gesicht, in ihren Hals.

Halb erstickt hing sie in seinen Armen; ihr Gesicht war ganz blaß geworden, ihre Augen geschlossen, unwillkürlich, wie damals, stemmte sie die Hände gegen ihn.

»Eberhard,« ächzte sie.

Und nun geschah, was an jenem Tage geschehen war: jählings ließ er von ihr ab, stürzte ihr zu Füßen und umschlang ihre Kniee.

»Verzeih mir,« stöhnte er, »verzeih mir und schlaf wohl, schlaf wohl, schlaf wohl!«

Mit einem Sprunge war er auf den Füßen, an der Thür, und ohne sich umzusehen, wie ein Gejagter, Verfolgter, zur Thür hinaus.

So rasch war dieses alles geschehen, daß Anna nicht Zeit gefunden hatte, ihm nachzurufen. Einsam blieb sie zurück, in völliger dumpfer Ratlosigkeit.

Sollte sie ihm nachgehen? Durch das fremde, dunkle Haus? Wo sie nicht einmal seine Gemächer kannte? Es grauete ihr. Auch hätte sie sich schämen müssen.

Was also blieb zu thun? Zu Bette gehen.

Seufzend ging sie in ihr Schlafzimmer. Die Jungfer, die ihr beim Entkleiden behülflich sein wollte, schickte sie hinaus; in der Stimmung, in der sie war, brauchte sie keine fremden Augen, die ihr zusahen. Das Bett mit dem schön verzierten Untergestell, das seidene Zelt darüber – wie prachtvoll alles. Aber in all dieser Pracht, welche Einsamkeit! Die frischen Linnen des Betts berührten sie mit fröstelnder Kühle; sie huschte tief in die Decken und unter Thränen schlief sie zum erstenmal auf Schloß Fahrenwald ein.

Aber während sie schlief, war droben im zweiten Stock einer, der nicht schlief, das war ihr Mann, der Baron Eberhard von Fahrenwald, der in sein Zimmer gelangt war, die Thür verriegelt hatte und nun in seinem Zimmer auf und nieder ging, ohne Aufhören und ohne Rast, wie ein wildes Tier hinter den Stäben des Käfigs.

Die Ruhe, die er sich den ganzen Tag hindurch aufgezwungen hatte, war dahin, abgesprengt von seiner Seele, wie die Kruste, die sich auf die Lava im Krater gelegt hat und die in alle vier Winde fliegt, sobald der Vulkan da drunten lebendig wird. All die dunklen Gewalten, die in den Tiefen seiner Seele brodelten, hatten Feuer gefangen, all die wilden Instinkte, die da drunten, wie Ungeheuer im Tropenschlamme, vergraben lagen, reckten plötzlich die Häupter; sie wollten sich nicht mehr bändigen lassen, wollten nicht mehr dem befehlshaberischen »nein« gehorchen, mit dem er sie damals für einen Augenblick niedergezwungen hatte, wollten nicht mehr; jetzt hatten sie ihn, jetzt schüttelten sie ihn, daß ihm die Glieder am Leibe flogen, und wie mit feurigen Geißeln peitschten sie seine Phantasie. Immerfort sah er es vor sich, das Weib da unten, das junge, blühende Weib, zu dem es ihn hinriß. Jeden ihrer Schritte begleitete er mit seinen Gedanken. Er sah, wie sie ihr Schlafgemach betrat, wie sie langsam anfing, sich zu entkleiden. Ganz deutlich, ganz handgreiflich sah er das. Stück nach Stück sank die Gewandung herab; jetzt breitete sie die schneeweißen Arme nach ihm, und jetzt geschah etwas – mitten im Zimmer blieb er jählings stehen, die Hände an die Schläfen gedrückt, die Augen weit offen, wie fest gebannt von einer furchtbaren Vision. War das er, den er da sah, der sich wie ein reißendes Tier über das hüllenlose Weib herstürzte: Ja, ja, ja! Wie hatte der Alte damals gesagt? Wenn er heiratete, würde er jemanden umbringen. So hatte der Alte gesagt, und das hatte ein Arzt dem Alten gesagt. Also mußte es so sein, und so war es ja auch, und nun wußte er ja auch, wer das war, den er umbringen würde! Und also kam der Wahnsinn doch! Und all das Kämpfen, all das Ringen, all das Sichzurwehrsetzen war vergeblich gewesen, alles, alles?

An einem Sessel brach er in die Kniee; mit beiden Fäusten griff er sich ins Haar; er schlug die Stirn auf den Stuhl; ein heiseres Keuchen, beinah wie ein dumpfes Geheul, brach aus seiner Kehle.

»Ich will nicht! Ich will nicht! Ich will nicht!«

Dann ließ der Sturm nach; gebrochen blieb er am Boden liegen, und nach einer Stunde dumpfen kraftlosen Vorsichhinstarrens raffte er sich auf und schleppte sich nach seinem Lager.

Während sich dies begab, war dort oben im zweiten Stock noch jemand wach. Das war der alte Johann.

Er schlief nicht. Nein. Er wußte ja, daß er von jetzt an überhaupt nie mehr schlafen durfte. Seit heute war die »Einbrecherin« im Schloß. Das Unheil war eingezogen, jetzt hieß es, Wache halten! Das war sein Amt, seine Pflicht. Darum von nun an die Augen aufbehalten! Nicht mehr schlafen! Nie mehr schlafen!

Der Baron hatte ihm verboten, sich zu zeigen, wenn er heute nachmittag mit seiner jungen Frau ankommen würde.

Natürlich hatte er gehorcht; alte Haushunde sind gehorsam, aber wachsam sind sie auch. Und sie haben Zähne!

Er hatte auch ganz recht gehabt, der Herr Baron, daß er ihn fortschickte, daß er »die Person« in Sicherheit vor ihm brachte, ganz recht, ganz recht, ganz recht.

In seinem Zimmer eingeschlossen, drei Stunden lang und mehr war er ununterbrochen hin und her gegangen, die knochigen Hände reibend, immerfort das eine Wort murmelnd »ganz recht, ganz recht, ganz recht«.

»Ganz recht, daß du mich nicht an sie heranläßt – denn wenn ich ihr zu Leibe könnte –« Bei diesem »wenn« knirschten seine Zähne, seine Fäuste streckten sich in die Luft.

Dann, als es elf Uhr geschlagen, hatte er gehört, wie jemand mit hastigen Schritten, als wenn er liefe, als wenn er flüchtete, die Treppe draußen heraufgekommen war. Er hatte gelauscht, hatte gehört, wie die Thür zum Zimmer des Barons aufgerissen, schmetternd zugeworfen und dann von innen verriegelt wurde.

Aha – also, schon heut am ersten Abend fing es an! Das war der Baron, den er da hatte kommen hören, der jetzt da drüben in seinem Zimmer saß, wie die Maus im Loch, wie die dumme Maus, der man Speck gestreut hat und die genascht hat und jetzt dahinter kam, daß der Speck vergiftet gewesen war! Er grinste übers ganze Gesicht, er mußte an sich halten, daß er nicht laut herauslachte, laut, daß man's durchs ganze Haus hörte. Die dumme, dumme Maus! Es war doch eigentlich zu komisch! zu lächerlich!

Dann war er über den Flur geschlichen, an die Thür seines Herrn, hatte sich mit dem Ohr an das Schlüsselloch gebeugt und gehorcht, und wie er da drinnen das Hin- und Hergehen, das Rasen, das Keuchen und Schnaufen hörte, hatte er grinsend mit dem Kopfe genickt: »Siehst du, siehst du, siehst du wohl?«

Die ganze Nacht hätte er so stehen können und horchen, denn es verursachte ihm ein namenloses Vergnügen, zu hören, wie sein Herr da drinnen litt. Das hatte er nun davon, der unglückselige, verrückte Mensch, und das geschah ihm recht! Ein Glück nur, daß wenigstens ein Vernünftiger noch da war, einer, der noch zum Rechten sehen und die verfahrene Geschichte wieder herausreißen konnte. Und das war er, der alte Johann; und er würde sie wieder herausreißen, ja, das würde er! Noch wußte er nicht genau wie, aber fertig bringen würde er es, das wußte er, das sagte er sich, indem er jetzt über den Flur zu seinem Zimmer zurückging, nicht mehr schleichend wie vorhin, sondern hocherhobenen Hauptes. Denn ein Stolz erfüllte seine Brust, daß er sich vorkam, als wäre er jetzt eigentlich der Herr im Hause, als hätte er zu befehlen und kein andrer sonst.

Er konnte sich noch gar nicht entschließen, in seine Kammer zurückzukehren; es war ein Gefühl in ihm, als müßte er noch irgend etwas thun, etwas vollbringen; ein solches Kraftgefühl, daß er am liebsten laut gebrüllt hätte. Darum stieg er noch einmal die Treppe hinunter und wandelte durch alle Gänge des Hauses, alles im Dunkeln, ohne Licht, wozu brauchte er denn Licht? Er fand sich ja auch im Dunkeln zurecht in seinem Hause. Sein Haus – er drückte sich mit den Fingern die Lippen zu, damit sein Kichern nicht zum lauten Gelächter ward. Als er endlich zu seinem Zimmer zurückkehrte und über die Schwelle trat, bückte er sich. Er wußte, daß er plötzlich gewachsen war. Ja, ja, es war merkwürdig, aber wahr, er war gewachsen, mindestens um einen Kopf, darum mußte er sich in acht nehmen, sonst wäre er mit dem Kopfe oben an die Thür gestoßen. –

Der Frühling that seine Pflicht. Zu allen Ritzen und Löchern des Schlosses Fahrenwald schickte er am nächsten Morgen die Sonnenstrahlen hinein, als wollte er dem alten Kasten bis in die finstersten Eingeweide hineinleuchten und wärmen.

Als der Baron an das Fenster seines Zimmers trat und hinunterblickte, sah er, daß andre schon früher aufgestanden waren als er. Einen Strohhut auf dem Kopf, das Kleid hoch aufgeschürzt, wandelte im Blumengarten unten eine Gestalt zwischen den Beeten auf und ab, bald rechts sich niederbeugend, bald links, so daß der breitkrämpige Hut bedächtig auf und nieder schwankte. Es war seine junge Frau.

Die Sonne hatte sie früh am Morgen geweckt und ihr keine Ruhe im Bette gelassen.

Als er ihrer ansichtig wurde, war ihm, als sänke die Nacht und alles, was in der Nacht gewesen war, wie ein Spuk hinter ihm nieder, in eine endlose Tiefe. Ohne sich zu besinnen, riß er das Fenster auf und »Anna!« rief er laut hinunter.

Als sie seine Stimme vernahm, richtete sie den Kopf zu ihm auf, und als sie ihn erblickte, hob sie die Hände an den Mund und warf ihm Kußfinger zu. Ihr Antlitz, vom gelben Hute umrahmt, strotzend von Fülle und Jugend, sah aus wie eine Sonnenblume.

»Komm herunter Eberhard,« rief sie zu ihm hinauf, »hier unten ist's wundervoll.«

Wie der Morgenruf der Lerche drang ihre Stimme an sein Ohr. Das Leben war ihm wiedergegeben, und da unten stand es vor ihm, leibhaftig verkörpert in dem geliebten Geschöpf.

Er lehnte sich weit über die Fensterbrüstung hinaus. »Gleich komm' ich, gleich,« sagte er; aber während er das sagte, blieb er ruhig im Fenster liegen. Er konnte sich nicht satt sehen an ihr.

Sie stand und lächelte ihm zu und nickte; er nickte zurück. Dann zog sie ihr weißes Taschentuch hervor und wie mit einem Fähnchen winkte sie hinauf.

»Komm doch,« rief sie wieder, »komm doch endlich.«

Nun erhob er sich, um sich anzukleiden, und jetzt erst spürte er, wie schwer die Nacht ihn angegriffen hatte. Er taumelte beinah, und erst das kalte Brunnenwasser, mit dem er sich überströmte, brachte ihn wieder zu sich. Als er aber in den Garten zu ihr hinunterkam, vergaß er seine Schwäche und alle Leiden. Blaß war er freilich, aber das war sie ja an ihm gewöhnt; sie hüpfte ihm entgegen; er fing sie in seinen Armen auf, und als sie an seinem Herzen lag und die Liebe fühlte, die wie ein Strom aus diesem Herzen über sie dahinging, vergaß auch sie, daß sie gestern abend in Thränen eingeschlafen war.


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