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Der Geist von Canterville

Eine hylo-idealistische Novelle

I

Als Hiram B. Otis, der amerikanische Gesandte, Schloß Canterville kaufte, sagte man allgemein, daß er sehr töricht handle, denn es sei kein Zweifel, daß es im Schloß spuke. Lord Canterville selbst, der ein Mann von peinlichem Ehrgefühl war, hielt es für seine Pflicht, die Tatsache Herrn Otis gegenüber zu erwähnen, als sie über die Kaufbedingungen sprachen. »Wir selbst haben im Schloß nicht mehr gewohnt«, sagte Lord Canterville, »seitdem meine Großtante, die verwitwete Herzogin von Bolton, einen furchtbaren Nervenanfall erlitt, von dem sie sich nie mehr recht erholte, weil zwei Totenhände sich ihr auf die Schulter legten, als sie sich eben zum Diner ankleiden wollte. Und ich fühle mich verpflichtet, Ihnen zu sagen, Herr Otis, daß das Gespenst tatsächlich von mehreren lebenden Mitgliedern meiner Familie gesehen worden ist, so wie auch vom Pfarrer der Gemeinde, dem Reverend Augustus Dampier, der Mitglied des King's College in Cambridge ist. Nach dem unglückseligen Zufall mit der Herzogin wollte keiner unserer jüngeren Dienstboten bei uns bleiben, und meine Frau konnte sehr oft bei Nacht kaum schlafen wegen der geheimnisvollen Laute, die aus dem Korridor und der Bibliothek herüberkamen.«

»Mylord,« antwortete der Gesandte, »ich nehme die Einrichtung und den Geist zum Schätzwert. Ich komme aus einem modernen Lande, wo man alles haben kann, was für Geld zu kaufen ist. Und da unsere jungen Leute sehr flink und lebenslustig sind und Ihnen Ihre besten Schauspieler und Primadonnen entführen, so nehme ich an, daß, wenn es wirklich so etwas wie ein Gespenst in Europa gäbe, wir es in sehr kurzer Zeit bei uns zu Hause entweder in einem Museum oder in einer Schaubude an der Straße haben würden.«

»Ich fürchte, daß das Gespenst existiert«, sagte Lord Canterville lächelnd. »Wenn es auch den Lockkünsten Ihrer unternehmenden Impresarios entgangen ist, ist es seit drei Jahrhunderten wohlbekannt, seit dem Jahre 1584 nämlich, und es erscheint immer, ehe irgendein Mitglied der Familie stirbt.«

»Das pflegt der Hausarzt auch zu tun, Lord Canterville, aber es gibt keine Gespenster und ich glaube nicht, daß zugunsten der englischen Aristokratie die Naturgesetze sich aufheben lassen.«

»Sie denken offenbar sehr aufgeklärt in Amerika,« antwortete Lord Canterville, der die letzte Bemerkung des Herrn Otis nicht ganz verstanden hatte, »und wenn ein Gespenst im Hause Sie weiter nicht kümmert, ist ja alles in Ordnung. Nur bitte ich Sie nicht zu vergessen, daß ich Sie gewarnt habe.«

Eine Woche später war der Kauf perfekt, und am Ende der Saison bezog der Gesandte mit seiner Familie das Schloß Canterville. Frau Otis, die als Fräulein Lukretia R. Tappan (West 53. Straße) eine berühmte Neuyorker Schönheit gewesen war, war nun eine sehr hübsche Frau in den besten Jahren, mit klugen Augen und einem prächtigen Profil. Viele amerikanische Damen nehmen, wenn sie ihr Heimatland verlassen, den Schein chronischer Kränklichkeit an, als sei dies eine Art europäischer verfeinerter Kultur. Aber Madame Otis war nie in diesen Irrtum verfallen. Sie erfreute sich einer ausgezeichneten Gesundheit und war voll frischer Lebenskraft. In vieler Hinsicht war sie ganz und gar englisch und sie bot ein ausgezeichnetes Beispiel für die Tatsache, daß wir wirklich heute mit Amerika alles gemeinsam haben, natürlich mit Ausnahme der Sprache. Ihr ältester Sohn, den die Eltern in einem Augenblicke des Patriotismus Washington getauft hatten, was er nie aufgehört hatte zu bedauern, war ein blondhaariger, nett aussehender junger Mann, der sich für den amerikanischen diplomatischen Dienst vorbereitete, indem er in drei aufeinanderfolgenden Saisons den Kotillon in New-Port-Kasino arrangierte, und der selbst in London als ausgezeichneter Tänzer bekannt war. Gardenien und der Pairskalender waren seine einzige Schwäche. Sonst war er außerordentlich vernünftig. Miß Virginia E. Otis war ein kleines Mädchen von fünfzehn Jahren, schlank und reizend wie ein Reh und mit einer schönen Offenheit in den großen blauen Augen. Sie war eine wundervolle Reiterin und war einmal mit dem alten Lord Bilton auf ihrem Pony um die Wette geritten, zweimal um den Park; sie hatte das Rennen mit anderthalb Pferdelängen gewonnen, gerade gegenüber der Achillesstatue, zum großen Entzücken des jungen Herzogs von Cheshire, der auf der Stelle um sie anhielt und in derselben Nacht, in Tränen gebadet, von seinen Vormunden nach Eton zurückgeschickt wurde. Nach Virginia kamen die Zwillinge, die man gewöhnlich das »Sternenbanner« nannte, weil sie immer geschwenkt, das heißt verprügelt wurden. Es waren entzückende Jungens und, mit Ausnahme des würdigen Gesandten, die einzig wahren Republikaner in der Familie.

Da das Schloß Canterville sieben Meilen von Ascot liegt, der nächsten Eisenbahnstation, hatte Herr Otis nach dem Wagen telegraphiert, und sie fuhren in bester Laune ab. Es war ein entzückender Juliabend, und die Luft war geschwängert von dem Duft der Fichtenwälder. Und dann und wann hörte man eine Holztaube, die sich an ihrer eigenen Stimme ergötzte, oder man sah tief im rauschenden Farn die glänzende Brust eines Fasans, kleine Eichhörnchen guckten von den Buchen herunter, als sie vorbeifuhren, und die Kaninchen rannten durch das Unterholz davon, über die moosigen Wurzeln, die weißen Schweifchen in der Luft. Als der Wagen in der Schloßallee einfuhr, bedeckte sich der Himmel plötzlich mit Wolken, eine merkwürdige Stille lag mit einem Male in der Luft. Ein großer Schwarm Krähen ging schweigend über die Häupter der Familie hinweg, und ehe sie das Haus erreichten, fielen einige schwere Regentropfen.

Auf den Stufen stand eine alte Frau, um die Herrschaften zu empfangen, sauber in schwarze Seide gekleidet, mit einem weißen Häubchen und einer Schürze. Das war Frau Umney, die Haushälterin, die Frau Otis auf Lady Cantervilles inständige Bitten in ihrer früheren Stellung belassen hatte. Sie machte den Herrschaften, als sie ankamen, einen tiefen Knicks und sagte in wunderlicher, altmodischer Art: »Ich biete Ihnen auf Canterville den Willkomm.« Sie folgten ihr und gingen durch die schöne Tudorhalle in die Bibliothek, einem langen niedrigen Zimmer, mit schwarzem Eichenholz getäfelt, an dessen Ende sich ein großes Fenster aus buntem Glas befand. Hier war der Tee für sie gedeckt und nachdem sie ihre Umhüllen abgelegt hatten, setzten sie sich und begannen sich umzuschauen, indes Frau Umney sie bediente.

Plötzlich erblickte Frau Otis einen tiefroten Fleck auf dem Fußboden, gerade vor dem Kamin, und ohne daran zu denken, was der Fleck bedeute, sagte sie zu Frau Umney: »Ich glaube fast, hier ist etwas ausgegossen worden.«

»Ja, gnädige Frau,« antwortete die alte Haushälterin mit leiser Stimme, »Blut ist hier vergossen worden.«

»Wie schrecklich,« rief Frau Otis, »ich mag aber keinen Blutfleck in meinem Wohnzimmer. Der Fleck muß gleich entfernt werden!«

Die alte Frau lächelte und antwortete mit derselben geheimnisvollen Stimme: »Es ist das Blut von Lady Eleonore Canterville, die auf diesem Flecke hier von ihrem eigenen Gatten, Sir Simon de Canterville, im Jahre 1575 ermordet wurde. Sir Simon überlebte sie noch um neun Jahre und verschwand dann plötzlich unter sehr merkwürdigen Umständen. Sein Körper ist nie gefunden worden, aber sein schuldiger Geist spukt noch im Schlosse. Der Blutfleck ist von Touristen und andern Leuten viel bewundert worden und kann nicht entfernt werden.«

»Das ist alles Unsinn,« rief Washington Otis, »Pinkertons patentiertes Steinputzmittel und Universal-Fleckenreiniger werden damit sofort fertig werden.« Und ehe es die entsetzte Haushälterin verhindern konnte, lag er schon auf den Knien und rieb den Boden mit einem kleinen Stift, der aussah wie eine schwarze Seife. Einen Augenblick später war keine Spur dieses Blutfleckens mehr zu sehen.

»Ich wußte ja, Pinkerton würde seine Schuldigkeit tun!« rief er triumphierend und sah sich im Kreise der bewundernden Familie um, aber kaum hatte er diese Worte gesagt, als ein furchtbarer Blitz das dunkle Zimmer erleuchtete und ein schrecklicher Donnerkrach sie alle aufschreckte. Frau Umney fiel in Ohnmacht. »Welch ein schreckliches Klima!« sagte der amerikanische Gesandte ruhig und zündete eine lange Zigarre an. »Ich fürchte fast, die Alte Welt ist so übervölkert, daß es hier nicht genug anständiges Wetter für einen jeden gibt. Ich war immer der Meinung, daß Auswanderung für England unbedingt notwendig sei!«

»Mein teurer Hiram,« sagte Frau Otis, »was kann man mit einem Frauenzimmer anfangen, das in Ohnmacht fällt?«

»Sie muß dafür aufkommen, wie für zerbrochenes Glas«, sagte der Gesandte. »Du wirst sehen, sie wird nicht mehr in Ohnmacht fallen.« Einige Augenblicke später kam Frau Umney wieder zu sich. Aber sie war zweifellos außerordentlich aufgeregt, und sie warnte Herrn Otis vor einem Unglück, das über das Haus kommen müsse.

»Ich habe mit meinen Augen Dinge gesehen, daß die Haare eines jeden Christenmenschen zu Berge stehen würden, und viele, viele Nächte hindurch habe ich kein Auge geschlossen wegen der schrecklichen Dinge, die sich hier abspielen.« Aber Herr Otis und seine Gattin versicherten der ehrlichen Seele, daß sie sich vor Geistern gar nicht fürchteten, und nachdem die Haushälterin den Segen der Vorsehung auf ihre neue Herrschaft herabgefleht und wegen Erhöhung ihres Gehaltes einiges gesprochen hatte, schlich sie wankend auf ihr Zimmer.

II

Der Sturm wütete furchtbar die ganze Nacht hindurch, aber es ereignete sich nichts Besonderes. Als die Herrschaften aber am nächsten Morgen zum Frühstück herabkamen, fanden sie den schrecklichen Blutflecken wieder auf dem Boden. »Pinkertons Fleckenreiniger kann unmöglich schuld daran sein,« sagte Washington, »denn ich habe ihn wiederholt erprobt, da muß das Gespenst dahinter stecken.« Er rieb also den Fleck ein zweites Mal fort, aber am nächsten Morgen war er wieder da. So auch am dritten Morgen, obwohl Herr Otis selbst die Bibliothek am Abend zugeschlossen und den Schlüssel mitgenommen hatte. Die ganze Familie interessierte sich jetzt dafür. Herr Otis begann anzunehmen, daß er doch wohl die Existenz von Gespenstern zu schroff geleugnet habe. Frau Otis sprach die Absicht aus, sich der psychischen Gesellschaft anzuschließen, und Washington schrieb einen langen Brief an die Herren Myers und Podmore über die Fortdauer blutiger Flecke, wenn sie mit einem Verbrechen zusammenhängen. In der folgenden Nacht wurden alle Zweifel bezüglich der objektiven Existenz von Phantomen endgültig beseitigt.

Der Tag war warm und sonnig gewesen, und in der Abendkühle fuhr die ganze Familie aus. Sie kamen nicht vor neun Uhr nach Hause und nahmen ein leichtes Abendbrot ein. Das Gespräch berührte Gespenster in keinerlei Weise, so daß nicht einmal die primären Bedingungen empfänglicher Erwartung gegeben waren, die sehr oft dem Erscheinen psychischer Phänomene vorangehen. Die Gesprächsstoffe, wie ich sie seitdem von Herrn Otis selbst gehört habe, waren durchgängig die gleichen, welche die gewöhnliche Konversation der gebildeten Amerikaner der besseren Klasse beherrschen, so zum Beispiel die riesige Überlegenheit von Miß Davenport über Sarah Bernhard als Schauspielerin; die Schwierigkeit, selbst in den besten englischen Häusern Buchweizenkuchen und Maisbrei zu erhalten; die Bedeutung von Boston in der Entwicklung der Weltseele; die Vorzüge der Gepäckscheine beim Reisen; und die Feinheit des Neuyorker Akzents im Vergleich mit dem schleppenden Londoner Dialekt. Übernatürliches wurde mit keiner Silbe erwähnt und niemand fiel es ein, auf Sir Simon de Canterville in irgendeiner Weise anzuspielen. Um elf Uhr zog sich die Familie zurück, und um halb zwölf waren alle Lichter ausgelöscht. Einige Zeit später wurde Herr Otis durch ein merkwürdiges Geräusch im Korridor vor seiner Türe geweckt. Es klang wie ein Geklirr von Metall und schien mit jedem Augenblick näher zu kommen. Er stand sofort auf, zündete ein Streichhölzchen an und schaute auf die Uhr. Es war gerade ein Uhr. Er war ganz ruhig und fühlte seinen Puls, der durchaus nicht fieberisch war. Das merkwürdige Geräusch dauerte fort, und gleichzeitig hörte er deutlich den Schall von Tritten. Er schlüpfte in seine Pantoffel, zog eine lange, schmale Phiole aus seinem Toilettenkästchen und öffnete die Türe. Sich gerade gegenüber sah er im blassen Mondlicht einen alten Mann von schrecklichem Aussehen. Seine Augen waren wie rotglühende Kohlen, langes graues Haar fiel über seine Schultern in geflochtenen Strähnen, seine Kleider von uraltem Schnitt waren schmutzig und zerrissen und von seinen Hand- und Fußgelenken hingen schwere rostige Fesseln.

»Mein werter Herr,« sagte Herr Otis, »ich muß Sie dringend bitten, Ihre Ketten zu schmieren und habe zu diesem Zwecke eine kleine Flasche von Tammanys Auroracreme mitgebracht. Man behauptet, daß es bei einmaliger Anwendung sofort wirke, und auf dem Umschlag finden Sie eine ganze Reihe von Attesten von unseren bedeutendsten einheimischen Geistlichen. Ich lege Ihnen die Phiole hier zu den Kerzen auf den Nachttisch und werde Ihnen mit Vergnügen mehr davon liefern, wenn Sie es benötigen.« Mit diesen Worten legte der Gesandte der Vereinigten Staaten das Fläschchen auf den Marmortisch, schloß die Türe und ging zur Ruhe.

Einen Augenblick stand das Gespenst von Canterville bewegungslos da, in selbstverständlicher Entrüstung. Dann warf es die Flasche heftig auf den glatten Boden, floh den Korridor hinunter, stieß dumpfe Seufzer aus und verbreitete ein geisterhaftes, grünes Licht. Und gerade als es die große Eichentreppe erreichte, flog eine Türe auf, zwei kleine, weißgekleidete Wesen erschienen und ein großes Kissen flog schwirrend knapp an seinem Kopfe vorüber. Es war offenbar keine Zeit zu verlieren und so nahm er rasch seine Zuflucht zur vierten Dimension und verschwand durch das Getäfel, und das Haus wurde wieder vollkommen ruhig.

Nachdem es ein kleines verborgenes Zimmer im linken Flügel erreicht hatte, lehnte es sich gegen einen Mondstrahl, um wieder zu Atem zu kommen, und dann begann es seine Lage zu überdenken. Niemals in einer glänzenden und ununterbrochenen Laufbahn von dreihundert Jahren war es so tief beleidigt worden. Es dachte an die Herzogin-Witwe, die es so furchtbar erschreckt hatte, als sie in Spitzen und Diamanten vor dem Spiegel stand; es dachte an die vier Hausmädchen, die hysterisch geworden waren, als es sie bloß durch die Vorhänge eines der Fremdenzimmer angrinste, es dachte an den Pfarrer des Kirchspiels, dessen Kerze es einmal ausgeblasen hatte, als er in einer Nacht spät aus der Bibliothek kam und der seitdem in der Behandlung Sir William Gulls stand, ein hilfloses Opfer nervöser Störungen; es dachte an die alte Madame de Tremouillac, die, als sie eines Morgens aufwachte und sah, wie ein Skelett im Lehnstuhl saß und ihr Tagebuch las, durch einen Anfall von Gehirnentzündung sechs Wochen ans Bett gefesselt war, bei ihrer Genesung sich mit der Kirche aussöhnte und jede Verbindung mit dem notorisch skeptischen Herrn Voltaire abbrach. Es erinnerte sich an jene furchtbare Nacht, als der böse Lord Canterville in seinem Ankleidezimmer gefunden wurde, nach Atem ringend und den Karobuben im Halse, und wie er gerade, bevor er starb, beichtete, daß er Charles James Fox mit eben dieser Karte um fünfzigtausend Pfund im Spiele betrogen habe, und schwur, daß der Geist ihn jetzt gezwungen habe, sie zu verschlucken. Alle seine Großtaten fielen ihm jetzt ein, angefangen vom Kammerdiener, der sich in der Speisekammer erschoß, weil er sah, wie eine grüne Hand ans Fenster klopfte, bis zur schönen Lady Stutfield, die immer ein schwarzes Samtband um den Hals tragen mußte, um die Spur von fünf Fingern, die dort in ihre weiße Haut gebrannt war, zu verbergen, und die sich schließlich im Karpfenteich am Ende der Königsallee ertränkte. Mit dem enthusiastischen Egoismus des wahren Künstlers ging es alle seine berühmten Leistungen durch, und lächelte bitter, als es sich seiner letzten Erscheinung als »Roter Ruben oder der erwürgte Säugling«, seines Debüts als »der hagere Gibeon, der Blutsauger von Bexley Moor« erinnerte und als es an das Furore dachte, das es eines wundervollen Juniabends erregte, bloß weil es mit seinen eigenen Knochen auf dem Tennisplatze Kegel spielte. Und nun nach alldem kamen die verfluchten Amerikaner und boten ihm Auroracreme an und warfen ihm Bettpolster an den Kopf. Es war ganz unerträglich. Überdies war noch niemals ein Gespenst so behandelt worden. So beschloß es sich zu rächen und blieb bis zum Morgengrauen in der Pose tiefen Nachdenkens.

III

Am nächsten Morgen, als sich die Familie Otis beim Frühstück traf, besprachen sie die Erscheinung des Geistes mit einiger Ausführlichkeit. Der Gesandte der Vereinigten Staaten ärgerte sich natürlich ein bißchen, als er sah, daß man sein Geschenk nicht angenommen hatte. »Ich wünsche nicht«, sagte er, »das Gespenst irgendwie zu beleidigen, und ich muß sagen, daß ich in Anbetracht der langen Zeit, die es jetzt schon im Hause verbringt, es nicht sehr höflich finde, ihm Kissen an den Kopf zu werfen« – eine sehr richtige Bemerkung, welche aber, zu meinem Leidwesen muß ich dies gestehen, die Zwillinge zu lautem Lachen reizte – »andererseits«, fuhr er fort, »werden wir gezwungen sein, wenn es wirklich Auroracreme nicht benutzen will, ihm seine Ketten wegzunehmen. Es ist ganz unmöglich, zu schlafen, wenn vor dem Schlafzimmer so ein Spektakel herrscht.«

Den Rest der Woche blieben sie übrigens ungestört, und die einzige Sache, die ihre Aufmerksamkeit erregte, war die stete Wiederkehr des Blutfleckens auf dem Fußboden der Bibliothek. Das war gewiß sehr sonderbar, da Herr Otis jede Nacht die Tür verschloß und die Fenster sorgfältig verriegelte. Auch die chamäleonartige Farbe des Flecks erregte vielerlei Kommentare; an manchem Morgen war er von einem tiefen, fast indischen Rot, dann wieder karminrot, dann von einem satten Purpur und als sie eines Tages herunter kamen, um dem schlichten Ritus der freien amerikanischen reformierten bischöflichen Kirche gemäß zu beten, fanden sie den Fleck von einem tiefen Smaragdgrün. Dieser kaleidoskopische Wechsel unterhielt die Familie natürlich sehr, und jeden Abend wurden Wetten daraufhin abgeschlossen. Die einzige, die an dem Spaß nicht teilnahm, war die kleine Virginia, die aus irgendeinem unerklärlichen Grunde bei dem Anblick des Blutfleckes immer einigermaßen aufgeregt war und beinahe zu weinen begann, als er eines Morgens smaragdgrün erschien.

Die zweite Erscheinung des Geistes geschah Sonnabend nachts. Kurz nachdem alle zu Bett gegangen waren, wurden sie plötzlich durch einen furchtbaren Krach in der Halle aufgeschreckt. Sie stürzten alle die Treppe hinunter und da fanden sie, daß eine schwere alte Rüstung sich von ihrem Standplatz losgelöst hatte und auf die Steinfliesen gefallen war. In einem hochlehnigen Stuhle aber saß das Gespenst von Canterville und rieb seine Knie mit einem Ausdruck gräßlichen Schmerzes im Gesicht. Die Zwillinge hatten ihre Blasrohre mitgebracht und schossen sofort zwei Schrotkörner auf ihn, mit jener Zielsicherheit, die nur durch eine lange und sorgfältige Übung an einem Schreiblehrer gewonnen werden kann. Der Gesandte der Vereinigten Staaten aber legte den Revolver auf ihn an und forderte ihn kalifornischer Sitte gemäß auf, die Hände hoch zu halten. Der Geist sprang mit einem wilden Wutschrei empor und fuhr wie ein Nebel an ihnen vorbei. Im Vorübergehen löschte er Washington Otis' Kerze aus und ließ sie alle in tiefer Finsternis zurück. Als er oben auf der Treppe war, erholte er sich und beschloß, seine berühmt gewordene dämonische Lache anzuschlagen. Bei mancher Gelegenheit hatte sie sich ihm schon als sehr nützlich erwiesen. Es hieß, daß sie Lord Rakers Perücke in einer Nacht gebleicht hatte und daß drei von Lady Cantervilles französischen Gouvernanten gekündigt hatten, ehe ihr Monat um war. Er lachte also ein schreckliches Lachen, daß das alte Gewölbe wider- und widerhallte, aber kaum hatte sich das furchtbare Echo verloren, als sich die Türe öffnete und Frau Otis in einem lichtblauen Schlafrock erschien. »Ich glaube beinahe, Ihnen ist nicht ganz wohl,« sagte sie, »und so habe ich Ihnen eine Flasche von Doktor Dobells Tinktur mitgebracht. Wenn Sie Leibschmerzen haben, so wird das sicherlich helfen.« Der Geist blickte sie wütend an und begann sofort die Vorbereitungen zu treffen, um sich in einen großen schwarzen Hund zu verwandeln, eine Leistung, für die er mit Recht berühmt war und der der Hausarzt immer die unheilbare Verstandesschwäche von Lady Cantervilles Onkel, dem ehrenwerten Thomas Horton zuschrieb. Der Schall sich nähernder Tritte aber ließ ihn sein furchtbares Vorhaben nicht ausführen, und so begnügte er sich schwach zu phosphoreszieren. Er verschwand mit einem tiefen Kirchhofstöhnen, gerade als die Zwillinge auf ihn zukamen.

Als er auf sein Zimmer kam, brach er völlig zusammen und wurde die Beute der heftigsten Gemütsbewegung. Die Pöbelhaftigkeit der Zwillinge, der krasse Materialismus von Frau Otis waren ihm natürlich sehr peinlich. Was ihn aber am meisten ärgerte, war der Umstand, daß er nicht imstande gewesen war, den Kettenpanzer zu tragen. Er hatte gehofft, daß selbst moderne Amerikaner beim Anblick eines Gespenstes in Rüstung erschauern würden, wenn aus keinem anderen vernünftigen Grunde, so doch zumindestens aus Respekt für ihren Nationaldichter Longfellow, über dessen graziösen, anziehenden Versen er selbst manche langweilige Stunde verbracht hatte, wenn die Cantervilles in der Stadt waren. Überdies war es seine eigene Rüstung. Er hatte sie mit großem Erfolg im Kenilworthturnier getragen, und die jungfräuliche Königin selbst hatte ihn dazu beglückwünscht. Als er sie aber jetzt angelegt hatte, war er völlig überwältigt worden vom Gewicht des schweren Brustpanzers und des Stahlhelmes und war schwer auf das Steinpflaster aufgefallen, hatte sich beide Knie abgeschunden und sich die Knöchel der rechten Hand gebrochen.

Einige Tage lang war er höchst unwohl, schlüpfte kaum aus seinem Zimmer und ging nur aus, um den Blutfleck in sauberem Zustand zu erhalten. Aber er genas, indem er sich sehr schonte, und beschloß nun, einen dritten Versuch zu machen, um den Gesandten der Vereinigten Staaten und seine Familie zu erschrecken. Er wählte Freitag, den 17. August, für sein Erscheinen und verbrachte den größten Teil des Tages mit dem Durchsehen seiner Garderobe. Endlich entschloß er sich zu einem großen Hut mit breiter Krempe und einer roten Feder, hüllte sich vom Hals bis zu den Knöcheln in ein Totenhemd mit Krausen an den Armen und am Halse und nahm einen rostigen Dolch. Gegen Abend kam ein heftiger Regensturm und der Wind war so stark, daß alle Fenster und Türen im alten Haus schütterten und klirrten. Das war just das Wetter, das er liebte. Sein Aktionsplan war folgender: Er wollte ruhig in Washington Otis' Zimmer gehen, zu ihm am Fuß seines Bettes unverständliches Zeug schwatzen und sich dann zu den Klängen einer leisen Musik dreimal mit dem Dolch in den Hals stoßen. Er trug Washington einen besonderen Groll nach, weil er wußte, daß just dieser den berühmten Cantervilleschen Blutfleck mit Pinkertons Fleckenreiniger bearbeitete. Hatte er dann den tollköpfigen und leichtsinnigen Menschen in einen Zustand tiefsten Schreckens versetzt, so wollte er in das Zimmer gehen, das der Gesandte der Vereinigten Staaten mit seiner Frau bewohnte. Dort wollte er eine kaltfeuchte Hand auf Frau Otis' Stirne legen, indes er ihrem zitternden Gatten die schrecklichen Geheimnisse des Beinhauses ins Ohr flüsterte. Was aber die kleine Virginia betraf, so war er noch nicht ganz entschlossen. Sie hatte ihn nie besonders beleidigt und war hübsch und nett. Einige tiefe Seufzer aus dem Kleiderschrank würden, dachte er, vielleicht genügen, und wenn sie dabei nicht erwachte, so könnte er ja noch mit zuckenden Fingern an der Bettdecke krabbeln. Was aber die Zwillinge betrifft, so war er entschlossen, ihnen eine ordentliche Lektion zu erteilen. Vor allem wollte er sich auf ihre Brust setzen, um ihnen das schreckliche Gefühl des Alpdrückens beizubringen. Dann wollte er, da ihre Betten ganz nahe beisammen standen, sich dazwischen stellen, in Form eines grünen eiskalten Leichnams, bis die Furcht sie lähmte, und schließlich war es seine Absicht, das Leintuch abzuwerfen, um mit weißen, gebleichten Knochen und einem rollenden Auge im Zimmer umherzuhuschen, etwa in der Art des »Stummen Daniel oder des Skeletts des Selbstmörders« – einer Rolle, die er mehr als einmal mit großem Erfolg gespielt hatte, und die er für ganz ebenso gut hielt, wie seine berühmte Rolle »Martin der Wahnsinnige oder das Geheimnis mit der Larve«.

Um halb elf Uhr hörte er, wie die Familie zu Bette ging. Eine Zeitlang beunruhigte ihn noch das wilde Gelächter der Zwillinge, die mit der leichtherzigen Fröhlichkeit der Schuljungen sich offenbar amüsierten, ehe sie zur Ruhe gingen. Aber ein Viertel nach elf war alles ruhig, und als es Mitternacht schlug, ging er los. Die Eule schlug gegen die Fensterläden, der Rabe krächzte auf dem alten Taxusbaum, und der Wind wanderte seufzend um das Haus wie eine verlorene Seele; aber die Familie Otis schlief unbekümmert um ihr Schicksal, und hoch über Regen und Sturm erhob sich das regelmäßige Schnarchen des Gesandten der Vereinigten Staaten. Er trat verstohlen aus der Täfelung mit einem bösen Lächeln um seinen grausamen runzligen Mund, und der Mond verbarg sein Licht in einer Wolke, als er am Erkerfenster vorüberschlich, wo sein eigenes Wappen und das seines gemordeten Weibes in Gold und Blau gemalt war. Weiter und weiter glitt er wie ein böser Schatten, und die Finsternis selbst schien ihm voll Ekel auszuweichen, wie er vorbeischritt. Einmal glaubte er, daß ihn jemand rief und blieb stehen; aber es war bloß das Bellen eines Hundes in der Roten Meierei, und er ging weiter und murmelte seltsame Flüche aus dem sechzehnten Jahrhundert und dann und wann schwang er seinen rostigen Dolch in der Luft der Mitternacht. Endlich erreichte er die Ecke der Galerie, wo des unglückseligen Washington Zimmer lag. Einen Augenblick blieb er stehen. Der Wind blies ihm seine langen grauen Locken um das Haupt und warf das grauenhafte Leichentuch des toten Mannes in grotesk phantastische Falten. Dann schlug die Uhr ein Viertel, und er fühlte, daß seine Zeit gekommen sei. Er lächelte innerlich und ging um die Ecke; aber kaum hatte er dies getan, so wankte er mit einem jammervollen Ruf des Schreckens zurück und verbarg sein bleiches Gesicht in den langen knochigen Händen. Gerade ihm gegenüber stand ein schreckliches Gespenst, bewegungslos wie ein Standbild und häßlich wie der Traum eines Irren. Sein Kopf war kahl und glänzend, sein Gesicht war rund, fett und weiß, und ein häßliches Lachen schien seine Züge zu einem ewigen Grinsen erstarrt zu haben. Aus den Augen schossen Strahlen eines scharlachroten Lichtes, der Mund glich einem tiefen Feuerbrunnen, und ein greuliches Gewand, gleich seinem eigenen, verbarg in schweigendem Schnee die titanische Form. An seiner Brust war ein Plakat mit merkwürdiger altertümlicher Schrift befestigt, offenbar eine Schandrolle, die Aufzählung wilder Sünden, irgendeine Litanei des Verbrechens. In seiner rechten Hand hielt er einen Pallasch von glühendem Stahl erhoben.

Da er noch niemals ein Gespenst gesehen hatte, war er natürlich furchtbar erschrocken und nach einem zweiten hastigen Blick auf das schreckliche Phantom floh er zurück in sein Zimmer, trat immer auf sein langes, flatterndes Hemd, wie er durch den Korridor huschte, warf endlich den rostigen Dolch in des Gesandten Kanonenstiefel, wo der Hauswart ihn am nächsten Tage fand. Als er in der Einsamkeit seines eigenen Zimmers angekommen war, warf er sich auf sein kleines Feldbett und verbarg sein Gesicht unter der Decke. Aber nach einiger Zeit erwachte der alte tapfere Geist von Canterville wieder, und er beschloß mit dem andern Geist zu reden, sobald der Tag grauen würde. So ging er denn, als die Dämmerung die Hügel in Silber tauchte, zum Platz zurück, wo er zum ersten Male das entsetzliche Phantom erblickt hatte. Alles in allem, dachte er, daß zwei Gespenster jedenfalls besser wären als eines und daß mit Hilfe seines neuen Freundes er ganz famos mit den beiden Zwillingen fertig werden würde. Als er den Platz erreichte, bot sich ihm ein furchtbarer Anblick. Irgend etwas war offenbar dem Gespenst passiert, denn das Licht war vollständig aus seinen Augenhöhlen geschwunden, das glühende Schwert war seiner Hand entfallen und es selbst lehnte in einer gekrümmten und unbequemen Haltung an der Wand. Er stürzte vorwärts und nahm es in seine Arme. Da fiel zu seinem Entsetzen der Kopf ab und rollte auf den Boden, der Körper fiel hintenüber und es hielt in seinen Händen eine weiße Barchentdecke, einen Kehrbesen, ein Küchenmesser, eine ausgehöhlte Rübe lag zu seinen Füßen. Unfähig, die merkwürdige Umwandlung zu verstehen, griff er in fieberischer Hast nach dem Plakat, und da las er im grauen Morgenlicht die furchtbaren Worte:

 


Der Geist der Otis!
Einzig echter, unverfälschter Originalspuk!
Vor Nachahmung wird gewarnt!
Gesetzlich geschützt!


 

 Mit einem Male wurde ihm die ganze Sache klar. Er war genarrt, gefoppt, verhöhnt worden. Aus seinen Augen blitzte der berühmte Blick von Canterville. Er schlug die zahnlosen Kiefer zusammen, erhob die fleischlosen Hände über dem Haupt und schwur, getreu der malerischen Phraseologie der alten Schule, daß, wenn der Hahn zweimal fröhlich gekräht haben würde, Ströme von Blut fließen müßten und der Mord auf schweigenden Sohlen über die Schwelle treten würde.

Kaum hatte er seinen schauerlichen Eid vollendet, als vom rotgeziegelten Dach einer nahen Scheune ein Hahn rief. Er lachte ein langes tiefes und bitteres Lachen und wartete. Er wartete Stunde auf Stunde, aber aus irgendeinem unerklärlichen Grunde krähte der Hahn nicht wieder. Endlich um halb acht verscheuchte ihn die Ankunft der Hausmädchen von seinem schrecklichen Wachposten, und er stapfte zurück in sein Zimmer und dachte an seinen nutzlosen Eid und seine vereitelte Absicht. Dort zog er einige alte Bücher über Rittertum zu Rate, die er sehr gerne hatte und fand, daß, so oft dieser Eid gesprochen worden war, der Hahn stets ein zweites Mal gekräht hatte. »Fluch und Verdammnis treffe das ungezogene Tier«, murmelte er. »Ich habe den Tag gesehen, wo ich mit meinem starken Speer ihm die Brust durchbohrt hätte und er hätte für mich ein zweites Mal krähen müssen, sei es auch im Tode.« Dann zog er sich in einen bequemen Bleisarg zurück und blieb dort bis zum Abend.

IV

Am nächsten Tag war der Geist sehr schwach und müde. Die furchtbare Aufregung der letzten vier Wochen begann ihre Wirkung zu üben. Seine Nerven waren ganz zerrüttet, und bei dem geringsten Lärm fuhr er zusammen. Fünf Tage blieb er auf seinem Zimmer und endlich entschloß er sich, den Blutfleck auf dem Fußboden des Bibliothekzimmers aufzugeben. Wenn die Familie Otis ihn nicht brauchte, so verdiente sie ihn offenbar nicht. Das waren sicherlich Leute, die auf einer sehr tiefen materialistischen Lebensstufe standen und die ganz unfähig waren, den symbolischen Wert sinnlicher Phänomene zu begreifen. Die Frage übersinnlicher Erscheinungen und die Entwicklung der Astralkörper war natürlich eine ganz andere Sache und ging ihn wirklich nichts an. Es war jedoch seine heilige Pflicht, einmal die Woche im Korridor zu erscheinen und vom hohen Glasfenster herab jeden ersten und dritten Mittwoch eines jeden Monats etwas herabzumurmeln, und er sah nicht ein, wie er sich diesen Verpflichtungen auf ehrenvolle Weise entziehen könnte. Gewiß war sein Leben sehr böse gewesen, aber andererseits war er sehr gewissenhaft in allen Dingen, die mit dem Übernatürlichen zusammenhängen. An den nächsten drei Sonnabenden also ging er pflichtgemäß zwischen Mitternacht und drei Uhr durch den Korridor, nahm aber jedmögliche Vorsichtsmaßregel, um nicht gesehen und gehört zu werden. Er zog die Stiefel aus, trat, so leicht er konnte, über den alten, wurmstichigen Boden, trug einen großen schwarzen Samtmantel und benützte eifrig Auroracreme, um seine Ketten zu schmieren. Ich muß allerdings zugeben, daß er es nur mit großer Schwierigkeit über sich brachte, diese letzte Vorsichtsmaßregel zu benützen. Eines Nachts jedoch schlüpfte er, indes die Familie bei Tische saß, in das Schlafzimmer des Herrn Otis und trug die Flasche fort. Er fühlte sich anfangs etwas gedemütigt, aber später sah er doch ein, daß sich doch sehr viel zugunsten der Erfindung sagen ließe, und bis zu einem gewissen Grade diente sie auch seiner Absicht. Aber trotz alledem blieb er nicht unbelästigt. In einem fort waren durch den Korridor Stricke gespannt, über die er in der Dunkelheit stolperte, und einmal, als er gerade als »schwarzer Isaak oder der Jägersmann von Hogley Woods« verkleidet war, kam er schwer zu Fall, weil er auf einen fettbeschmierten Streifen geriet, den die Zwillinge vom Eingang des Gobelinzimmers bis zur Eichentreppe angelegt hatten. Diese letzte Beleidigung machte ihn so wütend, daß er sich entschloß, noch einmal einen letzten Versuch zu wagen, um seine Würde und seine soziale Stellung zu wahren. Und so entschloß er sich denn, die frechen Jungen in der nächsten Nacht in seiner berühmten Rolle als »Junker Rupert oder der kopflose Graf« zu besuchen.

Seit mehr als siebzig Jahren war er nicht mehr in dieser Kleidung erschienen; nicht, seitdem er die hübsche Lady Barbara Moonish dadurch so erschreckt hatte, daß sie plötzlich ihr Verlöbnis mit dem jetzigen Großvater des Lord Canterville brach und sich von dem hübschen Jack Castletown nach Gretna Green entführen ließ. Sie erklärte, daß nichts in der Welt sie veranlassen könnte, in eine Familie hineinzuheiraten, die es zugäbe, daß so schauerliche Phantome in der Dämmerung auf der Terrasse spazieren gingen. Der arme Jack wurde später zu Wandsworth von Lord Canterville im Duell erschossen, und Lady Barbara starb an gebrochenem Herzen in Tunbridge Wells, bevor das Jahr um war. Alles in allem also ein großer Erfolg. Es war aber eine außerordentlich schwierige »Maske« – wenn ich einen solchen Theaterausdruck in Verbindung mit einem der größten Geheimnisse des Übernatürlichen oder, um einen mehr wissenschaftlichen Ausdruck zu gebrauchen, des Übersinnlichen gebrauchen darf, und er brauchte drei Stunden, um seine Vorbereitungen zu treffen. Endlich war alles in Ordnung, und er war mit seinem Aussehen wohl zufrieden. Die schweren ledernen Reitstiefel, die zum Kostüm gehörten, waren freilich ein bißchen zu weit für ihn, und er konnte bloß eine von den beiden Sattelpistolen finden, aber schließlich war er doch ganz zufrieden, und ein Viertel nach eins schlich er aus der Wandverkleidung und kroch den Korridor hinab. Als er das Zimmer der Zwillinge erreichte, das, wie ich erwähnen will, das blaue Zimmer genannt wurde wegen der Farbe seiner Vorhänge, fand er die Türe gerade angelehnt. Da er sich einen effektvollen Auftritt sichern wollte, öffnete er sie weit; da fiel ein schwerer Wasserkrug von oben auf ihn herab, durchnäßte ihn bis auf die Haut und verfehlte nur um wenige Zoll seine linke Schulter. Im selben Augenblick hörte er ein unterdrücktes Lachen aus dem Doppelbett. Der Nervenchok war so groß, daß er sofort in sein Zimmer zurücklief, so rasch er konnte, und den nächsten Tag lag er mit einem schweren Schnupfen fest im Bett. Das einzige, das ihn bei der ganzen Sache tröstete, war der Umstand, daß er seinen Kopf nicht mitgenommen hatte. Hätte er dies getan, so hätten die Folgen sehr ernste sein können.

Er gab nun alle Hoffnung auf, dieser rohen Amerikanerfamilie Schrecken einzujagen, und begnügte sich, regelmäßig in leichten Morgenschuhen durch die Gänge zu schleichen, mit einem dicken roten Tuch um den Hals, aus Furcht vor Erkältung, und einer kleinen Armbrust in der Hand, um sich nötigenfalls gegen die Zwillinge zu verteidigen. Der letzte Schlag, den er erhielt, geschah am 19. September. Er war die Treppe hinuntergegangen bis zur großen Eingangshalle, in der sichern Annahme, daß er dort jedenfalls unbelästigt bleiben würde. Er unterhielt sich damit, satirische Bemerkungen über die großen Photographien des Gesandten und seiner Gattin zu machen, die nun an der Stelle der großen Familienbilder der Cantervilles prangten. Er war einfach, aber sauber in ein langes Leichentuch gekleidet, leicht besteckt mit Kirchhofmoder, hatte seine Kinnbacken mit einem Streifen gelben Linnens hinaufgebunden und trug eine kleine Laterne und eine Totengräberschaufel. Er trug das Kostüm »Jonas des Gruftlosen oder des Leichenschänders von Chertsey Barn«, eine seiner glänzendsten Darbietungen, an die zu denken die Cantervilles alle Ursache hatten, denn sie war der wirkliche Grund ihres Streites mit dem benachbarten Lord Rufford. Es war etwa ein Viertel nach zwei des Morgens, und soweit er sich vergewissern konnte, rührte sich nichts. Als er nun nach der Bibliothek zuging – er wollte noch sehen, ob vom Blutfleck nicht irgendeine Spur geblieben war –, sprangen plötzlich aus einem dunklen Winkel zwei Gestalten, die wild die Arme über den Kopf schlugen und ihm »Buh« ins Ohr schrien.

Von einer unter diesen Umständen nur ganz natürlichen Panik gepackt, stürzte er auf die Stiege zu, aber dort erwartete ihn Washington Otis mit der großen Gartenspritze, und so von jeder Seite von Feinden umstellt und in die Ecke getrieben, verschwand er im eisernen Ofen, der zu seinem Glück nicht geheizt war, und mußte seinen Heimweg durch lauter Kamine und Schornsteine antreten, so daß er in seinem Zimmer in einem furchtbaren Zustand des Schmutzes, der Unordnung und der Verzweiflung ankam.

Nun wurde er auf nächtlichen Streifzügen nicht mehr gesehen. Die Zwillinge lauerten ihm noch bei verschiedenen Gelegenheiten auf, und bestreuten jede Nacht die Gänge mit Nußschalen, zum großen Ärger der Eltern und Dienstboten, aber es half nichts. Es war ganz klar, daß seine Gefühle zu sehr verletzt waren, um ihm noch ein Erscheinen zu gestatten. Herr Otis nahm also seine große Arbeit über die Geschichte der demokratischen Partei wieder auf, an der er schon seit vielen Jahren arbeitete, Frau Otis arrangierte eine wundervolle Tombola zur Verwunderung der ganzen Gegend. Die Buben spielten Poker, Lacrosse und andere amerikanische Nationalspiele, und Virginia ritt auf ihrem Pony auf dem Lande umher, begleitet von dem jungen Herzog von Cheshire, der die letzten Tage seiner Ferien auf Canterville verbrachte. Man nahm allgemein an, daß der Geist fortgegangen sei, und tatsächlich schrieb Herr Otis hierüber einen Brief an Lord Canterville, der in seiner Antwort seine große Freude über diese Neuigkeit aussprach und der würdigen Gattin des Ministers seine besten Wünsche übermittelte.

Die Familie Otis irrte sich aber, denn das Gespenst war noch immer im Hause und wenn man es auch fast einen Invaliden nennen konnte, so war es doch kaum gesonnen, die Dinge auf sich beruhen zu lassen, um so weniger, seitdem es gehört hatte, daß sich unter den Gästen der junge Herzog von Cheshire befand, dessen Großonkel Lord Francis Stilton einst hundert Guineen gegen den Kolonel Carbury gehalten hatte, daß er mit dem Geist von Canterville Würfel spielen wolle. Man fand ihn am nächsten Morgen auf dem Boden des Spielzimmers in einem so hilflosen paralytischen Zustande, daß er, obzwar er ein hohes Alter erreichte, sein Leben lang nichts anderes mehr zu sagen vermochte, als »zweimal sechs«. Die Geschichte war seinerzeit weit bekannt geworden, aber aus Respekt für die Gefühle der beiden edlen Familien wurde allseits versucht, sie zu vertuschen. Aber ein genauer Bericht aller Umstände findet sich im dritten Bande der »Erinnerungen an den Prinzregenten und seine Freunde« von Lord Klatsch. Der Geist also war sehr beflissen zu zeigen, daß er seinen Einfluß über die Stiltons noch nicht verloren habe, mit denen er eigentlich entfernt verwandt war. Denn seine rechte Cousine war in zweiter Ehe mit dem Sieur de Bulkeley verheiratet gewesen, von dem, wie männiglich bekannt, die Herzoge von Cheshire in gerader Linie abstammen. Demzufolge bereitete er sich denn vor, Virginias kleinem Anbeter in seiner berühmten Rolle als der »Vampirmönch oder der blutlose Benediktiner« zu erscheinen, eine Rolle, die so schrecklich war, daß, als ihn die alte Lady Startup darin sah (dies geschah in der furchtbaren Neujahrsnacht des Jahres 1764), sie in ein mark- und beindurchschütterndes Geschrei ausbrach, das mit einem heftigen Schlagfluß endigte. Sie starb drei Tage später, nachdem sie die Cantervilles enterbt hatte, die doch ihre nächsten Anverwandten waren, und hinterließ all ihr Geld ihrem Londoner Apotheker. Aber im letzten Augenblick verhinderte ihn die Furcht vor den Zwillingen daran, sein Zimmer zu verlassen, und der kleine Herzog schlief in Frieden unter dem großen, reich geschmückten Baldachin im königlichen Schlafzimmer und träumte von Virginia.

V

Einige Tage später ritten Virginia und ihr blondlockiger Kavalier über die Brockleywiesen. Sie zerriß aber dort ihr Reitkleid beim Springen über eine Hecke so stark, daß sie sich bei ihrer Heimkehr entschloß, über die Hinterstiege hineinzugehen, um nicht gesehen zu werden. Als sie an dem Gobelinzimmer vorüberlief, dessen Türe zufällig offen stand, glaubte sie darin irgend jemand zu sehen, und in der Annahme, daß es das Kammermädchen ihrer Mutter sei, das manchmal seine Näharbeit dort verrichtete, schaute sie hinein, um es zu bitten, ihr Kleid auszubessern. Aber zu ihrer großen Überraschung war es der Geist von Canterville selbst. Er saß beim Fenster und sah, wie das verblassende Gold der vergilbten Blätter langsam zur Erde sank und die roten Blätter toll die lange Allee hinuntertanzten. Sein Haupt lehnte auf seiner Hand, und die ganze Stellung sprach von tiefster Niedergeschlagenheit. Ja, so verlassen und hinfällig sah er aus, daß die kleine Virginia, deren erster Gedanke war, fortzulaufen und sich in ihr Zimmer einzuschließen, von Mitleid erfüllt war und sich dachte, ob sie ihn nicht vielleicht trösten könne. So leise trat sie auf, und so tief war seine Schwermut, daß er ihre Anwesenheit nicht merkte, bis sie ihn ansprach.

»Sie tun mir sehr leid«, sagte sie, »aber meine Brüder gehen morgen nach Eton zurück, und wenn Sie sich dann gut aufführen werden, so wird Sie niemand mehr belästigen.«

»Es ist albern, von mir zu verlangen, daß ich mich gut aufführen soll«, antwortete er und blickte voller Erstaunen auf das hübsche kleine Mädchen, das ihn anzusprechen gewagt hatte, »ganz albern. Ich muß mit meinen Ketten klirren und durch Schlüssellöcher heulen und bei Nacht spazieren gehen, wenn Sie das meinen; das ist ja mein einziger Lebenszweck.«

»Das ist durchaus kein Lebenszweck, und Sie wissen sehr gut, daß Sie böse gewesen sind. Frau Umney sagte uns gerade am Tage, als wir ankamen, daß Sie Ihr Weib ermordet haben.«

»Das räume ich ein,« sagte der Geist trotzig, »aber es ist eine reine Familiensache und geht niemand etwas an.«

»Es ist aber sehr unrecht, jemand zu ermorden«, sagte Virginia, die zuweilen einen süßen puritanischen Ernst hatte, der ihr von irgendeinem neuenglischen Ahnen überkommen war.

»Oh, ich hasse die billige Härte abstrakter Ethik. Mein Weib war sehr hausbacken, stärkte nie ordentlich meine Halskrause und verstand nichts von der Küche. Da hatte ich nun einmal in Hogly Wood einen Bock geschossen, einen prächtigen Spießer, und wissen Sie, wie er zu Tische kam? Na, reden wir jetzt nicht mehr davon, denn alles ist ja vorüber. Aber ich glaube nicht, daß es sehr nett von ihren Brüdern war, mich verhungern zu lassen, wenn ich sie auch getötet habe.«

»Verhungern? O Herr Geist, ich will sagen, Sir Simon, haben Sie Hunger? Ich habe ein Sandwich in meiner Schublade, möchten Sie es haben?«

»Nein, ich danke, ich esse jetzt niemals, aber es ist doch sehr hübsch von Ihnen und Sie sind viel netter, als Ihre übrige, schrecklich rohe, pöbelhafte, unanständige Familie.«

»Halt!« schrie Virginia und stampfte mit dem Fuße. »Sie sind roh und schrecklich und pöbelhaft, und was die Unanständigkeit betrifft, so wissen Sie sehr gut, daß Sie die Farben aus meiner Malschachtel gestohlen haben, um den lächerlichen Blutfleck in der Bibliothek aufzufrischen. Erst nahmen Sie das ganze Rot, Karmin inbegriffen, und ich konnte keinen Sonnenuntergang malen, dann nahmen Sie Smaragdgrün und Chromgelb, und endlich ließen Sie mir nichts mehr als Indigo und Chinesisch-Weiß und ich konnte nur noch Mondszenen malen, die immer so traurig anzuschauen und gar nicht leicht zu malen sind. Ich habe nie etwas gesagt, obgleich ich mich sehr ärgerte, und dann war die ganze Sache höchst ärgerlich, denn wer hat je von smaragdgrünen Blutflecken gehört?«

»Na ja,« sagte der Geist fast schüchtern, »aber was sollte ich machen? Es ist heutzutage sehr schwer, sich wirkliches Blut zu verschaffen. Und da Ihr Bruder mit seinem Universal-Fleckenreiniger angerückt kam, sah ich keinen Grund, warum ich Ihren Malkasten nicht hätte benützen sollen. Was nun die Farbe betrifft, so ist das immer eine Geschmackssache. Die Canterville zum Beispiel haben blaues Blut, das blaueste Blut in England. Aber ich weiß, ihr Amerikaner legt auf solche Dinge keinen Wert.«

»Das verstehen Sie nicht und überhaupt: das beste, was Sie tun können, ist auszuwandern und Ihre Kenntnisse zu erweitern. Papa wird sehr froh sein, Ihnen einen Paß ausstellen zu können, und wenn auch alles Geistige einen hohen Zoll hat, werden Sie beim Zollamt keine Schwierigkeiten haben, denn die Beamten sind dort lauter Demokraten. Und sind Sie einmal in Neuyork, so haben Sie Ihren großen Erfolg in der Tasche. Ich kenne eine Unzahl Leute, die gerne hunderttausend Dollars hergeben würden, wenn sie einen Großvater haben könnten. Und für ein Hausgespenst wäre ihnen gar keine Summe zu hoch.«

»Ich glaube nicht, daß mir Amerika gefiele.«

»Wahrscheinlich, weil wir keine Ruinen und alte Scheußlichkeiten haben«, sagte Virginia spöttisch.

»Keine Ruinen! Keine Scheußlichkeiten!« antwortete der Geist. »Sie haben doch Ihre Marine und Ihre Manieren!«

»Guten Abend! Gleich gehe ich zu Papa und bitte ihn, den Zwillingen eine Woche Extraurlaub auszuwirken.«

»O bitte, gehen Sie nicht, Fräulein Virginia,« rief er aus, »ich bin so einsam und verlassen und ich weiß wirklich nicht, was ich anfangen soll. Ich möchte so gerne schlafen und ich kann nicht.«

»Das ist Unsinn. Sie brauchen bloß zu Bette zu gehen und das Licht auszulöschen. Es ist manchmal sehr schwierig, wach zu bleiben, besonders in der Kirche, aber es ist gar nicht schwer, einzuschlafen. Sogar Wickelkinder können das, und die sind doch nicht sehr klug.«

»Ich habe seit dreihundert Jahren nicht geschlafen«, sagte er traurig und Virginias schöne blaue Augen öffneten sich weit vor Verwunderung. »Dreihundert Jahre lang habe ich nicht geschlafen und ich bin so müde!«

Virginia wurde ganz ernst, und ihre feinen Lippen zitterten wie Rosenblätter. Sie näherte sich ihm, kniete an seiner Seite nieder und blickte in sein altes verwittertes Gesicht.

»Armer, armer Geist«, murmelte sie, »haben Sie kein Plätzchen, wo Sie schlafen könnten?«

»Weit von hier, jenseits des Tannenwaldes«, antwortete er mit leiser, träumerischer Stimme, »liegt ein kleiner Garten. Dort wächst hohes und dichtes Gras und darin blühen die großen, weißen Sterne des Schierlings, und die Nachtigall singt die ganze Nacht. Sie singt die ganze Nacht und der kalte kristallne Mond schaut herab, und der Taxusbaum breitet seine mächtigen Arme über den Schlafenden.«

Virginias Augen trübten sich mit Tränen, und sie barg ihr Gesicht in den Händen.

»Sie meinen den Garten des Todes«, flüsterte sie.

»Ja, ich meine den Tod! Der Tod muß so schön sein! So schön, zu liegen in weicher brauner Erde, und das Gras wallt über einem, und man horcht auf die Stille. Und es gibt kein gestern und es gibt kein morgen. Man vergißt die Zeit, vergißt das Leben und hat Frieden. Sie können mir helfen. Sie können mir das Tor im Haus des Todes öffnen, denn die Liebe begleitet Sie auf allen Ihren Wegen und die Liebe ist stärker als der Tod.« –

Virginia zitterte, und ein kalter Schauer rann über ihren Rücken, und einige Augenblicke lang herrschte Schweigen. Es war ihr, als träume sie einen schrecklichen Traum.

Dann sprach das Gespenst wieder, und seine Stimme klang wie das Seufzen des Windes:

»Haben Sie schon einmal die Prophezeiung auf dem Fenster in der Bibliothek gelesen?«

»O ja, sehr oft!« rief das kleine Mädchen und sah auf. »Ich kenne sie sehr gut. Sie ist in seltsamen, schwarzen Buchstaben geschrieben und ist sehr schwer zu lesen. Es sind bloß sechs Zeilen:

Wenn die Maid im goldnen Haar
Betet den Sünder der Sünde bar,
Wenn der Baum erstarrt und tot,
Blüte trägt in Weiß und Rot,
Wird es hier im Hause still,
Friede über Canterville!

Aber ich weiß nicht, was das bedeutet.«

»Das bedeutet,« sagte er traurig, »daß Sie um meiner Sünden willen mit mir weinen müssen, denn ich habe keine Tränen, und daß Sie mit mir um mein Seelenheil beten müssen, denn ich habe keinen Glauben. Und dann, wenn Sie immer süß und gut und lieb gewesen sind, wird der Engel des Todes sich meiner erbarmen. Sie werden schreckliche Gestalten in der Dunkelheit sehen und schauerliche Stimmen werden Ihnen ins Ohr flüstern, aber es wird Ihnen nichts geschehen, denn gegen die Reinheit eines kleinen Kindes können die Mächte der Hölle nicht an.«

Virginia antwortete nicht, und der Geist rang die Hände in wilder Verzweiflung, indes er auf ihr gebeugtes, goldenes Haupt niedersah. Plötzlich stand sie auf und war sehr bleich und ein seltsames Licht flammte in ihren Augen. »Ich fürchte mich nicht«, sagte sie fest, »und ich will den Engel bitten, daß er sich Ihrer erbarme.«

Er stand mit einem schwachen Freudenruf von seinem Sitze auf, nahm ihre Hand in die seine, beugte sich mit altmodischer Grazie darüber und küßte sie. Seine Finger waren kalt wie Eis und seine Lippen brannten wie Feuer, aber Virginia wankte nicht, als er sie durch das dämmerige Zimmer führte. In die verblaßte, grüne Tapete waren kleine Jägersleute eingestickt. Sie bliesen in ihre troddelgeschmückten Hörner und winkten ihr mit ihren kleinen Händen zu, umzukehren. »Kehre um, kleine Virginia«, riefen sie, »kehre um!« Aber der Geist umklammerte ihre Hand noch fester, und so schloß sie die Augen vor den Warnern. Schreckliche Tiere mit Eidechsenschwänzen und Glotzaugen blinzelten sie vom geschnitzten Kaminsims an und murmelten: »Hüte dich, kleine Virginia. Wir werden dich niemals wiedersehen.« Aber der Geist glitt leise weiter, und Virginia hörte nicht auf die Stimmen. Als sie das Ende des Zimmers erreicht hatten, blieb er stehen und murmelte einige Worte, die sie nicht verstehen konnte. Sie öffnete die Augen und sah, wie die Mauer gleich einem Nebel verschwamm; und eine große, schwarze Höhle öffnete sich vor ihr. Ein bitterkalter Wind hauchte ihnen entgegen, und sie fühlte, wie etwas sie an ihrem Kleide zog. »Rasch, rasch«, rief der Geist, »sonst ist es zu spät.« Und im nächsten Augenblicke hatte sich das Täfelwerk hinter ihnen geschlossen, das Gobelinzimmer war leer.

VI

Zehn Minuten später läutete die Glocke zum Tee, und da Virginia nicht herunterkam, schickte Frau Otis einen Diener hinauf, sie zu holen. Nach einigen Augenblicken kam er zurück und meldete, daß er Fräulein Virginia nirgends finden könne.

Da es ihre Gewohnheit war, jeden Abend in den Garten zu gehen, um Blumen für den Abendtisch zu holen, so war Frau Otis im Anfang gar nicht ängstlich. Als es aber sechs Uhr schlug und Virginia immer noch nicht kam, wurde sie doch sehr besorgt und schickte die Jungen aus, Virginia zu suchen, indes sie selbst und Herr Otis jeden Raum im Hause durchforschten. Um halb sieben kamen die Jungen zurück und sagten, daß sie keine Spur ihrer Schwester hätten finden können. Nun waren alle furchtbar aufgeregt, und niemand wußte, was nun zu geschehen habe. Plötzlich erinnerte sich Herr Otis, daß er vor einigen Tagen einer Zigeunerbande die Erlaubnis gegeben habe, ihr Lager im Park aufzuschlagen. Er machte sich also sofort nach Blackfell Hollow auf, wo er wußte, daß sie kampierten, und sein ältester Sohn und zwei Knechte begleiteten ihn. Der kleine Herzog von Cheshire, der ganz außer sich vor Angst war, bat heftig, man möge ihn auch mitnehmen, aber Herr Otis wollte es ihm nicht erlauben, denn er fürchtete, es könnte eine Rauferei geben. Aber als sie an dem Orte ankamen, stellte es sich heraus, daß die Zigeuner fort waren. Ihr Aufbruch mußte plötzlich erfolgt sein, denn das Feuer brannte noch, und einige Teller lagen im Grase. Herr Otis befahl Washington und den beiden Knechten, sofort den ganzen Bezirk zu durchsuchen, lief nach Hause und telegraphierte an alle Polizeiinspektoren der Gegend und bat sie, ein kleines Mädchen zu suchen, das von Wegelagerern oder Zigeunern gestohlen worden sei. Dann befahl er, sein Pferd zu satteln, bestand darauf, daß seine Frau und die drei Knaben sich zum Essen setzten und ritt mit einem Reitknecht die Straße nach Ascot hinunter. Aber kaum war er ein paar Meilen geritten, so hörte er, wie jemand hinter ihm her galoppierte. Er blickte sich um und sah, wie der kleine Herzog, hochrot im Gesicht und ohne Hut, auf seinem Pony ihm nachsetzte. »Herr Otis, Herr Otis«, stieß der Knabe hervor, »ich kann nicht essen, solange Virginia nicht gefunden ist. Bitte, seien Sie nicht böse. Aber wenn Sie unser Verlöbnis im vorigen Jahr erlaubt hätten, wäre das alles nicht geschehen. Nicht wahr, Sie schicken mich nicht zurück? Ich gehe nicht zurück, ich will nicht zurückgehen.«

Der Gesandte mußte über den hübschen jungen Heißsporn lächeln und war sehr gerührt von seiner Liebe für Virginia. So beugte er sich vom Pferd herunter, klopfte ihm freundlich auf die Schulter und sagte: »Also Cecil, wenn Sie nicht umkehren wollen, so müssen Sie wohl mit mir kommen. Aber ich muß Ihnen in Ascot einen Hut kaufen.«

»Der Teufel hole meinen Hut, ich will Virginia haben!« rief der kleine Herzog lachend und sie galoppierten zu der Eisenbahnstation. Dort fragte Herr Otis den Stationsvorstand, ob irgendein Mädchen, auf das die Beschreibung Virginias passe, auf dem Bahnsteig gesehen worden sei. Aber er konnte nichts erfahren. Der Stationsvorstand depeschierte die ganze Linie entlang und versicherte ihm, daß genaueste Nachforschungen angestellt werden würden; und nachdem er in einem Laden, der eben geschlossen werden sollte, für den kleinen Herzog einen Hut gekauft hatte, ritt Herr Otis weiter nach Bexley, einem Dorf, das ungefähr vier Meilen entfernt war. Man sagte ihm, daß dort ein wohlbekanntes Zigeunernest sei, da dort eine große Gemeindewiese wäre. Hier trommelten sie den Landpolizisten heraus, konnten aber nichts von ihm erfahren, und nachdem sie über die ganze Wiese geritten waren, wandten sie ihre Pferde heimwärts und erreichten das Schloß gegen elf Uhr todmüde und ganz verzweifelt. Washington und die Zwillinge erwarteten sie beim Pförtnerhaus mit Laternen, da die Allee sehr dunkel war. Nicht die kleinste Spur von Virginia war gefunden worden. Man hatte die Zigeuner auf den Brockleywiesen festgehalten, aber sie war nicht bei ihnen und sie hatten ihren plötzlichen Aufbruch mit dem Umstande erklärt, daß sie sich im Datum des Jahrmarkts in Chorton geirrt hätten und nun Hals über Kopf aufgebrochen wären aus Furcht, sie könnten zu spät kommen. Sie waren vielmehr ganz entsetzt, als sie von Virginias Verschwinden hörten, denn sie waren Herrn Otis sehr dankbar dafür, daß er ihnen erlaubt hatte, im Parke zu kampieren. Vier von ihnen blieben zurück, um suchen zu helfen. Der Karpfenteich war abgelassen worden, man hatte das ganze Schloß durch und durch gesucht, aber alles blieb ohne Erfolg. Es war klar, daß Virginia mindestens für diese Nacht verloren war. Und in einem Zustande tiefster Niedergeschlagenheit gingen Otis und die Knaben zum Hause hinauf, indes der Groom mit den zwei Pferden und dem Pony folgte. In der Halle fanden sie eine Gruppe entsetzter Dienstboten, und auf dem Sofa in der Bibliothek lag die arme Frau Otis ganz außer sich vor Schrecken und Angst, und die Haushälterin machte ihr Umschläge mit Eau de Cologne. Herr Otis bestand sofort darauf, daß sie etwas zu sich nehme, und bestellte das Abendbrot für die ganze Gesellschaft. Es war ein melancholisches Mahl, niemand machte den Mund auf, und selbst die Zwillinge waren ganz erschrocken und niedergeschlagen, denn sie liebten ihre Schwester sehr. Als sie vom Tisch aufstanden, schickte Otis trotz der inständigen Bitten des kleinen Herzogs alle zu Bett. In der Nacht könne man nichts mehr machen, und am nächsten Morgen wolle er an die Polizeidirektion in London depeschieren, daß man ihm sofort einige Detektives herschicke. Gerade, als sie aus dem Speisezimmer heraustreten wollten, begann es vom Kirchturm Mitternacht zu dröhnen, und als der letzte Schlag verhallte, hörten sie einen furchtbaren Krach und einen plötzlichen schrillen Schrei. Ein schrecklicher Donnerschlag erschütterte das ganze Haus, eine überirdische Weise flutete durch die Luft, die Wandtäfelung im Treppenhause flog mit einem dumpfen Geräusche auf und auf dem Treppenabsatz erschien sehr bleich und weiß mit einem kleinen Schmuckkästchen in der Hand Virginia. Im selben Augenblicke stürzten alle auf sie zu. Frau Otis schloß sie leidenschaftlich in die Arme, der Herzog erstickte sie beinahe mit heftigen Küssen, und die Zwillinge vollführten einen wilden Kriegstanz um die Gruppe.

»Um Himmels willen, Kind, wo bist du gewesen?« sagte Herr Otis fast böse, da er glaubte, daß sie irgendeinen närrischen Streich ausgeführt hatte. »Cecil und ich sind durch das ganze Land geritten, um dich zu suchen, und deine Mutter ist fast zu Tode erschrocken. Du darfst in Zukunft nie wieder solche Streiche spielen.«

»Ausgenommen dem Geiste, ausgenommen dem Geiste«, brüllten die Zwillinge und machten Bocksprünge.

»Mein Liebling, Gott sei Dank, daß wir dich gefunden haben, du darfst uns nie mehr verlassen«, murmelte Frau Otis und küßte ihr zitterndes Kind und strich mit der Hand über das wirre Goldhaar.

»Papa,« sagte Virginia ruhig, »ich war bei dem Geist. Er ist tot und du mußt kommen und dir ihn anschauen. Er war sehr schlimm, aber sein Benehmen hat ihm schließlich sehr leid getan, und er gab mir dieses Kästchen mit wundervollen Juwelen, bevor er starb.«

Die ganze Familie starrte sie mit stummer Verblüffung an, aber sie war ganz ruhig und ernst; sie drehte sich um und führte sie alle durch die Öffnung in der Vertäfelung einen engen, geheimen Korridor hinunter. Washington folgte mit einer brennenden Kerze, die er vom Tische genommen hatte. Sie kamen endlich zu einer großen eichenen Türe, die mit rostigen Nägeln beschlagen war. Virginia berührte sie und da flog sie in ihren schweren Angeln auf. Nun waren sie in einem kleinen niederen Zimmer mit einer gewölbten Decke und einem kleinen vergitterten Fenster. In die Wand war ein riesiger Eisenring eingelassen und daran war ein dürres Skelett angekettet, das der Länge nach auf dem Steinboden ausgestreckt lag und mit seinen langen, fleischlosen Fingern nach einem altmodischen Teller und einem Eimer zu greifen schien, die so standen, daß es sie nicht mehr erreichen konnte. Der Krug war offenbar einst mit Wasser gefüllt gewesen, denn grüner Schimmel bedeckte seine Innenseite. Auf dem Teller lag nichts, als eine dünne Schichte Staub. Virginia kniete an der Seite des Skeletts nieder, faltete ihre kleinen Hände und begann leise zu beten, indes der Rest der Gesellschaft verwundert die furchtbare Tragödie betrachtete, deren Geheimnis nun enthüllt war.

»Hallo«, rief plötzlich einer der Zwillinge, der aus dem Fenster gesehen hatte, um sich zu vergewissern, in welchem Flügel des Hauses das Zimmer eigentlich lag, »hallo, der alte dürre Mandelbaum hat wieder geblüht, ich sehe seine Blüten ganz klar im Mondenlicht.«

»Gott hat ihm vergeben«, sagte Virginia ernst, als sie aufstand, und ein wunderbarer Glanz schien ihr Gesicht zu erleuchten.

»Welch ein Engel sind Sie!« sagte der junge Herzog und legte seinen Arm um ihren Hals und küßte sie.

VII

Vier Tage nach diesen merkwürdigen Zwischenfällen bewegte sich ein Leichenzug um elf Uhr nachts aus dem Schloß Canterville. Der Leichenwagen wurde von acht Rappen gezogen, und jeder Rappe trug auf seinem Kopfe einen großen Busch nickender Straußfedern, und der Bleisarg war bedeckt mit einer reichen Purpurdecke, auf der das Wappen von Canterville in Gold eingestickt war. Neben dem Leichenwagen und den Trauerkutschen gingen Diener mit brennenden Fackeln, und die ganze Prozession war ungemein stimmungsvoll. Lord Canterville war der Hauptleidtragende. Er war eigens aus Wales gekommen, um dem Leichenbegängnis beizuwohnen, und er saß im ersten Wagen mit der kleinen Virginia. Dann kam der Gesandte der Vereinigten Staaten mit seiner Frau, dann Washington und die drei Buben und im letzten Wagen saß Frau Umney. Da sie mehr als fünfzig Jahre ihres Lebens vom Geist geschreckt worden war, so hatte sie ein Recht, von ihm Abschied zu nehmen. So fühlte man allgemein. In der Ecke des Friedhofes war ein tiefes Grab gegraben worden, just unter dem alten Taxusbaum, und der Rev. Augustus Dampier sprach das Leichengebet in der eindrucksvollsten Weise. Als die Zeremonie vorüber war, löschten die Diener nach alter Sitte der Familie Canterville ihre Fackeln aus. Und als der Sarg ins Grab hinuntergelassen werden sollte, trat Virginia vor und legte ein großes Kreuz aus weißen und roten Mandelblüten darauf. In diesem Augenblicke kam der Mond hinter einer Wolke hervor und überflutete mit seinem stillen Silberlichte den kleinen Friedhof, und aus einem fernen Busche begann eine Nachtigall zu singen. Virginia dachte an die Schilderung, die ihr der Geist vom Garten des Todes gegeben hatte, ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie sprach während der Heimfahrt kaum ein Wort.

Am nächsten Morgen hatte Herr Otis mit Lord Canterville, bevor dieser in die Stadt zurückkehrte, ein Gespräch bezüglich der Juwelen, die der Geist dem Fräulein Virginia gegeben hatte. Sie waren ganz prachtvoll, besonders ein gewisses Rubinenhalsband in altvenezianischer Fassung, ein Prachtstück aus dem 16. Jahrhundert. Der Wert der Kostbarkeiten war so groß, daß Herr Otis einige Skrupel hatte, ob er seiner Tochter erlauben dürfe, sie anzunehmen. »Mylord,« sagte er, »ich weiß, daß in diesem Lande sowohl Landbesitz als auch Schmuckstücke Familiengut sind, und es ist mir ganz klar, daß diese Juwelen Erbstücke in Ihrer Familie sind oder doch sein sollten. Ich muß Sie also demgemäß bitten, sie mit nach London zu nehmen und sie als einen Teil Ihres Vermögens zu betrachten, der Ihnen unter gewissen, sonderbaren Umständen zurückerstattet worden ist. Was meine Tochter betrifft, so ist sie bloß ein Kind und hat, wie ich mit Freude sagen kann, wenig Interesse an solchen Zieraten eines müßigen Luxus. Meine Frau, die, wie ich ruhig sagen darf, in Kunstdingen einige Autorität besitzt – sie hatte nämlich den Vorzug, in ihrer Mädchenzeit einige Winter in Boston zu verbringen –, hat mir mitgeteilt, daß diese Juwelen einen großen Geldwert besitzen und, wenn man sie verkaufen wollte, einen hohen Preis erreichen würden. Unter diesen Umständen, Lord Canterville, bin ich sicher, daß Sie anerkennen werden, wie unmöglich es für mich wäre, zu erlauben, daß sie im Besitze eines Mitgliedes meiner Familie bleiben; all dieses eitle Flitterwerk und dieser Kram, so sehr sie vielleicht der Würde der britischen Aristokratie dienlich und nötig sind, können ganz und gar nicht am Platze sein bei Menschen, die in den strengen und, wie ich glaube, unsterblichen Prinzipien republikanischer Einfachheit erzogen sind. Ich sollte vielleicht noch erwähnen, daß Virginia mit Ihrer Erlaubnis sehr gerne das Kästchen behalten würde zur Erinnerung an Ihren unglücklichen, aber irregeleiteten Ahnherrn. Da es sehr alt und infolgedessen sehr reparaturbedürftig ist, so werden Sie vielleicht geneigt sein, ihre Bitte zu erfüllen. Was mich betrifft, so gestehe ich, daß ich einigermaßen überrascht bin zu sehen, wie eines meiner Kinder in irgendeiner Weise mit dem Mittelalter sympathisiert. Ich kann mir es nur durch die Tatsache erklären, daß Virginia in einem Ihrer Londoner Vororte geboren wurde, kurz nachdem meine Frau von einer Reise nach Athen zurückgekehrt war.«

Lord Canterville hörte die Rede des würdigen Gesandten mit großem Ernste an und strich nur hier und da seinen grauen Schnurrbart, um ein unwillkürliches Lächeln zu verbergen. Als Herr Otis zu Ende war, schüttelte er ihm herzhaft die Hand und sagte: »Mein werter Herr! Ihre entzückende kleine Tochter hat meinem unglückseligen Ahnherrn Sir Simon einen sehr großen Dienst geleistet, und ich und meine Familie stehen tief in ihrer Schuld für ihren gewiß wunderbaren Mut. Die Juwelen gehören selbstverständlich ihr. Ja, ich glaube, daß, wenn ich herzlos genug wäre, sie ihr wegzunehmen, der tolle, alte Bursche in vierzehn Tagen aus seinem Grab steigen würde, um mir mit seinen Teufeleien das ganze Leben zu verbittern. Was aber die Erbstücke betrifft, so ist nichts ein Erbstück, was nicht als solches in einem Testament oder einem anderen gesetzlichen Dokument bezeichnet wurde, und die Existenz dieser Juwelen war ganz unbekannt. Ich versichere Ihnen, daß ich nicht mehr Recht darauf habe als Ihr Hausknecht. Und wenn Fräulein Virginia heranwächst, wird sie sicherlich ganz froh sein, hübsche Dinge zum Tragen zu haben. Überdies vergessen Sie, Herr Otis, daß die Einrichtung und der Geist im Preise des Schlosses inbegriffen waren und daß also alles, was dem Geist gehörte, gleichzeitig in Ihren Besitz überging, da Sir Simon, welche nächtliche Tätigkeit er in den Korridoren auch entwickelte, gesetzlich tot war und Sie sein Eigentum durch Kauf erworben hatten.«

Herr Otis war einigermaßen verwirrt durch Lord Cantervilles Weigerung und bat ihn, seinen Entschluß nochmals zu überdenken; aber der gutmütige Pair blieb fest und brachte endlich den Minister dazu, seiner Tochter die Erlaubnis zu geben, das Geschenk des Geistes zu behalten. Und als im Frühjahre 1890 die junge Herzogin von Cheshire bei Anlaß ihrer Hochzeit bei Hofe vorgestellt wurde, erregten ihre Juwelen allgemeine Bewunderung. Denn Virginia bekam ihre Adelskrone (und das ist die Belohnung aller guten kleinen Amerikanerinnen) und heiratete ihren jugendlichen Anbeter, sobald er großjährig wurde. Sie waren beide so reizend und sie liebten einander so sehr, daß alle Welt von der Partie entzückt war mit Ausnahme der alten Marquise von Dumbleton, die versucht hatte, den Herzog für eine ihrer sieben unverheirateten Töchter zu kapern und zu diesem Zwecke nicht weniger als drei großmächtige Diners gegeben hatte, und merkwürdigerweise mit Ausnahme des Herrn Otis selbst. Herr Otis hatte den jungen Herzog persönlich sehr gerne, aber in der Theorie war er ein Gegner aller Titel und er fürchtete, um seine eigenen Worte zu gebrauchen, »daß unter dem entnervenden Einfluß einer vergnügungssüchtigen Aristokratie die wahren Prinzipien republikanischer Einfachheit in Vergessenheit geraten könnten.« Aber seine Einwände wurden vollständig überstimmt, und ich glaube, daß es im ganzen weiten und breiten England keinen stolzeren Mann gab als ihn, als er, seine Tochter am Arm, durch die St.-Georgs-Kirche, Hanover Square, dahinschritt.

Als die Flitterwochen vorüber waren, zogen der Herzog und die Herzogin aufs Schloß von Canterville. Und am Tage nach ihrer Ankunft gingen sie nachmittags hinüber zum einsamen Gottesacker unter den Tannen. Es hatte manche Schwierigkeiten gegeben, bis man sich bezüglich der Inschrift auf Sir Simons Grabstein einigte. Schließlich kam man überein, nichts darauf zu setzen, als die Anfangsbuchstaben des Namens und die Verse vom Fenster der Bibliothek. Die Herzogin hatte einige schöne Rosen mitgebracht, die sie über das Grab streute. Und nachdem sie einige Zeit davor gestanden, wanderten sie in die Ruinen der alten Abtei. Dort setzte sich die Herzogin auf eine gestürzte Säule und ihr Mann legte sich ihr zu Füßen, zündete eine Zigarette an und schaute in ihre wunderbaren Augen. Plötzlich warf er die Zigarette fort, nahm Virginia bei der Hand und sagte: »Hör', mein Kind, eine Frau sollte vor ihrem Gatten keine Geheimnisse haben.«

»Mein teurer Cecil, ich habe keine Geheimnisse vor dir.«

»Doch, doch!« antwortete er lächelnd, »du hast mir nie erzählt, was mit dir vorging, als du mit dem Geist eingeschlossen warst.«

»Ich habe es niemandem erzählt, Cecil«, sagte Virginia ernst.

»Das weiß ich, aber mir sollst du es sagen!«

»Bitte, frage mich nicht, Cecil, ich kann es dir nicht sagen! Armer Sir Simon! Ich verdanke ihm so viel! Ja, lache nicht, Cecil, so ist es! Er hat mich gelehrt, was das Leben ist und was der Tod bedeutet und warum die Liebe stärker ist als beides.«

Der Herzog stand auf und küßte seine Frau zärtlich.

»Behalte dein Geheimnis so lange, als ich dein Herz habe«, murmelte er.

»Das hast du immer gehabt, Cecil.«

»Und vielleicht erzählst du alles einmal unseren Kindern?« Virginia errötete.


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