Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Eine Studie über die Pflicht
Es war Lady Windermeres letzter Empfang vor Ostern, und Bentinck House war noch voller als gewöhnlich. Sechs Kabinettsminister waren direkt vom Morgenempfang des Präsidenten des Unterhauses gekommen mit allen ihren Sternen und Ordensbändern, alle die hübschen Weiber trugen die schönsten Toiletten, und am Ende der Gemäldegalerie stand die Prinzessin Sophia von Karlsruhe, eine schwere Dame mit einem Tatarenkopf, mit kleinen schwarzen Augen und wundervollen Smaragden, die sehr laut ein schlechtes Französisch sprach und maßlos über alles lachte, was man zu ihr sagte. Es war gewiß ein wundervolles Gemisch von Menschen. Pairsfrauen in all ihrer Pracht plauderten liebenswürdig mit extremen Radikalen, volkstümliche Prediger sah man neben hervorragenden Skeptikern, ein ganzes Rudel von Bischöfen folgte Schritt für Schritt einer dicken Primadonna von Zimmer zu Zimmer, auf der Treppe standen einige Mitglieder der Königlichen Akademie als Künstler verkleidet, und es hieß, daß in einem gewissen Augenblick der Speisesaal mit Genies geradezu vollgepfropft gewesen sei. Alles in allem war es einer von Lady Windermeres schönsten Abenden, und die Prinzessin blieb bis fast halb zwölf Uhr. Kaum war sie fort, so kehrte Lady Windermere in die Gemäldegalerie zurück, wo eben ein berühmter Nationalökonom einem unwillig zuhörenden ungarischen Virtuosen einen feierlichen Vortrag über die wissenschaftliche Theorie der Musik hielt, und begann mit der Herzogin von Paisley zu plaudern. Sie sah wundervoll aus mit ihrer prachtvollen elfenbeinweißen Büste, mit ihren großen Vergißmeinnichtaugen und den schweren Flechten ihres goldenen Haares. Es war wirklich reines Gold, ihr Haar, nicht die blasse Strohfarbe, die sich heute den edlen Namen des Goldes anmaßt, nein, es war Gold, wie es in Sonnenstrahlen gewebt ist oder im Bernstein ruht. Und dieses Haar gab ihrem Gesicht gleichsam den Rahmen einer Heiligen, doch nicht ohne etwas von dem berückenden Zauber einer Sünderin. Sie war ein interessantes psychologisches Studienobjekt. Sie hatte sehr früh die große Wahrheit entdeckt, daß nichts so sehr wie Unschuld aussieht, wie eine Unbesonnenheit. Und durch eine Reihe von leichtsinnigen Streichen, von denen die Hälfte ganz harmlos war, hatte sie sich alle Vorrechte einer Persönlichkeit erworben. Sie hatte mehr als einmal ihren Gatten gewechselt; nach dem Adelskalender hatte sie sogar dreimal geheiratet. Aber da sie nie ihren Liebhaber gewechselt hatte, hatte die Welt längst aufgehört, über sie zu klatschen. Sie war nun vierzig Jahre alt, besaß keine Kinder und hatte jene maßlose Freude am Vergnügen, die das geheimnisvolle Mittel ist, jung zu bleiben.
Plötzlich sah sie sich eifrig im Zimmer um und sagte mit ihrer klaren Altstimme: »Wo ist mein Chiromantist?«
»Ihr was, Gladys?« rief die Herzogin einigermaßen verblüfft.
»Mein Chiromantist, Herzogin. Ich kann jetzt ohne ihn nicht leben.«
»Liebe Gladys, Sie sind immer so originell«, murmelte die Herzogin und versuchte sich zu erinnern, was ein Chiromantist eigentlich sei, wobei sie hoffte, es sei nicht dasselbe wie Chiropodist.
»Er kommt zweimal in der Woche, um meine Hand anzuschauen,« fuhr Lady Windermere fort, »und er interessiert sich sehr dafür.«
»Großer Gott,« sagte die Herzogin zu sich selbst, »es ist also doch eine Art Chiropodist, wie schrecklich! Hoffentlich ist es wenigstens ein Ausländer. Dann wäre es nicht ganz so schlimm.«
»Ich muß ihn Ihnen vorstellen.«
»Ihn mir vorstellen?« rief die Herzogin. »Ist er denn hier?« Und sie suchte ihren kleinen Schildkrotfächer und einen sehr ramponierten Spitzenschal, um jeden Augenblick zum Fortgehen bereit zu sein.
»Natürlich ist er hier, ich würde nicht daran denken, ohne ihn eine Soiree zu geben. Er sagt mir, daß ich eine rein psychische Hand habe und daß, wenn mein Daumen nur ein ganz kleines Stückchen kürzer wäre, ich eine vollkommene Pessimistin geworden wäre und heute in einem Kloster säße.«
»Ach so«, sagte die Herzogin und atmete erleichtert auf. »Er ist ein Wahrsager, nicht wahr? Und prophezeit er Glück?«
»Auch Unglück,« antwortete Lady Windermere, »soviel Sie wollen. Nächstes Jahr zum Beispiel bin ich in großer Gefahr sowohl zu Wasser als zu Lande. Ich habe also die Absicht, in einem Ballon zu leben, und werde jeden Abend mein Essen in einem Korb heraufziehen. Das steht alles auf meinem kleinen Finger geschrieben oder in meiner Handfläche, ich weiß nicht mehr recht.«
»Aber das heißt doch die Vorsehung versuchen, Gladys.«
»Meine liebe Herzogin, die Vorsehung kann heutzutage sicher schon der Versuchung widerstehen. Ich glaube, daß jeder Mensch einmal im Monat in seiner Hand lesen lassen müßte, um zu wissen, was er nicht tun darf. Natürlich tut man es doch, aber es ist so hübsch, wenn man gewarnt ist. Und wenn jetzt nicht gleich jemand Herrn Podgers holt, so werde ich ihn wohl selbst holen müssen.«
»Gestatten Sie, daß ich ihn hole«, sagte ein schlanker, hübscher junger Mann, der daneben stand und dem Gespräch mit heiterem Lächeln zuhörte.
»Ich danke Ihnen vielmals, Lord Artur, aber ich fürchte. Sie werden ihn nicht erkennen.«
»Wenn er ein so wunderbarer Mensch ist, wie Sie sagen, Lady Windermere, so kann ich ihn wohl kaum verfehlen. Sagen Sie mir nur, wie er ausschaut, und ich schaffe ihn sofort zur Stelle.«
»Er sieht nicht im geringsten aus wie ein Chiromantist. Das heißt, er sieht weder mystisch noch esoterisch noch romantisch aus. Er ist ein kleiner untersetzter Mann mit einem komischen kahlen Kopf und einer großen goldenen Brille. So ein Mittelding zwischen einem Hausarzt und einem Landadvokaten. Das tut mir sehr leid, aber es ist nicht meine Schuld. Die Leute sind immer so langweilig. Alle meine Pianisten sehen aus wie Dichter, und alle meine Dichter sehen aus wie Pianisten. Ich erinnere mich, daß ich in der vorigen Saison einen schrecklichen Verschwörer zu Tisch einlud, der eine Anzahl Menschen in die Luft gesprengt hatte und immer ein Panzerhemd trug und einen Dolch in seinem Hemdärmel verbarg. Und denken Sie sich, als er ankam, sah er just aus wie ein netter alter Pastor und machte den ganzen Abend Witze. Er war ja sehr unterhaltend, aber ich war schrecklich enttäuscht. Und als ich ihn wegen des Panzerhemdes zur Rede stellte, lachte er bloß und sagte, es sei zu kalt, um es in England zu tragen. Ah, hier ist Herr Podgers. Herr Podgers, ich brauche Sie. Sie müssen der Herzogin von Paisley die Hand lesen. Herzogin, nehmen Sie den Handschuh ab. Nicht den linken, den rechten.«
»Liebe Gladys, ich weiß wirklich nicht, ob ich soll«, sagte die Herzogin und knöpfelte zögernd einen nicht ganz tadellosen Glacéhandschuh auf.
»Das fragt man sich bei allen interessanten Dingen«, sagte Lady Windermere. »On a fait le monde ainsi. Aber ich muß Sie vorstellen. Herzogin, das ist Herr Podgers, mein lieber Chiromantiker. Herr Podgers, das ist die Herzogin von Paisley, und wenn Sie sagen, daß ihr Mondberg größer ist als der meine, dann glaube ich Ihnen nie wieder.«
»Ich bin sicher, Gladys, daß in meiner Hand nichts dergleichen ist«, sagte die Herzogin ernsthaft.
»Euer Gnaden haben ganz recht«, sagte Herr Podgers und blickte auf die kleine fette Hand mit den kurzen dicken Fingern. »Der Mondberg ist nicht entwickelt. Aber die Lebenslinie ist ausgezeichnet. Bitte, beugen Sie ein wenig das Gelenk. Danke. Drei deutliche Linien auf der Rascette. Sie werden ein hohes Alter erreichen, Herzogin, und werden außerordentlich glücklich sein. Ehrgeiz – sehr mäßig, Intelligenzlinie nicht übertrieben. Herzlinie –«
»Bitte, bitte, seien Sie nicht indiskret, Herr Podgers!!« rief Lady Windermere.
»Nichts wäre mir erwünschter,« sagte Herr Podgers und verbeugte sich, »wenn die Herzogin jemals dazu Anlaß gegeben hätte. Aber ich muß leider sagen, daß ich nichts anderes sehe als eine große Beständigkeit der Neigung, verbunden mit einem strengen Pflichtgefühl.«
»Bitte, fahren Sie nur fort«, sagte die Herzogin und sah sehr vergnügt drein.
»Sparsamkeit ist nicht die letzte von Euer Gnaden Tugenden«, fuhr Herr Podgers fort, und Lady Windermere brach in lautes Lachen aus.
»Sparsamkeit hat sein Gutes«, bemerkte die Herzogin gnädig. »Als ich Paisley heiratete, hatte er elf Schlösser und nicht ein einziges Haus, in dem man wohnen konnte.«
»Und nun hat er zwölf Häuser und nicht ein einziges Schloß!« rief Lady Windermere.
»Ach, meine Teure, ich liebe –«
»Den Komfort«, sagte Herr Podgers, »und die modernen Einrichtungen und Leitung für heißes Wasser in jedem Schlafzimmer. Euer Gnaden haben ganz recht. Komfort ist die einzige Sache von Wert, die unsere Kultur uns zu geben vermag.«
»Sie haben den Charakter der Herzogin außerordentlich getroffen, Herr Podgers, jetzt müssen Sie uns aber auch den Charakter Lady Floras enthüllen.« Und auf ein Kopfnicken der lächelnden Hausfrau kam ein hochgewachsenes Mädchen mit sandfarbenem Haar und hohen Schultern verlegen hinter dem Sofa hervor und hielt eine lange knochige Hand mit spatelförmigen Fingern ausgestreckt.
»Ah, eine Klavierspielerin, wie ich sehe«, sagte Herr Podgers. »Eine ausgezeichnete Pianistin, aber vielleicht nicht sehr musikalisch. Sehr zurückhaltend, sehr ehrlich. Sie lieben Tiere sehr.«
»Das ist wahr!« rief die Herzogin und wandte sich zu Lady Windermere. »Das ist vollkommen wahr. Flora hält in Macloskie zwei Dutzend Collies und möchte sofort unser Stadthaus in eine Menagerie verwandeln, wenn der Vater es erlauben würde.«
»Was tue ich denn anderes an jedem Donnerstagabend?« rief Lady Windermere lachend. »Nur habe ich Löwen lieber als Collies.«
»Das ist Ihr einziger Fehler, Lady Windermere«, sagte Herr Podgers und verbeugte sich sehr tief.
»Wenn eine Frau ihre Fehler nicht mit Reiz umkleiden kann, so ist sie bloß ein Weibchen«, war die Antwort. »Aber Sie müssen uns zuliebe noch einige Hände lesen. Bitte, Herr Thomas, zeigen Sie doch Ihre Hand Herrn Podgers.« Und ein lustig dreinschauender alter Herr mit einer weißen Weste kam heran und hielt eine dicke, rauhe Hand vor, deren Mittelfinger sehr lang war.
»Eine Abenteurernatur. Sie haben vier lange Reisen hinter sich und eine vor sich. Sie haben dreimal Schiffbruch gelitten. Nein, nur zweimal. Aber die Gefahr eines Schiffbruches droht Ihnen auf der nächsten Reise. Streng konservativ, sehr pünktlich. Sie sammeln mit Leidenschaft Kuriositäten. Eine schwere Krankheit zwischen dem sechzehnten und achtzehnten Jahr. Große Erbschaft in den dreißiger Jahren. Große Abneigung gegen Katzen und Radikale.«
»Außerordentlich!« rief Sir Thomas aus. »Sie müssen unbedingt auch die Hand meiner Frau lesen.«
»Ihrer zweiten Frau«, sagte Herr Podgers ruhig, und hielt des Herrn Thomas Hand noch in der seinen fest. »Ihrer zweiten Frau. Es wird mir ein Vergnügen sein.« Aber Lady Marvel, eine melancholisch aussehende Dame mit braunem Haar und sentimentalen Augenbrauen, lehnte entschieden ab, sich ihre Vergangenheit oder Zukunft enthüllen zu lassen. Und was Lady Windermere auch versuchte, nichts konnte Monsieur de Koloff, den russischen Gesandten, dazu bewegen, nur seine Handschuhe auszuziehen. Ja, viele schienen sich zu fürchten, dem seltsamen kleinen Mann mit dem stereotypen Lächeln, der goldenen Brille und den kleinen glänzenden Augen gegenüberzutreten; und als er der armen Lady Fermor klipp und klar vor allen Leuten erklärte, daß sie gar keinen Sinn für Musik, aber sehr viel Interesse für Musiker habe, fühlte man allgemein, daß Chiromantik eine sehr gefährliche Wissenschaft sei, und daß man sie nur unter vier Augen pflegen dürfe.
Lord Artur Savile aber, der von Lady Fermors unglückseliger Geschichte nichts wußte und Herrn Podgers mit großem Interesse beobachtet hatte, war nun furchtbar neugierig, sich die Hand lesen zu lassen, und da er sich etwas scheute, in den Vordergrund zu treten, so ging er durch das Zimmer hinüber bis zu Lady Windermeres Platz und fragte sie mit reizendem Erröten, ob sie wohl glaube, daß Herr Podgers ihm den Gefallen tun würde.
»Gewiß, gewiß,« sagte Lady Windermere, »deswegen ist er ja hier. Alle meine Löwen, lieber Lord Artur, sind Löwen, die ihre Kunst zeigen und durch den Reifen springen, wie ich es ihnen befehle. Aber ich sage Ihnen im voraus, daß ich Sybil alles wiedererzählen werde. Sie kommt morgen zum Frühstück zu mir – wir haben über Hüte zu reden –, und wenn Herr Podgers herausfinden sollte, daß Sie bösartig sind oder Anlage zur Gicht haben, oder daß Sie bereits eine Frau besitzen, die irgendwo in Bayswater lebt, so werde ich ihr gewiß alles sagen.«
Lord Artur lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte mich nicht,« sagte er, »Sybil kennt mich so gut wie ich sie kenne.«
»Ah, das tut mir eigentlich leid. Die beste Grundlage für eine Ehe ist gegenseitiges Mißverstehen. Nein, ich bin durchaus nicht zynisch. Ich habe bloß Erfahrung gesammelt, was übrigens fast auf dasselbe hinauskommt. Herr Podgers, Lord Artur Savile ist furchtbar neugierig zu wissen, was in seiner Hand steht. Aber Sie brauchen ihm nicht zu sagen, daß er mit einem der schönsten Mädchen Londons verlobt ist, denn das stand bereits vor einem Monat in der Morning-Post.«
»Liebe Lady Windermere«, rief die Marquise von Jedburgh, »lassen Sie mir Herrn Podgers nur noch einen Augenblick. Er hat mir eben gesagt, daß ich zur Bühne gehen würde, und das interessiert mich schrecklich.«
»Wenn er Ihnen das gesagt hat, Lady Jedburgh, so werde ich ihn gewiß sofort abberufen. Kommen Sie gleich herüber, Podgers, und lesen Sie Lord Arturs Hand.«
»Gut,« sagte Lady Jedburgh und verzog etwas das Mündchen, als sie vom Sofa aufstand, »wenn man mir nicht erlauben will, zur Bühne zu gehen, so will ich mindestens Publikum sein.«
»Natürlich, wir sind alle Publikum«, sagte Lady Windermere. »Und nun, Herr Podgers, erzählen Sie uns etwas recht Hübsches. Lord Artur ist einer meiner besonderen Lieblinge.«
Als aber Herr Podgers Lord Arturs Hand erblickte, erblaßte er ganz merkwürdig und sagte gar nichts. Ein Schauer schien ihn zu schütteln und seine großen buschigen Augenbrauen zuckten konvulsivisch auf eine ganz seltsame, aufgeregte Art, wie immer, wenn er sich in einer schwierigen Situation befand. Dann traten einige große Schweißtropfen auf seine gelbe Stirn wie giftiger Tau, und seine dicken Finger wurden kalt und klebrig.
Lord Artur sah natürlich diese merkwürdigen Zeichen der Aufregung, und zum erstenmal in seinem Leben fühlte er etwas wie Furcht. Sein erster Gedanke war aus dem Zimmer zu stürzen, aber er bezwang sich. Es war besser, das Schlimmste zu erfahren, was immer es auch sei, als in dieser fürchterlichen Ungewißheit zu bleiben.
»Ich warte, Herr Podgers«, sagte er.
»Wir warten alle«, sagte Lady Windermere in ihrer raschen, ungeduldigen Art, aber der Chiromantist gab keine Antwort.
»Ich glaube, Lord Artur soll zur Bühne gehen«, sagte Lady Jedburgh, »und da Sie vorhin so böse waren, will Herr Podgers es nicht sagen.«
Plötzlich ließ Herr Podgers Lord Arturs rechte Hand fallen und ergriff seine linke; er beugte sich so tief herab, um sie zu untersuchen, daß die goldene Fassung seiner Brille die Handfläche zu berühren schien. Einen Augenblick glich sein Gesicht einer weißen Schreckensmaske, aber er wurde bald wieder ruhig und sagte mit einem Blick auf Lady Windermere und mit einem gezwungenen Lächeln: »Es ist die Hand eines reizenden jungen Mannes.«
»Das stimmt«, antwortete Lady Windermere. »Aber wird er auch ein reizender Ehemann sein? Das möchte ich wissen.«
»Das ist die Bestimmung aller reizenden jungen Männer«, sagte Podgers.
»Ich glaube nicht, daß ein Ehemann gar zu reizend sein sollte«, murmelte nachdenklich Lady Jedburgh. »Das ist zu gefährlich.«
»Mein liebes Kind, sie sind niemals zu reizend!« rief Lady Windermere. »Was ich aber wissen möchte, sind Einzelheiten. Einzelheiten sind nämlich die einzigen Sachen, für die man sich interessieren kann. Was also wird mit Lord Artur geschehen?«
»In den nächsten Monaten wird Lord Artur eine Reise machen –«
»Seine Hochzeitsreise natürlich.«
»Und eine Verwandte verlieren.«
»Nicht seine Schwester will ich hoffen«, sagte Lady Jedburgh voll Mitleid in der Stimme.
»Gewiß nicht seine Schwester«, sagte Herr Podgers mit einer abwehrenden Handbewegung. »Bloß eine entfernte Verwandte.«
»Ich bin schrecklich enttäuscht«, sagte Lady Windermere, »so habe ich morgen Sybil gar nichts zu erzählen. Wer kümmert sich heute um entfernte Verwandte? Die sind schon seit Jahren aus der Mode. Jedenfalls werde ich ihr aber raten, ein schwarzes Seidenkleid bereit zu halten. Es macht sich immer gut in der Kirche. Und nun wollen wir zu Tische gehen. Gewiß ist alles schon aufgegessen worden, aber vielleicht finden wir doch noch etwas warme Suppe. François war sonst ein Meister in Suppen, aber er beschäftigte sich jetzt so viel mit Politik, daß gar kein Verlaß auf ihn ist. Ich wünschte, General Boulanger würde endlich Ruhe geben. Sind Sie nicht müde, Herzogin?«
»Nicht im geringsten«, sagte die Herzogin und wackelte zur Türe. »Ich habe mich ausgezeichnet unterhalten, und der Chiropodist, ich meine der Chiromantist, ist sehr interessant. Flora, wo kann mein Schildpattfächer sein? O vielen Dank, Herr Thomas, und mein Spitzenschal, Flora? O ich danke Ihnen, Herr Thomas, Sie sind sehr liebenswürdig.« Und die würdige Dame kam endlich die Treppe herab und hatte ihr Riechfläschchen bloß zweimal fallen lassen.
Die ganze Zeit über hatte Lord Artur Savile am Kamin gestanden mit dem gleichen Gefühl des Schreckens, mit dem gleichen lähmenden Gefühl des kommenden Unglücks. Er lächelte traurig seiner Schwester zu, als sie an Lord Plymdales Arm vorüberkam, reizend anzuschauen mit ihrem roten Brokat und ihren Perlen, und er hörte kaum, als Lady Windermere ihn aufforderte, ihr zu folgen. Er dachte an Sybil Merton und der Gedanke, daß etwas zwischen sie treten könnte, füllte seine Augen mit Tränen.
Wer ihn ansah, hätte glauben können, daß Nemesis den Schild der Pallas gestohlen hätte, um ihm das Medusenhaupt zu zeigen. Er schien zu Stein gewandelt und sein Gesicht war marmorn in seiner Melancholie. Er hatte das verfeinerte Luxusleben eines jungen Mannes von Rang und Vermögen geführt, ein Leben, wunderbar frei von häßlicher Sorge, herrlich in seiner knabenhaften Unbekümmertheit. Und zum erstenmal in seinem Leben kam ihm das furchtbare Geheimnis des Schicksals zum Bewußtsein, der schreckliche Sinn des Verhängnisses.
Wie toll und schrecklich ihm all das erschien! Konnte irgendein furchtbares Geheimnis der Sünde, irgendein blutrotes Zeichen des Verbrechens in seiner Hand geschrieben stehen, in Hieroglyphen, die er selbst nicht lesen konnte, aber die ein anderer zu entziffern vermochte? War es nicht möglich, diesen Dingen zu entgehen? Waren wir denn nichts anderes, als Schachfiguren, die eine unsichtbare Macht bewegt, nichts anderes, als Gefäße, die ein Töpfer dreht, wie es ihm beliebt, um sie mit Schmach oder Ehre zu füllen? Sein Verstand empörte sich dagegen, und doch fühlte er, daß irgendeine Tragödie über ihm hing und daß ihm plötzlich beschieden worden war, eine unerträgliche Last zu tragen! Wie glücklich sind doch Schauspieler! Sie haben die Wahl, ob sie in der Tragödie oder Komödie auftreten wollen, ob sie leiden oder lustig sein, Lachen oder Tränen vergießen wollen. Aber im wirklichen Leben ist das so ganz anders. Die meisten Männer und Frauen sind gezwungen, Rollen zu spielen, für die sie gar nicht geeignet sind. Unsere Güldensterns spielen uns den Hamlet vor, und unsere Hamlets müssen scherzen wie Prinz Heinz. Die Welt ist eine Bühne, aber das Stück ist schlecht besetzt.
Plötzlich trat Herr Podgers ins Zimmer. Als er Lord Artur erblickte, fuhr er zusammen, und sein grobes, dickes Gesicht wurde ganz grünlichgelb. Die Augen der beiden Männer begegneten sich, und einen Augenblick herrschte Schweigen.
»Die Herzogin hat einen ihrer Handschuhe hier vergessen, Lord Artur, und hat mich gebeten, ihn ihr zu bringen«, sagte endlich Herr Podgers. »Ach, ich sehe ihn auf dem Sofa. Guten Abend.«
»Herr Podgers, ich muß darauf bestehen, daß Sie mir eine Frage, die ich Ihnen stellen werde, aufrichtig beantworten.«
»Ein anderes Mal, Lord Artur, aber die Herzogin wartet. Ich muß wirklich gehen.«
»Sie werden nicht gehen. Die Herzogin hat keine Eile.
»Man darf Damen nie warten lassen, Lord Artur«, sagte Herr Podgers mit seinem matten Lächeln. »Das schöne Geschlecht wird gleich ungeduldig.«
Um Lord Arturs fein gezeichnete Lippen spielte eine stolze Verachtung. Die arme Herzogin hatte für ihn in diesem Augenblick nicht die geringste Bedeutung. Er ging durch das Zimmer auf den Platz zu, wo Herr Podgers stand, und hielt ihm seine Hand entgegen.
»Sagen Sie mir, was Sie hier gesehen haben«, sagte er. »Sagen Sie mir die Wahrheit. Ich muß sie wissen. Ich bin kein Kind.«
Die Augen des Herrn Podgers blinzelten hinter den goldenen Brillen, und er trat unruhig von einem Fuß auf den andern, indes seine Finger nervös mit einer blinkenden Uhrkette spielten.
»Warum glauben Sie denn, Lord Artur, daß ich mehr in Ihrer Hand gesehen habe, als ich Ihnen gesagt habe?«
»Ich weiß es und bestehe darauf, daß Sie mir sagen, was es war. Ich werde natürlich diesen Dienst bezahlen, Ich gebe Ihnen einen Scheck auf hundert Pfund.«
Die grünen Augen blitzten einen Augenblick auf, und dann wurden sie wieder trübe.
»Guineen?« sagte Herr Podgers endlich leise.
»Gewiß. Ich sende Ihnen morgen den Scheck. Wie heißt Ihr Klub?«
»Ich bin in keinem Klub. Das heißt, momentan nicht. Meine Adresse ist – aber gestatten Sie mir. Ihnen meine Karte zu geben.« Und Herr Podgers zog aus seiner Westentasche eine goldgeränderte Visitenkarte und überreichte sie Lord Artur mit einer tiefen Verbeugung. Auf der Karte stand:
Mr. Septimus R. Podgers berufsmäßiger Chiromantiker. 103 a West Moon Street. |
»Ich empfange von 10-4«, murmelte Herr Podgers mechanisch, »Familien haben ermäßigte Preise.«
»Schnell, schnell«, rief Lord Artur ganz bleich im Gesicht und hielt ihm die Hand entgegen. Herr Podgers blickte sich unruhig um und dann zog er die schwere Portiere vor die Türe. Es wird etwas dauern, Lord Artur, wollen Sie sich nicht lieber setzen?«
»Rasch, rasch!« rief Lord Artur wieder und stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf das Parkett.
Herr Podgers lächelte, zog aus seiner Brusttasche ein kleines Vergrößerungsglas und wischte es sorgfältig mit seinem Taschentuche ab.
»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung«, sagte er.
Zehn Minuten später stürzte Lord Artur Savile mit vor Entsetzen bleichem Gesichte, mit Augen, aus denen der Schrecken starrte, aus dem Hause, brach sich Bahn durch die Menge pelzgehüllter Lakaien, die unter der großen gestreiften Markise umherstanden und nichts zu sehen und zu hören schienen. Die Nacht war bitterkalt, und die Gaslampen rings auf dem Platze flatterten und zuckten im scharfen Winde. Aber seine Hände waren fieberheiß, und seine Stirn brannte wie Feuer. Er ging weiter und weiter, fast schwankend wie ein Betrunkener. Ein Schutzmann schaute ihm neugierig nach, als er vorüberging, und ein Bettler, der aus einem Torweg herauskroch, um ihn um ein Almosen zu bitten, schauderte zusammen, denn er sah einen Jammer, der größer war als der seine. Einmal blieb er unter einer Laterne stehen und blickte auf seine Hände. Er glaubte fast, er könnte Blutspuren auf ihnen entdecken, und ein schwacher Schrei brach von seinen zitternden Lippen.
Mord! Das war es, was der Chiromantist da gesehen hatte. Mord! Die Nacht selbst schien es zu wissen, und der rauhe Wind heulte es ihm ins Ohr. Die dunklen Ecken der Straße waren davon voll. Von den Dächern der Häuser grinste es ihn an.
Zuerst kam er zum Park, dessen dunkles Gehölz ihn festzubannen schien. Er lehnte sich müde gegen das Gitter, kühlte seine Stirn am feuchten Metall und horchte auf das zitternde Schweigen der Bäume. Mord! Mord! wiederholte er immer wieder, als ob die Wiederholung des Wortes seinen Schrecken vermindern könnte. Der Klang seiner eigenen Stimme machte ihn erschaudern, aber er hoffte fast, daß das Echo ihn höre, und die schlafende Stadt aus ihren Träumen wecke. Er fühlte ein tolles Verlangen, einen zufällig Vorübergehenden festzuhalten und ihm alles zu sagen. Dann ging er durch Oxford Street in enge häßliche Gäßchen. Zwei Weiber mit gemalten Gesichtern spotteten, als er vorüberging. Aus einem dunklen Hofe kam der Lärm von Flüchen und Schlägen, gefolgt von schrillem Geschrei, und zusammengesunken auf feuchten Torstufen sah er die gekrümmten Gestalten der Armut und des Alters. Ein seltsames Mitleid überkam ihn. War diesen Kindern der Sünde und des Elends ihr Ende vorherbestimmt, wie ihm das seine? Waren sie wie er bloß Puppen in einem ungeheuerlichen Theater?
Und doch war es nicht das Geheimnis, sondern die Komödie des Leidens, die ihn ergriff, seine absolute Nutzlosigkeit, seine groteske Sinnlosigkeit. Wie schien doch alles zusammenhanglos, wie unharmonisch! Er war bestürzt über den Zwiespalt zwischen dem schalen Optimismus des Tages und den wirklichen Tatsachen des Lebens. Er war noch sehr jung.
Nach einer Zeit fand er sich vor der Marylebone-Kirche. Die stumme Landstraße glich einem langen Bande von glänzendem Silber, in das zitternde Schatten hier und da dunkle Flecken hineinzeichneten. Weit, weit in der Ferne wand sich eine Linie flackernder Gaslaternen, und vor einem kleinen, ummauerten Hause stand ein einsamer Wagen, und der Kutscher war eingeschlafen. Er ging hastig in der Richtung von Portland Place und sah sich hier und da um, als ob er sich fürchtete, daß man ihm folge. An der Ecke der Rich Street standen zwei Männer und lasen einen kleinen Anschlag an einem Zaun. Ein merkwürdiges Gefühl der Neugier überkam ihn, und er ging hinüber. Als er näher kam, traf sein Blick das Wort »Mord«, das da mit schwarzen Lettern gedruckt stand. Er fuhr zusammen, und ein dunkles Rot schoß in seine Wangen. Es war eine Bekanntmachung, die eine Belohnung aussetzte für jede Nachricht, die dazu führen könnte, einen Mann von mittlerer Größe zwischen dreißig und vierzig Jahren, mit einem weichen Hut, schwarzem Rock und karierten Hosen und mit einer Narbe auf der rechten Wange festzunehmen. Er las den Steckbrief wieder und immer wieder und dachte darüber nach, ob der Elende wohl gefangen werden würde und wieso er wohl verwundet worden sei. Vielleicht würde auch einmal sein eigener Name an den Mauern Londons zu lesen sein! Vielleicht würde auch auf seinen Kopf eines Tages ein Preis gesetzt werden.
Der Gedanke erfüllte ihn mit namenlosem Grauen. Er wandte sich um und eilte hinaus in die Nacht.
Er wußte kaum, wohin er ging. Er erinnerte sich dunkel, daß er durch ein Labyrinth schmutziger Häuser wanderte, daß er sich in einem riesigen Spinnennetz finsterer Straßen verlor, und es dämmerte hell, als er sich endlich auf dem Piccadillyplatze befand. Als er nun heimwärts gegen Belgrave Square schlenderte, begegnete er den großen Marktwagen auf dem Wege nach Covent Garden. Die Fuhrleute in den weißen Röcken mit ihren lustigen, sonnverbrannten Gesichtern und den derben Krausköpfen gingen mit festen Schritten neben ihren Wagen, knallten mit der Peitsche und riefen dann und wann einander zu. Auf einem großen grauen Pferde, dem Leitpferde eines lärmenden Gespanns, saß ein pausbäckiger Junge mit einem Strauß von Primeln an seinem abgenutzten Hut und hielt sich mit seinen kleinen Händen an der Mähne fest und lachte. Und die großen Haufen von Gemüse auf den Wagen glichen, wie sie sich vom Morgenhimmel abhoben, großen Haufen von grünem Nephrit, die sich abheben von den roten Blättern einer wunderbaren Rose.
Lord Artur fühlte sich merkwürdig bewegt. Er wußte selbst nicht warum. Es lag etwas in der zarten Lieblichkeit des dämmernden Morgens, das ihn mit merkwürdiger Gewalt ergriff, und er dachte an all die Tage, die in Schönheit aufgehen und im Sturme untergehen. Und welch ein seltsames London sahen diese Bauern mit ihren rauhen, fröhlichen Stimmen und ihrem nachlässigen Gehaben! Ein London frei von der Sünde der Nacht und dem Rauch des Tages, eine bleiche, geisterbleiche Stadt, eine große Stadt der Gräber. Er fragte sich, was sie wohl von dieser Stadt dächten, ob sie irgend etwas wüßten von ihrem Glanz und ihrer Schande, von ihren wilden, feuerfarbenen Freuden und ihrem schrecklichen Hunger, von all ihren guten und bösen Taten vom Morgen bis zum Abend. Wahrscheinlich erschien ihnen die Stadt nur als Markt, auf den sie ihre Früchte und Gemüse brachten, um sie zu verkaufen und wo sie höchstens einige Stunden verweilten, bis sie wieder die immer noch schweigenden Straßen, die noch träumenden Häuser hinter sich ließen. Es machte ihm ein Vergnügen, sie zu beobachten, wie sie vorüberzogen. Rauh wie sie waren mit ihren schweren beschlagenen Schuhen und ihrem schwerfälligen Gang, brachten sie ein Stück Arkadien mit sich. Er fühlte, daß sie mit der Natur gelebt hatten und daß die Natur sie den Frieden gelehrt hatte. Er beneidete sie um alles, was sie nicht wußten.
Als er Belgrave Square erreicht, war der Himmel blaßblau, und die Vögel begannen in den Gärten zu zwitschern.
Als Lord Artur erwachte, war es zwölf Uhr, und die Mittagssonne strömte herein durch die elfenbeinfarbenen Seidenvorhänge seines Zimmers. Er stand auf und blickte aus dem Fenster. Ein trüber Glutnebel hing über der großen Stadt, und die Dächer der Häuser flimmerten wie mattes Silber. In dem schimmernden Grün unten auf dem Platze huschten einige Kinder gleich Schmetterlingen hin und her, und auf den Bürgersteigen wimmelte es von Leuten, die in den Park gingen. Niemals war ihm das Leben schöner erschienen, niemals schienen alle bösen Dinge weiter von ihm entfernt.
Dann kam sein Kammerdiener und brachte ihm eine Tasse Schokolade. Nachdem er sie ausgetrunken hatte, schob er eine schwere Portiere von pfirsichfarbenem Plüsch beiseite und ging ins Bad. Das Licht fiel sanft von oben durch dünne Scheiben von durchsichtigem Onyx und das Wasser im Marmorbecken schimmerte wie Mondschein. Er ging rasch ins Wasser, bis die kühlen Wellen ihm Brust und Haare benetzten und dann tauchte er auch den Kopf unter, als ob er den Flecken irgendeiner schmachvollen Erinnerung wegwaschen wollte. Als er herausstieg, fühlte er sich fast beruhigt. Das ausgezeichnete physische Wohlbefinden des Augenblicks beherrschte ihn, wie dies oft bei sehr feingearteten Naturen der Fall ist, denn die Sinne können so wie das Feuer ebenso gut reinigen wie zerstören.
Nach dem Frühstück warf er sich auf den Diwan und zündete sich eine Zigarette an. Auf dem Kaminsims, eingerahmt in köstlichen alten Brokat, stand eine große Photographie von Sybil Merton, wie er sie zum ersten Male auf dem Ball von Lady Noel gesehen hatte. Der schmale entzückend geschnittene Kopf war leicht zur Seite geneigt, als ob der dünne Hals, der schlank wie ein Rohr war, die Last so vieler Schönheit nicht tragen könne. Die Lippen waren leicht geöffnet und schienen zu süßer Musik geschaffen. Und all die zarte Reinheit der Mädchenblüte blickte wie verwundert aus den träumenden Augen. Mit ihrem leichten, sich an den Körper schmiegenden Kleide aus Crêpe de Chine und ihrem breiten, blattförmigen Fächer glich sie einer jener kleinen zarten Figuren, die man in den Olivenwäldern bei Tanagra findet. Und ein Hauch griechischer Grazie lag in der ganzen Stellung und Haltung. Und doch war sie nicht »petite«. Sie war einfach von vollendetem Ebenmaß, eine Seltenheit in einer Zeit, wo so viele Frauen entweder überlebensgroß oder zu klein sind.
Wie Lord Artur nun das Bild ansah, erfüllte ihn das furchtbare Mitleid, das der Liebe entspringt. Er fühlte, daß sie zu heiraten mit dem Verhängnis des Mordes über seinem Haupte ein Verrat wäre, gleich dem des Judas, eine Sünde, schlimmer als je ein Borgia sie erträumt. Welches Glück könnte ihrer warten, wenn jeden Augenblick das Schicksal, das in seiner Hand geschrieben stand, an ihn herantreten könnte! Welches Leben würden sie führen, indes seine unheilvolle Bestimmung in der Wagschale des Fatums lag! Die Heirat mußte um jeden Preis verschoben werden. Dazu war er unbedingt entschlossen. Fest entschlossen, obzwar er das Mädchen liebte und die bloße Berührung ihrer Fingerspitzen, wenn sie beisammensaßen, jeden Nerv in ihm mit wunderbarer Wonne erbeben ließ; aber er kannte trotzdem klar den Weg seiner Pflicht und er war sich bewußt, daß er nicht das Recht hatte, zu heiraten, ehe er den Mord begangen hatte. War es einmal geschehen, dann konnte er mit Sybil Merton vor den Altar treten und sein Leben in ihre Hände legen, ohne fürchten zu müssen, daß er unrecht handele. War es einmal geschehen, so konnte er sie in seine Arme schließen, und sie würde niemals für ihn erröten müssen, niemals den Kopf in Schande beugen müssen. Aber geschehen mußte es einmal, und je früher, desto besser für beide.
Viele Männer in seiner Lage hätten gewiß den Blumenpfad der Liebeständelei den steilen Höhen der Pflicht vorgezogen. Aber Lord Artur war zu gewissenhaft, um den Genuß dem Prinzip vorzuziehen. Seine Liebe war mehr als bloße Leidenschaft. Und Sybil war ihm ein Symbol für alles Gute und Edle. Einen Augenblick hatte er einen natürlichen Widerwillen gegen die Tat, die ihm aufgezwungen war, aber das ging rasch vorüber. Sein Herz sagte ihm, daß es keine Sünde, sondern ein Opfer wäre; seine Vernunft erinnerte ihn daran, daß ihm kein anderer Weg offen stünde. Er hatte zu wählen zwischen einem Leben für sich selbst und einem Leben für andere, und so schrecklich zweifellos die Aufgabe war, die er erfüllen mußte, er wußte doch, daß er den Eigennutz nicht über die Liebe triumphieren lassen dürfe. Früher oder später werden wir immer vor denselben Kreuzweg gestellt, wird uns dieselbe Frage vorgelegt. An Lord Artur trat sie früh im Leben heran – ehe sein Wesen verdorben war von dem berechnenden Zynismus der mittleren Jahre, bevor sein Herz zerfressen war von dem oberflächlichen Modeegoismus unserer Tage, und er zögerte nicht, seine Pflicht zu tun. Zu seinem Glücke war er kein bloßer Träumer, kein müßiger Dilettant. Wäre er dies gewesen, so hätte er gezögert wie Hamlet, und die Unentschlossenheit hätte seinen Willen gelähmt. Aber er war eine durch und durch praktische Natur. Das Leben bestand für ihn mehr im Handeln als im Denken. Er besaß das Seltenste auf Erden, gesunden Menschenverstand.
Die wilden, verworrenen Gefühle der vergangenen Nacht waren mittlerweile fast vollständig verschwunden und er blickte beinahe mit einem Gefühl der Scham auf seine tolle Wanderung von Straße zu Straße, auf den wütenden Aufruhr in seiner Seele zurück. Gerade die Wahrheit seiner Qualen ließ sie ihm jetzt unwirklich erscheinen. Er fragte sich verwundert, warum er so töricht gewesen sei, wegen des Unvermeidlichen zu toben und zu rasen. Die einzige Frage, die ihn jetzt zu quälen schien, war die Frage, wen er umbringen sollte; denn er war nicht blind für die Tatsache, daß der Mord wie die Religion der heidnischen Welt ebensogut ein Opfer braucht, wie ein Priester. Da er kein Genie war, hatte er keine Feinde, und er fühlte auch, daß es jetzt nicht an der Zeit wäre, irgendeine persönliche Antipathie oder Ranküne zu befriedigen. Die Aufgabe, die seiner harrte, war vielmehr von großem und tiefem Ernst. Er machte also auf einem Blatt Papier eine Liste seiner Freunde und Verwandten und nach langer Überlegung entschied er sich für Lady Clementina Beauchamp, eine gute alte Dame, die in Curson Street wohnte und die mütterlicherseits seine Gliedcousine war. Er hatte Lady Clem, wie man sie zu nennen pflegte, immer sehr gern gehabt, und da er selbst sehr wohlhabend war – er hatte bei seiner Volljährigkeit den ganzen Besitz Lord Rugbys geerbt – so war für ihn keine Möglichkeit, aus ihrem Tod gemeinen pekuniären Vorteil zu ziehen. Je mehr er über die Sache nachdachte, desto mehr schien sie ihm die richtige zu sein, und da er fühlte, daß jeder Aufschub ungerecht gegen Sybil sein könnte, so entschloß er sich sofort, seine Vorbereitungen zu treffen.
Zu allererst mußte natürlich die Angelegenheit mit dem Chiromantisten geordnet werden, er setzte sich also an einen kleinen Sheratonschreibtisch, der am Fenster stand, und schrieb einen Scheck auf hundertfünf Pfund, zahlbar zu Herrn Septimus Podgers Händen, schob den Wechsel in einen Umschlag und gab seinem Diener den Auftrag, den Brief nach der West Moon Street zu bringen. Er telephonierte nach dem Stall um einen Wagen und zog sich zum Ausgehen an. Bevor er das Zimmer verließ, warf er noch einen Blick auf Sybil Mertons Bild und schwor sich zu, daß, was immer auch kommen möge, er sie nie wissen lassen würde, was er jetzt um ihretwillen tue; er würde das Geheimnis seiner Selbstaufopferung immer in seinem Herzen verborgen halten.
Auf dem Wege zu seinem Klub blieb er bei einem Blumenladen stehen und schickte Sybil einen wundervollen Korb mit Narzissen, mit entzückenden weißen Blütenblättern und stieren Fasanenaugen. Als er in seinem Klub ankam, ging er sofort in die Bibliothek, schellte dem Diener und ließ sich eine Sodalimonade und ein Buch über Toxikologie bringen. Er war mit sich vollkommen darüber einig, daß Gift das beste Mittel für sein schwieriges Unternehmen sei. Jede persönliche Gewaltanwendung widerstrebte ihm durchaus, und überdies wollte er Lady Clementina entschieden nicht auf eine Weise umbringen, die öffentliche Aufmerksamkeit erregen konnte. Der Gedanke, bei Lady Windermeres Empfängen als Löwe herumgereicht zu werden, oder seinen Namen in den Spalten gemeiner Tagesblätter zu finden, war ihm ein Greuel. Überdies mußte er an Sybils Eltern denken, die ziemlich altmodische Leute waren und sich vielleicht der Heirat widersetzen könnten, wenn es jetzt irgendeinen Skandal gab; andererseits war er ganz sicher, daß, wenn sie den wahren Tatbestand kennten, sie sogleich die Motive, die ihn zur Tat getrieben hatten, würdigen würden. Alles war also dazu angetan, ihn zur Wahl von Gift zu bestimmen. Das war sicher, ruhig und unfehlbar, und man vermied so alle peinlichen Szenen, gegen die er, wie die meisten Engländer, eine tiefgewurzelte Abneigung hatte.
Was aber die Giftkunde betraf, so waren seine Kenntnisse gleich Null, und da der Diener in der Bibliothek gar nichts finden konnte als Ruffs Führer und Bailys Magazine, schaute er selbst in den Bücherstellen nach und erwischte endlich eine hübsch gebundene Ausgabe der Pharmacopoeia und ein Exemplar von Erskines Toxikologie, herausgegeben von Sir Mathew Reid, dem Präsidenten der Königlichen Gesellschaft der Ärzte und einem der ältesten Mitglieder des Klubs, in den er irrtümlich an Stelle eines andern ausgenommen worden war; ein Contretemps, der das Komitee so geärgert hatte, daß, als der richtige Mann erschien, sie ihn einstimmig durchfallen ließen. Lord Artur kannte sich in den technischen Ausdrücken der beiden Bücher gar nicht aus und begann bitter zu bedauern, daß er in Oxford nicht fleißiger die klassischen Sprachen studiert hatte, als er im zweiten Bande von Erskine einen sehr interessanten und vollständigen Bericht über die Eigenschaften des Akonits fand, der in ziemlich klarem Englisch geschrieben war. Das schien just das Gift zu sein, das er brauchte. Es wirkte schnell, seine Wirkung war blitzartig, es wirkte vollkommen schmerzlos, und wenn man es in einer Gelatinekapsel nahm, wie dies Sir Mathew empfahl, schmeckte es keineswegs unangenehm. Er machte also eine Notiz auf seiner Manschette bezüglich der Höhe der nötigen Dosis, stellte die Bücher auf ihren Platz zurück und schlenderte in die St. James Street zu Pestle und Humbeys, dem großen Chemikaliengeschäft. Herr Pestle, der die Aristokratie immer selbst bediente, war einigermaßen überrascht über die Bestellung und murmelte in sehr untertäniger Weise etwas über die Notwendigkeit eines ärztlichen Zeugnisses. Als ihm aber Lord Artur erklärte, daß er das Gift für eine große nordische Dogge brauche, die er töten müsse, weil sie Zeichen beginnender Tollwut zeige und den Kutscher bereits zweimal in die Wade gebissen habe, war er vollkommen befriedigt, beglückwünschte Lord Artur zu seinen ausgezeichneten Kenntnissen in der Toxikologie und ließ das Gewünschte sofort bereiten.
Lord Artur legte die Kapsel in eine hübsche kleine Silberbonbonniere, die er in Bond Street in einer Auslage sah, warf die häßliche Pillenschachtel von Pestle und Humbey weg und fuhr sofort zu Lady Clementina.
»Ei, Monsieur le mauvais sujet!« rief die alte Dame, als er ins Zimmer trat. »Warum haben Sie sich die ganze Zeit denn gar nicht blicken lassen?«
»Meine teure Lady Clem, ich hatte wirklich keinen Augenblick Zeit«, sagte Lord Artur und lächelte.
»Sie wollen damit sagen, daß Sie den ganzen Tag herumlaufen, um mit Sybil Merton Einkäufe zu machen und Unsinn zu reden. Ich verstehe nicht, warum die Leute solchen Spektakel machen, wenn sie heiraten. Zu meiner Zeit dachte kein Mensch daran, aus diesem Anlaß öffentlich oder heimlich zu girren und zu schnäbeln.«
»Ich versichere Ihnen, ich habe Sybil seit vierundzwanzig Stunden nicht gesehen, Lady Clem. Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, ist sie ganz und gar in den Händen ihrer Schneiderin.«
»Natürlich. Das ist auch der einzige Grund, warum Sie einer alten, häßlichen Frau, wie ich bin, einen Besuch machen. Warum doch die Männer es sich nicht gesagt sein lassen? On a fait des folies pour moi. Und da sitze ich nun, ein armes rheumatisches Wesen mit einem falschen Scheitel und in schlechter Laune. Wahrhaftig, wenn mir nicht die liebe Lady Jansen die schlechtesten französischen Romane schicken würde, die sie auftreiben kann, ich wüßte nicht, was ich mit dem Tag anfangen sollte. Ärzte taugen gar nichts. Sie können nur Geld aus einem pressen. Nicht einmal mein Sodbrennen können sie heilen.«
»Ich habe Ihnen ein Mittel dagegen mitgebracht, Lady Clem«, sagte Lord Artur ernst. »Ein ganz ausgezeichnetes Mittel. Ein Amerikaner hat es erfunden.«
»Wissen Sie, ich liebe amerikanische Erfindungen nicht sehr. Ganz und gar nicht. Ich habe unlängst einige amerikanische Romane gelesen, und das war der reine Unsinn.«
»Oh, aber dieses Mittel ist durchaus nicht unsinnig, Lady Clem. Ich versichere Ihnen, es wirkt außerordentlich. Sie müssen mir versprechen, es zu versuchen.« Und Lord Artur zog die kleine Büchse aus der Tasche und übergab sie ihr.
»Die Büchse ist wirklich reizend, Artur. Ist das ein Geschenk? Das ist aber lieb von Ihnen. Und das ist das Wundermittel? Es sieht aus wie ein Bonbon. Ich werde es gleich nehmen.«
»Großer Gott, Lady Clem«, rief Lord Artur und hielt ihre Hand fest, »tun Sie das nicht. Es ist ein homöopathisches Mittel. Wenn Sie es nehmen, ohne Sodbrennen zu haben, kann es Ihnen nur schaden. Sie müssen warten, bis Sie einen Anfall haben, und dann nehmen Sie es. Der Erfolg wird Sie überraschen.«
»Ich möchte es aber gleich nehmen«, sagte Lady Clementina und hielt die kleine, durchsichtige Kapsel mit dem darin schwankenden Tropfen Akonit zum Licht. »Es schmeckt gewiß ausgezeichnet. Wissen Sie, Doktoren hasse ich, aber einnehmen tue ich ganz gern. Also meinetwegen, ich werde mir's aufheben bis zum nächsten Anfall.«
»Und wann wird der sein?« fragte Lord Artur eifrig. Bald?«
»Ich hoffe, daß ich diese Woche verschont bleiben werde. Gestern früh ging es mir sehr schlecht. Aber man weiß ja nie.«
»Aber Sie werden gewiß einen Anfall vor Ende des Monats haben, Lady Clem?«
»Das befürchte ich leider. Aber wie lieb Sie heute sind, Artur! Sybil hat wirklich einen sehr guten Einfluß auf Sie geübt. Jetzt aber müssen Sie gehen, denn ich habe einige sehr langweilige Leute zum Essen eingeladen, die gar nicht klatschen, und ich weiß, daß, wenn ich jetzt nicht mein Schläfchen mache, ich nicht imstande sein werde, während des Essens wach zu bleiben. Leben Sie wohl, Artur, grüßen Sie Sybil von mir und vielen Dank für das amerikanische Mittel.«
»Sie werden nicht vergessen, es zu nehmen, Lady Clem, nicht wahr?« sagte Lord Artur und stand von seinem Sitze auf.
»Gewiß nicht, mein Junge. Es war sehr nett von Ihnen, daß Sie an mich gedacht haben und ich werde Ihnen schreiben, wenn ich noch mehr davon benötige.«
Lord Artur verließ das Haus in froher Laune und mit dem Gefühl ungeheurer Erleichterung.
Am Abend hatte er eine Unterredung mit Sybil Merton. Er sagte ihr, daß er plötzlich in eine furchtbar schwierige Situation geraten sei und daß seine Ehre und seine Pflicht ihm keinen Rückzug gestatten. Er sagte ihr, daß die Hochzeit verschoben werden müsse, denn ehe er sich nicht aus seinen furchtbaren Verpflichtungen löse, sei er kein freier Mann. Er bat sie, ihm zu vertrauen und bezüglich der Zukunft keine Zweifel zu hegen. Alles käme zu seiner Zeit, aber jetzt bäte er sie um Geduld.
Das Gespräch fand im Wintergarten bei Mertons in Park Lane statt, wo Lord Artur wie gewöhnlich gegessen hatte. Sybil war ihm nie glückstrahlender erschienen, und einen Augenblick war Lord Artur versucht, feige zu sein, an Lady Clementina wegen der Pille zu schreiben und die Hochzeit vor sich gehen zu lassen, als ob es überhaupt keinen Menschen namens Podgers in der Welt gäbe. Aber sein besseres Ich gewann doch die Überhand, und selbst als Sybil sich ihm weinend in die Arme warf, wurde er nicht schwach. Die Schönheit, die seine Sinne erregte, rührte auch sein Gewissen. Er fühlte, daß es unrecht wäre, ein so herrliches Leben wegen des Genusses einiger Monate zu zerstören. Er blieb fast bis Mitternacht mit Sybil beisammen, tröstete sie und ließ sich von ihr trösten. Am nächsten Morgen reiste er nach Venedig, nachdem er in einem männlich entschlossenen Briefe Herrn Merton die nötige Verschiebung der Hochzeit mitgeteilt hatte.
In Venedig traf er seinen Bruder, Lord Surbiton, der eben in seiner Jacht von Korfu herübergekommen war. Die beiden jungen Leute verbrachten zwei wundervolle Wochen zusammen. Des Morgens ritten sie auf dem Lido oder glitten in ihrer schwarzen Gondel die grünen Kanäle auf und ab. Am Nachmittag empfingen sie Besuche auf ihrer Jacht. Und am Abend aßen sie bei Florian und rauchten ungezählte Zigaretten auf der Piazza. Aber Lord Artur war nicht glücklich. Jeden Tag studierte er die Totenliste in der Times, immer in der Erwartung, auf die Nachricht von Lady Clementinens Tod zu stoßen, und jeden Tag wurde er enttäuscht. Er begann zu fürchten, daß ihr irgendein Unfall zugestoßen sei, und bedauerte oft, daß er sie gehindert habe, das Akonit zu nehmen, als sie so neugierig war, die Wirkung des Mittels zu erproben. Auch Sybils Briefe, so voll von Liebe, Vertrauen und Zärtlichkeit sie auch waren, klangen oft sehr traurig im Ton, und manchmal war ihm zumute, als sei er von ihr für ewig geschieden.
Nach vierzehn Tagen hatte Lord Surbiton von Venedig genug und beschloß, längs der Küste nach Ravenna zu fahren, da er gehört hatte, es gäbe dort wundervolle Wasserhühner zu schießen. Lord Artur wollte zuerst absolut nicht mit, aber Surbiton, den er sehr gern hatte, überzeugte ihn schließlich, daß er, wenn er allein bei Danieli bliebe, sich unfehlbar zu Tode mopsen würde, und so fuhren sie denn am Morgen des 15. ab, mit einem kräftigen Nordost in den Segeln und bei ziemlich rauher See. Die Jagd war ausgezeichnet und das Leben in freier Luft färbte wieder Lord Arturs Wangen; aber um den 22. herum wurde er wieder ängstlich wegen Lady Clementina und trotz Surbitons Vorstellungen reiste er mit der Bahn nach Venedig zurück.
Als er bei den Stufen des Hotels aus der Gondel stieg, kam ihm der Hotelwirt mit einem Haufen Telegramme entgegen. Lord Artur riß sie ihm aus der Hand und brach sie auf. Alles war nach Wunsch gegangen. Lady Clementina war ganz plötzlich in der Nacht des 17. gestorben.
Sein erster Gedanke galt Sybil, und er depeschierte ihr, daß er sofort nach London zurückkehre. Dann befahl er feinem Kammerdiener, alles für den Nachtzug einzupacken, schickte den Gondoliers etwa das Fünffache ihrer Taxe und eilte leichtfüßig und frohen Herzens auf sein Zimmer. Dort erwarteten ihn drei Briefe. Der eine war von Sybil selbst, voll Sympathie und Teilnahme, die anderen waren von seiner Mutter und von Lady Clementinens Anwalt. Es schien, daß die alte Dame noch am Abend mit der Herzogin gespeist hatte; sie entzückte alle Welt mit ihrem Witz und ihrem Geist, ging aber frühzeitig nach Hause, weil sie über Sodbrennen klagte. Des Morgens fand man sie tot in ihrem Bette. Sie hatte offenbar gar keine Schmerzen erduldet. Man schickte sofort nach Sir Mathew Reid, aber es war natürlich nichts mehr zu machen, und sie sollte am 22. in Beauchamp Chalcote begraben werden. Einige Tage vor ihrem Tode hatte sie ihr Testament gemacht. Sie hinterließ Lord Artur ihr kleines Haus in Curson Street mit seiner ganzen Einrichtung, mit ihrem ganzen persönlichen Besitz und allen Bildern; nur ihre Miniaturensammlung nahm sie aus, die sie ihrer Schwester Lady Margaret Ruffort vermachte, und ihr Amethystenkollier, das Sybil Merton erhalten sollte. Der Besitz hatte keinen großen Wert. Aber Herr Mansfield, der Anwalt, drängte darauf, daß Lord Artur so rasch als möglich heimkehre, da eine ganze Menge Rechnungen zu bezahlen wären und Lady Clementina nie rechte Ordnung in ihren Geschäften eingehalten hätte.
Lord Artur war sehr gerührt, daß Lady Clementina so gütig seiner gedacht habe, und er fühlte, daß Herr Podgers viel zu verantworten habe. Aber seine Liebe zu Sybil brachte jedes andere Gefühl zum Schweigen, und das Bewußtsein, daß er seine Pflicht getan, gab ihm Ruhe und Frieden. Als er in Charingcroß ankam, fühlte er sich ganz glücklich. Die Mertons empfingen ihn sehr liebenswürdig. Sybil ließ sich von ihm hoch und heilig versprechen, daß nun nichts mehr dazwischen kommen würde. Die Hochzeit wurde für den 7. Juni festgesetzt. Das Leben schien ihm noch einmal so hell und schön, und sein alter Frohsinn kehrte wieder bei ihm ein.
Aber eines Tages ging er mit Lady Clementinens Anwalt und Sybil in das Haus in der Curson Street hinüber. Er verbrannte Pakete verblaßter Briefe und kramte aus Schubladen allerhand merkwürdiges Zeug. Plötzlich schrie das junge Mädchen ganz entzückt auf.
»Was hast du gefunden, Sybil?« sagte Lord Artur und hielt in seiner Arbeit inne.
»Diese entzückende kleine Silberbonbonniere, Artur. Ist sie nicht reizend? Holländisch, nicht wahr? Sei so gut und gib sie mir. Ich weiß ja doch, daß mir Amethyste nicht stehen werden, ehe ich nicht über achtzig bin.«
Es war das Büchslein, in dem das Akonit enthalten gewesen war.
Lord Artur schrak zusammen, und ein schwaches Rot stieg in seine Wangen. Er hatte fast völlig vergessen, was er getan, und es schien ihm ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß Sybil, um derentwillen er all die furchtbare Angst durchgemacht, nun die erste war, die ihn an die ganze Sache erinnerte.
»Natürlich kannst du es haben, Sybil. Ich habe es selbst Lady Clem geschenkt.«
»Oh, ich danke dir, Artur. Und nicht wahr, ich darf das Bonbon auch haben. Ich wußte gar nicht, daß Lady Clementina Süßigkeiten gern hatte. Ich glaubte immer, sie sei dazu viel zu vernünftig.«
Lord Artur wurde totenbleich und ein furchtbarer Gedanke durchkreuzte sein Gehirn.
»Ein Bonbon, Sybil, – wie meinst du?« sagte er mit leiser, heiserer Stimme.
»Es ist nur eines im Büchschen, ein einziges. Aber es sieht schon ganz alt und staubig aus und ich habe nicht die geringste Absicht, es zu essen. Was ist dir denn, Artur, du bist ja ganz bleich!«
Lord Artur schoß quer durch das Zimmer und ergriff das Büchschen. Darinnen lag die bernsteinfarbene Kapsel mit dem Gifttropfen. Lady Clementina war also doch eines natürlichen Todes gestorben.
Die Überraschung traf ihn allzu heftig. Er warf die Kapsel ins Feuer und sank mit einem verzweifelten Schrei aufs Sofa.
Herr Merton war einigermaßen unwillig, als er von einer zweiten Verschiebung der Hochzeit hörte und Lady Julia, die bereits ihre Toilette für die Hochzeit bestellt hatte, tat alles, was in ihrer Macht lag, um Sybil zu bewegen, das Verlöbnis rückgängig zu machen. So sehr aber Sybil ihre Mutter liebte, ihr Leben lag nun einmal in Lord Arturs Hand und nichts, was Lady Julia auch sagen konnte, erschütterte ihren Glauben. Was aber Lord Artur selbst betrifft, so brauchte er Tage, bis er über die furchtbare Enttäuschung kam, und eine Zeitlang waren seine Nerven total erschöpft. Aber sein ausgezeichneter Menschenverstand machte sich bald geltend, und ein gesunder praktischer Sinn ließ ihn nicht lange darüber im Zweifel, was nun zu tun sei. Da er mit dem Gift einen vollkommenen Mißerfolg gehabt hatte, so mußte er es jetzt offenbar mit Dynamit oder einem anderen Explosivstoff versuchen.
Er sah also nochmals die Liste seiner Freunde und Verwandten durch, und nach sorgfältiger Überlegung entschloß er sich, seinen Onkel, den Dechanten von Chichester, in die Luft zu sprengen. Der Dechant, ein hochgebildeter und sehr gelehrter Mann, war ein großer Liebhaber von Uhren und besaß eine wundervolle Uhrensammlung (vom fünfzehnten Jahrhundert bis auf den heutigen Tag), und Lord Artur glaubte nun, daß dieses Steckenpferd des guten Dechanten ihm eine ausgezeichnete Gelegenheit biete, seinen Plan auszuführen. Wie und woher sich eine Höllenmaschine schaffen, das war freilich eine andere Sache. Im Londoner Adreßbuch fand er keine Bezugsquelle angegeben und er fühlte, daß es ihm wenig nützen würde, sich an die Polizeidirektion zu wenden, da man dort über die Bewegungen der Dynamitpartei immer erst nach einer Explosion etwas zu erfahren schien und auch dann noch herzlich wenig.
Plötzlich dachte er an seinen Freund Rouvaloff, einen jungen Russen von höchst revolutionärer Gesinnung, den er bei Lady Windermere im Laufe des Winters getroffen hatte. Es hieß, daß Graf Rouvaloff eine Geschichte Peters des Großen schreibe und daß er nach England gekommen sei, um die Dokumente zu studieren, die sich auf den Aufenthalt des Zaren als Schiffszimmermeister in diesem Lande beziehen. Aber man glaubte allgemein, daß er ein nihilistischer Agent sei, und zweifellos war seine Gegenwart in London der russischen Gesandtschaft nicht sehr angenehm. Lord Artur fühlte, daß das gerade der Mann sei, den er brauche, und so fuhr er denn eines Morgens zu ihm nach Bloomsbury, um von ihm Rat und Hilfe zu erbitten.
»Sie wollen sich also ernstlich mit Politik beschäftigen?« sagte Graf Rouvaloff, als Lord Artur ihm seinen Wunsch vorgetragen hatte. Aber Lord Artur, der jede Prahlerei haßte, fühlte sich verpflichtet, mitzuteilen, daß er nicht das geringste Interesse für soziale Fragen habe und die Höllenmaschine bloß für eine Familienangelegenheit brauche, die nur ihn allein angehe.
Graf Rouvaloff sah ihn einige Augenblicke verblüfft an; als er aber dann merkte, daß er ganz im Ernst spreche, schrieb er eine Adresse auf ein Stück Papier, setzte seinen Namen darunter und reichte es ihm dann über den Tisch hinüber.
»Die Polizei würde Ihnen ein hübsches Geld bezahlen, um diese Adresse zu erfahren, mein lieber Freund.«
»Aber sie soll sie nicht kriegen«, lachte Lord Artur. Er schüttelte dem Russen warm die Hand, lief die Treppe hinunter und nachdem er einen Blick auf das Papier geworfen hatte, befahl er dem Kutscher, nach Soho Square zu fahren.
Dort schickte er den Wagen weg und ging die Greek Street hinunter, bis er zu einem Platze kam, namens Bayles Court. Er ging unter dem Torweg durch und befand sich in einer merkwürdigen Sackgasse, wo sich offenbar eine Wäscherei befand, denn ein Netzwerk von Zeugleinen war von Haus zu Haus gespannt, und weiße Wäsche flatterte in der Morgenluft. Er ging bis zum Ende der Sackgasse und klopfte an ein kleines, grünes Haus. Nach einiger Zeit, während welcher in jedem Fenster des Hofes ein dichter Haufen neugieriger Gesichter erschien, wurde die Tür von einem grobzügigen Ausländer geöffnet, der ihn in einem sehr schlechten Englisch fragte, was er wünsche. Lord Artur reichte ihm das Papier, das Graf Rouvaloff ihm gegeben hatte. Als der Mann es sah, verbeugte er sich tief und bat Lord Artur, in einen sehr schäbigen Salon zu ebener Erde einzutreten; einige Minuten später trat geschäftig Herr Winckelkopf, wie er in England genannt wurde, ins Zimmer, mit einer sehr fleckigen Serviette um den Hals und einer Gabel in der linken Hand.
»Graf Rouvaloff hat mir eine Empfehlung an Sie gegeben«, sagte Lord Artur mit einer leichten Verbeugung. »Und ich möchte gerne in einer Geschäftsangelegenheit eine kurze Unterredung mit Ihnen haben. Mein Name ist Smith, Robert Smith, und ich möchte mir bei Ihnen eine Explosionsuhr verschaffen.«
»Es freut mich sehr, Sie zu sehen, Lord Artur«, sagte der muntere kleine Deutsche lachend, »blicken Sie nicht so bestürzt drein. Es ist meine Pflicht, jedermann zu kennen und ich erinnere mich, Sie eines Abends bei Lady Windermere gesehen zu haben. Ich hoffe, daß die Gnädige sich wohl befindet. Wollen Sie mir nicht das Vergnügen machen, mir Gesellschaft zu leisten, indes ich mein Frühstück beende? Es gibt eine wundervolle Pastete und meine Freunde behaupten, daß mein Rheinwein besser ist, als irgendein Tropfen auf der deutschen Botschaft.«
Und ehe Lord Artur seine Überraschung, erkannt worden zu sein, überwunden hatte, saß er schon im Hinterzimmer, schlürfte den köstlichsten Markobrunner aus einem blaßgelben Römer mit dem kaiserlichen Monogramm und plauderte in der freundlichsten Weise mit dem berühmten Verschwörer.
»Explosionsuhren«, sagte Herr Winckelkopf, »eignen sich nicht sehr für den Export ins Ausland. Selbst wenn es ihnen gelingt, den Zoll zu passieren, ist der Bahndienst so unregelmäßig, daß sie gewöhnlich losgehen, bevor sie ihre Bestimmung erreicht haben. Wenn Sie aber so etwas für eigenen Bedarf nötig haben, so kann ich mit einem ausgezeichneten Mittel dienen und garantiere Ihnen, daß Sie mit der Wirkung zufrieden sein werden. Darf ich fragen, für wen das Ding bestimmt ist? Sollte es für die Polizei bestimmt sein oder für irgend jemand, der mit der Polizeidirektion in Verbindung steht, so kann ich zu meinem großen Leidwesen nichts für Sie tun. Die englischen Detektivs sind in der Tat unsere besten Freunde, und ich habe immer gefunden, daß wir tun können, was wir wollen, wenn wir uns nur auf ihre Dummheit verlassen. Ich möchte keinen von ihnen missen.«
»Ich versichere Ihnen,« sagte Lord Artur, »daß die Sache mit der Polizei nicht das geringste zu schaffen hat. Die Uhr ist für den Dechanten von Chichester bestimmt.«
»O du meine Güte! Ich dachte gar nicht daran, daß Sie bezüglich der Religion so schroffe Ansichten hätten. Wenige junge Leute denken heute so.«
»Ich fürchte, Sie überschätzen mich, Herr Winckelkopf,« sagte Lord Artur und errötete. »Ich kümmere mich gar nicht um theologische Dinge.«
»So handelt es sich um eine reine Privatsache?«
»Eine reine Privatsache!«
Herr Winckelkopf zuckte die Achseln, verließ das Zimmer und kam nach einigen Minuten zurück mit einer runden Dynamitpatrone in der Größe eines Pennystückes und einer hübschen, kleinen, französischen Uhr, auf der eine vergoldete Figur der Freiheit stand, die ihren Fuß auf die Hydra des Despotismus setzte.
Lord Arturs Gesicht leuchtete auf, als er die Uhr sah. »Das ist gerade, was ich brauche. Nun sagen Sie mir nur, wie die Geschichte losgeht.«
»Ah, das ist mein Geheimnis«, sagte Herr Winckelkopf, indem er seine Erfindung mit einem Blick gerechten Stolzes betrachtete. »Sagen Sie mir nur, wann Sie wünschen, daß die Uhr explodieren soll, und ich werde die Maschine einstellen.«
»Also heute ist Dienstag, und wenn Sie die Uhr gleich wegschicken können –«
»Das ist unmöglich. Ich habe für einige Freunde in Moskau sehr viele wichtige Sachen zu erledigen. Aber ich kann sie morgen wegschicken.«
»Oh, das ist Zeit genug«, sagte Lord Artur höflich. »Dann wird sie morgen abend oder Donnerstag früh zugestellt. Was den Moment der Explosion betrifft, so sagen wir Freitag punkt Mittag. Um diese Stunde ist der Dechant immer zu Hause.«
»Freitag mittag«, wiederholte Herr Winckelkopf und machte eine Notiz in ein großes Hauptbuch, das auf einem Schreibtisch beim Kamine lag.
»Und nun lassen Sie mich wissen«, sagte Lord Artur und stand von seinem Sitze auf, »was ich Ihnen schuldig bin.«
»Es ist eine solche Kleinigkeit, Lord Artur, daß ich nichts daran verdienen will. Das Dynamit kommt auf sieben Sixpence, die Uhr macht drei Pfund zehn, Emballage und Porto fünf Schilling. Es ist mir nur ein Vergnügen, einem Freund des Grafen Rouvaloff einen Gefallen zu erweisen.«
»Und Ihre Mühe, Herr Winckelkopf?«
»O das ist nichts. Es ist mir wirklich ein Vergnügen. Ich arbeite nicht für Geld. Ich lebe nur für meine Kunst.«
Lord Artur legte vier Pfund, zwei Schilling und sechs Pence auf den Tisch, dankte dem kleinen deutschen Herrn für seine Güte und nachdem es ihm gelungen war, eine Einladung zu einem kleinen Anarchistentee für den nächsten Sonnabend abzulehnen, verließ er das Haus und ging in der Richtung des Parks.
In den nächsten zwei Tagen war er in einem Zustand höchster Aufregung, und Freitag um zwölf Uhr fuhr er in seinen Klub hinunter, um auf Nachrichten zu warten. Den ganzen Nachmittag schlug der dumme Portier Telegramme aus allen Teilen des Landes an, mit den Resultaten der Pferderennen, Urteilen in Ehescheidungssachen, dem Wetterstand und ähnlichem, indes auf dem schmalen Band im Telegraphenapparat langweilige Details über eine Nachtsitzung im Unterhause und eine kleine Panik auf der Börse erschienen. Um vier Uhr kamen die Abendblätter, und Lord Artur verschwand in der Bibliothek mit der Pall Mall, der St. James Gazette, dem Globus und dem Echo unter dem Arm, zur ungeheueren Entrüstung des Kolonel Goodchild, der den Bericht über die Rede lesen wollte, die er diesen Morgen im Mansion House gehalten (über das Thema der südafrikanischen Missionen und über die Zweckmäßigkeit, schwarze Bischöfe in jeder Provinz zu haben), und der aus irgendeinem Grunde ein tiefes Vorurteil gegen die Abendblätter hatte. Aber keine der Zeitungen enthielt die geringste Anspielung auf Chichester und Lord Artur fühlte, daß das Attentat mißlungen sein müsse. Das war ein furchtbarer Schlag für ihn, und eine Zeitlang fühlte er sich ganz niedergedrückt. Herr Winckelkopf, den er am nächsten Tage aufsuchte, strömte von Entschuldigungen über und bot ihm zum Ersatz eine andere Uhr an, ganz kostenlos, oder eine Schachtel mit Nitroglyzerinbomben zum Selbstkostenpreis. Aber Lord Artur hatte alles Vertrauen in die Sprengstoffe verloren, und Herr Winckelkopf selbst gab zu, daß heutzutage alles so gefälscht werde, daß man selbst Dynamit kaum in gutem Zustande erhalten könne. Der kleine deutsche Herr räumte zwar ein, daß etwas in der Maschinerie nicht gestimmt haben müsse, aber er gab die Hoffnung doch nicht auf, daß die Uhr noch losgehen könnte und zitierte als Beispiel einen Barometer, den er einmal an den militärischen Gouverneur von Odessa geschickt habe und der gestellt war, in zehn Tagen zu explodieren, aber erst nach etwa drei Monaten losging. Allerdings wurde, als der Barometer endlich losging, nur ein Hausmädchen in Stücke zerrissen. Der Gouverneur hatte die Stadt seit sechs Wochen bereits verlassen. Aber es wurde dabei doch wenigstens offenbar, daß Dynamit als zerstörende Kraft unter der Kontrolle der Maschine ein mächtiger, wenn auch etwas unpünktlicher Faktor ist. Lord Artur war durch diese Bemerkung einigermaßen getröstet, aber auch hier drohte ihm bald die Enttäuschung, denn als er zwei Tage später die Treppe hinaufstieg, rief ihn die Herzogin in ihr Boudoir und zeigte ihm einen Brief, den sie eben aus der Dechanei erhalten habe.
»Jane schreibt entzückende Briefe«, sagte die Herzogin. »Du mußt wirklich ihren letzten lesen. Er ist genau so gut wie die Romane, die wir aus der Leihbibliothek bekommen.«
Lord Artur nahm den Brief aus ihrer Hand. Er lautete folgendermaßen:
»Dechanei, Chichester,
27. Mai.
Teuerste Tante!
Ich danke Dir vielmals für den Flanell für die Dorcas-Gesellschaft und auch für das Baumwollzeug. Ich bin ganz Deiner Meinung und finde auch, daß es Unsinn ist, wenn die Leute hübsche Sachen tragen wollen, aber jedermann ist heute so radikal und unreligiös, daß es schwer ist, ihnen begreiflich zu machen, es sei nicht passend, daß sie sich so kleiden, wie die besseren Leute. Ich weiß wirklich nicht, wohin wir noch kommen werden. Wie Papa so oft in seinen Predigten sagt, wir leben in einer Zeit des Unglaubens.
Wir haben großen Spaß gehabt mit einer Uhr, die ein unbekannter Verehrer am letzten Donnerstag Papa geschickt hat. Sie kam in einer frankierten Holzschachtel aus London. Und Papa meint, der Absender müsse jemand sein, der seine bemerkenswerte Predigt: Ist Zügellosigkeit Freiheit? gelesen hat, denn auf der Uhr stand die Figur eines Frauenzimmers, und Papa sagte, daß sie die Freiheitsmütze auf dem Kopfe trage. Ich fand die Figur nicht gerade sehr passend, aber Papa sagte, sie sei historisch, und so war wohl alles in Ordnung. Parker packte die Uhr aus, und Papa stellte sie auf den Kaminsims in dem Bibliothekszimmer. Dort saßen wir alle Freitag vormittag und just, wie die Uhr zwölf schlug, hörten wir ein schnurrendes Geräusch. Eine kleine Rauchwolke kam aus dem Postament der Figur und die Göttin der Freiheit fiel herunter und ihre Nase zerbrach am Kaminvorsetzer. Marie war ganz außer sich, aber die Sache war so komisch, daß James und ich in Lachen ausbrachen und auch Papa seinen Spaß daran hatte. Als wir die Geschichte näher untersuchten, fanden wir, es sei eine Art von Weckuhr. Wenn man sie auf eine bestimmte Stunde richtet, ein bißchen Schießpulver und ein Zündhütchen unter einen kleinen Hammer legt, so geht sie los, wann man will. Papa sagte, sie dürfe nicht in dem Bibliothekszimmer bleiben, weil sie zu viel Lärm mache. So nahm sie Reinhold mit ins Schulzimmer und machte dort den ganzen Tag nichts wie kleine Explosionen. Glaubst Du, daß Artur sich mit solch einer Uhr als Hochzeitsgeschenk freuen würde? Ich glaube, daß diese Uhren in London jetzt in Mode sind. Papa meint, daß sie sehr viel Gutes stiften könnten, denn sie zeigen, daß die Freiheit keinen Bestand hat, sondern fallen muß. Papa sagt, daß die Freiheit zur Zeit der französischen Revolution erfunden worden ist. Wie schrecklich!
Ich gehe jetzt in die Dorcas-Gesellschaft, wo ich den Leuten Deinen sehr lehrreichen Brief vorlesen werde. Wie wahr, liebe Tante, ist doch Dein Gedanke, daß sie in ihrer Lebensstellung keine gut sitzenden Kleider zu tragen brauchen. Ich muß wirklich sagen, daß ihre Sorge für die Kleidung einfach unsinnig ist, da es doch so viele wichtigere Dinge gibt, sowohl in dieser Welt wie in jener. Ich freue mich sehr, daß der geblümte Poplin so gut aushielt und daß Deine Spitzen nicht zerrissen sind. Ich werde jetzt meine gelbe Seide tragen, die Du so lieb warst mir zu schenken, bei Bischofs am Mittwoch, und ich glaube, sie wird sich sehr gut machen. Meinst Du, daß ich Schleifen nehmen soll oder nicht? Jennings sagt, daß jetzt alle Welt Schleifen trägt, und daß der Jupon plissiert sein müsse. Gerade hat Reinhold wieder eine Explosion gemacht, und Papa hat befohlen, daß man die Uhr in den Stall schaffen müsse. Ich glaube, daß Papa sie nicht mehr so gern hat wie anfangs, obzwar er sich sehr geschmeichelt fühlt, daß man ihm solch ein hübsches und geistvolles Spielzeug geschickt hat. Es zeigt nur wieder, daß die Leute seine Predigten lesen und Nutzen daraus ziehen.
Papa schickt beste Grüße, ebenso James, Reinhold und Maria. Ich hoffe, daß es Onkel Cecil mit seiner Gicht besser geht und bleibe, teure Tante, Deine Dich innigst liebende Nichte
Jane Percy.
P. S. Bitte sage mir Deine Meinung bezüglich der Schleifen. Jennings bleibt dabei, daß sie Mode sind.«
Lord Artur blickte so ernst und trostlos auf den Brief, daß die Herzogin in Lachen ausbrach.
»Mein lieber Artur,« rief sie, »ich werde dir nie wieder Briefe von jungen Damen zeigen. Was soll ich aber von der Uhr sagen? Das ist eine hübsche Erfindung, ich möchte auch so etwas haben.«
»Ich halte nicht viel davon«, sagte Lord Artur mit einem traurigen Lächeln, küßte seiner Mutter die Hand und verließ das Zimmer.
Als er oben in seinem Zimmer angekommen war, warf er sich auf das Sofa, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er hatte getan, was in seinen Kräften stand, um den Mord zu begehen, aber beide Male war es ihm mißlungen und nicht durch seine Schuld. Er hatte versucht, seine Pflicht zu tun, aber es schien, als ob das Schicksal treulos an ihm handle. Ihn bedrückte das Gefühl, daß gute Vorsätze nutzlos waren, daß jeder Versuch, korrekt zu sein, vergeblich war. Vielleicht wäre es besser, das Verlöbnis ein für allemal zurückgehen zu lassen. Sybil würde gewiß leiden, aber Leid konnte einer so edlen Natur, wie es die ihre war, nichts anhaben. Und er selbst? Was weiter? Es gibt immer einen Krieg, in dem ein Mann sterben kann, immer eine Sache, für die ein Mann sein Leben opfern kann, und da das Leben ihm keine Freude gab, so hatte der Tod keine Schrecken für ihn. Das Schicksal sollte nur seines Amtes walten. Er würde nichts tun, um es darin zu unterstützen.
Um einhalb sieben kleidete er sich an und ging in den Klub. Surbiton war da mit einer Menge junger Leute, und er mußte mit ihnen speisen. Ihr triviales Gespräch und die faulen Witze interessierten ihn nicht und wie der Kaffee aufgetragen wurde, erfand er eine Ausrede, um rasch fortzukommen. Als er den Klub verlassen wollte, übergab ihm der Portier einen Brief. Er war von Herrn Winckelkopf, der ihn einlud, ihn am nächsten Abend zu besuchen. Er wolle ihm einen Explosivschirm zeigen, der losging, sobald man ihn öffnete. Es war die letzte Erfindung und sie war eben aus Genf gekommen. Er riß den Brief in Stücke. Er war entschlossen, keine weiteren Versuche mehr zu machen. Dann ging er hinunter zum Themseufer und saß stundenlang am Flusse. Der Mond schaute durch eine Mähne lohfarbener Wolken, wie das Auge eines Löwen, und zahllose Sterne funkelten im weiten Raum wie Goldstaub, ausgestreut über eine purpurne Kuppel. Dann und wann stieß eine Barke hinaus in den trüben Strom und schwamm dahin mit der Flut, und die Eisenbahnsignale wechselten von grün zu rot, wenn die Züge kreischend über die Brücke liefen. Nach einiger Zeit schlug es zwölf Uhr vom hohen Westminsterturme, und bei jedem Tone der dröhnenden Glocke schien die Nacht zu zittern. Dann erloschen die Eisenbahnlichter, und nur eine einsame Lampe brannte weiter und glühte wie ein großer Rubin an einem Riesenmast, und der Lärm der Stadt wurde schwächer.
Um zwei Uhr stand er auf und ging in der Richtung nach Blackfriars. Wie unwirklich alles aussah! Wie glich doch alles einem seltsamen Traume! Die Häuser auf der anderen Seite des Flusses schienen aus der Finsternis herauszuwachsen. Es war, als hätten Silber und Schatten die Welt neu geformt. Die mächtige Kuppel der St.-Pauls-Kirche war durch die dunkle Luft anzusehen wie eine Wasserblase.
Als er sich der Nadel der Kleopatra näherte, sah er einen Mann über die Brüstung gebeugt, und als er näher kam, schaute der Mann auf und das Licht der Gaslaternen fiel voll auf sein Gesicht.
Es war Herr Podgers, der Chiromantist. Das fette, schlaffe Gesicht, die goldene Brille, das matte Lächeln, der sinnliche Mund waren nicht zu verkennen.
Lord Artur blieb stehen. Eine glänzende Idee ging ihm durch den Kopf, und leise trat er hinter Herrn Podgers. Im Nu hatte er ihn bei den Füßen gepackt und in die Themse geworfen. Ein rauher Fluch, ein schwerer aufklatschender Fall und alles war still. Lord Artur blickte ängstlich nach, aber er sah vom Chiromantisten nichts mehr als einen hohen Hut, der in einem Wirbel des mondbeschienenen Wassers tanzte. Nach einiger Zeit versank auch der Hut, und keine Spur von Mr. Podgers war mehr sichtbar. Einen Augenblick glaubte er zu sehen, wie die dicke, unförmige Gestalt aus dem Wasser nach der Treppe bei der Brücke griff, und eine furchtbare Angst, daß wieder alles mißlungen sei, kam über ihn, aber es stellte sich als eine bloße Einbildung heraus, die vorüberging, als der Mond hinter einer Wolke hervortrat. Endlich schien er erfüllt zu haben, was das Schicksal ihm bestimmte. Ein tiefer Seufzer der Erleichterung hob seine Brust, und Sybils Namen kam auf seine Lippen.
»Haben Sie etwas fallen gelassen, Herr?« sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm.
Er wandte sich um und sah einen Polizeimann mit einer Blendlaterne.
»Nichts von Bedeutung«, antwortete er lächelnd, rief einen vorüberfahrenden Wagen an, sprang hinein und befahl dem Kutscher, nach Belgrave-Square zu fahren.
Während der nächsten Tage schwankte er zwischen Hoffnung und Furcht. Es gab Augenblicke, wo er fast glaubte, Herr Podgers müsse jetzt ins Zimmer treten, und dann fühlte er wieder, daß das Schicksal nicht so ungerecht gegen ihn sein könne. Zweimal ging er zur Wohnung des Chiromantisten in der West Moon Street, aber er brachte es nicht über sich, die Glocke zu ziehen. Er sehnte sich nach Gewißheit und fürchtete sie gleichzeitig.
Endlich kam die Gewißheit. Er saß im Rauchzimmer seines Klubs und trank seinen Tee und hörte zerstreut zu, wie Surbiton vom letzten Couplet in der Gaiety erzählte, als der Diener mit den Abendblättern hereinkam. Er nahm die St.-James-Zeitung zur Hand und blätterte verdrossen darin, als eine merkwürdige Überschrift seinen Blick fesselte:
»Selbstmord eines Chiromantisten.«
Er wurde blaß vor Aufregung und begann zu lesen. Der Artikel lautete:
»Gestern früh um sieben Uhr ist der Körper des Herrn Septimus R. Podgers, des berühmten Chiromantisten, bei Greenwich, gerade gegenüber dem Shiphotel, ans Ufer gespielt worden. Der Unglückliche wurde seit einigen Tagen vermißt, und in chiromantistischen Kreisen war man seinetwegen in größter Besorgnis. Es ist anzunehmen, daß er infolge einer durch Überarbeitung erfolgten geistigen Störung den Selbstmord begangen hat, und in diesem Sinne hat sich auch die Totenschaukommission ausgesprochen. Mr. Podgers hatte soeben ein großes Werk über die menschliche Hand vollendet, das demnächst erscheinen und gewiß großes Aufsehen erregen wird. Der Verstorbene war 65 Jahre alt, und es scheint, daß er keine Verwandten hinterlassen hat.«
Lord Artur stürzte aus dem Klub, die Zeitung noch immer in der Hand, zur großen Verwunderung des Portiers, der ihn vergeblich aufzuhalten suchte, und fuhr sofort nach Parklane. Sybil sah ihn vom Fenster aus, und eine innerliche Stimme sagte ihr, daß er gute Nachrichten bringe. Sie lief hinunter, ihm entgegen, und wie sie sein Gesicht sah, wußte sie, daß alles gut stünde.
»Meine liebe Sybil,« rief Lord Artur, »wir heiraten morgen!«
»Du dummer Junge, und die Hochzeitskuchen sind noch nicht einmal bestellt«, sagte Sybil und lachte unter Tränen.
Als drei Wochen später die Hochzeit stattfand, war St. Peter gedrängt voll von einer wahren Horde eleganter Leute. Der Dechant von Chichester führte die heilige Handlung in eindrucksvollster Weise, und alle Welt war einig, daß man kein hübscheres Paar sehen könne als die Braut und den Bräutigam. Aber sie waren mehr als hübsch, denn sie waren glücklich. Keinen Augenblick bedauerte Lord Artur alles, was er um Sybils willen erlitten hatte, indes sie ihrerseits ihm das Beste gab, was eine Frau einem Mann geben kann – Anbetung, Zärtlichkeit und Liebe. Für sie beide hatte die Realität des Lebens seine Romantik nicht getötet. Sie fühlten sich immer jung.
Einige Jahre später, als ihnen bereits zwei schöne Kinder geboren waren, kam Lady Windermere zu Besuch nach Alton Priory, einem entzückenden alten Schloß, das der Herzog seinem Sohne zur Hochzeit geschenkt hatte. Und als sie eines Nachmittags mit Lady Artur unter einer Linde im Garten saß und zusah, wie das Büblein und das Mägdlein gleich munteren Sonnenstrahlen auf dem Rosenweg spielten, nahm sie plötzlich die Hände der jungen Frau in die ihren und sagte:
»Bist du glücklich, Sybil?«
»Teuerste Lady Windermere, natürlich bin ich glücklich. Sind Sie es nicht?«
»Ich habe keine Zeit, glücklich zu sein, Sybil. Ich habe immer den letzten Menschen gern, den man mir vorstellt. Aber es gilt als Regel bei mir, daß ich gleich von den Leuten genug habe, sobald ich sie näher kenne.«
»Und Ihre Löwen befriedigen Sie nicht mehr, Lady Windermere?«
»O Gott, nein. Löwen sind gerade gut genug für eine Saison. Sind einmal ihre Mähnen geschnitten, so sind sie die dümmsten Wesen auf Erden. Überdies benehmen sie sich sehr schlecht, wenn man nett zu ihnen ist. Erinnern Sie sich noch an den gräßlichen Herrn Podgers? Er war ein schrecklicher Schwindler. Natürlich ließ ich ihn nichts merken, und selbst wenn er Geld von mir borgte, verzieh ich ihm. Aber ich konnte es nicht leiden, daß er mir den Hof machte. Er hat es so weit gebracht, daß ich die Chiromantik hasse. Ich mache jetzt in Telepathie. Das ist viel amüsanter.«
»Sie dürfen hier nichts gegen die Chiromantik sagen, Lady Windermere. Das ist der einzige Gegenstand, auf den Artur nichts kommen läßt. Ich versichere Ihnen, daß es ihm damit vollkommen ernst ist.«
»Du meinst doch nicht etwa, Sybil, daß er wirklich daran glaubt?«
»So fragen Sie ihn doch selbst, Lady Windermere. Hier ist er.« Und Lord Artur kam den Garten herauf mit einem großen Strauß von gelben Rosen in der Hand, und seine zwei Kinder tanzten um ihn her.
»Lord Artur!«
»Ja, Lady Windermere.«
»Sie wollen mir doch nicht einreden, daß Sie wirklich an Chiromantik glauben?«
»Ganz gewiß«, antwortete der junge Mann lächelnd.
»Aber warum denn?«
»Weil ich der Chiromantik das ganze Glück meines Lebens verdanke«, murmelte er und warf sich in einen Korbsessel.
»Was verdanken Sie ihr, lieber Lord Artur?«
»Sybil«, antwortete er und überreichte seiner Frau die Rosen und schaute in ihre blauen Augen.
»Welch ein Unsinn!« rief Lady Windermere. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen solchen Unsinn gehört.«