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Kritik als Kunst.

Mit einigen Anmerkungen über die Wichtigkeit allesumfassender Erörterung.

Ein Dialog.

Personen: Gilbert und Ernst.

Ort: Die Bibliothek eines Hauses auf Piccadilly, mit der Aussicht auf den »Green Park«.

 

Zweiter Teil.

Ernst.

Die Ortolanen waren vorzüglich und der Chambertin wundervoll! Aber jetzt laß uns zu unserem Ausgangspunkt zurückkommen.

Gilbert.

Nein, nein, ich bitte dich. Die Unterhaltung sollte alles berühren, aber bei nichts verweilen. Laß uns über »Moralische Entrüstung, ihre Ursachen und ihre Heilung« reden, denn darüber will ich schreiben; oder über »Das Fortleben des Thersites«, nämlich in englischen Witzblättern, oder über irgend etwas sonst.

Ernst.

Nein, ich will über Kritik und Kritiker reden. Du sagtest, die höchste Kritik habe es mit der Kunst nur zu tun, soweit sie Eindrücke schafft, nicht, soweit sie etwas auszudrücken sucht. Sie sei demnach schöpferisch und unabhängig, ja, an sich eine Kunst, und nähme dem schöpferischen Werk des Künstlers gegenüber die Stellung ein, die das schöpferische Werk der sichtbaren Welt der Form und Farbe oder der unsichtbaren Welt des Gedankens und der Leidenschaft gegenüber einnimmt. Schön. Aber sage mir doch, wird nicht der Kritiker bisweilen doch auslegen, deuten?

Gilbert.

Ja, er wird auslegen und deuten, wenn er es will. Er kann von dem zusammenfassenden Eindruck des Kunstwerks als Ganzem zu einer Zergliederung übergehen, und er kann auch in dieser niederen Sphäre – denn dafür halte ich es – viel Schönes finden und sagen. Jedoch – selbst dann wird es nicht immer seine Aufgabe sein, das Kunstwerk zu erklären. Vielleicht vertieft er nur sein Geheimnis und breitet um das Werk und seinen Schöpfer jenen Nebelschleier des Wunders, der den Göttern und den Anbetenden gleich teuer ist. Die gewöhnlichen Menschen freilich »fühlen sich furchtbar wohl auf Zion«. Sie wollen Arm in Arm mit den Dichtern wandeln und sagen in ihrer Art so glatt und einfach: »Warum sollten wir über Shakespeare und Milton lesen? Wir können ja ihre Werke und Dichtungen lesen. Und das genügt.« Aber die richtige Würdigung Miltons ist die Belohnung für eindringendste Gelehrsamkeit; und wer Shakespeare recht verstehen will, muß seine Beziehungen zur Renaissance und zur Reformation, zur Zeit der Elisabeth und zur Zeit Jakobs kennen. Er muß mit dem Kampf der klassischen Form und des neuen Geistes der Romantik vertraut sein, mit den Kämpfen zwischen der Schule Sidneys, Daniels, Jonsons und der Schule Marlowes und seines größeren Sohnes. Er muß die Stoffe kennen, die Shakespeare vorfand, die Art, wie er sie benutzte, die Bedingungen öffentlicher Darstellung im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, ihre Beschränktheit und ihre Freiheit, die literarische Kritik jener Zeit, ihre Ziele, ihr Vorgehen, ihre Grundsätze. Er muß die englische Sprache in ihrer Entwickelung studieren, reimlose und gereimte Verse in ihren verschiedenen Stufen. Er muß in das griechische Drama eindringen, muß wissen, was den Schöpfer des Agamemnon mit dem Schöpfer des Macbeth verbindet. Mit einem Wort: er muß das London der Elisabeth und das Athen des Perikles umspannen, und Shakespeare seine Stellung in der Geschichte des europäischen Dramas anweisen können. Sicher wird der Kritiker auslegen und deuten; aber er wird die Kunst nicht wie die Rätselsphinx behandeln, deren schales Geheimnis ein Wanderer erriet, der verwundet einherzog und seinen Namen nicht kannte. Er wird auf die Kunst als auf eine Göttin schauen, deren Geheimnis er zu verstärken hat und deren Majestät er für die Augen der Menschen mit neuen Wundern umkleiden soll.

Und hier, Ernst, tritt nun das Seltsame ein. Der Kritiker wird auslegen und deuten, aber nicht wie der, der nur in anderer Form eine Botschaft wiederholt, die man ihm auf die Lippen legte. Denn gerade wie die Kunst eines Landes nur durch die Berührung mit der Kunst fremder Völker das eigene abgeschlossene Leben gewinnt, das wir ein nationales nennen, so kann umgekehrt der Kritiker die Persönlichkeit und das Werk anderer nur dann auslegen und deuten, wenn er seine eigene Persönlichkeit so stark wie möglich betont. Je stärker seine Persönlichkeit in die Auslegung eindringt, um so mehr Wirklichkeit erhält die Auslegung, um so mehr befriedigt, überzeugt sie und um so wahrer ist sie.

Ernst.

Ich würde die Persönlichkeit eher als störend ansehen.

Gilbert.

Nein. Sie ist ein Mittel der Enthüllung. Willst du andere verstehen, so mußt du dein eigenes Ich verstärken.

Ernst.

Und was ist das Ergebnis?

Gilbert.

Das will ich dir sagen und vielleicht kann ich es am besten durch Beispiele. Mir scheint, der literarische Kritiker steht an erster Stelle; denn er hat das größte Gesichtsfeld und das edelste Material. Aber sonst hat jede Kunst gleichsam ihren eigenen Kritiker. Der Schauspieler ist der Kritiker des Dramas. Er zeigt das Werk des Dichters unter neuen Bedingungen und mit eigenen Mitteln. Er erhält das geschriebene Wort, aber Bewegung, Geste und Stimme werden zu Mitteln der Offenbarung. Der Sänger oder der Violinspieler ist der Kritiker der Musik. Der Stecher eines Bildes beraubt das Gemälde der leuchtenden Farben, aber durch sein neues Verfahren zeigt er uns seinen wirklichen Farbenwert, seine Abtönung, seine »Valeurs« und die Abwägung seiner Massen. So wird auch er zum Kritiker. Denn ein Kritiker ist der, der uns ein Kunstwerk in einer neuen Form zeigt. Wer aber ein neues Verfahren anwendet, ist ein Kritiker und ein Schaffender zugleich. Auch der Bildhauer hat seinen Kritiker. Bald ist es der Gemmenschneider, wie in den Tagen Griechenlands, bald ein Maler, wie Mantegna, der auf der Leinwand die Schönheit plastischer Linien und die mächtige Würde des Reliefs mit seiner Nebeneinanderordnung der Figuren wiederzugeben suchte. In allen diesen Fällen aber ist es klar, daß die eigene Persönlichkeit unbedingtes Erfordernis ist. Wenn Rubinstein Beethovens Appassionata spielt, gibt er uns nicht nur Beethoven, sondern auch sich; und das heißt: er gibt wirklich Beethoven, von einer reichen künstlerischen Natur gedeutet und ausgelegt, von einer neuen und starken Persönlichkeit für uns lebendig und zu einem Wunder gemacht. Dasselbe sehen wir, wenn ein großer Schauspieler Shakespeare spielt. Sein eigenes Ich wird zum lebendigen Teil seiner Deutung. Man sagt bisweilen, die Schauspieler gäben uns ihren Hamlet, nicht Shakespeares. Aber das ist Unsinn. Tatsächlich gibt es so etwas wie Shakespeares Hamlet gar nicht. Hat der Hamlet etwas von der Abgeschlossenheit eines Kunstwerkes, so hat er auch alle Dunkelheit des Lebens. Es gibt so viele Hamlets wie es Melancholiker gibt.

Ernst.

So viele Hamlets wie Melancholiker?

Gilbert.

Ja, und da die Kunst aus der Persönlichkeit entspringt, so kann sie sich nur der Persönlichkeit offenbaren, und aus dem Zusammentreffen beider entspringt eine wahre Auslegung.

Ernst.

Also gibt der Kritiker so viel, wie er empfängt, leiht so viel, wie er borgt?

Gilbert.

Er zeigt uns das Kunstwerk immer in einer neuen Verbindung mit unserer Zeit. Er erinnert uns immer daran, daß große Kunstwerke etwas Lebendiges sind, ja, daß sie das einzig Lebendige sind. Ich bin überzeugt, daß er dies immer stärker empfinden wird, so daß die erlesenen Geister, die kritischen und verfeinerten Menschen der kommenden Zeit, je mehr die Kultur fortschreitet, und je höher unsere Organisation steigt, um so weniger sich mit dem wirklichen Leben befassen werden. Sie werden versuchen, ihre Eindrücke nur noch dem zu entnehmen, Was die Kunst berührt hat. Das Leben läßt in erschreckendem Grade die Form vermissen. Seine Katastrophen treten am falschen Ort ein und treffen falsche Menschen. Um seine Komödien spielt groteskes Entsetzen, und seine Tragödien enden mit einer Farce. Es verwundet immer, wenn man ihm naht; alles währt zu lange oder zu kurz.

Ernst.

Das arme Leben! das arme menschliche Leben! Rühren dich nicht seine Tränen? Tränen, sagt der römische Dichter, sind ein Teil seines Wesens.

Gilbert.

Ich fürchte, sie rühren mich nur zu sehr. Denn sieht man auf sein Leben zurück, das so lebendig war in der Kraft seiner Erregungen, so voll von glühenden Minuten der Verzweiflung oder der Freude, so scheint es, als sei alles ein Traum, eine Täuschung gewesen. Was ist unwirklich, wenn nicht die Leidenschaften, die uns einst wie Feuer brannten? Was unglaublich, wenn nicht das, was wir in Treue glaubten? Was ist das Unwahrscheinliche? Das, was wir taten. – Nein, Ernst; das Leben trügt uns mit Schatten, wie der, der uns Marionetten zeigt. Wir flehen um Freude. Das Leben gibt sie uns, aber gemischt mit Bitterkeit und Enttäuschung. Uns trifft ein edler Gram. Wir glauben, er werde den Purpurmantel der Tragödie um unsere Tage werfen. Aber er schwindet, Unedleres tritt an seine Stelle; und eines Tages, in grauer, stürmender Dämmerung, oder am duftigen Silberabend des Schweigens, da starren wir mit harter Verwunderung oder mit kaltem, dumpfem Herzen auf die Locke goldblonden Haares, die wir einst so stürmisch anbeteten, so wahnsinnig küßten.

Ernst.

Also das Leben ist ein verfehltes Unternehmen?

Gilbert.

Künstlerisch betrachtet, gewiß! Und was es, künstlerisch betrachtet, hauptsächlich zu einem verfehlten Unternehmen macht, das ist das, was dem Leben seine plumpe Sicherheit gibt: die Tatsache nämlich, daß sich die gleiche Erregung nie wiederholt. Wie anders in der Kunst! Hinter dir steht in einem Fach des Bücherschrankes die »Göttliche Komödie«, und ich brauche nur eine bestimmte Stelle aufzuschlagen, um einen zu hassen, der mir nie unrecht tat, oder jemand zu lieben, den ich nie sehen werde. Es gibt keine Stimmung, keine Leidenschaft, die die Kunst uns nicht leihen könnte, und wer ihr Geheimnis entdeckt hat, kann uns voraussagen, welches unsere Erfahrungen sein werden. Wir können unseren Tag, wir können unsere Stunden wählen. Wir können sagen: Morgen früh in der Dämmerung werden wir mit dem ernsten Vergil durch das Tal der Todesschatten wandern; und siehe da, der Morgen findet uns im finsteren Walde, und uns zur Seite steht der Mantuaner. Wir durchschreiten das Tor der Sage, wo alle Hoffnung fällt, und schauen mit Mitleid oder Freude den Schrecken einer anderen Welt. Da schleichen die Heuchler vorbei, unter Kappen vergoldeten Bleis das gemalte Gesicht verborgen. Den Wüstling treiben unermüdliche Winde, und wir sehen den Ketzer sein Fleisch zerreissen und den Schlemmer vom Regen gepeitscht. Wir brechen den welken Zweig vom Baum im Hain der Harpyien, und jeder dunkle, giftige Ast blutet vor uns rotes Blut und schreit mit heiserem Schrei. Odysseus redet zu uns aus feurigem Horn, und wenn sich aus seinem Flammenbett der große Ghibelline erhebt – wir nehmen eine Weile teil an dem Stolze, der über solche Qualen triumphiert. Durch die düstere Purpurluft rauschen einher, die die Welt mit der Schönheit ihrer Sünde befleckten. Im Graben ekelhafter Krankheit liegt, geschwollen von der Sucht, einem Haufen Lehmes gleich, Adamo von Brescia, der falsche Münzen schlug. Er heischt Gehör für sein Elend; wir stehen stille, und mit trocknen, starren Lippen erzählt er, wie er Tag und Nacht von den klaren Quellen träumt, die in kühlen, tauigen Rinnen die grünen Hügel von Casenta niederrauschen. Ihn höhnt Simon, der falsche Grieche von Troja. Er schlägt ihn ins Gesicht, und sie ringen. Und wir, von ihrer Schmach gefesselt, zaudern, bis Vergil uns vorwärts schilt und zu der Riesenstadt führt, wo König Nimrod ins Jagdhorn stößt. Schreckliches wartet auf uns, und wir ziehen ihm entgegen, in Dantes Kleide und mit Dantes Herz. Wir durchfahren die Sümpfe des Styx, und durch die trägen Wellen schwimmt Argenti an unser Boot. Er ruft uns an, und wir stoßen ihn zurück. Wir freuen uns der Stimme seiner Verzweiflung, und Vergil lobt die Härte unserer Verachtung. Wir betreten den kalten, kristallnen Kokytus, in dem Verräter stecken wie Stroh im Glase. Unser Fuß stößt an Boccos Kopf. Er weigert uns seinen Namen, und wir reissen das Haar in Büscheln von seinem schreienden Schädel. Alberigo fleht, das Eis seiner Wangen zu brechen, daß er ein weniges weinen könne. Wir geben ihm unser Wort. Doch da er den schmerzlichen Bericht geendet, weigern wir uns, zu erfüllen, was wir versprachen. Wir gehen vorüber; und solche Grausamkeit ist uns Gebühr. Denn wer wäre verworfener, als wer mit Gottes Verdammten Erbarmen fühlt? Zwischen Lucifers Zähnen sehen wir ihn, der Christus verriet, und in Lucifers Rachen sie, die Caesar erschlugen. Wir zittern und eilen hinauf, die Sterne zu schauen.

Im Lande des Fegfeuers ist die Luft freier, und der heilige Berg ragt in das reine Licht des Tages hinaus. Da ist Friede für uns. Und für alle, die dort aus irgendeinem Grunde weilen, ist wenigstens etwas Friede, ob auch, bleich vom Gift der Marumna, Madonna Pia vorübergeht, und in Ismenes Zügen der Gram der Erde noch nistet. Seele nach Seele zieht vorbei, und wir nehmen teil an Buße und Freude. Er, den seiner Witwe Trauern lehrte, den süßen Wermut des Schmerzes zu trinken, spricht uns von Nella, die auf einsamem Lager betet, und aus dem Munde Buoncontes vernehmen wir, wie eine einzige Träne den sterbenden Sünder ewiger Verdammnis entreißen kann. Sordello, der stolze und hochmütige Lombarde, schaut uns von ferne gleich einem ruhenden Löwen an. Und da er vernimmt, Vergil sei Mantuas Bürger, fällt er auf seinen Rücken nieder, und da er vernimmt, er sei der Sänger Roms, fällt er vor ihm aufs Knie. In jenem Tal, wo Gras und Blumen schöner glänzen als indisches Holz und Smaragd, und strahlender sind als Scharlach und Silber, da singen, die einst der Erde Könige waren. Doch Rudolf von Habsburg stimmt nicht ein in die Sänge der anderen, und Philipp von Frankreich schlägt sich die Brust, und Heinrich von England sitzt einsam und abseits da. Vorwärts und vorwärts geht es. Wir steigen die Stiege der Wunder empor, und die Sterne werden größer als sonst. Der Sang der Könige erstirbt in der Ferne, und endlich stehen wir bei den sieben goldnen Bäumen: am Garten des irdischen Paradieses. Da erscheint auf greiffenbespanntem Wagen SIE, die Stirn mit Olivengrün umwunden, in weißem Schleier, in grünem Mantel und einem Kleide gleich lebendigem Feuer. In uns erwacht die entschlafene Flamme. In schrecklicher Hast jagt unser Blut. Denn wir erkennen sie: Beatrice, die Herrin, die wir verehrten. Das Eis unserer Herzen schmilzt dahin. Wilde Tränen der Angst strömen hervor, und wir neigen die Stirne zu Boden. Denn wir wissen, wir haben gesündigt. Wir tuen Buße und reinigen uns. Wir trinken aus Lethes Flut und baden im Quell der Eunoë. Dann aber hebt uns die Herrin der Seele empor in das Paradies der Himmel. Aus der ewigen Perle des Mondes neigt sich uns Riccarda Donati; ihre Schönheit verwirrt uns eine Weile; doch, da sie gleich einem Stein, der im Wasser sinkt, entschwindet, schauen wir ihr nach mit andächtigen Augen. Der liebliche Stern der Venus ist voll von Liebenden. Da ist Cunizza, Ezzelinos Schwester, die Herrin im Herzen Sordellos, und Folco, der leidenschaftliche Sänger der Provence, der die Welt verließ aus Gram um Azalais. Da ist auch die Cananitische Dirne, die erste Seele, die Christus erlöste. Joachim von Flora steht in der Sonne, und in der Sonne erzählt Aquinas die Geschichte des heiligen Franz, und Bonaventurus das Leben des heiligen Dominikus. Durch die Flammenrubinen des Mars naht Cacciaguida. Er spricht von dem Pfeil, den der Bogen der Verbannung entsendet, und erzählt, wie bitter das Brot eines andern schmecke, wie steil die Treppe im Hause des Fremden sei. Auf dem Saturn, da singen die Seelen nicht, und selbst, die uns führt, wagt nicht zu lächeln. Auf einer goldnen Leiter steigen die Flammen und sinken, und schließlich sehn wir den Glanz der mystischen Rose. Beatrice heftet die Augen auf Gottes Antlitz und wendet sie nicht mehr fort. Das Gesicht der Seligkeit wird uns gewährt, und wir erkennen die Liebe, die Sonne und Sterne bewegt.

Ja, wir können die Zeit um sechshundert Erdumläufe zurückstellen und uns mit dem großen Florentiner eins machen, mit ihm am gleichen Altare knien, Haß und Entzückungen mit ihm teilen. Doch wenn wir alter Tage müde werden und wünschen, uns unsere Zeit mit all ihrer Müdigkeit, all ihrer Sünde lebendig zu machen – gibt es nicht Bücher, durch die wir in einer Stunde mehr erleben, als sonst in vielen schmachvollen Jahren? Dort neben deiner Hand liegt ein kleines Buch; der Einband aus nilgrünem Leder mit goldenen Wasserlilien bestreut, und mit hartem Elfenbein geglättet. Das ist das Buch, das Gautier liebte: Baudelaires Meisterwerk. Schlag jenes traurige Madrigal auf:

Que m'importe que tu sois sage?
Sois belle! et sois triste!

Dann wirst du den Gram anbeten, wie nie du die Freude angebetet hast. Und weiter das Lied von ihm, der sich selber quälte! Seine zarte Melodie stiehlt sich in dein Ohr und färbt deine Gedanken; einen Augenblick bist du, was er war, der es schrieb. Ja, nicht nur kurze Minuten, sondern manche träge Mondnacht, manchen sonnenlosen, unfruchtbaren Tag lang wird eine Verzweiflung in dir wohnen, die nicht dein eigen ist, und eines andern Elend wird an deinem Herzen nagen. Lies das ganze Buch. Laß nur eins seiner Geheimnisse zu deiner Seele reden, und deine Seele dürstet nach mehr, sie wird an dem giftigen Honig saugen, wird seltsame Verbrechen büßen, an denen sie schuldlos ist, und schlimme Freuden bereuen, die sie nicht kannte. Und dann, wenn du müde wirst dieser Blumen des Bösen, dann auf zu den Gärten Perditas; in ihren taufeuchten Kelchen kühle die fiebernde Stirn, und ihre Lieblichkeit wird deine Seele heilen. Oder erwecke aus vergessenem Grab Meleager, den schönen Syrer, bitte den Liebenden Heliodors um Lieder; denn auch er hat Blumen im Sange, rote granatene Blüten, Iris, die nach Myrrhen duften, runden Asphodill, dunkelblaue Hyakinthen und Majoran. Er liebte den Duft des Bohnenfeldes am Abend, liebte den Duft der Ähren auf syrischen Hügeln und frischen grünen Thymian zum Schmucke des Bechers. Ging seine Liebe im Garten, so waren ihre Füße gleich Lilien unter den Lilien. Weicher als schlaftrunkene Blätter des Mohns waren ihre Lippen, weicher als Veilchen und ebenso duftend. Aus dem Grase schoß der geflammte Krokos, um sie zu sehen; schlanker Narkissos sammelte ihr den kühlenden Tau; und ihrethalben vergaßen die Anemonen der sizilischen Winde, die sie umkosten. Aber nicht Krokos noch Narkissos noch Anemonen waren so schön wie sie. –

Es ist etwas Seltsames um diese Übertragung der Gefühle. Wir erkranken am Leiden der Dichter, und der Sänger gibt uns seine Schmerzen. Tote Lippen bringen uns Botschaft, und Herzen, die längst zu Staub verfielen, spenden von ihrer Freude. Wir eilen, Fantina die blutenden Lippen zu küssen, und wandern mit Manon Lescaut über die weite Welt. Wir teilen den Liebeswahnsinn des Syrers und auch die Wut des Orest. Es gibt keine Leidenschaft, die wir nicht fühlen, keine Freude, die wir nicht genießen könnten. Ja, wir können die Zeit unserer Weihe wählen und auch die Zeit unserer Freiheit. Leben! Leben! Nicht zum Leben laß uns gehen, um den Kreis unseres Wissens zu füllen. Das ist ein Etwas, eingeengt durch das Äußere, ohne Zusammenhang in seiner Wirkung. Ihm fehlt der feine Einklang von Form und Geist, der einzig die künstlerische und kritische Seele befriedigt. Wir zahlen ihm seine Ware zu hoch, wir erstehen das gemeinste seiner Geheimnisse um unerhörten und ungemessenen Preis.

Ernst.

So müssen wir alles von der Kunst empfangen?

Gilbert.

Alles. Denn die Kunst verletzt uns nicht. Die Tränen, die wir im Schauspiel vergießen, sind ein Beispiel der schönen, schmerzlosen Erregung, die zu erwecken Aufgabe der Kunst ist. Wir weinen, aber wir sind nicht verwundet. Wir trauern, aber in unserer Trauer ist keine Bitterkeit. Schon im wirklichen Leben ist der Gram das Tor zu einer kleinen Vollkommenheit, wie Spinoza einmal sagt. Aber die Trauer, mit der uns die Kunst erfüllt, reinigt und weiht uns, wenn ich noch einmal den griechischen Kunstkritiker anführen darf. Durch die Kunst und nur durch die Kunst werden wir vollkommen. Die Kunst und nur die Kunst kann uns gegen die schmutzigen Gefahren des Lebens schützen. Das liegt nicht nur daran, daß wir nichts ersinnen können, was getan zu werden verdiente, und daß wir alles ersinnen können, sondern es hat seinen Grund in dem geheimen Gesetz, daß die Kräfte aller Gefühle wie die Kräfte der körperlichen Welt nach Stärke und Ausdauer begrenzt sind. Man kann so viel fühlen und mehr nicht. Also, was geht es uns an, wenn uns das Leben mit höchster Lust verführen, oder unsere Seele mit höchstem Schmerz zerbrechen und lähmen will, da wir doch im Anschauen dessen, was nie da war, das letzte Geheimnis der Freude fanden, und unsere Tränen vergossen beim Tode derer, die gleich Cordelia und Desdemona nie sterben können?

Ernst.

Einen Augenblick! Mir scheint, in allem, was du sagst, liegt etwas durchaus Unmoralisches.

Gilbert.

Jede Kunst ist unmoralisch.

Ernst.

Jede Kunst?

Gilbert.

Ja, denn das Ziel der Kunst ist die Erregung um der Erregung willen, und Erregung um der Tat willen ist das Ziel des Lebens und jener praktischen Organisation des Lebens, die wir Gesellschaft nennen. Die Gesellschaft ist die Voraussetzung und Grundlage für jede Moral, und sie ist vorhanden, um die Kräfte der Menschen zusammenzufassen. Um aber ihre eigene Fortdauer und ihr gesundes Beharren zu sichern, verlangt sie – und zweifellos mit Recht – von jedem ihrer Bürger, daß er zum gemeinen Wohl irgendwelche nutzbringende Arbeit leiste und sich schinde und plage, damit des Tages Werk getan werde. Die Gesellschaft verzeiht oft dem Verbrecher, aber nie dem Träumer. Die schöne, nutzlose Erregung, die die Kunst in uns wachruft, ist in ihren Augen hassenswert. Wie weit die Tyrannei dieses schauerlichen Gesellschaftsideals geht, ist furchtbar. Bei jeder Begegnung fragen einen diese Menschen mit lauter Stentorstimme: Na, was machen Sie? Ein kultiviertes Wesen würde flüsternd fragen: Worüber denken Sie? Sie meinen's gut, diese braven, strahlenden Leute. Vielleicht sind sie eben darum so unausstehlich langweilig. Aber irgend jemand sollte ihnen klar machen, daß die Betrachtung, obgleich sie in der Meinung der Gesellschaft die schwerste Sünde ist, doch im Sinne der höchsten Kultur die einzig würdige Beschäftigung des Menschen ist.

Ernst.

Die Betrachtung?

Gilbert.

Ja, die Betrachtung. Vor einiger Zeit schon sagte ich, es sei schwerer, über etwas zu reden, als etwas zu tun. Aber jetzt will ich dir sagen, daß nichts zu tun das Schwierigste ist, das Schwierigste und das Geistigste. Für Plato mit seiner Leidenschaft für die Weisheit war es die edelste Form der Kraft; und auch für Aristoteles mit seiner Leidenschaft für die Erkenntnis. Das war das Ziel, wohin die Sehnsucht nach Heiligkeit Heilige und Mystiker im Mittelalter trieb.

Ernst.

So lebten wir, um nichts zu tun?

Gilbert.

Nichts zu tun, lebt der Auserwählte. Handeln ist begrenzt und abhängig. Unbegrenzt und unabhängig ist, was der schaut, der behaglich sitzt und sinnt, der in Einsamkeit wandelt und träumt. Doch wir, am Ende dieses glorreichen Jahrhunderts geboren – wir sind zu verfeinert, zu kritisch, zu geistig und zu lüstern nach erlesenen Genüssen, um Spekulationen über das Leben für das Leben einzutauschen. Uns ist die Citta divina farblos, uns ist die Fruitio Dei leer geworden. Die Metaphysik befriedigt uns nicht, und religiöse Begeisterung ist aus der Mode. Die Welt, die den Philosophieprofessor zum Zuschauer aller Zeit und allen Daseins macht, sie ist nicht mehr eine Welt der Ideale, sondern nur noch eine Welt abstrakter Ideen. Treten wir ein, wir verhungern unter den Gespenstern des Denkens. Die Hallen der Stadt Gottes stehen uns nicht mehr offen. An ihren Toren steht die Dummheit Wache, und wer hinein will, muß alles ausliefern, was göttlich an ihm ist. Genug, daß unsere Väter glaubten. Sie haben die Glaubenskraft der Rasse erschöpft und hinterließen uns den Zweifel, vor dem wir bangen. Hätten sie ihn in Worte geformt, vielleicht lebte er nicht mehr in uns als Gedanke. Nein, Ernst, nein! Zurück zum Heiligen können wir nicht. Weit eher noch könnten wir vom Sünder lernen. Kein Weg führt zum Philosophen zurück, und der Mystiker führt in die Irre. Wer wollte, so fragt einmal Pater, wer wollte die Rundung eines einzigen Rosenblattes gegen das gestaltlos unfaßbare Sein eintauschen, das Plato so hoch erhebt? Was ist uns die Erleuchtung Philos, der Abgrund Eckharts, was Böhmes Vision und der schreckliche Himmel, der sich vor Swedenborgs geblendeten Augen öffnete? Das alles ist weniger als der einzige Kelch einer gelben Blume des Feldes, weniger als das Geringste sichtbarer Kunst. Denn ist die Natur Stoff, der sich zum Geiste durchringt, so ist die Kunst Geist, der sich in die Formen des Stoffes verkleidet. Daher auch redet sie in der geringsten ihrer Offenbarungen zu Sinn und Seele zugleich.

Das Schweifend-Gestaltlose stößt immer die ästhetische Empfindung ab. Die Griechen waren ein Volk von Künstlern, weil sie den Sinn des Unendlichen nicht kannten. Wie Aristoteles, wie Goethe, nachdem er Kant gelesen hatte, sehnen wir uns nach dem Greifbaren, Festen, und nichts als das Greifbare kann uns befriedigen.

Ernst.

Und was schlägst du vor?

Gilbert.

Mir scheint, durch die Entwickelung des kritischen Geistes werden wir einst imstande sein, nicht nur unser Leben zu leben, sondern das gesamte Leben der Rasse. So würden wir modern im wahren Verstande des Wortes werden. Denn der, dem das Gegenwärtige das einzig Gegenwärtige ist, weiß nichts von der Zeit, in der er lebt. Um das neunzehnte Jahrhundert zu erleben, muß man jedes Jahrhundert erlebt haben, das voranging und zu seinem Werden beitrug. Es darf keine Stimmung geben, die man nicht mitempfinden, keine Lebensgeste, die man nicht erwecken könnte. – Ist das unmöglich? Ich glaube nicht. Der wissenschaftliche Grundsatz der Vererbung hat uns gelehrt, wie jedes Handeln bedingt und mechanisch ist. Er hat uns von der Last und den Fesseln selbstgeschaffener Verantwortlichkeit befreit. So verbürgte er das Fortleben der vita contemplativa. Er hat uns rings mit dem Netz des Jägers umstellt und den Fluch unseres Schicksals auf Mauer und Wand geschrieben. Sehen können wir ihn nicht, denn er lebt in uns. Wir können ihn nur im Spiegel sehen, im Spiegel, der die Seele spiegelt. Er ist die Nemesis, doch ohne Maske. Er ist das letzte Schicksal und das furchtbarste. Er ist der einzige Gott, den wir mit Namen nennen.

Und doch – hat er gleich einem schrecklichen Gespenst im äußeren Leben die Kraft ihrer Freiheit, das Handeln seiner Wahl beraubt, er kommt im Reiche des Ich, wo die Seele wirkt, mit manchen guten Gaben zu uns; mit den Gaben seltsamer Anlagen und feiner Empfänglichkeit, Gaben wilder Gluten und eisiger Gleichgültigkeit, mannigfaltigen, verwickelten Gaben sich streitender Gedanken und sich bekriegender Leidenschaften. Wir leben nicht unser Leben, sondern das Leben der Toten. Und die Seele, die in uns wohnt, ist kein einzelnes geistiges Sein, das uns einzig und individuell macht, das unserem Dienste erschaffen ist und uns zur Freude in uns einzieht. Sie ist ein Etwas, das in schrecklichen Landen geweilt und in verschollenen Gräbern gewohnt hat. Sie krankt an vielen Krankheiten und denkt seltsamer Sünden. Sie ist weiser als wir, und ihre Weisheit schmeckt bitter. Sie füllt uns mit unerfüllbaren Wünschen und heißt uns verfolgen, was wir nie erlangen können. Doch eins, mein lieber Ernst, eins kann sie für uns tun. Sie kann uns aus unserer Umgebung führen, deren Schönheit durch den Nebel des Alltags verschleiert ist, oder deren Häßlichkeit, deren niedriges Streben die Vollendung unserer Entwickelung hemmt. Sie kann uns helfen, die Zeit, in die wir geboren wurden, zu fliehen, in andre Zeiten zu wandern, wo wir uns nicht als Verbannte fühlen. Sie kann uns lehren, unserer Erfahrung zu entkommen, und die Erfahrungen derer zu machen, die größer waren als wir. Der Schmerz Leopardis, der wider das Leben schreit, wird unser Schmerz. Theokritos bläst seine Flöte, und wir lachen mit den Lippen von Nymphen und Hirten. Im Wolfspelz fliehen wir mit Pierre Vidal vor den Rüden, und in der Rüstung Lancelots reiten wir fort von der Laube der Königin. Wir flüsterten das Geheimnis unserer Liebe unter Abälards Kutte, und gossen im fleckigen Kleide Villons unsere Schande in Lieder. Wir sehen die Dämmerung mit Shellys Augen, und wandern wir mit Endymion, so ergreift Luna die Liebe zu unserer Tugend. Wir dulden die Not des Atys und kennen das schwächliche Rasen und den edlen Gram des Dänenprinzen. Glaubst du wirklich, daß uns die Phantasie befähigt, so viele Leben zu leben? Doch! es ist die Phantasie. Aber sie ist nichts anderes, als verdichtete Rassenerfahrung.

Ernst.

Aber wo bleibt die Tätigkeit des kritischen Geistes?

Gilbert.

Die Kultur, die diese Überlieferung der Rassenerfahrung möglich macht, kann nur durch den kritischen Geist vollkommen werden. Ja, man könnte sagen, beide sind ein und dasselbe. Denn wer ist der wahre Kritiker, wenn nicht der, welcher die Träume, Gedanken, Gefühle von Millionen Geschlechtern in sich trägt; der, dem kein Gedankengang fremd, kein Gefühl dunkel ist? Und wer ist der Mensch der wahren Kultur, wenn nicht der, der durch feinste Erfahrung und wählerische Ablehnung den Instinkt bewußt und wissend gemacht hat, und das Werk, das die Distanz kennt, von dem zu trennen weiß, das sie nicht kennt; der sich durch Einschmiegen und Abwägen zum Herrn der Geheimnisse des Stils und der Schulen machte, der ihre Stimme hört und jenen Sinn unabhängiger Neugier entwickelt, der die wahre Wurzel, aber auch die wahre Blüte geistigen Lebens ist; der so zu geistiger Klarheit gelangt ist; der das Beste, was in der Welt gewußt und gedacht wird, erkannt hat und nun – das ist keine Phantasie – in der Gesellschaft der Unsterblichen lebt. Ja, Ernst, das Leben der Betrachtung, das Leben, welches das Sein, nicht das Handeln, und nicht nur das Sein, sondern das Werden zum Ziel hat, das ist es, was uns der kritische Geist geben kann. So leben die Götter: entweder sie sinnen ob ihrer eigenen Vollkommenheit, wie Aristoteles sagt, oder, wie Epikur, sie wachen mit den kühlen Augen des Zuschauers über der Tragikomödie der Welt, die sie schufen. Auch wir könnten leben wie sie und mit wechselnden Gefühlen die Szenen beschauen, die der Mensch und die Natur uns bieten. Wir könnten uns zu geistigen Wesen machen, wenn wir uns vom Handeln lossagten; und wir könnten vollkommen werden, wenn wir die Auslösung unserer Kräfte verschmähten. Mir schien oft, als fühle Browning etwas Ähnliches. Shakespeare wirbelt Hamlet ins Leben der Tat, und er vollbringt seine Aufgabe mit dem Aufgebot wirklicher Kräfte. Browning hätte uns einen Hamlet gegeben, der seine Aufgabe durch Denken lösen würde. Zufall und Ereignis waren für ihn unwirklich oder unwesentlich. Er machte die Seele zum Träger der Lebenstragödie und betrachtete die Handlung als das Undramatische im Drama. Jedenfalls aber ist für uns der ΒΙΟΣ ΘΕΩΡΗΤΙΚΟΣ das wahre Ziel. Ruhig in sich geschlossen und vollkommen, so sieht der ästhetische Kritiker auf das Leben, und kein Pfeil, den der Zufall schoß, kann in die Lücken seiner Rüstung dringen. Er wenigstens ist sicher. Er hat entdeckt, wie man leben soll.

Ist solches Leben unmoralisch? Ja. Jede Kunst ist unmoralisch, außer jenen niedrigen Formen sinnlicher oder lehrender Kunst, die zum Handeln im Guten oder Bösen treiben wollen. Denn das Handeln gehört ins Reich der Moral. Das Ziel der Kunst ist einfach, eine Stimmung zu schaffen. Ist ein solches Leben unpraktisch? O, es ist nicht so leicht, unpraktisch zu sein, wie der unwissende Philister meint. Es wäre gut, wenn es so wäre. Denn kein Land der Welt braucht unpraktische Leute nötiger als wir. Bei uns ist das Denken stets auf den Vorteil gerichtet und dadurch verächtlich geworden. Wer von ihnen allen, die im Getriebe und Gedränge des wirklichen Daseins stehen als lärmende Politiker, schreiende Weltverbesserer, oder als arme, beschränkte Priester, die durch das Leiden des kleinen, unwichtigen Teils der Gemeinden, in die ihr Los sie warf, geblendet sind – wer von ihnen allen könnte sich über irgend etwas ein unabhängiges Urteil bilden? Jeder Beruf ist ein Vorurteil. Der Zwang, »Karriere zu machen«, treibt jeden in die Arme von Parteien. Wir leben in einer Zeit, die zu viel arbeitet und zu wenig erzogen ist, in einer Zeit, wo die Leute so fleißig sind, daß sie blödsinnig werden. Und mag es auch hart genug klingen, ich kann nur sagen, sie verdienen ihr Los. Wer vom Leben nichts wissen will – für den gibt es ein sicheres Mittel: er suche sich nützlich zu machen.

Ernst.

Eine reizende Lehre, Gilbert!

Gilbert.

Das weiß ich nicht, aber sie hat das geringere Verdienst, daß sie wahr ist. Daß der Wunsch, anderen Gutes zu tun, den Heuchlern reichliche Ernte schafft, ist das geringste Übel. Der Heuchler ist ein höchst interessantes psychologisches Problem, und wenn auch von allen Posen die moralische die anstößigste ist, so ist es doch schon etwas, eine Pose überhaupt zu haben. Denn dadurch erkennt man förmlich an, daß es nötig ist, das Leben von einem bestimmten begründeten Standpunkt aus zu behandeln. Daß Menschenliebe und Mitleid gegen die Natur ankämpfen, da sie das Verderbte erhalten, mag dem Diener der Wissenschaft ihre leichte Tugend verleiden. Mag der Nationalökonom sie verdammen, weil sie den Unvorsichtigen auf die gleiche Stufe mit dem Vorsichtigen erheben und das Leben des Stärksten, weil gemeinsten Antriebes zum Fleiße berauben. Doch in den Augen des Denkers besteht der wirkliche Schaden, den sie anrichten, darin, daß sie die Erkenntnis einschränken und so uns hindern, irgendein soziales Problem zu lösen. Jetzt versuchen wir, die kommende Krisis, die kommende Revolution, wie manche es nennen, durch Gaben und Almosen abzuwenden. Schön! Wenn aber die Krisis kommt oder die Revolution, so werden wir ohnmächtig sein, weil wir nichts wissen. Lieber Ernst, wir wollen uns nichts vorspiegeln. England wird so lange kein Kulturland werden, bis es Utopien unter seine Provinzen zählt. Mehr als eine Kolonie könnte es für ein so schönes Land mit Vorteil geben. Was wir brauchen, sind unpraktische Leute, die über den Augenblick hinaus sehen, über den Tag hinaus denken können. Die, welche da suchen, das Volk zu führen, können es nur, indem sie dem Pöbel folgen. Die Wege der Götter müssen durch die Stimme eines Predigers in der Wüste bereitet werden.

Aber vielleicht glaubst du, daß im Schauen um des Schauens willen, in der Betrachtung um der Betrachtung willen etwas Egoistisches liegt. Wenn du das glaubst, so sprich es wenigstens nicht aus. Die Selbstentäußerung zu vergöttlichen, dazu gehört eine durchaus selbstsüchtige Zeit, wie unsere es ist. Es gehört eine gierig zugreifende Zeit, wie die, in der wir leben, dazu, jene schalen, gefühlvollen Tugenden, die ihren sofortigen Lohn in sich tragen, über jene feinen Tugenden des Geistes zu stellen. Auch treffen sie gar nicht ihr Ziel, all diese Philanthropen und Gefühlsmenschen, die beständig von der Pflicht gegen den Nächsten schwätzen. Denn die Entwickelung einer Rasse hängt von der Entwickelung des einzelnen ab, und wo die Selbsterziehung nicht mehr das Höchste ist, da sinkt sofort der geistige Maßstab, und oft genug geht er völlig verloren. Wenn du bei einem Diner einem Manne begegnest, der sein Leben damit zugebracht hat, sich selbst zu erziehen, – ich gebe zu, es kommt heute selten vor, aber doch hie und da einmal, – dann stehst du reicher von der Tafel auf und weißt, daß auf einen Augenblick ein hohes Ideal deine Tage berührt und geheiligt hat. Aber ach! mein lieber Ernst! neben einem Menschen zu sitzen, der sein Leben damit zubrachte, andere zu erziehen! Eine schreckliche Erfahrung! Wie furchtbar ist die Dummheit, die das unweigerliche Ergebnis ist, wenn man die Meinungen anderer verbessern will. Wie beschränkt ist der Geistesumfang solcher Wesen! Wie ermüdet das uns, wie muß es ihn ermüden! Mit seiner ewigen Wiederholung, seinem ekelhaften Wiederanfangen! Wie mangelt ihm jeder Keim geistigen Wachstums! Wie dreht er sich im circulus vitiosus!

Ernst.

Du sprichst mit seltsamer Gewalt, Gilbert. Hast du etwa kürzlich diese »schreckliche Erfahrung« machen müssen?

Gilbert.

Wenige entgehen ihr. Man sagt, der Schulmeister sterbe aus. Ich wollte, es wäre so. Aber der Typus! Denn der Schulmeister ist nur ein Vertreter, und sicher der unwesentlichste, einer ganzen Gattung, die, wie mir scheint, unser Leben beherrscht. Und wenn im Gebiete der Ethik der Menschenfreund die anstößigste Erscheinung ist, so ist es im Reiche des Geistes derjenige, der so sehr damit beschäftigt ist, andere zu erziehen, daß er nie Zeit hat, sich selbst zu erziehen. Nein, Ernst! Selbstzucht ist das wahre Ideal des Mannes. Goethe wußte das, und was wir Goethe verdanken, ist mehr, als wir irgendeinem verdanken, seit den Tagen der Griechen. Die Griechen wußten es und sie haben uns, als ihre Hinterlassenschaft für das moderne Denken, den Gedanken der vita contemplativa gegeben, so gut wie die kritische Methode, durch die jenes Leben allein zur Wirklichkeit werden kann. Das war es auch, was die Renaissance groß machte und uns den Humanismus gab. Das ist es, was auch unsere Zeit groß machen könnte; denn unsere wahre Schwäche liegt nicht in unvollkommener Kriegsrüstung oder unbefestigten Küsten, nicht in der Armut, die gleich einem Gespenst durch dunkle Gassen schleicht, nicht in der Trunksucht, die in den Höfen des Ekels lallt, sondern einfach darin, daß unsere Ideale Ideale des Gefühls sind und nicht des Geistes. Ich leugne nicht, daß das Ideal des Geistes schwer erreichbar ist; noch weniger, daß es bei den Massen unbeliebt ist und noch lange bleiben wird. Es ist so leicht, mit dem Leiden Mitleid zu haben. Und es ist so schwer, Gedanken mitzufühlen. Ja, die Vielen verstehen so wenig, was eigentlich der Gedanke ist, daß sie meinen, wenn sie sagen, eine Behauptung sei gefährlich, so hätten sie ihr Urteil gesprochen. Und doch haben für den Geist nur solche Behauptungen Wert. Ein Gedanke, der nicht gefährlich ist, ist gar nicht wert, ein Gedanke zu sein.

Ernst.

Gilbert, du machst mir bange. Du sagtest schon, alle Kunst sei wesentlich unmoralisch – willst du nun sagen, alles Denken sei wesentlich gefährlich?

Gilbert.

Ja, es ist so. Die Sicherheit der Gesellschaft liegt im Gewohnten und Unbewußten. Die Grundlage des Beharrens der Gesellschaft als eines gesunden Organismus ist das Fehlen jeder Geistigkeit bei ihren Mitgliedern. Die große Mehrheit der Menschen weiß das. Sie stellen sich von selbst auf jenen herrlichen Grundsatz, der sie zur Würde der Maschine erhöht. Sie wüten so wild gegen das Eindringen jeder Geistigkeit in alle Fragen des Lebens, daß man versucht wäre, zu definieren: Der Mensch ist das vernünftige Tier, das immer die Geduld verliert, wenn es im Einklang mit den Vorschriften seiner Vernunft handeln soll. – Aber wir wollen das Gebiet der Wirklichkeit verlassen und nicht mehr von den verruchten Menschenfreunden reden, die wir wahrhaftig der Gnade des weisen Chuang Tsu, des mandeläugigen Philosophen am Gelben Flusse, überlassen können, der nachwies, daß diese wohlmeinenden, aber unheilanrichtenden Weltverbesserer die einfache, unschuldige Tugend zerstört haben, die im Menschen liegt. Sie sind langweilig, und ich sehne mich danach, in das Gebiet zurückzukehren, wo die Kritik frei ist.

Ernst.

Das Gebiet des Geistes?

Gilbert.

Ja. Du erinnerst dich, ich sagte, auf seine Art sei der Kritiker ebenso schöpferisch wie der Künstler, dessen Werk unter Umständen nur den Wert hat, den Kritiker zu einer neuen Stimmung des Denkens oder Fühlens anzuregen, die er mit gleicher oder vielleicht größerer Bestimmtheit der Form ausdrücken oder durch eine neue Wendung in anderer Weise schön oder vollkommen machen kann. Gut. Es schien mir, als wärest du ein wenig skeptisch. Oder tat ich dir damit unrecht?

Ernst.

Ich bin eigentlich nicht skeptisch. Doch ich muß zugeben, daß das, was nach deiner Darlegung der Kritiker schafft – und ohne Zweifel ist er darin schöpferisch –, nach meinem Gefühl etwas rein Subjektives ist, während das größte Schaffen objektiv ist und unpersönlich.

Gilbert.

Der Unterschied zwischen objektiv und subjektiv ist nur in der äußeren Form vorhanden. Er ist zufällig, nicht wesentlich. Alles künstlerische Schaffen ist durchaus subjektiv. Selbst die Landschaft, die Corot sah, war nur eine Stimmung seiner Seele. Jene großen Gestalten des griechischen und englischen Dramas, die scheinbar ein wirkliches Dasein für sich haben, losgelöst von den Dichtern, die sie schufen und bildeten, sie sind im letzten Grunde nur die Dichter selbst, aber nicht, was sie zu sein glaubten, sondern gerade, was sie nicht zu sein glaubten. In diesem Glauben aber wurden sie es durch eine seltsame Verwandlung in Wirklichkeit, wenn auch nur für einen Augenblick. Denn wir können nie aus uns heraustreten. Im Geschaffenen ist nichts, was nicht im Schöpfer war. Ja, ich möchte sagen, je objektiver eine Schöpfung erscheint, um so subjektiver ist sie. Shakespeare könnte Rosenkrantz und Güldenstern auf den weißen Straßen Londons getroffen, oder die Diener feindlicher Häuser im Kampf auf offenen Plätzen gesehen haben; doch Hamlet entsprang seiner Seele und Romeo seiner Leidenschaft. Sie waren Teile seines Wesens, denen er sichtbare Gestalt gab. Sie waren Triebe, die in ihm so stark wühlten, daß er, gleichsam gezwungen, sie ihre Kräfte auslösen lassen mußte, und zwar nicht auf den niederen Planen wirklichen Lebens, wo sie gefesselt und beengt, und also beschnitten worden wären, sondern in jenem unwirklichen Lande der Dichtung, wo die Liebe in Wahrheit im Tode reiche Erfüllung findet, wo man die Horcher hinter der Tapete ersticht und im offenen Grabe ringt, wo man dem schuldigen König das eigene Gift reicht und seines Vaters Geist sieht, wie er unter den Strahlen des Mondes in vollem Stahl von Nebelmauer zu Mauer schreitet. Das Handeln hätte in seiner Beschränktheit Shakespeare unbefriedigt gelassen, und gerade wie er alles vollbringen konnte, weil er nichts tat, so offenbaren uns seine Stücke, weil er nie von sich redet, sein wahres Wesen und Sein viel vollständiger, als es jene seltsamen und herrlichen Sonette tun, in denen er dem Auge seines Herzens heimlichste Kammern entschleiert. Ja, die objektivste Form ist sachlich die subjektivste. Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er in eigener Person redet. Gib ihm eine Maske, so redet er Wahrheit.

Ernst.

Also wird der Kritiker, der auf die subjektive Form beschränkt bleibt, notwendigerweise weniger imstande sein, sich völlig auszusprechen, als der Künstler, der immer Formen zur Verfügung hat, die unpersönlich und objektiv sind.

Gilbert.

Nicht notwendig und sicher durchaus nicht, wenn er erkennt, daß jede Art der Kritik in ihrer höchsten Entwickelung nur eine Stimmung ist, und daß wir uns nie treuer sind, als wenn wir inkonsequent werden. Das Beharrende für den ästhetischen Kritiker ist in allen Dingen nur der Grundsatz der Schönheit. Er gewinnt den verschiedensten Schulen das Geheimnis ihres Zaubers ab; er beugt sich vielleicht vor fremden Altären, oder lächelt, wenn es ihm paßt, fremdartigen, neuen Göttern. Was andere Leute unsere Vergangenheit nennen, geht sie natürlich an, aber nicht uns. Wer rückwärts in seine Vergangenheit schaut, verdient nicht, daß vor ihm eine Zukunft liegt, in die er schauen könnte. Die Stimmung, für die man den Ausdruck fand, ist abgetan. Du lachst. Aber glaube mir, es ist so. Gestern bestrickte uns der Naturalismus. Wir fanden in ihm jenen »nouveau frisson«, den er erregen wollte. Man zergliederte ihn, man erklärte ihn und ward seiner müde. Mit Sonnenuntergang kam der Luminismus in der Malerei, der Symbolismus in der Dichtung, und plötzlich erwachte jener Geist des Mittelalters, der keiner Zeit, sondern einem Seelenzustande eignet; er erwachte im verwundeten Rußland und erregte uns einen Augenblick mit dem Zauber des Schmerzes. Heute lautet das Wort: Romantik! Und schon zittern die Blätter im Tal, und auf purpurnen Bergesspitzen wandelt mit schlanken goldenen Füßen die Schönheit. Natürlich leben die alten Arten des Schaffens fort. Die Künstler wiederholen so sich wie andere mit langweiliger Beharrlichkeit. Die Kritik aber schreitet fort, und der Kritiker entwickelt sich weiter. Auch ist der Kritiker tatsächlich nicht an die subjektive Form des Ausdrucks gebunden. Ihm bietet sich die Form des Dramas wie auch der Gang des Epos. Er kann den Dialog verwenden, wie der es tat, der uns Milton und Marvel im Gespräch über das Wesen der Tragödie und Komödie zeigte und Sidney und Lord Brooke sich über die Wissenschaften unterhalten ließ; oder auch er wählt die Form der Erzählung, wie Pater es gern tut, dessen »Imaginary Porträt« (das ist doch der Titel?) unter dem bunten Gewande der Dichtung einige feine und auserlesene Stücke der Kritik bieten: eins über Watteau, ein anderes über Spinozas Philosophie, ein drittes über die heidnischen Einflüsse in der Frührenaissance, und schließlich eins, vielleicht das bedeutendste, über die Quelle jener »Aufklärung«, die im letzten Jahrhundert über Deutschland tagte, und der Europas Kultur so manches verdankt. Und der Dialog! Jene wundervolle Form der Darstellung, die alle schöpferischen Kritiker der Welt anwandten, von Plato bis zu Lukian, von Lukian bis zu Giordano Bruno, und von Bruno bis zu jenem großen alten Heiden, den Carlyle so liebte. Der Dialog wird für den Denker seinen Reiz als Ausdrucksmittel niemals verlieren. Er kann sich in ihm entschleiern und verhüllen, kann jedem Einfall Form, jeder Stimmung Wirklichkeit verleihen. Er kann seinen Gegenstand in ihm von jedem Standpunkt aus zeigen wie ein Stück Rundplastik; er gewinnt all den Reichtum und die Kraft der Wirkung, die in jenen Seitenwegen liegt, die sich plötzlich im Verfolge des Hauptgedankens auftun und ihn vollständiger erhellen; er gewinnt auch die Möglichkeit jener glücklichen späteren Einfälle, die einem geschlossenen Gedankengang erst seine Vollständigkeit verleihen, und die doch etwas vom zarten Reiz des Zufalls hineintragen.

Ernst.

Er kann ja auch einen erdichteten Gegner erfinden, und ihn, wenn es ihm behagt, durch absurd sophistische Gründe bekehren.

Gilbert.

Ach, es ist so leicht, andere, und so schwer, sich selber zu bekehren. Um das zu finden, was man selbst im Grunde glaubt, dazu muß man schon durch fremde Lippen reden. Die Wahrheit zu kennen, muß man sich Millionen Falschheiten vorstellen. Denn was ist die Wahrheit? In Sachen der Religion: einfach die Meinung, die überlebte; in Dingen der Wissenschaft: die letzte Entdeckung; in der Kunst: unsere letzte Stimmung. – Nun also, Ernst: du siehst, daß der Kritiker ebensoviele objektive Formen der Darstellung kennt, wie der Künstler, Ruskin kleidete seine Kritik in phantasievolle Prosa und blendet mit seinen Umkehrungen und Widersprüchen; Browning kleidete sie in seine Verse, und Maler und Dichter mußten uns ihr Geheimnis offenbaren; Renan hat den Dialog, Pater seine Dichtung, und Rossetti goß die Farben Giorgiones, die Linien Ingres, und eigene Farben und eigene Linien in die Musik seiner Sonette; er war einer von denen, die in vielen Zungen reden können, und fühlte, daß die höchste Kunst die Kunst der Rede, daß das feinste und stärkste Werkzeug das Wort ist.

Ernst.

Nun gut. Du hast bewiesen, daß der Kritiker alle objektiven Formen zur Verfügung hat. Aber möchtest du mir nicht die Eigenschaften nennen, die den wahren Kritiker auszeichnen?

Gilbert.

Welche würdest du nennen?

Ernst.

Nun, ich dächte, ein Kritiker sollte vor allem gerecht sein.

Gilbert.

Ah, nicht gerecht. Ein Kritiker kann im gemeinen Verstande des Wortes nicht gerecht sein. Nur über Dinge, die einen nichts angehen, kann man unparteiisch urteilen. Das ist auch der Grund, warum ein unparteiisches Urteil niemals Wert hat. Wer beide Seiten einer Frage sieht, sieht gar nichts. Die Kunst ist eine Leidenschaft, und in der Kunst nimmt das Denken unwillkürlich die Farbe des Gefühls an, und wird so eher fließend, als fest bestimmt; und da es von feinen Stimmungen und erlesenen Momenten abhängt, darf es nicht in die Strenge wissenschaftlicher Formeln oder theologischer Dogmen eingezwängt werden. Die Kunst spricht zur Seele, und die Seele kann so gut im Gefängnis des Geistes wie des Körpers sitzen. Natürlich soll man keine Vorurteile haben; doch wie ein großer Franzose vor hundert Jahren bemerkte, ist es unsere Pflicht, in solchen Dingen Neigungen zu haben, und sobald jemand Neigungen hat, hört er auf, gerecht zu sein. Nur ein Auktionator kann unparteiisch und gleichmäßig alle Kunstschulen bewundern. Nein. Gerechtigkeit ist keine Tugend, die den Kritiker auszeichnet. Sie ist nicht einmal ein Boden, auf dem die Kritik gedeiht. Jede Kunstform, mit der wir in Berührung kommen, beherrscht uns für eine Weile so, daß sie alle anderen ausschließt. Wir müssen uns dem gegenwärtigen Werke auf Gnade und Ungnade ausliefern, wenn wir sein Geheimnis erraten wollen. Wir dürfen an nichts anderes denken, ja, wir können es nicht.

Ernst.

Der wahre Kritiker wird aber doch wenigstens vernünftig sein?

Gilbert.

Vernünftig? Man kann die Kunst auf doppelte Weise hassen, Ernst. Erstens, indem man sie haßt. Zweitens, indem man sie in den Grenzen der Vernunft liebt. Denn die Kunst – das sah schon Plato zu seinem Bedauern – schafft im Hörer und Zuschauer eine Art göttlichen Wahnsinns. Sie entspringt nicht der Inspiration, aber sie macht andere inspiriert. Nicht an die Vernunft wendet sie sich. Wenn man die Kunst liebt, muß man sie mehr lieben, als alles andere in der Welt, und solcher Liebe müßte die Vernunft, wollte man auf sie hören, fluchen. Es liegt nichts Gesundes in der Verehrung der Schönheit. Die ist viel zu blendend, um gesund zu sein. Wer sie zur herrschenden Note seines Lebens erhebt, wird der Welt ewig als bloßer Träumer erscheinen.

Ernst.

Schön, aber schließlich aufrichtig wird doch der Kritiker sein?

Gilbert.

Ein wenig Aufrichtigkeit ist gefährlich, viel Aufrichtigkeit geradezu verderblich. Zwar wird der wahre Kritiker in seiner Hingabe an die Schönheit immer aufrichtig sein. Doch er wird die Schönheit in jedem Zeitalter, in jeder Schule suchen, und sich nie durch irgendwelche Gewohnheiten des Denkens oder durch eine vorschriftsmäßige Art, die Dinge zu betrachten, beschränken lassen. Er wird sich selbst in vielen Formen, auf tausend Wegen entdecken, und immer nach neuen Gefühlen, nach unerforschten Aussichten dürsten. Durch beständigen Wechsel, und nur durch beständigen Wechsel, wird er seine wahre Einheit finden. Er wird es nie dahin kommen lassen, daß er der Sklave seiner eigenen Meinungen wird. Denn was ist Geist, wenn nicht Bewegung auf geistigem Gebiete? Das Wesen des Denkens, wie das Wesen des Lebens, liegt im Wachstum. Du mußt dich nicht durch Worte schrecken lassen, Ernst. Was die Menschen Unaufrichtigkeit nennen, ist nichts anderes als ein Mittel, unsere Wesenheit zu vervielfältigen.

Ernst.

Es tut mir leid, daß ich mit meinen Vermutungen so unglücklich war.

Gilbert.

Unter den drei Eigenschaften, die du nanntest, waren zwei, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit, wenn nicht wirklich der Moral, so doch den Grenzgebieten der Moral entnommen, und die erste Voraussetzung für die Kritik ist die Einsicht, daß Kunst und Ethik verschiedene und getrennte Welten sind. Wenn man sie vermischt, kehrt das Chaos zurück. Heute vermischt man sie allzu oft, und wenn auch unsere modernen Puritaner das Schöne nicht zerstören können, so können sie doch mit dem außerordentlichsten Sinn für moralischen Kitzel auf Zeiten wenigstens die Schönheit beflecken. Leider finden solche Leute ihren Weg zur Öffentlichkeit hauptsächlich durch den Journalismus. Ich sage leider. Denn man könnte vieles zugunsten des Journalismus sagen. Er zeigt uns die Meinung des Unerzogenen und verbindet uns so mit der Dummheit der Masse. Er verzeichnet sorgfältig die laufenden Ereignisse des zeitgenössischen Lebens, und so sehen wir, wie wenig Gewicht sie tatsächlich haben. Er bespricht unentwegt das Unwesentliche, und dadurch lernen wir begreifen, was für die Kultur wichtig ist und was nicht. Aber er dürfte dem armseligen Tartuffe nicht erlauben, über die Kunst zu schreiben. Tut er es, so macht er sich selbst zum Narren. Und doch haben auch Tartuffes Aufsätze wenigstens eine gute Seite. Sie zeigen, wie beschränkt das Gebiet ist, über das die Moral und moralische Erwägungen zu herrschen berechtigt sind. Die Wissenschaft steht außerhalb der Ethik, denn ihre Augen richten sich auf ewige Wahrheiten. Die Kunst steht außerhalb der Ethik, denn ihre Augen richten sich auf das Schöne, Unsterbliche und Ewig-Wechselnde. Der Ethik unterliegen die geringeren, weniger geistigen Gebiete. Doch mögen diese Puritaner, die den Mund so voll nehmen, noch hingehen. Sie haben ihre komische Seite. Wer wird nicht lachen, wenn ein gewöhnlicher Journalist im Ernste unternimmt, das Stoffgebiet des Künstlers zu begrenzen. Allerdings könnte man wohl unseren Zeitungen und ihren Schreibern einige Schranken setzen, und ich hoffe, man wird es bald tun. Denn sie geben uns die nackten, gemeinen, ekelerregenden Tatsachen des Lebens. Mit niedriger Gier zeichnen sie die Sünden der kleinen Leute auf, und sie erzählen uns mit der Gewissenhaftigkeit des Ungebildeten genaue und nüchterne Einzelheiten aus dem Leben von Leuten, die nicht das geringste Interesse haben. Aber der Künstler, der die Tatsachen des Lebens als gegeben nimmt und sie doch in Gestalten der Schönheit umformt, sie zum Gefäß des Schreckens oder Mitleids macht, ihre Farbigkeit zeigt, ihr Wunderbares und ihren wahren ethischen Wert, und der aus ihnen eine Welt aufbaut, die wirklicher ist, als die Wirklichkeit selbst, erhabener und edler – wer sollte ihm Grenzen setzen? Nicht die Apostel eines neuen Journalismus, der nichts anderes ist als die alte Gemeinheit »großgeschrieben«. Nicht die Apostel eines neuen Puritanertums, das nur das Gewimmer des Heuchlers ist und schlecht schreibt und schlecht spricht. Daran zu denken, erregt Gelächter. Wir wollen diese Elenden lassen und zur Besprechung der künstlerischen Eigenschaften des wahren Kritikers kommen.

Ernst.

Und welche sind das? Sage du selbst!

Gilbert.

Das erste Erfordernis für den Kritiker ist: Temperament – ein Temperament, das für die Schönheit und die mannigfaltigen Eindrücke, die uns die Schönheit gibt, aufs feinste empfänglich ist. Unter welchen Bedingungen und durch welche Mittel dieses Temperament entsteht, wollen wir gegenwärtig nicht besprechen. Es genügt, daß es da ist, und daß wir einen Schönheitssinn in uns bergen, der getrennt ist von der Vernunft und wichtiger als sie, der auch getrennt ist von der Seele, und an Wert ihr gleich – ein Schönheitssinn, der diese zum Schaffen, jene – ich denke die feineren Geister – zur reinen Betrachtung führt. Um aber rein und vollkommen zu werden, bedarf dieser Sinn einer Art erlesener Umgebung. Ohne sie verhungert er oder stumpft ab. Du erinnerst dich jener schönen Stelle bei Plato, wo er beschreibt, wie ein junger Grieche erzogen werden sollte und wieviel Gewicht er auf die Umgebung legt. Er sagt, der Jüngling müsse inmitten von schönen Gebilden und Tönen aufgezogen werden, damit die Schönheit irdischer Dinge die Seele zur Aufnahme geistiger Schönheit vorbereite. Unfühlbar und ohne zu wissen weshalb, soll er jene wahre Liebe zur Schönheit entwickeln, die, wie Plato nie müde wird, uns zu erinnern, das wahre Ziel der Erziehung ist. Langsam soll sich in ihm ein Temperament entfalten, das ihn von selber und natürlich dahin bringt, das Gute dem Schlechten vorzuziehen, alles, was gemein und unharmonisch ist, abzuweisen und mit feinem, instinktivem Geschmack all dem zu folgen, was Anmut, Zauber und Schönheit besitzt. Schließlich aber soll dieser Geschmack auf natürlichem Wege kritisch und bewußt werden, während er zuerst nur als ein feiner Instinkt vorhanden war. »Wer aber diese innere Kultur des Menschen empfangen hat, wird mit klarem und sicherem Blick die Mängel und Fehler in der Natur und Kunst bemerken. Mit einem Geschmack, der nicht irren kann, wird er loben, was gut ist, an ihm seine Freude finden, es in seiner Seele aufnehmen und gut und edel werden. Aber er wird am rechten Orte das Schlechte tadeln und hassen, und zwar schon in den Tagen der Jugend, ehe er weiß warum.« Doch später, wenn sich der kritische Geist bewußt in ihm entwickelt, »wird er ihn als einen Freund erkennen, mit dem seine Erziehung ihn längst vertraut gemacht hat«. Ich brauche wohl kaum zu sagen, wie weit wir von diesem Ideal entfernt sind, und ich kann mir das Lächeln vorstellen, das über das glatte Gesicht des Philisters strahlt, wenn man ihm sagen wollte, das wahre Ziel der Erziehung sei die Liebe zur Schönheit, und die Mittel zur Erziehung seien die Pflege des Temperaments, die Bildung des Geschmacks, die Entwickelung des kritischen Sinnes. Und doch bleibt auch uns noch einige Schönheit in unserer Umgebung. Der Stumpfsinn des Erziehers und Lehrers macht wenig aus, wenn man in grauen Klöstern umherschweifen und Flötenstimmen in Kapellen lauschen kann, oder wenn man auf grüner Wiese liegt unter fleckigen Büschen, und auf den goldenen Wetterfahnen der Türme das schönere Gold des sonnenverbrannten Mittags ruht.

Überall erwachen die schmückenden Künste. Die Stunde der Häßlichkeit hat geschlagen. Selbst in den Häusern der Reichen herrscht Geschmack, und die Häuser derer, die nicht reich sind, sind anmutig und stattlich geworden, so daß es lieblich ward, in ihnen zu wohnen. Caliban, ach, der arme lärmende Caliban! Er meint, wenn er aufhört, zu etwas ein schiefes Maul zu ziehen, so höre es auf, dazusein. – Aber wenn er nicht länger höhnt, so geschieht es, weil er auf schärferen und gewandteren Hohn traf und für eine Weile zum Schweigen gezwungen wurde, zu jenem Schweigen, das ewig seine unförmlich verzerrten Lippen schließen möge. Was bisher geschah, war hauptsächlich Verneinen. Es ist immer schwerer, zu zerstören, als zu schaffen, und wenn das, was wir zerstören müssen, Gemeinheit und Dummheit heißt, so fordert die Zerstörung nicht nur Mut, sondern auch Verachtung. Trotzdem, scheint mir, ist die Arbeit bis zu einem gewissen Grade getan. Das Schlechte haben wir abgestoßen. Jetzt gilt es, das Schöne zu schaffen. Und ob es auch die Aufgabe der ästhetischen Bewegung ist, die Menschen zur Betrachtung zu locken, nicht, sie zum Schaffen zu führen, so ist doch der Drang zum Schaffen im Kelten stark, und der Kelte führt in der Kunst; und wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln, daß diese merkwürdige Renaissance in ihrem Verlaufe ebenso mächtig wird, wie vor mehreren Jahrhunderten das Erwachen der Künste in den Städten Italiens.

Sicherlich müssen wir uns an die schmückenden Künste wenden, wenn wir das Temperament pflegen wollen: an die Künste, die uns rühren, nicht an die Künste, die uns lehren. Moderne Gemälde sind zweifellos wundervoll anzuschauen, wenigstens einige von ihnen. Aber es ist unmöglich, mit ihnen zu leben, sie sind zu erklügelt, zu verstandesmäßig, sie sagen zu viel. Ihre Deutung ist zu greifbar, ihr Wollen zu scharf umrissen. Man erschöpft, was sie sagen können, in kürzester Zeit, und dann sind sie so langweilig wie Verwandte. Ich liebe die Bilder von manchen Impressionisten in Paris oder London. Noch haben sie Feinheit und Vornehmheit. Mitunter erinnert ihre Anordnung und ihre Harmonie an die unnahbare Schönheit in Gautiers unsterblicher Symphonie en Blanc Majeur, an jenes fleckenlose Meisterwerk in Farbe und Musik, das Typus und Titel für manche ihrer besten Bilder eingab. Für Leute, die das Unzulängliche mit sympathischer Eile begrüßen, die das Bizarre mit dem Schönen verwechseln, die Gemeinheit mit der Wahrheit, für solche Leute stehen sie auf erstaunlicher Höhe. Sie machen Radierungen, die wie Epigramme blenden, Pastells, die wie Paradoxen fesseln, und ihre Porträts! – Was der gemeine Verstand auch gegen sie sagen mag, niemand kann leugnen, daß sie den eigenen, wundervollen Reiz haben, der Werken reiner Erdichtung eignet. Aber so ernst und so fleißig die Impressionisten sind, auch sie genügen nicht. Ihr Weiß mit seinen Variationen in Lila hat in der Farbe Epoche gemacht. Und wenn auch der Augenblick nicht den Menschen schafft, er schafft doch den Impressionisten, und was könnte man nicht für den Augenblick in der Kunst, für die »Versteinerung des Augenblicks« anführen? Sie regen sogar an. Haben sie auch nicht die Blinden sehend gemacht, so haben sie doch die Kurzsichtigen ermutigt, und wenn ihre Führer die Erfahrung des Alters haben, so sind ihre Jungen viel zu klug, um immer gefühlvoll zu sein. Dennoch fahren sie fort, die Malerei zu behandeln, als wäre sie eine Art Selbstbiographie für den Gebrauch des Ungebildeten, und schwätzen auf ihrer rauhen, riesigen Leinwand von ihrem unerheblichen Selbst und ihren unerheblicheren Meinungen, und verderben durch törichte Überspannung des Gefühls jene feine Verachtung der wirklichen Natur, die das Beste und einzig Bescheidene an ihnen ist. Schließlich wird man der Werke von Individuen müde, deren Individualität sich immer lärmend in Szene setzt und meistens uninteressant ist. Viel mehr könnte man zugunsten jener neueren Pariser Schule sagen, zugunsten der »Archaicistes«, wie sie sich nennen. Sie weigern sich, den Künstler der Gnade des Wetters auszuliefern, und finden das Ideal der Kunst nicht mehr in Luftwirkungen, sondern suchen vielmehr nach Schönheit der Zeichnung und Reiz der Farbe. Sie verschmähen den langweiligen Realismus derer, die nur malen, was sie sehen. Sie versuchen, etwas zu sehen, was des Sehens wert ist, und es nicht nur mit ihrem wirklichen und körperlichen Gesicht, sondern mit jenem edleren Gesicht der Seele zu sehen, dessen geistiger Gesichtskreis weiter ist und wichtiger für künstlerische Zwecke. Jedenfalls arbeiten sie mit Rücksicht auf jene dekorativen Ziele, deren jede Kunst zu ihrer Vollkommenheit bedarf, und sie haben genügend ästhetisches Gefühl, auf jene gemeine und törichte Engherzigkeit bedauernd herabzusehen, die Modernität in der Form verlangt und so manchen Impressionisten zum Unheil ausschlug. Noch immer ist die Kunst, die sich offen als schmückende gibt, die Kunst, mit der sich leben läßt. Unter all unseren Künsten ist sie die einzige, die Stimmung und Temperament in uns weckt. Schon die bloße Farbe, nicht verquickt mit Bedeutungen, nicht verknüpft an endgültige Form, kann auf tausend verschiedene Arten zur Seele reden. Die Harmonie, die in feinen Verhältnissen von Linien und Massen liegt, spiegelt sich in der Seele. Die Wiederholung von Mustern gibt uns Ruhe. Die Wunder der Zeichnung erregen die Phantasie. In der bloßen Schönheit benutzter Stoffe liegen Kräfte der Kultur verborgen. Und das ist noch nicht alles. Indem die schmückende Kunst mit Bewußtsein die Natur als Schönheitsideal verschmäht, und ebenso die nachahmende Methode des gewöhnlichen Malers, bereitet sie nicht nur die Seele zur Aufnahme wirklicher Schöpfungen der Phantasie vor, sondern entwickelt in ihr auch jenen Formensinn, der die Grundlage künstlerischen wie kritischen Schaffens ist. Denn der wahre Künstler geht nicht vom Gefühl zur Form weiter, sondern von der Form zum Gedanken und zur Leidenschaft. Er empfängt nicht zuerst eine Idee und sagt nun: »Ich will meine Idee in ein Versgebilde von 14 Zeilen bringen«, sondern er empfindet die Schönheit des Sonetts und schafft dann gewisse Klangsysteme und Bewegungen des Reimes, und die bloße Form gibt an, was sie füllen und für Geist und Gefühl vollkommen machen soll. Von Zeit zu Zeit schreit die Welt gegen irgendeinen entzückenden Verskünstler, weil er – um ihre abgedroschene, alberne Phrase zu brauchen – »nichts zu sagen habe«. Aber hätte er etwas zu sagen, so würde er es wahrscheinlich tun, und das Ergebnis wäre: Langeweile. Gerade weil er keine Botschaft bringt, kann er Schönheit schaffen. Seine Eingebung geht von der Form aus und nur von der Form, wie es beim Künstler sein sollte. Eine wirkliche Leidenschaft, würde ihn zerstören. Alles, was wirklich vorfällt, ist für die Kunst verloren. Alle schlechte Dichtung kommt aus echtem Gefühl. Natürlich sein, heißt allzu verständlich sein, und allzu verständlich sein, heißt unkünstlerisch sein.

Ernst.

Ich möchte wissen, ob du wirklich glaubst, was du sagst.

Gilbert.

Warum? Nicht nur in der Kunst ist der Körper die Seele. Auf allen Gebieten des Lebens ist die Form das Ursprüngliche. Die rhythmisch-harmonischen Gesten des Tanzes, so sagt uns Plato, wecken im Geiste Rhythmus und Harmonie. Die Formen sind die Nahrung des Glaubens, rief Newman in einem jener großen Momente der Offenheit, die uns den Mann bewundern und kennen lehren. Er hatte recht, obgleich er kaum wußte, wie furchtbar recht er hatte. Glaubenssätze werden geglaubt, nicht, weil sie vernünftig sind, sondern weil sie wiederholt werden. Ja, die Form ist alles. Sie ist das Geheimnis des Lebens. Gib der Trauer Ausdruck, so ist sie dir teuer. Gib der Freude Ausdruck, so ist sie verdoppelt. Willst du lieben? Singe Liebeslieder, und die Worte schaffen das Sehnen, aus dem, wie die Menschen meinen, jene entspringen. Nagt ein Leid an deinem Herzen? Tauche unter in der Sprache des Grams, lerne seine Laute von Hamlet oder Constantia und du wirst finden, daß die Form, die die Leidenschaft gebiert, den Schmerz tötet. Und ebenso, um auf die Kunst zurückzukommen, schafft die Form nicht nur das kritische Temperament, sondern auch den ästhetischen Sinn, der niemals irrt und in allen Dingen ihre Schönheit findet. Beginne mit der Verehrung der Form, und kein Geheimnis der Kunst wird dir unentschleiert bleiben. Denke daran, daß in der Kritik wie im Schaffen alles auf das Temperament ankommt, und daß man die Kunstschulen nicht nach der Zeit ihrer Blüte, sondern nach den Temperamenten, auf die sie wirken, ordnen sollte.

Ernst.

Deine Theorie der Erziehung ist wundervoll. Aber welchen Einfluß wird dein Kritiker haben, wenn er in solcher Umgebung aufwächst? Glaubst du wirklich, daß je ein Künstler sich von der Kritik beeinflussen läßt?

Gilbert.

Der Einfluß des Kritikers besteht in der nackten Tatsache seines Daseins. Er soll den reinen Typus darstellen. In ihm wird sich die Kultur des Jahrhunderts ausgeprägt sehen. Du darfst ihm nicht zumuten, außer seiner eigenen Vervollkommnung noch andere Ziele zu haben. Der Geist verlangt einzig danach – wie man gut gesagt hat – sich als lebendig zu fühlen. Unter Umständen wird der Kritiker vielleicht wünschen, Einfluß auszuüben. Doch dann wird er sich nicht an den einzelnen, sondern an das ganze Zeitalter wenden. Er wird versuchen, es zur Bewußtheit zu wecken und verantwortlich zu machen, indem er neue Begierden und Wünsche schafft und ihm seinen weiteren Gesichtskreis, seine edleren Stimmungen leiht. Die Kunst von heute wird ihn weniger beschäftigen als die Kunst von morgen, weit weniger als die Kunst von gestern. Und wenn der eine oder der andere sich heute abplagt, was richten die Fleißigen aus? Kein Zweifel, sie geben ihr Bestes, und also erhalten wir das Schlechteste von ihnen. Immer wird die schlechteste Arbeit mit den besten Absichten getan. Und außerdem, mein lieber Ernst, ist jemand erst vierzig Jahre alt, oder wird er Akademieprofessor, oder ist er anerkannt als Romanschreiber, dessen Bücher auf Vorstadtbahnhöfen Absatz finden, dann kann man sich das Vergnügen machen, ihn bloßzustellen, aber bessern kann man ihn nicht. Und ich kann sagen, das ist gut für ihn; denn Besserung ist viel schmerzhafter als Strafe, ja, sie ist Strafe in ihrer schwersten und moralischsten Form. Diese Tatsache erklärt übrigens zur Genüge das Fehlschlagen aller Versuche, jene interessante Erscheinung, den Gewohnheitsverbrecher zu bekehren.

Ernst.

Aber ist nicht vielleicht der Dichter der beste Kritiker des Dichters und der Maler der beste Kritiker des Malers? Jede Kunst wendet sich zunächst an den Künstler, der in ihr schafft. Sein Urteil wird sicher das wertvollste sein?

Gilbert.

Jede Kunst wendet sich einzig an das künstlerische Temperament. Die Kunst wendet sich nie an Spezialisten. Sie macht Anspruch, allgemein und doch in allen ihren Erscheinungen einheitlich zu sein. Ja, der Satz, der Künstler sei der beste Kunstrichter, ist so falsch, daß man sagen kann: ein großer Künstler kann nie über Werke anderer urteilen und kaum sogar über seine eigenen. Jene Stärke der Anschauung, die einen Menschen zum Künstler macht, beschränkt schon durch ihre Stärke seine Fähigkeit zu feinerer Abschätzung. Die Anspannung des Schaffens wirbelt ihn blind seinem eigenen Ziele entgegen. Die Räder seines Wagens wirbeln den Staub wie eine Wolke rings um ihn auf. Die Götter sind einander verborgen. Sie erkennen die, welche anbeten. Und weiter nichts.

Ernst.

Du behauptest, ein großer Künstler könne die Schönheit fremder Werke nicht erkennen?

Gilbert.

Das ist ihm unmöglich. Wordsworth sah im Endymion nichts als ein niedliches Stück Heidentum, und Shelley war in seiner Verachtung der Wirklichkeit gegen Wordsworths Botschaft taub, weil ihn ihre Form abstieß. Byron, jenes große, leidenschaftliche, menschliche, unvollkommene Wesen, konnte weder den Dichter der Wolken noch den Dichter des Sees würdigen, und die Wunder Keats waren ihm verborgen. Sophokles haßte den Wirklichkeitssinn des Euripides. Für ihn hatte das Rinnen warmer Tränen keine Musik. Milton verstand mit seinem Sinn für großen Stil Shakespeares Art so wenig wie Sir Josua die Art Gainsboroughs. Schlechte Künstler bewundern sich immer gegenseitig. Das nennen sie weitherzig und vorurteilslos. Aber ein großer Künstler begreift nicht, wie man Leben zeigen oder Schönheit gestalten könne, ohne seine Art anzunehmen. Das Schaffen verbraucht seine kritischen Kräfte in seinem eigenen Dienst. Auf andere Gebiete als das seine kann er sie nicht anwenden. Gerade, weil jemand etwas nicht machen kann, kann er es beurteilen.

Ernst.

Glaubst du das wirklich?

Gilbert.

Ja, denn das Schaffen engt den Gesichtskreis ein, während die Betrachtung ihn erweitert.

Ernst.

Aber die Technik! Sicherlich hat jede Kunst ihre eigene Technik.

Gilbert.

Gewiß: Jede Kunst hat ihre Grammatik und ihre Buchstaben. Sie sind nicht geheimnisvoll, und der Unzulängliche kann immer korrekt sein. Jedoch – wenn auch die Grundgesetze der Kunst fest und unverrückbar sind, so müssen sie, um Gestaltung zu finden, von der Phantasie in solche Schönheit getaucht sein, daß jedes von ihnen als Ausnahme erscheint. Technik ist in Wahrheit Persönlichkeit. Darum kann sie der Künstler nicht lehren, darum der Schüler sie nicht lernen, und eben darum kann sie der ästhetische Kritiker verstehen. Für den großen Dichter gibt es nur eine Melodie, seine Melodie. Für den großen Maler gibt es nur eine Art zu malen, seine Art. Der ästhetische Kritiker und nur der ästhetische Kritiker würdigt alle Formen und Arten. An ihn wendet sich die Kunst.

Ernst.

Schön. Ich glaube, ich habe alle meine Fragen gestellt und ich muß zugeben ...

Gilbert.

O, sage mir nicht, daß ich dich überzeugt habe. Wenn man mir sagt, man glaube mir, fühle ich immer, daß ich unrecht haben muß.

Ernst.

Dann will ich dir lieber nicht sagen, ob ich deiner Meinung bin oder nicht. Doch ich will noch eine Frage stellen. Du hast mir klar gemacht, daß die Kritik eine schöpferische Kunst ist. Aber welches ist ihre Zukunft?

Gilbert.

Die Zukunft gehört der Kritik. Der Stoff zum Schaffen wird von Tag zu Tag an Ausdehnung und Abwechslung begrenzter. Was auf der Hand lag, haben die Vorsehung und Walter Besant erschöpft. Wenn das Schaffen überhaupt dauern will, muß es viel kritischer werden, als es ist. Die alten Straßen und staubigen Wege sind zu oft gegangen. Ihr Zauber ist durch plumpe Füße ausgetreten, und sie haben jenen Reiz der Neuheit und der Überraschung verloren, der für die Dichtung so wichtig ist. Wer noch durch Dichtung auf uns wirken will, muß einen neuen Hintergrund schaffen, oder die Seele des Menschen in ihren innersten Regungen offenbaren. Jenes tut vorläufig Rudyard Kipling. Blättert man in seinen »Plain tales from the Hills«, so ist es, als säße man unter Palmen und läse im Buche des Lebens beim Blitz der Gemeinheit. Die grellen Farben der Bazare blenden die Augen. Die abgehetzten Anglo-Inder zweiter Klasse stehen in köstlichem Gegensatz zu ihrer Umgebung. Schon das Fehlen des Stils bei dem Erzähler gibt dem, was er sagt, einen merkwürdigen journalistischen Schein der Wirklichkeit. Vom Standpunkte großer Literatur aus betrachtet ist Kipling ein Genius, der nicht richtig sprechen kann. Vom Standpunkte des Lebens gesehen, ist er ein Berichterstatter, der die Gemeinheit besser kennt, als irgend jemand. Dickens kannte ihre Kleider und ihre Komödie; Kipling kennt ihr Wesen und ihren Ernst. Er ist der Erste im zweiten Rang, er sah Wunder durchs Schlüsselloch, und seine Hintergründe sind Kunstwerke. An solchen, die das Seelenleben tiefer zu fassen versuchten, hatten wir Browning und haben wir Meredith. Aber noch bleibt viel zu tun. Man sagt bisweilen, die Dichtung werde zu krankhaft. Soweit die Psychologie in Betracht kommt, war sie nie krankhaft genug. Wir haben erst an die Haut der Seele gerührt. Weiter nichts. In einer einzigen Zelle des Gehirns sind schrecklichere Wunder aufgespeichert, als selbst die sich träumen lassen, die, gleich dem Verfasser von Rouge et Noir, die Seele in ihre geheimsten Verstecke verfolgen wollten, und das Leben zwingen, seine teuersten Sünden zu bekennen. Doch selbst die Zahl unerforschter Hintergründe ist begrenzt, und es ist möglich, daß eine weitere Entwickelung der Seelenkunde jene schöpferische Kraft untergräbt, der sie neuen Stoff bieten will. Ich selber neige zu der Ansicht, daß das Schaffen seinem Schicksal entgegengeht. Es entspringt einem zu primitiven, zu natürlichen Drange. Doch wie dem auch sei: sicher ist, daß der Stoff zum Schaffen immer geringer wird, während der Stoff der Kritik täglich wächst. Der Geist findet immer neue Stellungen, neue Standpunkte. Die Verpflichtung, dem Chaos Form zu geben, läßt nicht nach, wenn die Welt fortschreitet. Nie war die Kritik nötiger als jetzt. Nur durch sie kann die Welt sich bewußt werden, wohin sie gekommen ist.

Vor einigen Stunden fragtest du mich nach dem Nutzen der Kritik. Du hättest mich ebensogut nach dem Nutzen des Denkens fragen können. Die Kritik schafft, das hat Arnold bewiesen, die geistige Atmosphäre einer Zeit. Die Kritik, das hoffe ich eines Tages zu beweisen, macht den Geist erst zu einem feinen Werkzeug. Wir haben in unserem Erziehungssystem das Gedächtnis mit einer Last unverbundener Tatsachen beladen und ernstlich danach gestrebt, unser mühsam erworbenes Wissen mitzuteilen. Wir lehren die Menschen Erinnerung, wir lehren sie nicht, wie sie wachsen können. Es fiel uns nie ein, im Geiste eine feinere Fähigkeit der Wahrnehmung und Unterscheidung zu versuchen und zu entwickeln. Die Griechen taten das, und wenn wir mit dem kritischen Geist der Griechen in Berührung kommen, so müssen wir erfahren, daß trotz der Erweiterung und trotz der Differenzierung unserer Stoffgebiete ihre Art der Auslegung des Stoffes die einzige ist. England hat eins getan: es hat die öffentliche Meinung erfunden und befestigt, und das ist ein Versuch, die Unwissenheit der Menge zu organisieren und sie zur Würde einer physischen Macht zu erheben. Aber die Weisheit blieb ihr ewig verborgen. Als Werkzeug des Denkens betrachtet, ist der englische Geist unbeholfen und unentwickelt. Das einzige, was ihn reinigen kann, ist das Wachstum des kritischen Geistes.

Und wiederum macht nur die Kritik durch ihr Zusammenfassen die Kultur möglich. Sie destilliert aus der schwerfälligen Masse der schöpferischen Werke einen feineren Saft. Wer noch einigen Formsinn behalten möchte, wie könnte sich der durch die ungeheuerliche Menge von Büchern durchkämpfen, die die Welt hervorgebracht hat, von Büchern, in denen Gedanken stammeln oder Unwissenheit zankt? Der Faden, der uns durch das ermüdende Labyrinth führen soll, liegt in den Händen der Kritik. Ja, noch mehr. Wo keine Aufzeichnung vorhanden und die Geschichte verloren oder nie geschrieben ist, da kann die Kritik das Vergangene aus den kleinsten Fragmenten der Sprache oder der Kunst wiederherstellen, und zwar mit gleicher Sicherheit, wie etwa der Zoologe aus einem winzigen Knochen oder dem bloßen Abdruck eines Fußes im Felsen den geflügelten Drachen wieder aufbaut oder die Rieseneidechse, die einst die Erde mit ihrem Tritt erschütterte, wie er das Flußpferd aus seiner Höhle lockt, oder den Leviathan noch einmal übers Meer hinschwimmen läßt. Die vorgeschichtliche Geschichte gehört dem philologischen oder archäologischen Kritiker. Ihm offenbart sich der Ursprung der Dinge. Die bewußte Hinterlassenschaft einer Zeit führt fast immer irre. Nur durch die philologische Kritik wissen wir mehr aus den Jahrhunderten, von denen kein Bericht auf uns kam, als wir von denen wissen, die uns ihre Schriftrollen überliefert haben. Sie kann für uns tun, was weder die Physik noch die Metaphysik tun kann. Sie kann uns die genaue Geschichte des Geistes im Prozeß seines Werdens entschleiern. Sie kann für uns tun, was auch die Geschichte nicht tun kann. Sie kann uns sagen, was der Mensch dachte, noch ehe er schreiben lernte. Du fragtest nach dem Einfluß der Kritik. Ich denke, die Frage habe ich schon beantwortet. Aber man kann noch etwas sagen. Die Kritik macht uns auch zu Kosmopoliten. Die Manchester-Schule versuchte, die Brüderlichkeit der Menschen herbeizuführen, indem sie die Vorteile des Friedens für den Handel ins Licht stellte. Sie versuchte, unsere Welt voll Wunder zu einem gemeinen Marktplatz für Käufer und Verkäufer zu erniedrigen. Sie wandte sich an die niedrigsten Instinkte und litt Schiffbruch. Krieg folgte auf Krieg, und das Dogma des Kaufmanns verhinderte Frankreich und Deutschland nicht, in blutiger Schlacht aufeinander zu prallen. Andere wollen sich heute an die bloße Sympathie des Gefühls wenden oder berufen sich auf die flache Lehre irgendeines unklaren ethischen Systems. Sie haben ihre Friedensgenossenschaften, die den Sentimentalen so ans Herz gewachsen sind, und sie machen Vorschläge über ein unbewaffnetes internationales Schiedsgericht, das bei allen beliebt ist, die nie in der Geschichte lasen. Aber die Sympathie des Gefühls reicht nicht aus. Sie ist zu veränderlich, zu eng mit den Leidenschaften verbunden; und ein Schiedsgericht, das man zur allgemeinen Wohlfahrt einer Rasse der Macht beraubt, seine Entscheidungen in die Tat umzusetzen, wird nicht viel Nutzen bringen. Nur eins ist schlimmer als Ungerechtigkeit: Gerechtigkeit ohne das Schwert in der Hand. Wenn das Recht nicht auch Macht ist, ist es Übel. Nein: Gefühle werden uns nie zu Weltbürgern machen, so wenig es die Gier nach Gewinn vermochte. Nur durch die Pflege der Gewohnheit, im Geiste Kritik zu üben, werden wir instand gesetzt werden, uns über Rassenvorurteile zu erheben. Goethe – du darfst nicht mißverstehen, was ich sage – war ein Deutscher unter Deutschen. Er liebte sein Vaterland, wie irgendeiner. Sein Volk war ihm teuer, und er fühlte es. Doch, als der eherne Huf Napoleons über Weinberg und Kornfeld raste, da schwieg seine Lippe. »Wie kann man Lieder des Hasses singen, ohne zu hassen?« sagte er zu Eckermann, »und wie könnte ich, für den es einzig auf Kultur oder Barbarei ankommt, wie könnte ich eine Nation hassen, die zu den kultiviertesten der Erde gehört, und der ich einen so großen Teil meiner eigenen Kultur verdanke?« Diesen Ton schlug in der modernen Welt Goethe zuerst an, und ich denke, er wird der Ausgangspunkt für das Weltbürgertum der Zukunft werden. Die Kritik wird die Rassenvorurteile vernichten, indem sie immer wieder die Einheit des menschlichen Geistes in seinen vielen verschiedenen Formen nachweist. Wenn wir versucht sind, einer fremden Nation den Krieg zu erklären, so werden wir uns erinnern, daß wir im Begriffe stehen, einen Teil unserer eigenen Kultur zu zerstören, und vielleicht ihren wichtigsten Teil. Solange der Krieg als gottlos angesehen wird, wird er seinen Reiz behalten. Erst, wenn man ihn als gemein ansieht, wird er seine Popularität verlieren. Der Wandel wird natürlich langsam vor sich gehen. Man wird ihn nicht merken. Man wird nicht sagen: »Wir wollen nicht gegen Frankreich Krieg führen, weil seine Prosa vorzüglich ist,« sondern: weil Frankreichs Prosa vorzüglich ist, wird man das Land nicht mehr hassen. Die geistige Kritik wird Europa enger zusammenbinden, als es Handel und Sympathie der Gefühle vermögen. Sie wird uns den Frieden geben, der aus dem Verstehen entspringt.

Doch das ist nicht alles. Die Kritik erkennt keinen Standpunkt als endgültig an, sie verschmäht, sich durch die flachen Sätze einer Sekte oder Schule zu binden, und so schafft sie jenen heiteren philosophischen Geist, der die Wahrheit um ihrer selbst willen liebt und sie darum nicht weniger liebt, weil er weiß, sie ist unerreichbar. Wie wenig von diesem Geiste haben wir und wie nötig brauchen wir ihn! Der englische Geist wütet immer. Der Intellekt der Rasse wird durch das törichte und schmutzige Gezänk von Politikern zweiten und Theologen dritten Ranges zerstört. Einem Manne der Wissenschaft blieb es vorbehalten, uns das höchste Beispiel jener »ruhigen Vernünftigkeit« zu geben, von der Arnold so weise und ach! mit so wenig Erfolg sprach. Der Verfasser der »Abstammung des Menschen« hatte sicherlich jenen philosophischen Geist. Betrachtet man unsere gewöhnlichen Katheder und Kanzeln, so muß man die Verachtung Julians oder die Gleichgültigkeit Montaignes empfinden. Uns beherrscht der Fanatiker, und sein schlimmstes Laster ist seine Offenheit. Alles, was dem freien Spiel des Geistes auch nur nahe kommt, ist tatsächlich bei uns unbekannt. Man erhebt sein Geschrei gegen den Sünder, und doch ist es nicht der Sünder, sondern der Dummkopf, der uns zur Schmach gereicht. Es gibt keine Sünde außer der Dummheit.

Ernst.

Ah, was für ein Widerspruchsgeist du bist!

Gilbert.

Der künstlerische Kritiker ist, wie der Mystiker, immer ein Widersprechender. Nach dem gewöhnlichen Maßstab der Güte gut zu sein, ist natürlich ganz leicht. Dazu gehört nur ein gewisser Vorrat gemeiner Angst, ein gewisser Mangel an Phantasie und Gedanken, und eine gewisse niedrige Liebe zur Durchschnittsverantwortlichkeit. Die Ästhetik steht über der Ethik. Sie gehört einer geistigeren Sphäre an. Die Schönheit eines Dinges zu erkennen, das ist das höchste, was wir erreichen können. Selbst der Farbensinn ist in der Entwickelung des einzelnen wichtiger als der Sinn für Recht und Unrecht. Ja, die Ästhetik verhält sich zur Ethik in der Sphäre bewußter Zivilisation, wie sich in der äußeren Welt die künstliche zur natürlichen Zuchtwahl verhält. Die Ethik macht, wie die natürliche Zuchtwahl, das Dasein möglich. Die Ästhetik macht, wie die künstliche Zuchtwahl, das Leben lieblich und wunderbar, füllt es mit neuen Formen und verleiht ihm Fortschritt, Mannigfaltigkeit, Wechsel. Und wenn wir die wahre Kultur erreichen, nach der wir streben, so kommen wir zu jener Vollkommenheit, von der die Heiligen träumten, der Vollkommenheit jener, denen die Sünde unmöglich ist, und zwar nicht, weil sie gleich dem Asketen entsagen, sondern weil sie alles tun können, was sie wollen, ohne die Seele zu verletzen, und weil sie nichts wünschen können, was der Seele schadet; denn die Seele ist ein so göttliches Wesen, daß sie sich in die Elemente reicherer Erfahrung, feinerer Empfänglichkeit, neuer Arten des Denkens, Handelns oder Leidens verwandeln kann, die alle bei der gewöhnlichen Seele gemein, bei der unerzogenen unedel, bei der schandebeladenen verächtlich wären. Ist das gefährlich? – Ja, es ist gefährlich; alle Ideen, sagte ich, sind gefährlich. – Doch die Nacht wird müde, und in der Lampe flackert die Flamme. – Eins muß ich noch sagen. Du führtest gegen die Kritik an, sie sei unfruchtbar. Das neunzehnte Jahrhundert ist ein Wendepunkt der Geschichte, und zwar durch zwei Männer ward es dazu: durch Darwin und Renan. Der eine war der Kritiker des Buches der Natur, der andere der Kritiker der Bücher Gottes. Wer das nicht einsieht, verkennt die Bedeutung einer der wichtigsten Epochen in der Entwickelung der Welt. Das Schaffen bleibt immer hinter der Zeit zurück. Die Kritik führt uns. Der kritische Geist und der Weltgeist sind ein und dasselbe.

Ernst.

Und wer diesen Geist hat, wird vermutlich nichts tun?

Gilbert.

Gleich der Persephone, von der uns Landor spricht, »der lieblichen, gedankenreichen, um deren Füße Asphodil und Amaranth blühen«, wird er zufrieden ruhen, »in jener tiefen, unbewegten Ruhe, mit der die Sterblichen Mitleid haben, an der sich die Götter erfreuen«. Er sieht auf die Welt hinaus und kennt ihr Geheimnis. Durch die Berührung mit göttlichen Dingen wird er göttlich. Sein Leben, und nur seines, wird vollkommen sein.

Ernst.

Du hast mir heute manches Sonderbare gesagt, Gilbert. Du sagtest, es sei schwerer, über etwas zu reden, als es zu tun, und nichts zu tun, sei das Schwerste. Du sagtest, alle Kunst sei unmoralisch, alles Denken gefährlich; die Kritik sei schöpferischer als das Schaffen, und die höchste Kritik sei die, die im Kunstwerk offenbart, was der Künstler nicht hineinlegte; gerade, weil jemand etwas nicht machen könne, sei er der geeignete Richter und Beurteiler, der wahre Kritiker sei ungerecht, unaufrichtig und nicht vernünftig. – Mein Freund, du bist ein Träumer.

Gilbert.

Ja, ich bin ein Träumer, denn ein Träumer ist der, der seinen Weg nur im Mondschein findet, und seine Strafe ist, daß er den Morgen vor der übrigen Welt dämmern sieht.

Ernst.

Seine Strafe?

Gilbert.

Und sein Lohn. Doch sieh, es dämmert schon. Ziehe die Vorhänge zurück und öffne die Fenster weit. – Wie kühl ist die Morgenluft. Dort liegt uns zu Füßen Piccadilly wie ein langes Silberband. Ein leichter Purpurnebel hängt über dem Park, und die Schatten der weißen Häuser sind purpurn. Es ist zu spät zum Schlafen. Laß uns hinuntergehen und nach den Rosen schauen. Komm! Ich bin des Denkens müde.


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