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Achtes Kapitel

Mittag war längst vorüber, als er erwachte. Sein Diener war mehrmals auf den Fußspitzen in das Zimmer geschlichen, um zu sehen, ob er wach wäre, und er hatte sich gewundert, weshalb sein junger Herr so lange schlafe. Schließlich klingelte es, und Viktor trat leise ein mit einer Schale Tee und einem Stoß Postsachen auf einer schmalen Sevresplatte und zog die olivengelben Atlasvorhänge mit ihrem blauglänzenden Futter vor den drei großen Fenstern zurück.

»Monsieur hat heute morgen gut geschlafen«, sagte er lächelnd.

»Wieviel Uhr ist es?« fragte Dorian Gray noch verschlafen.

»Ein Viertel zwei, Monsieur!«

Wie spät es war! Er setzte sich auf, schlürfte einige Züge Tee und durchblätterte die Briefe. Einer davon war von Lord Henry und war diesen Morgen von einem Boten abgegeben worden. Er zögerte einen Augenblick und legte ihn dann zur Seite. Die anderen öffnete er zerstreut. Sie enthielten die gewöhnliche Sammlung von Karten, Einladungen zum Essen, Ausstellungsbilletts, Programmen für Wohltätigkeitskonzerte und ähnlichen Aufforderungen, wie sie einem jungen Mann der Gesellschaft während der Saison jeden Morgen ins Haus regnen. Es war auch eine recht große Rechnung dabei für ein Toiletteservice im Stile Louis des Fünfzehnten, aus getriebenem Silber, die er noch nicht mutig genug gewesen war, seinen Vormündern vorzulegen, die außerordentlich altmodische Herren waren und nicht begreifen konnten, daß man in einer Zeit lebe, wo die unnötigen Dinge unsere einzige Notwendigkeit sind; und außerdem war eine Reihe sehr höflich abgefaßter Mitteilungen aus Jermyn Street da, in denen man sich anbot, ihm in der kürzesten Zeit jeden Geldbetrag zu dem mäßigsten Zinsfuße vorzustrecken.

Etwa nach zehn Minuten stand er auf, schlüpfte in einen raffinierten Schlafrock aus Kaschmirwolle mit Seidenstickereien, und ging in das onyxgepflasterte Badezimmer. Das kalte Wasser erquickte ihn nach dem langen Schlaf. Er schien alles vergessen zu haben, was er hinter sich hatte. Ein- oder zweimal durchzuckte ihn ein undeutliches Gefühl, als wäre er irgendwie in eine seltsame Tragödie verwickelt gewesen, aber die Unwirklichkeit eines Traumes webte darüber.

Sobald er angezogen war, ging er in das Bibliothekszimmer und setzte sich zu einem leichten französischen Frühstück nieder, das auf einem kleinen, runden Tische nahe beim offenen Fenster bereit stand. Es war ein entzückender Tag. Die warme Luft schien mit Wohlgerüchen gewürzt. Eine Biene flog herein und summte um die Schale aus blauem Drachenporzellan, die voller schwefelgelber Rosen vor ihm stand. Er fühlte sich vollkommen glücklich.

Plötzlich fiel sein Blick auf den Wandschirm, den er vor das Bild gestellt hatte, und er zuckte zusammen.

»Ist es zu kalt für den gnädigen Herrn?« fragte der Diener, während er eine Omelette auf den Tisch stellte. »Soll ich das Fenster schließen?«

Dorian schüttelte den Kopf. »Mir ist nicht kalt«, antwortete er.

War es alles wahr? Hatte sich das Bild wirklich verändert? Oder war es lediglich seine eigene Phantasie gewesen, die ihm einen Zug von Schlechtigkeit vorgespiegelt hatte, wo nur ein Zug von Freude gewesen war? Eine gemalte Leinwand konnte sich doch nicht verändern? Das war doch Tollheit! Das würde er eines Tages Basil als Märchen erzählen. Er würde darüber lächeln.

Und doch, wie lebendig war die Erinnerung an die ganze Sache! Zuerst in dem schwankenden Zwielicht und dann in der hellen Morgenfrühe hatte er den Zug von Grausamkeit um die geschwungenen Lippen bemerkt. Er fürchtete sich förmlich davor, daß sein Diener hinausgehen könnte. Er wußte, er würde, sowie er allein sei, das Bild betrachten müssen. Er fürchtete sich vor dieser Gewißheit. Als der Diener Kaffee und Zigaretten gebracht hatte und sich zum Gehen wandte, empfand er den heftigsten Wunsch, ihn dableiben zu lassen. Als sich hinter ihm die Tür geschlossen hatte, rief er ihn zurück. Der Mann stand da und wartete auf seine Befehle. Dorian sah ihn einen Augenblick an. »Ich bin für niemand zu Hause, Viktor«, sagte er mit einem Seufzer. Der Mann verbeugte sich und ging hinaus.

Dann stand er vom Tische auf, zündete sich eine Zigarette an und warf sich auf eine üppig gepolsterte Ottomane, die gegenüber dem Schirme stand. Es war ein alter Wandschirm aus vergoldetem spanischen Leder, in das ein blumiges Louis-Quatorze-Muster getrieben war. Er musterte ihn forschend und fragte sich, ob der Schirm wohl schon jemals das Geheimnis eines Menschenlebens verhüllt habe.

Sollte er ihn überhaupt wegschieben? Warum ihn nicht da stehen lassen? Was half die Gewißheit? War die Sache wahr, so war es schrecklich. War sie nicht wahr, wozu sich darüber beunruhigen? Aber wie, wenn durch Schicksalstücke oder irgendeinen tödlichen Zufall andere Augen als die seinen dahinter blickten und die fürchterliche Veränderung sähen? Was wollte er tun, wenn Basil Hallward kam und sein eigenes Bild sehen wollte? Das würde Basil sicher tun. Nein, die Sache mußte untersucht werden, und zwar auf der Stelle. Alles war besser als diese schreckliche Ungewißheit.

Er stand auf und verschloß beide Türen. Er wollte wenigstens allein sein, wenn er die Maske seiner Schande betrachtete. Dann schob er den Schirm zur Seite und sah sich selbst von Angesicht zu Angesicht. Es war vollständig wahr. Das Bildnis hatte sich verändert.

Er erinnerte sich später oft und immer mit nicht geringer Verwunderung, daß er zuerst das Bild mit einem Gefühl von wissenschaftlichem Interesse geprüft habe. Daß eine solche Veränderung möglich sei, schien ihm nicht glaublich. Und doch war es Tatsache. Gab es irgendeine geheime Verwandtschaft zwischen den chemischen Atomen, die auf der Leinwand Form und Farbe werden, und der Seele, die in ihm lebte? Konnte es sein, daß sie in Wirklichkeit ausdrückten, was seine Seele dachte? – daß sie zur Wahrheit machten, was sie träumte? Oder gab es eine andere schreckliche Beziehung? Er schauderte zusammen und fühlte sich von Angst gepackt. Dann ging er zu der Ottomane zurück und lag nun da, das Bildnis in krankhaftem Schrecken anstierend.

Eine Wirkung aber, das fühlte er, hatte es gehabt. Es hatte ihm klargemacht, wie ungerecht, wie grausam er gegen Sibyl Vane gewesen war. Noch war es nicht zu spät, das wieder gut zu machen. Sie konnte noch sein Weib werden. Seine unwahre, selbstsüchtige Liebe sollte einer höheren Kraft den Platz einräumen, sollte sich zu einer edleren Leidenschaft erhöhen und das Bildnis, das Basil Hallward gemalt hatte, sollte sein Führer durchs Leben, sollte das für ihn sein, was Heiligkeit für einige, Gewissen für andere und Gottesfurcht für uns alle ist. Es gab Schlafmittel für Gewissensbisse, Medikamente, die das Sittlichkeitsgefühl in Schlaf lullen konnten. Aber hier war das durch Sündigkeit hervorgerufene sichtbare Symbol der Erniedrigung. Hier war das ewig unauslöschliche Zeichen des Verderbens, das Menschen der eigenen Seele zufügen.

Es schlug drei und vier, und noch eine halbe Stunde ließ das doppelte Zeichen erklingen, aber Dorian Gray rührte sich nicht. Er bemühte sich, die scharlachroten Fäden des Lebens zu entwirren und sie in ein Muster zu verschlingen; seinen Weg zu finden aus dem blutroten Irrgarten der Leidenschaft, den er durchwanderte. Er wußte nicht, was er tun, nicht, was er denken sollte. Endlich trat er an den Tisch und schrieb einen leidenschaftlichen Brief an das Mädchen, das er geliebt hatte, flehte sie an, ihm zu verzeihen, und beschuldigte sich des Wahnsinns. Er bedeckte Seite um Seite mit wilden Worten der Sorge und noch heftigeren des Schmerzes. Es gibt eine Wollust in Selbstanklagen. Wenn wir uns selbst tadeln, haben wir das Gefühl, daß uns kein anderer tadeln dürfe. Die Beichte, nicht der Priester, erteilt uns Absolution. Als Dorian den Brief beendet hatte, fühlte er, daß ihm vergeben worden sei.

Plötzlich pochte man an die Tür und er hörte Lord Henrys Stimme draußen. »Lieber Junge, ich muß dich sehen. Laß mich gleich herein! Ich kann es nicht zugeben, daß du dich so absperrst!«

Er gab zuerst keine Antwort, sondern blieb ganz still. Das Klopfen wiederholte sich und wurde lauter. Ja, es war besser, Lord Henry einzulassen und ihm zu erklären, daß er ein neues Leben führen wolle, mit ihm zu streiten, wenn Streit nötig wäre, und sich von ihm zu trennen, wenn Trennung stattfinden mußte. Er sprang auf, schob den Wandschirm hastig vor das Bild und schloß die Tür auf.

»Es tut mir alles so sehr leid, Dorian«, sagte Lord Henry, als er eintrat. »Aber du mußt nicht zuviel daran denken.« »Meinst du an Sibyl Vane?« fragte der Jüngling.

»Ja, natürlich«, erwiderte Lord Henry, ließ sich in einen Stuhl nieder und zog seine gelben Handschuhe langsam aus. »Es ist gewiß, einerseits betrachtet, schrecklich, aber es war doch nicht deine Schuld. Sag' mal, bist du hinter die Bühne gegangen und hast du sie gesehen, als das Stück aus war?«

»Ja.«

»Ich war davon überzeugt. Hast du ihr eine Szene gemacht?«

»Ich war brutal, Harry, offen gesagt, brutal. Aber jetzt ist alles wieder gut. Was geschehen ist, tut mir nicht mehr leid. Es hat mich gelehrt, mich selbst besser kennenzulernen.«

»Ach, Dorian, da bin ich sehr froh, daß du es so auffaßt. Ich fürchtete, dich von Gewissensbissen zermartert zu finden und wie du dir die hübschen lockigen Haare zerraufst.«

»Das habe ich alles durchgemacht«, sagte Dorian und schüttelte lächelnd den Kopf. »Jetzt bin ich vollkommen glücklich. Vor allem weiß ich jetzt, was es heißt, ein Gewissen zu haben. Es ist nicht das, was du mir gesagt hast. Es ist das Göttlichste in uns. Spotte nicht darüber, nie mehr, Harry – wenigstens nie mehr in meiner Gegenwart. Ich will jetzt gut sein. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, meine Seele befleckt zu haben.«

»Wirklich eine entzückende, künstlerische Grundlage für Moral, Dorian. Ich gratuliere dir dazu. Aber wie willst du damit anfangen?«

»Indem ich Sibyl Vane heirate.«

»Sibyl Vane heiraten?« schrie Lord Henry auf, erhob sich und sah ihn mit der bestürztesten Verwunderung an. »Aber mein lieber Dorian –«

»Ja, Harry, ich weiß, was du sagen willst. Irgend etwas Häßliches über die Ehe. Sag' es nicht. Sag' mir nie wieder solche Dinge. Vor zwei Tagen habe ich Sibyl gebeten, mich zu heiraten. Ich werde mein Wort nicht brechen. Sie soll meine Frau werden.«

»Deine Frau, Dorian... Hast du denn meinen Brief nicht bekommen? Ich habe dir heute früh geschrieben und schickte die Mitteilung durch meinen Diener her.«

»Deinen Brief? Ach ja, ich erinnere mich. Ich hab' ihn noch nicht gelesen, Harry. Ich fürchtete, daß etwas drin stünde, was mir nicht gefallen könnte. Du vivisezierst das Leben mit deinen Aphorismen.«

»Dann weißt du also nichts.«

»Wovon sprichst du?«

Lord Henry wanderte durch das Zimmer, setzte sich dann neben Dorian Gray, nahm seine beiden Hände und hielt sie fest. »Dorian,« sagte er, »mein Brief – erschrick nicht – sollte dir melden, daß Sibyl Vane tot ist.«

Ein Schmerzensschrei gellte von den Lippen des Jünglings, und er sprang auf und riß seine Hände aus Lord Henrys Umklammerung los. »Tot! Sibyl tot! Es ist nicht wahr. Es ist eine furchtbare Lüge. Wie wagst du es, das zu sagen?«

»Es ist völlig wahr, Dorian«, sagte Lord Henry ernst. »Es steht in allen Morgenblättern. Ich schrieb dir's gleich und bat, du solltest niemand empfangen, bis ich käme. Es muß natürlich eine Untersuchung stattfinden, und du darfst da nicht hineingezogen werden. Dinge dieser Art machen in Paris einen Mann zum Helden des Tages. Aber in London haben die Leute zuviel Vorurteile. Hier darf man nie mit einem Skandal debütieren. Man muß sich das aufheben, um im Alter noch interessant zu sein. Ich nehme an, man weiß im Theater deinen Namen nicht. In dem Fall ist alles gut. Hat dich jemand in die Garderobe gehen sehen? Das ist ein wichtiger Faktor.«

Ein paar Augenblicke lang antwortete Dorian nicht. Er war vor Entsetzen gelähmt. Schließlich stammelte er mit erstickter Stimme: »Harry, sagtest du eine Untersuchung? Was meintest du damit? Hat sich Sibyl –? Oh, Harry, ich kann's nicht ertragen. Mach's kurz. Sag' mir alles auf einmal.«

»Ich zweifle nicht daran, daß es kein Versehen war, Dorian, wenn man es auch dem Publikum so darstellen muß. Es scheint, sie hat das Theater mit ihrer Mutter verlassen, gegen halb eins ungefähr, und dann sagte sie plötzlich, sie habe oben etwas vergessen. Man wartete einige Zeit auf sie, aber sie kam nicht wieder herunter. Schließlich fanden sie sie tot auf dem Boden in ihrem Ankleidezimmer. Sie hatte aus Versehen irgend etwas getrunken, irgend solche gräßliche Sache, die man in den Theatern braucht. Ich weiß nicht genau, was es war, aber es muß entweder Blausäure oder Bleiweiß gewesen sein. Ich vermute, Blausäure, denn sie scheint sofort tot gewesen zu sein.«

»Harry, Harry, es ist furchtbar!« schrie der Jüngling.

»Ja; natürlich ist's sehr tragisch, aber du mußt sehen, nicht mit in die Sache verwickelt zu werden. Ich habe im ›Standard‹ gelesen, daß sie siebzehn Jahre alt war. Ich hätte sie noch eher für jünger gehalten. Sie sah ganz wie ein Kind aus und schien so wenig von der Schauspielerei zu verstehen. Dorian, du darfst dir die Sache nicht so an die Nerven gehen lassen. Du mußt mitkommen und mit mir essen, und nachher wollen wir noch 'n bißchen in die Oper gehen. Die Patti singt, und alle Welt wird da sein. Du kannst mit in die Loge von meiner Schwester kommen. Sie bringt ein paar famose Frauen mit.«

»So habe ich also Sibyl Vane gemordet,« sagte Dorian Gray halb zu sich selbst – »sie gemordet, so sicher, als hätte ich ihre zarte Kehle mit einem Messer durchschnitten. Und doch sind darum die Rosen nicht weniger entzückend. Die Vögel in meinem Garten singen genau so lustig. Und heute abend geh' ich mit dir essen und dann in die Oper und nachher vermutlich irgendwo soupieren. Wie merkwürdig dramatisch das Leben ist. Wenn ich das alles in einem Buche gelesen hätte, Harry, ich glaube, ich hätte darüber geweint. Aber jetzt, wo es in Wirklichkeit geschehen ist, wo es mir selbst geschehen ist, scheint es mir zu wunderbar für Tränen. Da liegt der erste leidenschaftliche Liebesbrief, den ich in meinem Leben geschrieben habe. Seltsam, daß mein erster leidenschaftlicher Liebesbrief an ein totes Mädchen gerichtet ist. Ich möchte wohl wissen, ob sie noch ein Gefühl haben, diese weißen, verstummten Menschen, die wir Tote nennen. Sibyl! Kann sie fühlen, oder wissen, oder hören? O Harry, wie hab' ich sie einmal geliebt! Es scheint mir jetzt vor Jahren gewesen zu sein. Sie war mir alles. Dann kam dieser schreckliche Abend, – war es wirklich erst gestern? wo sie so schlecht spielte und mir fast das Herz zerriß. Sie hat mir alles erklärt. Es war furchtbar rührend. Aber es machte nicht den mindesten Eindruck auf mich. Ich hielt sie für ein oberflächliches Geschöpf. Dann geschah plötzlich etwas, was mir Furcht einjagte. Ich kann dir nicht sagen, was es war, aber es war furchtbar. Ich nahm mir vor, zu ihr zurückzukehren. Ich empfand, daß ich unrecht gehabt habe. Und jetzt ist sie tot. Mein Gott! Mein Gott! Harry, was soll ich tun? Du kennst die Gefahr nicht, in der ich schwebe und es gibt nichts, was mich aufrechterhalten könnte. Sie hätte es für mich getan. Sie hatte kein Recht, sich umzubringen. Es war selbstsüchtig von ihr.«

»Mein lieber Dorian,« antwortete Lord Harry, während er eine Zigarette aus dem Etui nahm und ein goldenes Streichholzbüchschen hervorholte, »die einzige Art, auf die eine Frau einen Mann bessern kann, besteht darin: sie langweilt ihn so gründlich, daß er alles Interesse am Leben verliert. Wenn du dieses Mädchen geheiratet hättest, wärst du verdorben worden. Natürlich hättest du sie gütig behandelt. Menschen, für die man nichts übrig hat, kann man immer gütig behandeln. Aber sie hätte bald herausgefunden, daß du gar nichts für sie übrig hast. Und wenn eine Frau bei ihrem Mann Gleichgültigkeit wittert, vernachlässigt sie sich entweder schrecklich, oder sie trägt überelegante Hüte, die der Mann einer anderen Frau bezahlen muß. Ich will nichts über das soziale Mißverhältnis sagen, das schauderhaft gewesen wäre; ich hätte selbstverständlich die Sache nie zugegeben, aber ich versichere dir, die Sache wäre in jedem Falle ganz verfehlt gewesen.«

»Vermutlich«, murmelte der junge Mann, während er mit furchtbar blassem Gesicht im Zimmer auf und ab schritt. »Aber ich glaubte, es sei meine Pflicht. Es ist nicht meine Schuld, daß mich dieses schreckliche Trauerspiel verhindert hat, das Rechte zu tun. Ich erinnere mich, daß du einmal gesagt hast, ein sonderbares Verhängnis schwebe über guten Vorsätzen – daß man sie nämlich immer zu spät fasse. Bei meinem war es gewiß der Fall.«

»Gute Vorsätze sind nutzlose Versuche, Naturgesetze umzustoßen. Ihr Ursprung ist reine Eitelkeit. Ihr Erfolg ist absolut gleich Null. Sie geben uns dann und wann etwas von jenen unfruchtbaren Lustempfindungen, die auf schwache Menschen einen gewissen Reiz ausüben. Das ist alles, was man zu ihren Gunsten vorbringen kann. Sie sind bloße Schecks, die man auf eine Bank ausstellt, bei der man kein Konto hat.«

»Harry«, rief Dorian Gray, der sich näherte und neben ihn setzte. »Warum kann ich diese Tragödie nicht so stark empfinden, wie ich müßte? Ich kann nicht glauben, daß ich herzlos bin. Glaubst du das von mir?«

»Du hast in den letzten vierzehn Tagen zuviel törichte Streiche begangen, als daß du einen Anspruch auf diesen Ehrentitel haben könntest, Dorian«, erwiderte Lord Harry mit seinem stillen, melancholischen Lächeln.

Der Jüngling runzelte die Stirn. »Diese Erklärung besagt mir eigentlich nichts, Harry, aber ich bin dennoch froh, daß du mich nicht für herzlos hältst. Ich bin es gewiß nicht. Ich weiß, daß ich es nicht bin. Und doch muß ich zugeben, daß dies Ereignis mich nicht so angreift, wie es sollte. Es kommt mir wie der wunderbare Szenenschluß eines wunderbaren Dramas vor. Es hat die schreckliche Schönheit einer griechischen Tragödie, einer Tragödie, in der ich eine große Rolle gespielt habe, aber in der ich selbst nicht verwundet worden bin.«

»Es ist eine interessante Frage,« sagte Lord Harry, dem es ein ausgesuchtes Vergnügen bereitete, mit dem unbewußten Egoismus des jungen Mannes zu spielen – »eine außerordentlich interessante Frage. Ich meine, die wahre Erklärung ist wohl die. Es kommt oft vor, daß sich die Wirklichkeits-Tragödien des Lebens in einer so unkünstlerischen Form abspielen, daß sie uns durch ihre rohe Gewalt, ihren absoluten Mangel an Zusammenhang, durch ihre lächerliche Sinnlosigkeit und ihre außerordentliche Stillosigkeit verletzen. Sie betrüben uns genau so, wie es die Gemeinheit tut. Sie geben uns ein Gefühl einer jähen, brutalen Gewalt, und wir lehnen uns dagegen auf. Manchmal aber kreuzt eine Tragödie unser Leben, die künstlerische Schönheitselemente in sich birgt. Wenn diese Schönheitselemente wirklich vorhanden sind, dann ergreift die ganze Sache nur unseren Sinn für dramatische Wirkung. Wir entdecken auf einmal, daß wir nicht mehr die Darsteller, sondern die Zuschauer des Stückes sind. Oder richtiger, wir sind beides. Wir beobachten uns selbst und werden von dem Wundersamen des Schicksals erschüttert. Was ist in vorliegendem Falle wirklich geschehen? Jemand hat sich aus Liebe zu dir umgebracht. Ich wollte, mir wäre je so ein Erlebnis passiert. Ich wäre den Rest meines Lebens in die Liebe verliebt gewesen. Die Menschen, die mich angebetet haben – es waren ihrer nicht sehr viele, aber doch immerhin einige –, waren immer darauf versessen, weiterzuleben, noch lange, nachdem ich aufgehört hatte, mich um sie zu kümmern, oder sie, sich um mich zu kümmern. Sie sind dann dick und langweilig geworden, und wenn ich ihnen jetzt begegne, schwelgen sie sofort in Erinnerungen. Dies furchtbare zähe Gedächtnis der Frauen! Was für 'ne schreckliche Sache das ist! Und was für einen völligen geistigen Stillstand offenbart es! Man sollte die Farbe des Lebens in sich aufsaugen, aber sich niemals an Einzelheiten erinnern. Einzelheiten sind immer gewöhnlich.«

»Ich muß Mohnblumen in meinen Garten säen«, seufzte Dorian.

»Das ist nicht notwendig«, erwiderte sein Gefährte. »Das Leben selbst hat immer Mohnblumen vorrätig. Natürlich, dann und wann halten die Dinge länger an. Einmal habe ich eine ganze Saison lang nichts als Veilchen getragen, als eine Art künstlerischer Trauer für einen Roman, der nicht sterben wollte. Schließlich indessen ist er gestorben. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ihn getötet hat. Ich vermute, es kam durch ihren Vorschlag, mir die ganze Welt aufzuopfern. Das ist immer ein schrecklicher Augenblick. Er erfüllt einen mit den Schrecknissen der Ewigkeit. Schön – würdest du es nun glauben? – Vorige Woche, bei Lady Hampshire, saß ich bei Tisch neben der fraglichen Dame, und sie konnte wiederum nicht anders, als die ganze Sache durchzunehmen, die Vergangenheit aufzuwühlen und die Zukunft auszumalen. Ich hatte den ganzen Roman unter einem Asphodelosbeet begraben. Sie scharrte ihn wieder aus und versicherte mir, daß ich ihr Leben zerstört habe. Ich fühle mich verpflichtet festzustellen, daß sie trotzdem mit staunenswertem Appetite aß, so daß ich gar keine Gewissensbisse empfand. Aber welchen Mangel an Taktgefühl bewies sie! Der einzige Reiz der Vergangenheit liegt eben darin, daß sie vergangen ist. Aber Frauen wissen nie, wann der Vorhang gefallen ist. Sie wollen immer noch einen sechsten Akt, und sowie das ganze Interesse an dem Stück erlahmt ist, schlagen sie vor, weiterzuspielen. Wenn man ihnen ihren Willen ließe, erlebte jede Komödie einen tragischen Schluß, und jede Tragödie gipfelte in einer Farce. Sie sind oft entzückende Kunstprodukte, aber sie haben keinen Sinn für die Kunst. Du bist glücklicher als ich. Ich versichere dir, Dorian, nicht eine einzige Frau, die ich gekannt habe, hätte für mich getan, was Sibyl Vane für dich vollbrachte. Gewöhnliche Frauen trösten sich immer. Einige von ihnen tun es, indem sie sich in empfindsame Farben verlieben. Traue niemals einer Frau, die Malven trägt, wie alt sie auch sein mag, oder einer Frau über fünfunddreißig, die rosa Bänder liebt. Das bedeutet immer, daß sie eine Geschichte haben. Andere finden starken Trost darin, plötzlich die Vorzüge ihrer Männer zu entdecken. Sie reiben einem ihr eheliches Glück unter die Nase, als wäre das die fesselndste Sünde. Einige wieder tröstet die Religion. Ihre Mysterien haben alle Reize einer Liebelei an sich, hat mir einmal eine Frau versichert und ich kann es wohl verstehen. Übrigens macht unsereinen nichts so eitel, als wenn einem gesagt wird, man wäre ein Sünder. Das Gewissen macht uns alle zu Egoisten. Ja; die Tröstungen haben wirklich kein Ende, die die Frauen im modernen Leben finden. Die wichtigste habe ich noch gar nicht erwähnt.«

»Welche ist das, Harry?« fragte der junge Mann zerstreut.

»Oh, der alltäglichste Trost. Einer anderen Frau ihren Anbeter nehmen, wenn man den eigenen verloren hat. In der guten Gesellschaft findet eine Frau auf solche Weise immer ihr Fahrwasser wieder. Aber wirklich, Dorian, wie anders muß Sibyl Vane gewesen sein als alle die sonstigen Frauen, denen man begegnet. Für mich liegt in ihrem Tod etwas ganz Wunderschönes. Es freut mich, daß ich in einem Jahrhundert lebe, wo solche Wunder noch geschehen. Sie geben uns neuen Glauben an die Wirklichkeit der Dinge, mit denen wir sonst spielen, wie Romantik, Leidenschaft und Liebe.«

»Ich war furchtbar grausam gegen sie. Du vergißt das.«

»Ich fürchte, die Frauen schätzen die Grausamkeit, die ganz alltägliche Grausamkeit mehr als irgend etwas anderes. Sie haben wundervoll primitive Instinkte. Wir haben sie emanzipiert, aber sie bleiben Sklavinnen, die den Blick auf ihre Herren gerichtet halten, trotz allem. Sie lieben es, beherrscht zu werden. Ich bin überzeugt, daß du glänzend aufgetreten bist. Ich habe dich nie wirklich und durchaus erzürnt gesehen, aber ich kann mir vorstellen, wie entzückend du ausgesehen haben mußt. Und außerdem sagtest du vorgestern etwas zu mir, was mir damals nur ein phantastischer Einfall schien, aber jetzt sehe ich, daß es völlig wahr gewesen ist, und ich halte es für den Schlüssel zu dem ganzen Ereignis.«

»Was war das, Harry?«

»Du hast zu mir gesagt, Sibyl Vane verkörpere dir alle Frauengestalten der Romantik – sie sei an einem Abend Desdemona und am anderen Ophelia; wenn sie als Julia sterbe, erwache sie als Imogen wieder zum Leben.«

»Sie wird nie wieder zum Leben erwachen«, ächzte der Jüngling und barg sein Gesicht in den Händen.

»Nein, sie wird nie wieder zum Leben erwachen. Sie hat ihre letzte Rolle gespielt. Aber du mußt an diesen einsamen Tod in dem ärmlichen Garderobenzimmer denken wie an ein seltsam schauriges Fragment aus einer Tragödie von der Zeit König Jakobs her, wie an eine wunderbare Szene bei Webster oder Ford oder Cyril Tourneur. Das Mädchen hat nie wirklich gelebt, also ist sie auch nie wirklich gestorben. Für dich war sie ja niemals mehr als ein Traum, ein Schattengeist, der durch Shakespeares Dramen huschte und sie durch ihr Dasein noch reizvoller machte, der Ton einer Flöte, durch die Shakespeares Musik noch reicher und freudiger ertönte. Im Augenblick, wo sie das wirkliche Leben berührte, zerstörte sie es, und es zerstörte sie, und so schied sie dahin. Trauere um Ophelia, wenn es dir behagt. Streu Asche auf dein Haupt, weil Kordelia erwürgt wurde. Schrei zum Himmel, weil die Tochter des Brabantio starb. Aber verschwende deine Tränen nicht um Sibyl Vane. Sie war weniger wirklich, als jene sind.«

Es entstand ein Schweigen. Der Abend dämmerte im Zimmer. Geräuschlos auf silbernen Füßen schlichen die Schatten aus dem Garten herein. Die Farben verschwanden müde aus allen Dingen.

Nach einer Weile sah Dorian Gray auf. »Du hast mich mir selber klargemacht«, flüsterte er mit einem Seufzer der Erleichterung. »Alles, was du gesagt hast, habe ich auch gefühlt, nur hab' ich mich davor geängstigt, und ich konnte es mir selbst nicht ausdrücken. Wie gut du mich kennst! Aber wir wollen, von dem was geschehen ist, nie wieder sprechen. Es war ein wundersames Erlebnis. Das ist alles. Ich möchte wissen, ob meiner noch etwas so Wunderbares im Leben harrt.«

»Das Leben hat alles für dich vorrätig, Dorian. Es gibt nichts, was du mit deiner außerordentlichen Schönheit nicht tun könntest.«

»Aber stelle dir vor, Harry, wenn ich hager und alt und runzlich würde, was dann?«

»Ach dann,« sagte Lord Harry und erhob sich zum Gehen – »dann, mein bester Dorian, würdest du um deine Siege kämpfen müssen. Wie es ist, werden sie dir noch entgegengetragen. Nein, du mußt schön bleiben, wie du noch bist. Wir leben in einer Zeit, in der zuviel gelesen wird, als daß sie weise wäre, und in der zuviel gedacht wird, als daß sie schön wäre. Wir können dich nicht entbehren. Und jetzt tätest du besser, dich anzuziehen und in den Klub zu fahren. Wir kommen ohnehin schon zu spät.«

»Ich meine, ich treffe dich lieber in der Oper, Harry. Ich bin zu müde, um etwas zu essen. Welche Nummer hat die Loge deiner Schwester?«

»Siebenundzwanzig, glaub' ich, sie liegt im ersten Rang. Du findest ihren Namen an der Tür. Aber es tut mir leid, daß du nicht mit essen kommst.«

»Ich bin nicht aufgelegt dazu,« sagte Dorian zerstreut, »aber ich bin dir sehr dankbar für alles, was du zu mir gesagt hast. Du bist wirklich mein bester Freund. Niemand hat mich je richtiger verstanden als du.«

»Wir stehen erst am Anfang unserer Freundschaft, Dorian«, erwiderte Lord Harry und schüttelte ihm die Hand. »Adieu! Ich hoffe, dich vor halb zehn zu sehen. Vergiß nicht: die Patti singt.«

Als sich die Tür hinter ihm schloß, klingelte Dorian Gray, und nach ein paar Minuten erschien Viktor mit den Lampen und ließ die Vorhänge herab. Er wartete ungeduldig, daß der Diener wieder verschwände. Der Mann schien eine unglaubliche Zeit für alles zu gebrauchen.

Sobald er wieder draußen war, stürzte Dorian auf den Schirm zu und schob ihn zurück. Nein, das Bild hatte sich nicht wieder verändert. Es hatte die Nachricht von Sibyl Vanes Tod erhalten, bevor er selbst davon gewußt hatte. Es kannte die Ereignisse des Lebens, sobald sie sich ereigneten. Dieser Zug böser Grausamkeit, der die feinen Linien des Mundes verunstaltete, war zweifellos im Augenblick aufgetaucht, als das Mädchen das Gift genommen hatte. Oder kümmerte sich das Bild nicht um die Wirkungen einer Tat? Nahm es nur von Vorgängen in der Seele Kenntnis? Er hätte es gar zu gern gewußt und hoffte, eines Tages solche Wandlung vor seinen Augen geschehen zu sehen, und er schauderte, während er es hoffte.

Die arme Sibyl! Wie sonderbar romantisch alles gewesen war! Sie hatte oft den Tod auf der Bühne dargestellt. Dann hatte sie der Tod selbst gepackt und weggeholt. Wie mochte sie die grauenvolle letzte Szene gespielt haben? Hatte sie ihn im Sterben verflucht? Nein; sie war aus Liebe zu ihm gestorben, und die Liebe sollte ihm von jetzt ab immer ein Heiligtum bleiben. Sie hatte alles gebüßt durch das Opfer ihres Lebens. Er wollte nicht mehr daran denken, was er ihretwegen an jenem schrecklichen Theaterabend durchgemacht hatte. Wenn er an sie dachte, sollte es sein wie an eine wundersam tragische Gestalt, die auf die Weltbühne gestellt worden war, um die höchste Verwirklichung der Liebe zu künden. Eine wundersam tragische Gestalt? Tränen traten ihm in die Augen, als er sich ihres kindlichen Aussehens, ihrer fröhlichen, phantastischen Art, ihrer scheuen, zaghaften Anmut entsann. Er verscheuchte alles hastig und blickte wieder auf das Porträt.

Er fühlte, daß nun der Zeitpunkt gekommen sei, zu wählen. Oder war die Wahl schon getroffen? Ja, das Leben hatte für ihn entschieden – das Leben und seine unermeßliche Neugier auf das Leben. Ewige Jugend, unerschöpfliche Leidenschaft, ausgesuchte, geheimnisvolle Genüsse, wilde Freuden und noch wildere Sünden – all das sollte er haben. Das Bildnis sollte die Last seiner Schmach tragen: das war alles.

Ein peinliches Gefühl beschlich ihn, als er an die Entweihung dachte, die dieses schönen Gesichtes auf der Leinwand harrte. Einmal hatte er in knabenhafter Parodie des Narzissus die gemalten Lippen, die ihn jetzt so grausam anlächelten, geküßt oder doch zum Schein geküßt. Morgen für Morgen hatte er vor dem Bild gesessen und seine Schönheit angestaunt – zu Zeiten kam es ihm vor, als sei er in sein eigenes Bild verliebt. Sollte es sich nun wandeln mit jeder Laune, der er nachgab? Sollte es ein ungeheuerliches, widerliches Ding werden, das man im verhängten Winkel verschließen müsse vor dem Glanz der Sonne, der so oft das lockige Wunder seines Haares noch goldiger hatte aufleuchten lassen? Wie schade! Wie schade!

Einen Augenblick dachte er daran, zu beten, daß die entsetzliche Beziehung zwischen ihm und dem Bilde aufhören möge. Es hatte sich verwandelt, da er darum gebeten hatte; es könnte vielleicht, wenn er darum bäte, auch wieder unverändert bleiben. Und doch, wer, der eine Ahnung vom Leben hat, würde die Möglichkeit, immer jung zu bleiben, aufgeben, mochte die Möglichkeit noch so phantastisch und mit noch so verhängnisreichen Folgen verknüpft sein? Überdies, stand es wirklich in seiner Macht? War wirklich das Gebet die Ursache der Verwandlung? Konnte es für die ganze Sache nicht irgendeine merkwürdige wissenschaftliche Ursache geben? Wenn das Denken eine Wirkung auf einen lebenden Organismus ausüben konnte, konnte da nicht das Denken auch auf tote unorganische Dinge Einfluß haben? Ja, konnten nicht ohne Gedanken und bewußte Wünsche Dinge eingreifen, die ganz außerhalb unserer Person stehen, im Einklange mit unseren Launen und Leidenschaftsanfällen erzittern, konnte nicht Atom zu Atom sprechen in geheimer Neigung oder seltsamer Verwandtschaft? Aber schließlich waren die Ursachen gleichgültig. Er wollte durch Gebet nie wieder eine schreckliche Macht versuchen. Wenn das Bildnis sich wandeln wollte, so sollte es sich wandeln. Das war einmal so. Warum zu tief in ein Geheimnis eindringen?

Allerdings müßte es ein starker Genuß sein, solchen Vorgang zu beobachten. Er würde befähigt werden, seinem Geist in geheime Schlupfwinkel zu folgen. Dies Bild sollte ihm der zauberhafteste Spiegel werden. Wie es ihm seinen Körper geoffenbart hatte, so sollte es ihm nun die Seele enthüllen. Und wenn der Winter über das Gemälde hereinbrach, dann stand er immer noch da, wo der Frühling schwankt, ob er die zum Sommer führende Schwelle überschreiten soll. Wenn das Blut aus seinem Antlitz fortschliche und eine kreidebleiche Maske mit stummen Augen zurückließe, dann bewahrte er immer noch den Glanz des Säuglingsalters. Keine Blüte seiner Lieblichkeit sollte jemals welken. Kein Pulsschlag seines Lebens jemals erlahmen. Wie die Götter der Griechen würde er stark und behend und heiter bleiben. Was lag daran, was aus dem gemalten Abbild auf der Leinwand wurde? Er selbst war seiner sicher. Darauf kam alles an.

Er schob den Schirm wieder auf den alten Platz vor dem Bilde und lächelte, indem er es tat. Dann ging er in sein Schlafzimmer, wo sein Diener schon auf ihn wartete. Eine Stunde später war er in der Oper, und Lord Henry beugte sich über seinen Stuhl.


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