Christoph Martin Wieland
Stilpon
Christoph Martin Wieland

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254 Stilpon befand sich eines Abends in seinem Garten und half seinem kleinen Knaben Schmetterlinge fangen; – denn, wiewohl der Knabe schon sechs volle Jahr alt war, wußte er doch nichts von Metaphysik, Geographie, Astronomie, Weltgeschichte, Moral, Statistik, Grammatik und Dialektik; und Stilpon, wiewohl er ein Philosoph war, schämte sich nicht, eines so unwissenden Knaben Vater zu seyn, sondern half ihm, wie gesagt, Schmetterlinge fangen – als man ihm sagte, daß die Rathsherren Kleon und Eukrates in seinem Gartensaale wären.

Diese Herren waren seine Freunde, so gut als Rathsherren Freunde eines Philosophen, der kein Rathsherr ist, seyn können; sie schätzten ihn hoch, fragten ihn öfters um Rath, wiewohl gemeiniglich erst, wenn es zu spät war, und, wenn es auch nicht zu spät war, folgten sie ihm doch selten. Denn (sagten sie) sein Rath ist zwar gut; es ist klar, daß man es so machen müßte, wenn man's recht machen wollte; aber – es läßt sich nicht thun; Stilpon würde das eben so gut einsehen, als wir, wenn er ein Rathsherr wäre.

Der Philosoph vermuthete die Ursache ihres Besuchs und vernahm bald, daß er sich nicht geirret hatte. Die guten Männer waren in großer Verlegenheit; denn in der Lage, worin sich ihre Republik damals befand, war dem gemeinen Wesen an der Wahl eines Oberzunftmeisters unendlich viel 255 gelegen; und sie beide meinten es gut mit ihrem Vaterlande, zumal wenn sie wohl verdauten, gut schliefen und keine besondre Ursache hatten, fünf für gerade gelten zu lassen.

Rathen Sie uns, Stilpon, sagten sie: helfen Sie uns, wenn Sie können; nie hat sich Megara in einem gefährlichern Augenblicke befunden. Der Tod des rechtschaffnen Demokles hat alles Gute, was er angefangen hatte, unvollendet gelassen. Die Redlichen haben ihren Beschützer verloren; die Uebelgesinnten schöpfen Hoffnung, und diejenigen, in deren Dummheit oder bösem Willen Alles, was zum gemeinen Besten unternommen wurde, immer den entschlossensten Widerstand fand, stehen an der Spitze aller Dummköpfe und bösen Buben bereit, die Republik zu überrumpeln. Die Wackelköpfe – wackeln, und die Schiefdenker, die überall Gefahr sahen, wo keine war, wissen sich jetzt viel mit ihrer Scharfsichtigkeit – das Schwert nicht zu sehen, das an einem Pferdehaar über uns hängt. Alle, die durch Abstellung der alten Mißbräuche verloren haben (und Sie wissen, Stilpon, wie groß ihre Anzahl ist), glauben ihre Wiederherstellung als ein Recht fordern zu können und arbeiten mit Eifer für denjenigen, dessen Schwäche oder verkehrte Denkungsart ihnen die meiste Hoffnung gibt, zu ihrem Zwecke zu kommen. Was wird das kleine Häufchen der Wohlgesinnten gegen sie vermögen? zumal da wir nichts weniger als zusammen stimmen. Denn Einige haben den Muth nicht, etwas zu wagen; Andre sind schwach genug, Masken für Gesichter anzusehen; Einige sind es so sehr, daß sie sich einbilden können, ein Mann, den sie in hundert Fällen ungerecht, boshaft, falsch, rachgierig handeln gesehen haben, werde doch wohl kein so schlimmer Mensch seyn und – zum hundert und ersten Male auch so handeln. Kurz, guter Stilpon, wir sind in 256 unmittelbarer Gefahr, in die Hände eines Lampus oder eines Megillus zu fallen.

Das ist, sagte Stilpon, ungefähr so viel, als entweder an Scylla zu stranden oder von Charybdis verschlungen zu werden. Die Wahl ist nicht die angenehmste. Lampus ist schwach, Megillus boshaft; und die Megarer, wenn sie ihre Wohlfahrt von dem Einen oder dem Andern abhangen machten, was wären die?

Kleon. Sie kennen die Welt, Stilpon, und Ihnen sollte fremd vorkommen, was beinahe täglich geschieht? Wie oft befinden sich die ehrlichsten Leute in dem traurigen Falle, aus zweien Uebeln eines wählen zu müssen!

Stilpon. Da bedaure ich diese ehrlichen Leute!

Kleon. So bedauern sie uns beide. Sie kennen unsre Lage. Lampus oder Megillus – Scylla oder Charybdis, wie Sie sagten! – Es steht nicht in unsrer Macht, zu verhindern, daß nicht Einer von diesen Beiden erwählt werde: aber wir haben wenigstens so viel Einfluß, daß wir die Wahl auf den Einen oder den Andern lenken können. Und eben dieß ist, was uns verlegen macht.

Stilpon. Aber was haben denn die armen Megarer gethan, daß sie nun schlechterdings einem Lampus oder Megillus aufgeopfert werden sollen? Bedenken Sie, meine guten Herren, daß eine einzige große Thorheit oder Uebelthat, die ein solcher Mann begehen wird, dem es an den Fähigkeiten oder an der Tugend, die sein Platz erfordert, mangelt, Folgen haben wird, deren Schädlichkeit noch die Kinder ihrer Enkel fühlen müssen! Fehlt es denn so gänzlich an rechtschaffenen Männern in Megara? Könnte die Wahl nicht für Einen von Ihnen Beiden entschieden werden? Warum soll der Mann, der uns regieren soll, nun eben 257 schlechterdings einen schwachen Kopf oder ein schlechtes Herz haben?

Eukrates. In der gegenwärtigen Lage der Sachen werden wir uns vielleicht noch glücklich schätzen müssen, wenn es uns nicht noch schlimmer geht. Wissen Sie denn nicht, daß Gorgias Himmel und Erde bewegt, um seine beiden Mitbewerber zu verdrängen, und daß er, wenn keiner von diesen obsiegt, die größte Hoffnung hat?

Stilpon. Dieß wäre in der That noch schlimmer als schlimm. Ein verschobenes Gehirn und ein verkehrtes Herz in einem Menschen vereiniget – an der Spitze der Republik, wäre gerade, was wir nöthig hätten, um unfehlbar verloren zu gehen. – Daß es nur möglich seyn soll, so etwas besorgen zu müssen! – Der blose Gedanke empört meine Seele gegen alle eure Republiken und policirten Staaten, in welchen – und in welchen allein – solcher Unsinn möglich ist! – O ihr glücklichen Baktrianer und Korasmier! wer wollte nicht lieber mit euch unter Zelten oder in Grotten, Laubhütten und hohlen Bäumen wohnen? Ihr seyd frei, und wenn ihr einen Anführer braucht, so ist es der beste Mann unter euch! – Und wir – vergeben Sie, meine Herren! – der Gedanke, daß Sie der armen Republik wohl gar einen Gorgias zum Vorsteher geben könnten, hat mich einen Augenblick umgeworfen, wie Sie sehen. Sie wissen, daß es mir für meine Person gleich viel seyn kann, wer uns regiert. Aber ich kann und will es nicht dahin bringen, für das Glück oder Unglück meiner Nebenmenschen gleichgültig zu werden.

Eukrates. Wir eben so wenig, guter Stilpon; und blos darum, weil wir überzeugt sind, daß der Republik kein größeres Unglück begegnen könnte, als die Beute eines Gorgias zu werden, sind wir zu Allem entschlossen, was 258 ein Mittel, dieses Aergste von ihr abzuwenden, werden kann.

Kleon. Es ist wahr, Gorgias hat wenig Freunde. Wer sollte den Mann lieben, von dem auch der schamloseste, feileste Lobredner keine einzige edle Neigung, keine einzige gute That anzuführen wußte, um die Schwärze seines Charakters nur durch eine lichte Stelle zu mildern? Den Mann, den irgend ein feindseliger Dämon mit einer so unglücklichen Sinnesart gestraft hat, daß man nur alle diejenigen, die er haßt und verfolgt, zu zählen braucht, um die verdienstvollsten und liebenswürdigsten Personen von Megara herzuzählen!

Eukrates. Dessen ungeachtet hat er sich einen Anhang zu machen gewußt. Ja, die Meisten sind ihm gerade darum ergeben, weil sie ihn als einen übelthätigen und unversöhnlichen Mann kennen. Die Furcht thut bei vielen Menschen die Wirkung der Liebe. Darauf verläßt sich Gorgias: sie mögen mich immer hassen, denkt er, wenn sie mich nur fürchten! – Die Uebrigen halten zu ihm, weil sie selbst so dumm und unwissend sind, daß er ein Mann von Einsicht und Geschicklichkeit in ihren Augen ist, ungeachtet ein paar Dutzend Kunstwörter, etliche wohl oder übel angebrachte Sprüche, die er aus irgend einer Sammlung gestohlen hat, und einige subalterne Talente, die ihn allenfalls fähig machten, ein mittelmäßiger Sykophant oder ein erträglicher Schreiber zu seyn, sein ganzes Verdienst ausmachen. Wie dem auch sey, genug, er hat seinen Anhang; er wird unter der Hand von den Athenern unterstützt; er ist reich und hat vermittelst einer Freigebigkeit, die durch ihren Beweggrund vielleicht zu seinem größten Verbrechen wird, einen ansehnlichen Theil des Volkes so sehr bethört, daß sie ihn heute 259 noch zum Oberzunftmeister machen würden, wenn die Wahl vom Volk abhinge. Gorgias ist also furchtbar. Wenn wir nicht vorsichtig sind, wird er sich zwischen Lampus und Megillus hinein drängen, und o der glücklichen Zeiten, die wir dann erleben werden!

Stilpon. Ich wüßte wohl einen Rath, aber er ist nur für unsre Urälterväter gemacht. Leute wie wir müssen sich Alles gefallen lassen.

Kleon. Das wäre hart, guter Stilpon! So sehr wollen wir uns selbst nicht verlassen. Da wir keine Hoffnung haben, der Republik so viel Gutes thun zu können, als wir wünschten, so muß es nun unsere Sorge seyn, ihr so wenig Böses zufügen zu lassen als möglich. Wenn man einmal in der unseligen Nothwendigkeit ist, aus zwei oder drei Uebeln eines zu erwählen, so ist da weiter nichts zu thun, als so genau als möglich abzuwägen, welches das leichteste sey, und dann herzhaft zuzugreifen.

Eukrates. Dieß ist es auch eigentlich, was uns zu Ihnen führt, Stilpon. Wir wollten Sie um Ihren Rath bitten. Unglücklicher Weise können wir, Kleon und ich, uns nicht vergleichen, ob Lampus oder Megillus das kleinere Uebel sey. Lampus ist ein Schwachkopf, Megillus böse, Gorgias Beides. Die beiden Ersten zusammengenommen sind ungefähr so schlimm, als der Letzte allein; aber daraus folgt nicht, daß Einer von ihnen gerade so viel wiegt, als der Andre. Megillus, so schlimm er ist, hat Verstand, sage ich; Lampus ist arm an Geist, aber er hat ein gutes Herz, sagt Kleon. Kleon ist für das Herz, ich für den Verstand: welcher von uns Beiden hat Recht? Was ist Ihre Meinung, Stilpon?

Stilpon. Die Frage ist ungefähr wie diese: Wir brauchen zu einer Reise nach Syrakus einen Steuermann; 260 wer taugt besser dazu, ein Tauber oder ein Blinder? Ich gestehe Ihnen, meine Herren, ich habe einige Zweifel gegen das gute Herz Ihrer Dummköpfe und gegen den Verstand Ihrer Schurken. – Sie erlauben mir doch, den Dingen ihren rechten Namen zu geben? Es ist eine böse Gewohnheit, die mir noch von dem ehrlichen Diogenes anklebt, den ich, wie Sie wissen, solang er lebte, als meinen Meister ehrte – Aber ich bin ein Mann, der sich berichten läßt. Lassen Sie hören!

Kleon. Wenn Sie mir zugeben, daß es am Ende doch immer das Herz ist, was den Menschen regiert, und daß ein Mensch, dessen Herz redlich und gut ist, so schwach er auch übrigens seyn mag, doch immer wenigstens den Willen hat, gut zu handeln: so hoffe ich meine Sache noch wohl gewinnen zu können. Ein Mann von Verstand, dessen Herz schlimm ist, wird desto mehr Böses thun, je mehr er Verstand hat. Den Willen dazu hat er ohnehin; aber der Verstand vermehrt seine Macht, gibt ihm mehr Mittel an die Hand, lehrt ihn seine Absichten geschickter verbergen, seine übelthätigen Leidenschaften besser bemänteln, setzt ihn in den Stand, sich der Schwachheiten andrer Leute zu bedienen und sogar redliche, wohlgesinnte Personen zu Werkzeugen seiner bösen Anschläge zu machen. Ein guter Mensch von sehr eingeschränkten Fähigkeiten wird aus Unvermögen weniger Gutes thun, als er zu thun wünscht; aber er wird doch gewiß alles Gute thun, wozu man ihm Gelegenheit und Mittel zeigt. Da er selbst gut ist, so wird er auch die Guten lieben; und wenn unter diesen Leute von Verstand sind, so wird es ihnen nicht schwer seyn, ihn dahin zu bringen, daß er alles das Gute thue, was sie selbst an seinem Platze thun würden; zumal wenn sie (nach unsrer Voraussetzung) klug genug sind, 261 ihn ihre Stärke und Ueberlegenheit so wenig als möglich fühlen zu lassen. Der gute schwache Mann wird also (im glücklichen Falle wenigstens) nicht nur selbst so viel Gutes thun, als er kann und weiß; er wird auch alles oder doch einen großen Theil des Guten thun, was verständige Personen von rechtschaffnen Grundsätzen ihm an die Hand geben; und wissentlich wird er gewiß nichts Böses befördern. Denn dieß kann ihm nur alsdann begegnen, wenn er entweder von Uebelgesinnten falsch berichtet ist oder seinen eignen Vorurtheilen oder Leuten von unzuverlässigem Urtheil, die er vielleicht um angenehmer Eigenschaften willen liebt, zu viel Gehör gibt; ein Fall, der sich nur selten zutragen wird, wenn die Verständigen und Rechtschaffnen so wachsam und thätig sind, als man billig von ihnen erwarten sollte. Hingegen der böse Mann, der Verstand hat, wird nicht nur alles Böse thun, wozu ihn seine eigenen Leidenschaften und schlimmen Fertigkeiten treiben, und wozu ihm sein Kopf die Mittel zeigt; er wird auch alles Böse thun, was alle übrige Bösewichter in seinem Wirkungskreise mit seinen eigenen Anschlägen und Absichten zu verbinden wissen, und er wird mit unermüdeter Stetigkeit alles Gute hindern, was die Wohlgesinnten in Vorschlag bringen oder selbst thun wollen. Dieses Letztere ist ein sehr wichtiger Umstand, der, wie mich däucht, der Frage den überwiegenden Ausschlag gibt. Derjenige, der alles Gute, wozu man ihm Gelegenheit gibt, aus Neigung thut und nur das Böse, wozu er unwissender Weise betrogen wird – wird unendliche Mal weniger Böses thun, als ein Anderer, der aus eigner Bewegung alles Böses thut, was er und seine Helfer thunlich finden, und alles Gute hindert, was ehrliche und verständige Leute thun wollen. Die Sache ist, wie Sie sehen, einer Art von Berechnung fähig. Ich 262 glaube also nicht fehlen zu können, wenn ich mich für den ehrlichen Lampus erkläre, der zwar, wie wir Alle wissen, leider! einen sehr schwachen und eng beschränkten Kopf, aber gewiß kein übelthätiges Herz hat und also, höchst wahrscheinlicher Weise, der Republik in den vorliegenden Umständen das wenigste Böse zufügen wird.

Eukrates. Hören Sie nun –

Stilpon. Um Vergebung! – Wie, wenn wir uns vor allen Dingen etwas deutlicher erklärten, was wir unter einem Manne von gutem und bösem Herzen verstehen? – Sie wissen, daß nichts zweideutiger ist, als ein gutes Herz, nach dem Gebrauche, den man im gemeinen Leben von dieser liebenswürdigen Benennung macht. Der Bettler hält den Ersten den Besten, der ihm ein paar Dreier gibt, für einen guten Mann; und die Nichtswürdigen, an die ein blöder Fürst seine Wohlthaten verschwendet, werden (wenigstens solange sie Hoffnung haben, noch mehr zu bekommen) vom Lobe seiner Großmuth und Gutherzigkeit überfließen. Der Pöbel, der die Großen nur von ferne sieht, urtheilt von ihrem Inwendigen nach ihrer Miene; ein freundliches Aussehen, eine muntere Laune, eine gewisse Popularität ist oft hinlänglich, dem schändlichsten Tyrannen eine Zeit lang Liebe zu erwerben. Ueberhaupt wird Schwachheit der Seele und gutes Gemüth täglich von den Meisten verwechselt. Wie Vielen schreibt man blos darum ein gutes Herz zu, weil es ihnen an Muth fehlt, so viel Böses zu thun, als sie wünschten; oder weil sie aus Trägheit, aus Furcht vor einem unangenehmen Augenblicke sich lieber Alles gefallen lassen, lieber Alles übersehen, als sich die Mühe geben mögen, Untersuchungen anzustellen; oder weil sie zu schwach sind, auch zu den unverschämtesten Bitten oder Forderungen Nein zu sagen! – Wie manche 263 Regenten haben den Ruf eines guten Herzens einzig und allein dem Umstande zu danken, daß man unter ihrer Regierung ungestraft ein so arger Bube seyn darf, als man will! Und fehlt es etwa an Beispielen von Heuchlern, die jenen Ruf blos dadurch erschlichen haben, daß sie vorsichtig genug waren, Alles Böse, was sie thun wollten, durch Andere zu thun? – Lassen Sie uns also, ehe wir weiter gehen, übereinkommen, was wir für einen Begriff mit den Worten gutes Herz verknüpfen wollen.

Kleon. Ich glaube mich hierüber bereits deutlich genug erklärt zu haben. Vorausgesetzt, daß ein Mensch, der gar keinen Unterschied zwischen Recht und Unrecht fühlt, ein höchst ungewöhnliches Ungeheuer sey, verdient (däucht mich) derjenige den Namen eines guten Menschen, der alles Unrecht aufrichtig verabscheut und eben so aufrichtig wünscht, immer recht zu handeln. Die Unzulänglichkeit seiner Einsichten, eine gewisse Schwäche der Seele, die ihn dem Betrug oder der Verwegenheit anderer Menschen blos stellt oder ihn vielleicht unfähig macht, seine eigenen Begierden und Leidenschaften gehörig zu regieren – kann nur zu oft die Ursache großer Uebereilungen und Fehltritte werden; aber alles Böse, wozu er solcher Gestalt verleitet werden mag, kann ihm doch den Namen eines guten Menschen nicht rauben. Er verdient ihn, weil er gut zu seyn wünscht, und weil er es auch allezeit ist, so oft nicht äußere Einflüsse, die für ihn zu stark sind, ihn aus seiner gewöhnlichen Fassung setzen oder seinen Bewegungen eine falsche Richtung geben.

Stilpon. Was sagen Sie zu dieser Erklärung, Eukrates?

Eukrates. Ich denke, daß es unserm Freunde Kleon vielleicht große Mühe gemacht haben möchte, eine andere zu finden, wobei die blöden Seelen, die er nun einmal in seinen 264 Schutz genommen hat, besser davon gekommen wären. Aber, wie dem auch seyn mag, da diese Erklärung zu dem Zwecke, wozu wir sie gebrauchen, so gut als eine andere ist, so bin ich bereit, es dabei bewenden zu lassen, und behaupte also, ohne weitere Vorrede, daß ein schwacher Mensch, mit dem besten Herzen von der Welt, das unfähigste unter allen Wesen sey, sich selbst und Andere zu regieren. Und, da mir Kleon einwenden wird, daß ein solcher schwacher Mensch, weil er doch, um zu regieren, regiert werden müsse, eben so wohl durch verständige und gute Menschen als durch Narren und Bösewichter regiert werden könne und also (wenigstens im glücklichen Falle) unendliche Mal weniger Böses thun werde, als ein Mann von bösem Willen: so behaupte ich ferner, daß diese Art von Menschenkindern, ihrer Natur nach, unfähig sey, sich von verständigen und guten Menschen regieren zu lassen. Ich glaube mir den Beweis dieser Sätze und Ihnen die Mühe, solchen zu fassen, nicht besser erleichtern zu können, als wenn ich Ihnen, nur mit flüchtiger Hand, das Bild eines schwachen Menschen vorzeichne, so wahr und getreu nach dem Leben copirt, als ich nur immer copiren kann. Der Originale, die dazu gesessen haben könnten, gehen so viele in der Welt herum, daß nichts leichter seyn wird, als sich zu überzeugen, daß ich kein Unding gemalt habe. Ein schwacher Mensch – lassen Sie seinen Willen so gut seyn, als er kann – hat nicht Verstand genug, Wahres und Falsches von einander zu unterscheiden; und dieß ist, wo nicht die einzige, doch gewiß die erste und fruchtbarste Ursache alles des Bösen, was ich von ihm zu sagen gezwungen seyn werde. Seine Seele schwebt je und allezeit in einer betrüglichen Dämmerung, wo ihm beinahe alle Dinge anders vorkommen, als sie sind. Desto schlimmer für ihn, wenn er dessenungeachtet 265 richtig zu sehen glaubt; denn desto unmöglicher wird es, ihm den Dunst von den Augen zu blasen. Vermöge des guten Willens, womit wir ihn begabt voraussetzen, wünscht er in jedem vorkommenden Falle recht zu handeln. Aber zum Unglück für den gutherzigen Schwachkopf ist es unmöglich, daß man in irgend einem Falle recht handle, wenn man nicht weiß, was sich gebührt, nicht unterscheiden kann, was im gegebenen Falle Recht ist. Der schwache Mensch, der dieß nicht kann, möchte gar zu gern Alles seyn, was er seyn sollte; aber die beschwerlichen Fragen, wer, was, wie, wo, wann, warum und womit? – Fragen, die, zum Unglück für den blöden Kopf, alle Augenblicke wieder kommen – verderben ihm immer das Spiel. Denn entweder beantwortet er sich diese Fragen falsch, oder – kürzer davon zu kommen – er fragt gar nicht. Daher kommt es denn, leider! daß er standhaft ist, wo er nachgeben sollte, und nachgibt, wo ein weiser Mann wie eine Mauer stände; daß er Herz hat, wo er zittern sollte, und zittert, wo nichts zu fürchten ist; daß er zurückhaltend ist, wo ihm nützlich wäre, offen zu seyn; streng, wo er gelinde, verschwenderisch, wo er sparsam, und sparsam, wo er freigebig seyn sollte. Daher, daß er nie weder die Menschen, mit denen er's zu thun hat, noch die Sachen, wovon die Rede ist, noch die Umstände, auf die immer Alles ankommt, zu unterscheiden weiß; daher so viele Fehler, die durch ihre Folgen oft so schädlich sind, daß er mit allem möglichen bösen Willen nichts Schlimmeres hätte thun können. Daher, daß er, weil er gehört hat, daß einige Spitzbuben Verstand haben, alle Leute von Verstand für Spitzbuben hält; daß er Kleinigkeiten mit Ernst und als wichtige Dinge, die wirklich wichtigen Dinge hingegen obenhin behandelt; daß er sich einbildet, was einmal gelungen oder mißlungen ist, werde 266 immer gelingen oder mißlingen, oder eine Wirkung, die aus ihrer natürlichen Ursache sehr natürlich erfolgte, werde auch ohne Ursache erfolgen. Daher endlich das geheime Mißtrauen, das er in sich selbst setzt, und welches (so widersinnig dieß auch scheint) beinahe immer so groß ist, daß es das allgemeine Mißtrauen, das er in die übrigen Menschen setzt, überwiegt und daher die Ursache wird, warum er seinem eigenen Urtheil nur selten und dann gerade am wenigsten folgt, wenn sich's zuträgt, daß er richtig urtheilt. Gestehen wir, meine Freunde, daß der beste Wille ohne Verstand und (worauf hier Alles ankommt) ohne den Verstand, den man gerade vonnöthen hat, seinem Besitzer in den meisten Fällen ungefähr so viele Dienste thut, als ein Degen, der nicht aus der Scheide geht, einem Manne, der sich wehren soll. Ich sage, ohne den Verstand, den man dazu, was man vorstellen soll, vonnöthen hat. Denn was hilft dem ehrlichen Lampus, um Oberzunftmeister zu seyn, daß er sich besser als irgend eine obrigkeitliche Person in Griechenland auf die Pastetenbäckerei versteht und in der Kunst, Wachteln abzurichten, seines Gleichen sucht?

»Aber (wird mein Freund Kleon sagen) können nicht andere ehrliche Leute für den schwachen Lampus Verstand haben?« – Ehrliche Leute? Die ehrlichen Leute, denen er sich anvertrauen sollte, müßten so schwach seyn, als er selbst. und wozu würden sie ihm alsdann helfen? Ein Blinder kann freilich eines andern Blinden Führer seyn, insofern der Führer wieder einen Führer hat; aber, wenn nun auch des Führers Führer blind wäre, so würden alle drei gelegentlich in die Grube fallen. Die Sache wird, wie ihr seht, nicht besser, wenn gleich dreihundert Blinde einander führen wollten. Und von Blinden, das ist, von ihres Gleichen, müssen 267 sich die guten Schwachköpfe nun einmal führen lassen. Sie müßten besonders glücklich seyn, wenn sie von ungefähr auf einen Einäugigen oder Schieler stießen. Man hat Beispiele davon, aber sie sind selten; und man trifft zehn Fälle gegen einen, wo die armen Blinden an einer langen Reihe, immer einer den andern am Aermel haltend, von irgend einem schlauen Spitzbuben daher geführt werden, ohne zu wissen, wohin. Denn, was die ehrlichen Leute, welche Verstand haben, betrifft, so ist erstens ausgemacht, daß sie sich mit den ehrlichen Leuten, die keinen haben, von jeher nicht wohl haben vertragen können; und dann, gesetzt auch, daß sie sich aus Liebe zum gemeinen Besten überwinden wollten, so könnte dieß zu nichts helfen. Denn, wie gesagt, die ehrlichen Leute, welche Verstand haben, sind zum Unglück gerade die einzigen Menschen, denen der schwache Mann nicht traut, ja vor denen er sich, als vor seinen ärgsten Feinden, hütet. Den Schelmen, die ihn umringen, ist Alles daran gelegen, einen Jeden von ihm entfernt zu halten, der ihre Schliche beobachten und dem Betrogenen die Augen öffnen könnte. Sie haben also nichts Angelegeneres, als jedem ehrlichen Manne, der eben darum nicht von ihrer Rotte ist, den Weg zu verrennen: und sollte ein solcher zufälliger Weise dennoch Mittel finden, das Ohr des schwachen Mannes zu erreichen, so werden sie ihr Haupt nicht eher sanft legen, bis sie ihm weiß gemacht haben, daß der ehrliche Mann ein übel gesinnter, gefährlicher Mensch ist; ungefähr wie die Wölfe in der Fabel den Schafen durch Abgeordnete vorstellen ließen, daß sie eher auf keine glückliche Stunde rechnen dürften, bis sie ihnen die geschwornen Feinde ihrer beiderseitigen Ruhe und Freundschaft, den Hirten und seinen Hund, ausgeliefert haben würden.

268 Aber, gesetzt auch, der schwache Mann bliebe lediglich sich selbst überlassen, so kann man doch versichert seyn, daß ordentlicher Weise diejenigen, die es am besten mit ihm meinen, immer die sind, die er am wenigsten leiden kann. Ein Mann von Verstand kann ihm vielleicht eine Weile zum Zeitvertreibe dienen; aber, sobald er sich einfallen lassen wollte, einen ernsthaftern Gebrauch von seinem Verstande zu machen – ein Gedanke, der einem Manne von Verstand sehr leicht kommen kann – sobald er bei Gelegenheit dem schwachen Manne zu verstehen geben wollte, daß er in dieser oder jener Sache Unrecht habe, sich irre, sich betrügen lasse, seine Neigungen oder sein Vertrauen übel anlege und dergleichen, so würde er das Geheimniß gefunden haben, zu mißfallen, gähnen zu machen und endlich unerträglich zu werden. Schwache Leute hassen nichts so sehr, als Vorstellungen, die einem versteckten Tadel oder einer indirecten Beschuldigung von Schwachheit ähnlich sehen. Der Mann von Verstand, der ihnen aus guter Meinung die Wahrheit sagt, wird ihnen überlästig; sie entledigen sich seiner je eher je lieber und kehren zu ihren Schmeichlern zurück, bei denen sie wieder frei athmen und der beschwerlichen Zurückhaltung nicht bedürfen, durch welche sie sich dem beobachtenden Blick und dem gefürchteten Tadel des verständigen und ehrlichen Mannes zu entziehen suchen. Kurz, der schwache Mann müßte noch mehr als schwach, er müßte ein völliger Dummkopf seyn, wenn er Leute von Verdiensten zu seinen Freunden erwählen sollte. Dem Dummkopfe könnte so etwas begegnen, weil er bei Allem, was er thut, blos in einen Glückstopf greift; aber ein Lampus hat gerade noch so viel Verstand oder Instinct (wenn Sie es lieber so nennen wollen), daß er sich zu seines Gleichen hält; und wenn er jemals, aus Uebereilung oder 269 Verführung, den Fehler begangen hätte, seine Neigung auf einen verdienstvollen Mann zu werfen, so kann man darauf zählen, daß er bald genug von seinem Irrthum zurückkommen und ohne Mühe über eine so unnatürliche Neigung triumphiren würde.

Es sind also nicht die Verständigen und Rechtschaffenen, nicht Männer von Genie, Tugend und Ehre, die dem schwachen Manne, den wir an die Spitze unserer Republik setzen wollen, zu Hülfe kommen werden. Alles, was diese für ihn thun könnten, geht in Verlust; es ist unmöglich, daß er sie für seine Freunde ansehe, daß er sich ihnen anvertraue. Sie werden ihm als Grillenfänger, seichte Köpfe und Schwärmer oder als eigensinnige, aufgeblasene, unruhige, auch wohl als übelgesinnte und gefährliche Leute abgemalt. Anstatt sich ihres Rathes zu bedienen, entfernt er sie so weit von sich, als er immer kann. Sie selbst, überzeugt, daß sie unter einer solchen Staatsverwaltung unnütz sind, ziehen sich zurück; und glücklich mögen sie sich schätzen, wenn es noch dabei bleibt, wenn das Mißtrauen, der Kaltsinn, die Abneigung, womit man ihnen begegnet, nicht zuletzt in Haß und Verfolgung ausschlägt, und jede Bemühung, für die gute Sache wirksam zu seyn, jeder Widerstand, den der blöde Mann und seine Genossen in ihrer Vernunft und Redlichkeit finden, ihnen als ein Verbrechen angeschrieben wird, wofür sie mit dem Verlust ihrer Ruhe und vielleicht (eine Zeit lang wenigstens) selbst mit dem Verlust der öffentlichen Hochachtung bestraft werden. Denn sehr oft ist diese ein bloser Wiederhall. Der Mächtige, auch dann, wenn seine schlechte Art zu denken und zu verfahren eine kundbare Sache ist, hat immer den großen Haufen auf seiner Seite; und je mehr Vorzüge der Verfolgte hat, desto geneigter ist man, zu glauben, daß er Unrecht habe.

270 »Der schwache Mann von gutem Willen wird alles Gute thun, wozu man ihm Gelegenheit gibt, und nur das Böse, wozu er betrogen wird,« – spricht Kleon. Um Vergebung, guter Kleon! dieß ist Alles, was sich von dem weisesten und besten Manne sagen läßt. Denn auch dieser bleibt doch ein Mensch, Bedürfnissen, Leidenschaften und Einflüssen äußerer Ursachen ausgesetzt, bleibt fehlbar und kann hintergangen oder überlistet werden. Aber der schwache Mann wird immer betrogen – von Andern oder von sich selbst – und stiftet um so viel mehr Unheil an, weil er sogar alsdann Böses thut, wenn er es, seiner Meinung nach, recht gut machen will. Und da es ihm gewöhnlich eben so sehr an guten Rathgebern als an Einsicht und Ueberlegung mangelt: so ist es ein bloser und in der That seltener Zufall, wenn es ihm etwa einmal begegnet, etwas Kluges zu thun und es mit einer guten Art zu thun.

Um uns aufs stärkste davon zu überzeugen, werfen wir nur einen Blick auf die Staaten, die von einzelnen Beherrschern regiert werden. Wenn man dem Augenschein glauben darf, so werden die meisten dieser Staaten öfter übel regiert als gut; und forschen wir der Ursache nach, so finden wir sie meistens in der Schwäche ihrer Regenten. Vielleicht machen unter einem solchen blöden Fürsten die Rechtschaffnen anfangs einen Versuch, sich seiner anzunehmen. Aber zum Unglück fürchten sich blöde Fürsten vor nichts so sehr, als vor dem Gedanken, von Andern regiert zu werden: und da sie sich die Ueberlegenheit eines Mannes von Verstand nicht verbergen können, so ist natürlich, daß sie ihn als eine Art von Hofmeister ansehen, dessen Obermacht ihnen desto unerträglicher wird, weil sie sich auf das Ansehen der Vernunft gründet, gegen welches sich, zu großem Verdruß der blöden Herren, 271 nichts Erhebliches einwenden läßt. Sie möchten immer in allen Dingen blos nach ihrem Belieben handeln; und der rechtschaffene Mann beweist ihnen immer, daß sie nach Grundsätzen, nach Beschaffenheit der Sache, nach einem Gesetz, das über den Fürsten ist, handeln müssen. Dieser Zwang der Vernunft, der die Freiheit des Weisen ausmacht, wird ihnen endlich unerträglich; und wer kann es ihnen verdenken? Alle Augenblicke sollen sie eine Neigung, einen Wunsch, eine Leidenschaft – der Gerechtigkeit, der Klugheit, ihrem Ruhme, dem gemeinen Besten aufopfern: wider die Gründe, die man ihnen vorlegt, ist nichts zu sagen; sie fühlen es und geben nach; aber sie fühlen auch, daß nichts unlustiger ist, als immer einen andern Weg gehen müssen, als den man gehen möchte. Verlassen wir uns also darauf, daß sie sich der beschwerlichen Leute, die immer Recht haben, so bald als möglich entledigen werden. Sie werden sich gefälligere Freunde wählen; die Weisen und Redlichen werden entfernt oder so lange geplagt, bis sie selbst davon gehen, und bald werden wir Vertrauen, Gunst und Gewalt in den unwürdigsten Händen sehen. Eine Zeit lang glaubt der schwache Fürst sich wohl dabei zu befinden; es ist so angenehm, immer getreue, ergebene Leute um sich zu sehen, die Alles schön und gut finden, was uns gefällt, Alles möglich, was wir wünschen, Alles preiswürdig, was wir thun! Aber gemeiniglich währt der süße Wahn nicht länger, als bis diese Nichtswürdigen sich tief genug eingegraben, sich so oft und fest um ihren Raub herum geschlungen haben, daß er sich nicht wieder von ihnen los winden kann. Alsdann geht es ihm gemeiniglich wie den Männern, die sich, aus thörichter Furcht vor den vermeinten Fesseln des Ehestandes, von einer wetterlaunischen und unersättlichen Buhlerin tyrannisiren lassen. Sie seufzen 272 unter einer unendliche Mal beschwerlichern Abhängigkeit; und in Augenblicken der Nüchternheit fühlen sie sich desto unglücklicher, weil sie in der Nothwendigkeit sind, ihre Plage, wie einen unheilbaren Schaden, mit sich herum zu tragen und zu nähren. Eine unvermeidliche Folge dieses Zustandes ist das allgemeine Mißtrauen, welches sich endlich solcher Großen bemächtigt und ihr Elend vollkommen macht. Denn wem sollen sie sich vertrauen? Bei wem sollen sie Rath oder Hülfe suchen? – Bei den Männern von Verstand und Rechtschaffenheit? Unmöglich! Es ist nicht in der menschlichen Natur, zu Jemand Vertrauen zu fassen, den man nicht lieben kann, Jemand zu lieben, vor dem man sich scheuet, und den nicht zu scheuen, von dem man Vorwürfe verdient zu haben sich bewußt ist. Und wenn auch dieß nicht wäre, so bleibt ihnen doch jeder Mann von überlegnen Fähigkeiten aus eben dem Grunde verdächtig, warum ein eifersüchtiger Thersites seine Frau nicht gern von einem Adonis oder Hercules besucht sieht. Sie können sich nicht entbrechen, ihn als einen Menschen zu fürchten, der auf die eine oder andere Art ihre Schwäche an den Tag bringen wird; und der Gedanke, ihm die Entdeckung davon selbst zu machen, beleidigt ihre Eigenliebe zu sehr, als daß sie sich jemals dazu entschließen könnten.

Doch ich bin vielleicht noch viel zu freigebig, wenn ich bei einem schwachen Regenten die Fähigkeit voraussetze, Männer von Genie und Verdiensten unterscheiden zu können. Die wenigsten, die zu jener Classe gehören, haben so viel Einsicht. Ihre Urtheile von dem Werthe der Menschen bestimmen sich gemeiniglich nach den zweideutigsten Gründen, und der schlechteste Erdensohn kann in ihren Augen ein großer Mann seyn. Das findet vornehmlich bei denjenigen Statt, 273 deren Charakter aus einer Vermischung von Gutherzigkeit und Indolenz besteht, die Alles gern von der gefälligsten Seite ansehen und aus herzlichem Widerwillen gegen alle Bemühung des Geistes lieber Jedermann für das, wofür er sich selbst gibt, gelten lassen, als sich die Mühe geben, zu untersuchen, ob der vermeinte ehrliche Mann nicht vielleicht ein Schurke sey. Daher sehen wir unter guten Fürsten von diesem Schlage die besten und die schlechtesten Leute ungefähr auf einerlei Fuße. Man kann ein verdienstloser Mensch, man kann sogar ein Bösewicht seyn, ohne zu fürchten, daß man darum weniger bei ihnen gelten werde. Sie beobachten eine genaue Neutralität zwischen den Männern von Verdienst und ihren Gegenfüßlern, lächeln die Einen so freundlich an als die Andern, begegnen ihnen mit gleich viel oder gleich wenig Achtung und können es unmöglich über ihr Herz bringen, einen schlechten Menschen so zu betrüben, um ihn merken zu lassen, daß er weniger werth ist als ein braver Mann. Nun ist es den Meisten, wenn sonst Alles gleich ist, viel bequemer, schlecht zu seyn, als sich mit Mühe und Aufopferungen um Verdienste zu bewerben, für die man ihnen keinen Dank weiß, und die bei Beförderungen oder andern Belohnungen gar nicht mit in Anschlag kommen. Die natürlichen Folgen hiervon sind, daß Gerechtigkeit, Vaterlandsliebe, Uneigennützigkeit, mit einem Worte, Tugend unter solchen Regierungen ein leerer Name ist; daß Ruhmbegierde und Nacheiferung erschlaffen und endlich gar nicht mehr stattfinden; daß Leute ohne Werth sich in Stellen einschmeicheln oder einbetteln oder einheucheln oder eindrängen, wo sie entweder durch Untüchtigkeit oder bösen Willen oder beides zugleich den größten Schaden thun; daß diese Leute sich's recht zur Pflicht machen, jedes hervorglänzende Verdienst zu verdunkeln, 274 jedes aufkeimende Talent zu ersticken, jede gemeinnützige Unternehmung abzuschrecken; – daß, wo die Tugend keine Ehre gibt, das Laster endlich aufhört sich zu schämen, und ausschweifende oder niederträchtige Menschen Alles wagen, weil sie merken, daß sie nichts dabei wagen; kurz, daß unter einer solchen nervenlosen Regierung just darum, weil Jeder thut, was ihm beliebt, entweder gar nichts (welches oft besser ist als etwas) oder so viel Unverständiges, Widersinniges und Verderbliches geschieht, daß oft Menschenalter erfordert werden, die Sachen wieder in einen leidlichen Gang zu setzen.

Kleon. Ich weiß nicht, ob sich unser Freund Eukrates von seinem angebornen Haß gegen die armen Seelen, die er Schwachköpfe nennt, nicht verleiten ließ, uns ein Fratzenbild hinzumalen, wozu es ihm vielleicht schwer werden sollte, ein Original zu finden.

Eukrates. Nicht schwerer, lieber Kleon, als die Augen aufzuthun und –

Kleon. Allenfalls will ich zugeben, daß in Staaten, wo Alles von Einem abhängt, die Schwachheit dieses Einzigen einen großen Theil der schlimmen Folgen, die du uns vorgezählt, nach sich ziehen könnte. Aber in Republiken sehe ich nicht, wie ein schwacher Mann so großen Schaden sollte thun können.

Eukrates. Wir müssen nicht vergessen, daß die Rede von einem schwachen Manne ist, den man an die Spitze der Republik gestellt hat.

Kleon. Sehr wohl! Aber kommt denn Alles auf ihn allein an? Ist seine Macht nicht eingeschränkt? Werden die Verständigen und Wohlgesinnten unthätig bleiben? oder ist es in seiner Gewalt, sie unthätig zu machen? 275

Stilpon. Ich besorge, guter Kleon, in einer Republik, wo man einen Mann, wie euer Lampus ist, eben dadurch, daß man ihn an die Spitze setzt, öffentlich für den Besten erklärt, möchten die Verständigen und Wohlgesinnten schwerlich stark genug seyn, die Thoren und Uebelgesinnten, die ihm den Staat verwirren helfen werden, an der Ausführung ihres Werkes zu verhindern. Eine solche Wahl setzt schon einen Grad von Verderbniß in der Republik voraus, der wenig Hoffnung zur Genesung übrig läßt.

Eukrates. Sehr richtig! Eine solche Wahl kann nur in einer Republik zu Stande kommen, die schon lange aufgehört hat zu empfinden, was Tugend ist. In dieser machen die Schlimmen gewiß die ungleich größere Zahl aus; und würden diese einen Mann wie Lampus (wenn man anders so ein Geschöpf einen Mann nennen kann) erwählen helfen, wenn sie nicht unter ihm Alles zu vermögen hofften? Was werden die wenigen Biedermänner, von denen wir drei vielleicht schon einen großen Theil ausmachen, gegen ein Bündniß zwischen Dummheit und Bosheit ausrichten? Das Ansehen, wodurch wir ihren Unternehmungen Schranken setzen könnten, müßten uns die Gesetze geben; und sind nicht diese immer auf der überlegenen Seite? Wahrlich, die Form des Staats macht hierin keinen wesentlichen Unterschied. Lampus am ersten Platze der Republik schadet schon genug, wenn er ihr nichts nützt; wenn er den Verstand nicht hat, weder das Böse zu verhindern, das die Uebelgesinnten thun werden, noch die Partei der Wohldenkenden zu unterstützen und ihrer Wirksamkeit die beste Richtung zu geben. Ich gestehe gern, daß er an einem der untersten Plätze im gemeinen Wesen unschädlich seyn würde. Auch hab' ich, wie ihr wißt, nichts gegen den Mann an sich selbst. Nur will ich nicht, daß ihr 276 den guten Menschen, wider seinen Willen, zum Werkzeug unsers Unglücks und vermuthlich auch seines eigenen machen sollt, indem ihr ihn an einen Platz stellt, wo er durch seine Unfähigkeit nothwendig schädlich werden muß.

»Aber, sagt Kleon, wie können wir uns entschließen, eben diesen Platz einem Manne anzuvertrauen, von dem wir Alle wissen, daß er ein Bösewicht ist?« – Freilich ist es eine traurige Nothwendigkeit, die uns dazu bringt. Aber, gesetzt, wir hätten einen Steuermann vonnöthen, der uns über das ägeische Meer nach Kreta führen sollte, und wir könnten in der Eile keinen andern geschickten Steuermann kriegen als einen, der sonst in jedem andern Verhältniß ein böser Bube wäre: würden wir uns und unser Schiff lieber einem guten, frommen Menschen anvertrauen, der von der Schifffahrt gar nichts verstände? Ich denke, nein. Unser sind Viele, würden wir denken. Wir wollen des bösen Menschen wohl Meister werden, wenn er es uns zu grob machen wollte. So ein arger Bube er sonst seyn mag, so ist er doch ein guter Schiffer; und da er mit uns einerlei Schicksal zu gewarten hätte, wenn wir zu Grunde gingen, so können wir uns darauf verlassen, daß er sein Möglichstes thun wird, uns zu erhalten. Dieß, däucht mich, ist nun gerade unser gegenwärtiger Fall. Megillus hat Verstand und Thätigkeit. Wahr ist's, sein Herz taugt nichts; das Glück oder Unglück anderer Menschen ist ihm fremd; er ist stolz, herrschsüchtig, geizig, hart und grausam; niemals hat er sich über die Sittlichkeit der Mittel zu seinen Absichten ein Bedenken gemacht; ein nützliches Bubenstück hat nichts Abschreckendes für ihn, sobald er es ungestraft thun kann. Sein eigner Privatvortheil wird immer der letzte Zweck aller seiner Handlungen seyn. Er wird, wenn es ihm zugelassen würde, die Republik als 277 sein Eigenthum behandeln und die Gesetze nicht als Fesseln, die er tragen, sondern als Schlingen, denen er ausweichen muß, ansehen. Er wird Alles anwenden, sich einen Anhang zu machen, durch den er Alles vermöge; und ein jeder Freund seines Vaterlandes, der ihm entgegen arbeitet, wird einen unversöhnlichen Feind in ihm finden. Dieß ist Alles wahr! Aber Megillus hat Verstand, und dieser ist uns Bürge dafür, daß er mit Bedacht und Vorsicht handeln und nie mehr, als zu seinem Zweck schlechterdings nöthig ist, Böses thun wird. Er wird sogar, theils um sich das öffentliche Vertrauen zu erwerben, theils um sein Spiel desto besser zu verbergen, zu allem Guten mitwirken oder wenigstens durch die Finger sehen, was er, ohne Nachtheil seiner besondern Absichten, thun oder zulassen kann. Sein Ehrgeiz ist die schwache Seite, auf welcher ihn die Redlichgesinnten nicht selten mit gutem Erfolge werden angreifen können. Ein Mann, der Verstand hat, mag ein so schlimmes Herz haben, als er will, so sieht er doch immer ein, wie nothwendig es ist, daß er ein Mann von Ehre, ein Beförderer der öffentlichen Wohlfahrt, ein Freund der Männer von Talenten und Verdiensten zu seyn scheine; und dieß macht, daß er oft gerade so handeln muß, als ob er's wäre. Außerdem haben wir bei einem Manne von diesem Schlage noch den Vortheil, daß wir, weil er mit Ueberlegung und Klugheit zu Werke geht, beinahe in jedem vorkommenden Falle ziemlich zuverlässig wissen können, was er thun wird; ein Vortheil, auf den wir bei einem Lampus, der es selbst niemals weiß, wenig Rechnung machen können. Mit einem Worte, in einem Staate, wo ein Mann von Verstand und Thätigkeit an der Spitze steht, werden andere Männer, die diese Eigenschaften auch besitzen, so sehr sie in Grundsätzen und Absichten seine 278 Gegenfüßler seyn mögen, nie ohne Einfluß seyn und jenem ziemlich das Gleichgewicht halten. Die Gewißheit, daß er bei jedem Schritt aufs schärfste beobachtet wird, macht ihn behutsam; das Ansehen, worin die Patrioten ihres Charakters oder Platzes wegen stehen, nöthigt ihn, sie zu schonen und, da er doch zuweilen ihres Beistandes vonnöthen hat, sie dadurch zu gewinnen, daß auch er zuweilen etwas Gutes, das sie unternehmen, befördern hilft. Ich gebe zu, daß er, auch wenn er etwas Gutes thut, aus unlautern Beweggründen handelt; aber was bekümmert uns dieß? Genug für uns, die wir es mit dem gemeinen Wesen wohl meinen, daß ihn sein Eigennutz selbst oft auf unsere Seite ziehen, und sein Verstand ihn nöthigen wird, manches Böse, wozu er Lust hätte, zu unterlassen, weil es ihm selbst schädlich wäre oder werden könnte, und manches Gute, wider seine Neigung, zu befördern, nicht, weil es gut, sondern, weil es ihm selbst nützlich ist.

So reich der Gegenstand, wovon wir reden, ist, so unnöthig ist es, Alles zu sagen, was sich von einer Sache sagen läßt, sobald man mit Verständigen spricht. Kleon meinte, die Frage, über die wir verschieden dachten, wäre einer Art von Berechnung fähig. Ich glaub' es selbst und überlass' es nun unserem Freunde Stilpon, den Ausspruch zu thun, auf welcher Seite am wenigsten zu verlieren ist.

Stilpon. Soll ich Ihnen meine Meinung unverhohlen sagen? Jeder, däucht mich, hat das Beste für die seinige gesagt, was sich sagen ließ, und, sofern es hier auf eine ungefähre Berechnung der Wahrscheinlichkeiten ankäme, hat Eukrates unstreitig den Vortheil: wiewohl nicht zu leugnen ist, daß es in solchen Fällen immer die zufälligen Umstände sind, die am Ende den Ausschlag geben; und diese können 279 eben so wohl für die eine als für die andere Meinung fallen. Aber legen wir die Hand aufs Herz und fragen uns: Was müssen die Megarer seyn, und was verdienen sie zu leiden, wenn sie ohne Noth (denn noch ist es so weit mit uns nicht gekommen, daß wir keinen andern Ausweg hätten) die Wohlfahrt ihres gemeinen Wesens auf eine so gefährliche Spitze setzen? Welch ein Einfall, nur einen Augenblick in ernstliche Ueberlegung zu nehmen, ob es besser sey, die Republik einem guten Manne ohne Kopf oder einem Schlaukopf ohne Herz preiszugeben! Unglücks genug für die Staaten, die ihre Regenten aus der Hand des Glücks empfangen, wenn der Zufall sie mit einem Unwürdigen betrügt. Sie haben keine Wahl! – Aber ein Volk, das offene Augen und freie Stimmen hat, dem sogar Gesetze und Eid die Ausübung seines kostbarsten Rechtes zur Pflicht machen, ein solches Volk muß den Menschenverstand verloren haben, wenn es sich jemals einen andern als seinen weisesten und besten Mann zum Regenten gibt. Verzeihen Sie meine Freimüthigkeit –

Eukrates. Hier ist nichts zu verzeihen, guter Stilpon! Sie haben Recht. Aber, wenn nun der größere Theil sich, wie es oft zu gehen pflegt, in seinem Urtheile betrügt und gerade den Unwürdigsten für den Besten ansieht? Wie dann?

Stilpon. Wie dann? Für diesen Fall haben die Gesetze von Megara gesorgt, dächte ich. Eben darum, weil das Volk so leicht einen Mißgriff thun könnte, haben sie das Wahlrecht in die Hände des Senats gestellt; und von den Vormündern des Staats darf und soll man doch voraussetzen können, daß sie Verstand genug haben, in jedem gegebenen Falle – Weiß von Schwarz zu unterscheiden.

Eukrates und Kleon bedankten sich lächelnd für das Compliment, das der Philosoph ihrem ehrwürdigen Orden 280 zu machen beliebt hatte, und gingen ihres Weges. Zwei oder drei Tage darauf war der Wahltag. Die Rathsherren von Megara sahen so gut als irgend ein Philosoph in der Welt, daß es sich nicht schicke, der Republik einen so blöden Mann wie Lampus oder einen so schlimmen Mann wie Megillus zum Vorsteher zu geben. Sie verglichen sich also und erwählten einmüthig – den Gorgias, den einzigen Mann in Megara, von dem man gestehen mußte, daß er zugleich so unverständig und so bösartig sey, als ein und eben derselbe Mensch beides zugleich seyn kann.

Der Mann rechtfertigte ihre Wahl auf die außerordentlichste Weise; denn er gab gleich in den ersten vier Wochen seiner Staatsverwaltung so viel tolles und heilloses Zeug an, als zwanzig weise Männer in eben so viel Olympiaden nicht wieder hätten gut machen können.

Bravo! rief der Philosoph Stilpon, wenn er wieder von einem neuen Bubenstück oder albernen Streiche hörte, womit der Oberzunftmeister Gorgias seine Regierung verherrlichte.

Nichts war unschuldiger, als Bravo zu rufen. Gleichwohl fanden sich Leute, die in dem Tone, womit er es aussprach, etwas sehr Strafbares bemerkt haben wollten und dem Oberzunftmeister einen Bericht davon erstatteten, der nicht zum Vortheil des Philosophen war.

Wer ist dieser Stilpon? fragte Gorgias. – »Ein Philosoph.« – Ich habe die Philosophen nie leiden können, und ich denke, wir haben sogar ein Gesetz wider sie, versetzte Gorgias. Wirklich war ein altes Gesetz gegen Müßiggänger, Sterngucker, Marktschreier und Leute, die mit Murmelthieren im Lande herumzogen, vorhanden. Fort mit allem diesem Geschmeiße! sagte Gorgias.

281 Der Philosoph Stilpon erhielt Befehl, binnen Tag und Nacht Megara zu räumen.

Bravissimo! rief der Philosoph Stilpon und zog nach Athen, wo die Philosophen (ausgenommen daß man ihnen zuweilen für ihr Geld einen Becher voll Schierlingssaft zu trinken gab) überhaupt so wohl gelitten waren, als an irgend einem Ort in der Welt.

 


 


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