Christoph Martin Wieland
Stilpon
Christoph Martin Wieland

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Einleitung.

Jedermann wird uns eingestehen, daß der erste Minister des berühmten Königreichs LilliputSwift läßt seinen Gulliver die Größe der Einwohner dieses Fabellandes auf sechs Zoll bestimmen. Die größten Pferde und Ochsen sind dort nicht viel über fünf Zoll hoch, die Gänse wie unsere Sperlinge u. s. w., um die Lilliputer und ihre Nachkommenschaft glücklich zu machen, ein Mann von eben so großen Talenten, Kenntnissen und Tugenden seyn mußte, als ob er Frankreich oder Spanien zu verwalten gehabt hätte. Vorausgesetzt, daß diese Lilliputer eine Art von Menschen sind, möchten sie, mit uns gemessen, so klein als die Käsemilben seyn, es würde immer ein CecilCecil, Wilhelm, Baron von Burleigh, Staatssecretair unter Eduard VI. und nachmals Lord Großschatzmeister unter Elisabeth, gehört zu den größten Staatsmännern, welche England gehabt hat. oder SullySully – Freund und Minister Heinrichs IV. oder ColbertColbert, Minister Ludwigs XIV. oder eine Vereinigung mehrerer Männer von diesem Werth erfordert, um Lilliput wohl zu regieren; und insofern nur in diesen Ministern der Geist eines Cecils, Sully's oder Colberts wirkte, möchten sie immerhin nur fünf oder sechs Daumen hoch seyn; dieß hätte nichts zu bedeuten.

Wenn dieß in Absicht der Minister von Lilliput richtig ist, warum sollte nicht das Nämliche von den Vorstehern eines jeden kleinen Staates gelten? – Gleichwohl ist das gemeine Vorurtheil wider die kleinen Staaten. Man pflegt sie gewöhnlich mit Verachtung anzusehen, blos weil sie klein sind; und wer z. B. zu Wien, Berlin oder Hannover im Ernste von einem Aristides, Cato oder Cicero der Reichsstadt Pfullendorf spräche, würde gewiß von den meisten seiner Zuhörer so angesehen werden, als ob er etwas sehr Ungereimtes gesagt hätte.

250 Ich will damit weder bejaht noch verneint haben, daß es in PfullendorfEhemals eine der kleinsten Reichsstädte im schwäbischen Kreise. oder irgend einer andern Reichsstadt jemals einen Aristides, Cato oder Cicero gegeben habe. Ich behaupte nur, daß es ein möglicher Fall sey, und daß die kleinste aller Republiken eben so gut Männer von diesem Schlage in ihrem Schoße hegen könne, als es möglich ist und sich vermuthlich schon oft zugetragen hat, daß der Herr von einem Paar Dörfern ein Titus oder Antonius gewesen wäre, wenn der Himmel für gut befunden hätte, ihn über Viel zu setzen.

Wenn Männer von großem Geist und Herzen in kleinen Staaten, z. B. in Abdera oder Megara, verhältnißweise seltner sind, als in großen – denn selten sind sie überall und zu allen Zeiten – so lassen sich davon ein paar sehr gute Ursachen angeben. Eine davon liegt in den Schwierigkeiten, in einem Megara ein großer Mann zu werden, und die andere in den Schwierigkeiten, es zu seyn.

Ordentlicher Weise wird man nur dann ein großer Mann, wenn man durch die Erziehung dazu gebildet, durch Beispiele aufgefordert, durch Ruhmbegierde oder Hoffnung glänzender Belohnungen angefeuert wird. Keine von diesen Ursachen hat gewöhnlich in sehr kleinen Staaten Platz. Wenn wir Sparta (welches freilich nur eine kleine Republik war, aber einen großen Mann zum Gesetzgeber gehabt hatte) und das alte Rom (welches schon in seinen ersten Anfängen die ganze Anlage seiner künftigen Größe enthielt) ausnehmen, so ist vielleicht keine kleine Republik zu nennen, in welcher Erziehung und Beispiel vortreffliche Bürger hervorgebracht hätten. Und wie sollten Belohnungen diese Wirkung thun können in einem Staate, dessen Armuth kaum für seine dringendsten Bedürfnisse hinreicht? Gewiß eben so wenig 251 als die Hoffnung des Nachruhms oder wenigstens der Hochachtung seiner Zeitgenossen. Denn was für Hoffnung könnte sich der obbesagte Cato oder Aristides der Reichsstadt Pfullendorf machen, in den Jahrbüchern der Menschheit zu glänzen? Er, der im mindesten nicht darauf rechnen kann, nur wenige Meilen außerhalb der Ringmauern seiner Vaterstadt für den Mann, der er ist, bekannt zu werden? Ihm gilt es also ganz eigentlich, was Cicero den alten Scipio zu seinem Enkel sagen läßt: Durch ihren eigenen Reiz muß dich die Tugend zu edeln Thaten ziehen! Das Bewußtseyn seines Verdienstes ist die einzige gewisse und würdige Belohnung, auf die er zählen kann. Aber was für feinen Thon muß die Natur nehmen, um solche Herzen zu bilden! und wie selten thut sie das!

Noch größer sind in kleinen Republiken gewöhnlich die Hindernisse, die ein Mann überwinden muß, um wirklich große Dienste zu leisten. Nirgends findet man – die Natur der Sache bringt es so mit sich – eingeschränktere Seelen, härtere Köpfe, kältere Herzen; nirgends mehr Eigensinn, Eifersucht, Neid, Wankelmuth, Falschheit; nirgends hartnäckigere Vorurtheile; nirgends mehr Trägheit zu Unternehmungen, die keinen Privatnutzen versprechen; nirgends mehr Widerwillen gegen Alles, was Dummköpfe Neuerungen nennen – als in kleinen Republiken.

O Abderiten, Abderiten! – pflegte Demokritus seinen geliebten Landsleuten zuzurufen: sträubt euch doch nicht so gegen Neuerungen! Alles Alte bei euch taugt nichts; Alles muß neu zu Abdera werden, wenn es gut werden soll!

Aber wie sollte diese Denkungsart in kleinen Republiken nicht Ketzerei seyn? Jeder Schritt, den man darin zum Bessern thun will, geht über ehrwürdige oder verjährte 252 Mißbräuche; und bei jedem Mißbrauch, auf den man tritt, schreien etliche – wackere Leute, denen es wehe thut. Daher der Haß, der in solchen Gemeinheiten das wahre Verdienst zu drücken pflegt. Daher, daß es als eine Art von Hochverrath angesehen wird, wenn ein Mensch von gesundem Kopfe sich die Freiheit nimmt, die Gebrechen der Staatsverwaltung wahrzunehmen. Wie dem guten OvidWarum – klagte dieser in der Verweisung – warum sah ich? Warum that ich schädliche Blicke?, wird es hier oft einem armen Schelme zum Verbrechen gemacht, mit seinen Augen gesehen zu haben, was die Herren nicht wollen daß man sehen soll. In diesem Stücke konnte der Despotismus unter den alten Cäsarn selbst nicht strenger seyn, als er es oft in dem kleinsten Städtchen oder an dem kleinsten Höfchen ist.

Die große Schwierigkeit, einen kleinen Staat wohl zu regieren, liegt nicht in seiner Kleinheit; denn, wahrlich, nur tausend Männer, die mit zusammen gesetzten Kräften auf einen Punkt los arbeiten, können schon Wunder thun. Die Schwierigkeit liegt blos darin, »tausend Leute zu – Männern zu machen, und dann, in diese Männer einen gemeinschaftlichen Geist zu hauchen, der alle ihre Bewegungen nach einem gemeinschaftlichen Endzweck richte.« – In kleinen Staaten ist dieß oft so schwer, als die gefabelten Wunder des Orpheus und Amphion.

Diese Betrachtungen haben mich öfters bewogen, einen Bürgermeister einer unbedeutenden Reichsstadt oder einen Vorsteher einer kleinen helvetischen Republik mit eben der Ehrfurcht anzusehen, womit man die Bilder der großen Männer des alten Griechenlandes und Roms anzusehen pflegt. Ich könnte mehr als Einen nennen, auf dessen Grab ein schlechter, von Reisenden unbesuchter Stein liegt – dessen Bild auf Münzen und Cameen die Cabinete der Kenner 253 zieren und die Alterthumsforscher beschäftigen würde, wenn er das in Rom gethan hätte, was er in seinem kleinen Vaterlande that.

Aber wozu dieser Eingang? – Blos dazu, damit sich nicht manche unserer Leser abschrecken lassen, wenn sie sehen, daß es in dem folgenden Gespräche nur darum zu thun ist, ob Lampus oder Gorgias oder Megillus Oberzunftmeister in der kleinen Republik Megara werden soll? – einer Republik, die schon längst nichts mehr ist, und die in der That, als sie noch etwas war, wenig mehr als nichts war.

Den Megarern war an der Auflösung dieses Problems sehr viel gelegen; und wer weiß, ob nicht an der Art, wie es in des Philosophen Stilpon kleinem Gartensaal aufgelöst wurde, mancher kleinen und großen Republik um ein Merkliches mehr gelegen seyn möchte, als an der Frage:

Ob Scaramuz, ob ScapinZwei Masken in der italienischen Komödie; der Erste mit dem Charakter eines Aufschneiders, der Zweite mit dem eines verschmitzten, spitzbübischen Bedienten. besser tanze?

 


 


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