Christoph Martin Wieland
Horazens Brief an die Pisonen
Christoph Martin Wieland

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Horazens Brief an die Pisonen

            Wofern ein Maler einen Venuskopf
auf einen Pferdhals setzte, schmückte drauf
den Leib mit Gliedern von verschiednen Tieren
und bunten Federn aus, und ließe (um
aus allen Elementen etwas anzubringen)
das schöne Weib von oben – sich zuletzt
in einen grausenhaften Fisch verlieren,
sich schmeichelnd, nun ein wundervolles Werk
euch aufgestellt zu haben: Freunde, würdet ihr
bei diesem Anblick wohl das Lachen halten?

Und gleichwohl werden Werke dieser Art
in einem andern Fach uns oft genug
zur Schau gebracht. Denn, glaubet mir, Pisonen,
ein Dichterwerk, von schlechtverbundenen
Ideen, die, wie Fieberträume, durch-
einander schwärmen, so daß weder Kopf noch Fuß
zusammenpaßt – und eine Malerei
von jenem Schlag, sind trefflich einerlei.

»Wie? Ist den Malern und Poeten nicht
von jeher freigestanden, alles was sie wollen
zu wagen?« – Freilich! auch Wir machen Anspruch
an diese Freiheit, und verlangen Keinem
sie abzustreiten – Nur nicht, daß man paare,
was unverträglich ist, nicht Schlang' und Vogel,
nicht Lamm und Tiger in einander menge!

Wie häufig sehn wir einem ernsten, viel-
versprechenden Gedichte hier und da
wie einen Purpurlappen angeflickt,
der weithin glänzen soll? Da wird ein Hain
Dianens, nebst Altar, ein Silberbach,
der schlängelnd seine Flut durch anmutsvolle
Gefilde wälzt, ein schöner Regenbogen,
und Vater Rhein auf seiner Urne liegend,
gar prächtig hingepinselt – nur daß hier
der Ort dazu nicht war! – Der Maler ist
vielleicht im Baumschlag stark, kann eine hübsche
Cypresse malen – aber auf dem Täfelchen,
worauf ein armer Mann der Schiffbruch litt,
halbtot ans Ufer treibend, für sein Geld
sich malen läßt, was hilft dein schöner Baum?Personen, die aus einem Schiffbruch ihr Leben davon gebracht hatten, pflegten ein Täfelchen, worauf ihr erlittnes Unglück gemalt war, in den Tempel des Neptuns zu stiften; oder auch wohl mit einem solchen Gemälde an der Schulter herumzugehen, um milde Herzen zu tätigem Mitleiden zu bewegen. Ein alter Scholiast sagt: Horaz spiele hier an das Griechische Sprüchwort an: μη τι και κυπαρισσου θελεις; wozu ein Griechischer Maler Gelegenheit gegeben, der sich besonders darauf gelegt hatte, schöne Cypressenbäume zu malen, und da einstmal ein armer Schiffbrüchiger ein Täfelchen zu besagtem Gebrauch bei ihm bestellte, fragte: soll ich dir nicht auch eine Cypresse dazu malen?
Du fingest eine prächtge Vase an
zu drehn, und da die Scheibe abläuft, kömmt
ein halber Topf herausDer Ausdruck: amphora urceus exit, ist hier so viel als desinit in urceum. Daß es dies sei, was Horaz sagen wollte, hätte der ganze Zusammenhang den Auslegern und Übersetzern zeigen können. ! – Kurz, mache was du willst,
nur, was du machst, sei mindstens Eins und Ganz!

Wir andern Dichter, meine edeln Freunde,
wir fehlen meistens nur vom Schein des Guten
getäuscht, und oft wenn wirs am besten meinen.
Man gibt sich Mühe kurz zu sein, und wird
darüber dunkel, oder nervenlos
indem man leichte Dinge leicht behandeln will.
Ein andrer strebt nach Größe auf, und schwillt;
dafür kriecht jener dort, aus Furcht des Sturms,
der in der Höhe weht, am Boden hin:
und dieser, um recht unerhört zu sagen,
was nur auf Eine Art sich sagen läßt,
malt euch Delphinen in den Busch, und läßt
die Nereid' auf einem Eber schwimmenDies ist, denke ich, der Sinn dieser, von den französischen Übersetzern gänzlich verfehlten, zwei Verse unsers Autors. Er tadelt nämlich die Dichterlinge, die aus eitler Sucht sich über das Gemeine zu erheben, und immer neu zu sein, auch da, wo die Natur der Sache nur Eine Art der Darstellung, nämlich die natürliche, und nur Eine Bezeichnung, nämlich die gewöhnliche, zuläßt, was neues, nie gesagtes zu Markte bringen wollen, und sich darüber ins Abenteuerliche und Ungereimte verirren. Der wilde Eber gehört in den Wald, der Delphin ins Meer; dabei muß es bleiben. Jemanden mit der Nase sehen, mit den Augen hören, mit den Ohren riechen lassen, ist freilich neu; aber es ist Unsinn. .

Die Furcht zu fehlen wird die reichste Quelle
von Fehlern, wenn sie nicht vom Kunstgefühl
geleitet wird. Der letzte unter allen
den Meistern, die wir am Aemilschen Fechtplatz
arbeiten sehen, drückt an seinem Bilde
aufs fleißigste sogar die Nägel aus,
ahmt weicher Locken sanftes Wallen bis
zum Wunder nach, und ist und bleibt doch stets
der Letzte, weil er Alles – nur, zum Unglück,
nichts Ganzes machen kann. Für meinen Teil,
ich wollte gleich so lieb, bei schwarzem Haar
und schönen schwarzen Augen, mich der Welt
mit einer krummen Nase zeigen, als
der Dichter sein, der diesem Künstler gliche.

Ihr, die ihr schreiben wollt, vor allen Dingen
wählt einen Stoff, dem ihr gewachsen seidEine vortreffliche Regel für den Lehrling, der einen Genius hat, der ihn die Regel verstehen und anwenden lehrt! aber unbrauchbar für jeden andern. Und so ists mit allen Regeln. ,
und wäget wohl vorher, was eure Schultern
vermögen oder nicht, eh ihr die Last
zu tragen übernehmt. Wer seinen Stoff
so wählte, dem wirds an Gedanken
und Klarheit nie, auch nie an Ordnung fehlen:
und unter manchem Vorteil, der durch Ordnung
gewonnen wird, ist sicher keiner von
den kleinsten: daß man immer wisse was
zu sagen ist, doch vieles, was sich auch
noch sagen ließe, jetzt zurückbehalte,
und für den Platz, wo mans bedarf, verspare.

Auch Sprach' und Versebau und Rhythmus seiIch habe den Horaz hier, um des Zusammenhangs willen, ein paar Worte mehr sagen lassen als er ausdrücklich sagt: aber um in das Ganze Zusammenhang zu bringen, müßte man ein neues Werk daraus machen.
Dem wohl empfohlen, der ein echtes Werk
zu schaffen wünscht. Er kann nicht leicht zuviel
Bescheidenheit und Vorsicht in der Wahl
der Wörter
zeigen. Öfters wird ein Vers
vortrefflich, bloß wenn ein alltäglich Wort
durch eine schlaue Stellung unverhofft
zum Neuen wird. Wo neuentdeckte Dinge
zu sagen sind, da ists mit Recht erlaubt
auch unerhörte Wörter zu erfinden,
wenn diese Freiheit mit Bescheidenheit
genommen wird. Auch können neue Wörter
und Redensarten, die vor kurzem erst
aus griechschem Quell auf unsern Grund und Boden
geleitet worden sind, mit Sparsamkeit
gebraucht, ein Recht an gute Aufnahm fodernWas Horaz hier den Römern erlaubt, haben sich die Italiäner, Franzosen, Engländer, ebenfalls erlaubt gehalten, und nur uns Teutschen sollt es verboten sein? Als ob unsre Alten nicht einmal Barbaren gewesen wären, wie andre; und als ob jemals die Sprache eines rohen Volkes ohne fremde Hülfe hätte gebildet und bereichert werden können? .
Was kann der Römer einem Plautus und
Cäcil gestatten, das Virgil und Varius
nicht wagen dürften? Oder soll mir übel
genommen werden, wenn ich etwas Weniges
erwerben kann, da Ennius und CatoCato Major, oder Censorius, einer der größten Männer des alten Roms, hatte sich auch durch verschiedne historische und ökonomische Werke um die römische Sprache verdient gemacht.
die Sprache mit so vielen neuen Wörtern
bereichern durften? Immer wars und bleibts
erlaubt, ein neugestempelt Wort
von gutem Korn und Schrot in Gang zu bringen.
So wie von Jahr zu Jahr mit neuem Laube
der Wald sich schmückt, das alte fallen läßt:
so lässet auch die Sprache unvermerkt
die alten Wörter fallen, und es sprossen neue
ins Leben auf, und füllen ihren Platz.
Wir sind uns selbst und alles Unsrige
dem Tode schuldig. Laß dort einen mit dem Meer
verbundnen Landsee seinen weiten Busen öffnen,
um ganze Flotten vor den Aquilonen
zu schirmen, traun! ein königliches Werk!
Laß jenen schon so lang' unfruchtbarn und des Ruders
gewohnten Sumpf den Pflug erdulden lernen,
und nachbarliche Städte rings umher
mit reichen Ernten nähren – jenen Strom
den Lauf, der unsern Feldern schädlich war,
mit einem neuen bessern Weg vertauschen:Den alten Scholiasten ist es gar nicht zweifelhaft vorgekommen, daß Horaz in dieser Stelle auf einige von August und Agrippa ausgeführte außerordentliche Werke ziele. Der mit dem Meer verbundne Landsee, der ganze Flotten vor den Aquilonen schützt, deutet, sagen sie, auf den Lucrinersee bei Neapel, welchen August mit dem Meere verband, und durch gewaltige Dämme zu einem der besten und sichersten Seehäfen von Italien (Portus Iulius genannt) machte – Der unfruchtbare des Ruders gewohnte Sumpf etc. auf die Pomptinischen Sümpfe, die er austrocknen und urbar machen ließ – und der Strom, der einen neuen unschädlichern Weg zu laufen gelehrt wird, auf die Tiber, deren Bette Agrippa veränderte. Geßner meint, das erste, nämlich der receptus terra Neptunus, könne, wegen dem Beisatz Regis opus, nicht auf ein Werk des Augusts gehen, dem der Königliche Name so verhaßt gewesen sei: sondern deute auf die Bemühungen des Xerxes den Berg Athos ausstechen zu lassen. Mich deucht es ist sehr unnötig zu einer so gezwungnen Auslegung seine Zuflucht zu nehmen, da gewiß weder August noch irgend ein Römer bei diesem Regis opus etwas anders gedacht hat, als opus regium, ein Königliches Werk, ein Werk, das dem größten Könige Ehre machen würde. Übrigens erhält das Kompliment, das der Dichter dem Augustus durch die Erwähnung dieser Werke macht, seinen ganzen Wert von der Delikatesse, womit es gemacht ist, nämlich gerade davon, daß es gar nicht die Prätension eines Kompliments hat. August wird nicht dabei genannt; die Werke selbst werden nur durch das Wunderbare, das sie haben, charakterisiert; man läßt den Leser erraten wovon die Rede sei; und das schönste ist, daß Horaz sie nur als Beispiele der Vergänglichkeit der menschlichen Dinge anführt, und, indem er dafür sorgt, ihr Andenken bei der Nachwelt zu erhalten, ihren Untergang vorhersagt, ohne daß August selbst es übel nehmen konnte.
Das Alles, Freunde, wird, als Menschenwerk,
die Zeit zerstören! – Und die Sprache sollte
allein in ewgem Jugendglanze blühen?
Viel abgestorbne Wörter werden wieder
ins Leben kehren, viele andre fallen,
die jetzt in Ehren sind, so wie der Brauch
es fügen wird, bei welchem doch allein
die Macht, hierin Gesetz zu geben, steht.

In welcher Versart Taten edler Helden
und Könige zu singen sich gezieme,
hat uns Homer gezeigt. – In jener, die
den Vers Homers mit einem kürzernMit dem Pentameter. wechselt,
verseufzte anfangs nur die Traurigkeit
den sanften Schmerz; allein man fand, daß auch
die Freude, und die ihres süßen Wunsches
gewährte Liebe dieses leichten Ganges
gar schicklich sich bediene: aber wer
Erfinder dessen sei, darüber streiten
die Sprachgelehrten, und der Handel ist
noch unentschieden. Mit dem raschen Jambus
bewaffnete die Wut den zürnenden
Archilochus: doch später wurde dieser Fuß
sowohl der niedern Socke, als dem hohen
KothurnSoccus und Cothurnus. Der Kothurn war eine Art von sehr hohen purpurfarbnen Halbstiefeln für die Götter und Helden in der Tragödie; die Socke, eine niedrige Art von Schuhen, war den Personen in der Komödie eigen. der Schauspiel-Musen angepaßt.
Man fand, er schicke sich zum Dialog
am besten, sei zur Handlung wie gemacht,
und übertöne leichter als ein andrer
das Volksgetös' im hallenden Theater.

Zur saitenreichen Leier hieß die Muse
die Götter und der Göttersöhne Taten,
die Sieger in den Kämpfen, und das Roß
im Wettlauf siegend, und die Schwärmereien
der feurgen Jugend, Wein und Liebe, singen.

Ein jedes Werk in jedem Dichterfach
hat seinen eignen Farbenton und Stil.
Versteh ich nichts von dieser Farbengebung,
mit welcher Stirne kann ich einen Dichter
mich schelten hören? Oder, warum lieber
aus falscher Scham unwissend sein, als lernen?
Was komisch ist, will nicht im Schwung und Pomp
des Trauerspieles vorgetragen sein;
hingegen ists was unausstehliches,
Thyestens Gastmahl im Gesellschaftston
und Versen, die beinah zur Socke passen,
erzählen hörenVermutlich zielte Horaz hier und an mehrern Stellen dieser Epistel auf damalige Werke, die ihre Urheber nicht überlebt haben. . Jedes schicke sich
für Ort und Zeit! – Indessen mag zuweilen
auch die Komödie ihre Stimm' erheben,
und einen alten Chremes, dems der Sohn
zu toll gemacht, den Sturm des ersten Zorns
mit Blitz und Donnerschlag vertoben lassen:
so wie Melpomene, sobald sie klagt,
den Ton herabstimmt, und zum simplen Ausdruck
des Volkes sinkt. Wenn Telephus und PeleusZwei tragische Süjets aus der griechischen Heldenzeit. Sowohl Sophokles als Euripides haben Beide Süjets unter diesem Namen auf die Bühne gebracht – und von diesen scheint hier die Rede zu sein.
im tiefsten Elend, dürftig und verbannt
aus ihrem Vaterland, des Hörers Herz
mit ihren Klagen rühren wollen, lehrt
sie die Natur ganz einen andern Ton!
Da werfen sie die hohen Stelzen und
die ellenlangen Wörter gerne weg!

Ein Dichterwerk sei schön, sei fehlerfrei,
dies ist sehr viel, allein noch nicht genug;
um zu gefallen, sei es lieblich auchNon satis est pulcra esse poemata, dulcia sunto. Unter pulcra versteht Horaz hier ohne Zweifel fehlerlos, regelmäßig, gut zusammengesetzt, kurz alles wodurch ein Gedicht dem Verstande gefällt: unter dulcia alles wodurch es den Sinnen schmeichelt, und das Herz rührt. ,
und stehle sich ins Herz des Hörers ein,
um, was der Dichter will, aus ihm zu machen.

Ein lachend oder weinend Angesicht
bringt, wie wirs ansehn, augenblicklich auch
ein Lächeln oder einen traurgen Zug
in unsers. Willst du daß dein Unglück mich
zu Tränen rühren soll, mein guter Peleus
und Telephus, so mußt du selber weinenWie Horaz sich hier ausdrückt, könnte es allerdings problematisch scheinen, ob seine Vorschriften dem Schauspieler oder dem Dichter gelten. Da er es aber im Ganzen dieser Epistel mit den Dichtern zu tun hat, so scheint mir (auch nach abermaliger Erwägung der Sache) die in der Erläuterung (C) gegebene Auslegung dieser ganzen Stelle die richtigste zu sein. !
Sind deine Reden deiner Lage nicht
gemäß, so werd ich – gähnen oder lachen.Die Rede ist in dieser ganzen Stelle [ab hier] mit keinem Gedanken von den Pflichten des Schauspielers, sondern bloß von dem was der Poet zu tun hat, um den Schauspieler, der seine Pflichten aufs beste erfüllt, nicht zu Schanden zu machen. Der Schauspieler kann mit der größten Wahrheit in die Lage der Person, die er vorstellt, hineingehen; sein Ton, seine Gebärde, können im höchsten Grade rührend, und dem, was er der Natur der Sache nach zu fühlen scheinen soll, angemessen sein; kurz, er könnte sich ganz in seinen Peleus oder Telephus verwandelt haben – aber wenn sein Schmerz oder seine Traurigkeit nun in Worte ausbrechen soll, und der Dichter läßt ihn Dinge sagen, die keinem Menschen in dieser Lage einfallen können, läßt ihn eine Sprache reden, die kein Mensch jemals in solchen Umständen gesprochen hat: so entsteht ein Widerspruch zwischen dem was der Zuschauer hört und dem was er sieht, der notwendig alle Wirkung des letztern unterbrechen und vernichten muß. Vermöge des allgemeinen Gangs der Natur, den Horaz beschreibt, erwarten wir von einem Menschen in dieser Lage, mit dieser Miene, dieser Gebärdung, kurz, mit allen diesen äußerlichen unfreiwilligen Zeichen des innern Gefühls, die vor dem Ausbruch der Leidenschaft in Worte vorhergehen – wahre Töne und Stimmen der Natur, die bis ins Innerste eindringen, alle Schleusen des sympathetischen Gefühls öffnen, und unser Herz von Mitleid überwallen, unsre Augen von Tränen glänzen machen. – Hören wir aber statt des wahren Telephus, den die Natur ganz gewiß zu unserm Herzen sprechen lehren würde, den Dichter, der nur auf unsre Imagination losstürmt, Bilder auf Bilder, Hyperbeln auf Hyperbeln häuft, oder gar mit der Wut eines Besessenen Bombast und Unsinn ausschäumt: so muß jeder Zuhörer, der nicht ganz an Menschensinn verkürzt ist, sogleich fühlen, daß kein Wort von dem allen, was der angebliche Telephus sagt, wahr ist; die Illusion hört auf; wir fühlen, statt sympathetischer Empfindungen, den Verdruß getäuschter Erwartung; und so wird der verunglückte Theaterheld seine Zuhörer unfehlbar, je nachdem der Dichter sich mehr oder weniger von der Natur entfernt hat, nur desto mehr gähnen, lachen, oder zürnen machen, jemehr sich der Schauspieler angreift, eine unnatürliche Rolle wahr zu spielen. – Sollte sich irgendwo in der Welt ein Parterre finden, das diese Behauptung durch sein Gefühl und Betragen – Lügen strafte: so wäre dies, sobald es mit dem Faktum seine erwiesene Richtigkeit hätte, ein psychologisches Problem, das zu einer akademischen Preisfrage gemacht zu werden verdiente. Weil indessen die Regel, welche Horaz an diesem Orte gibt, für sich allein noch sehr unzulänglich ist: so fügt er sogleich noch eine andre hinzu, ohne deren genaueste Beobachtung ein Telephus z. E., wenn er eben das sagte, was im Mund einer andern Person sehr rührend war, einen ganz widrigen Eindruck machen könnte – nämlich das Gesetz: daß der Dichter alle die Umstände und Bestimmungen, die zusammengenommen den Charakter einer Person ausmachen, immer vor Augen haben müsse. Was sich für jede besondere Person in jeder besondern Lage schickt, zu wissen, ist also die große Wissenschaft des Dichters. Aber wie viele Kenntnisse schließt diese Wissenschaft in sich! und welche Schärfe der Beurteilung, welch ein zartes, schnelles und sichres Gefühl setzt sie bei der Anwendung voraus!
Zu einem traurenden Gesichte ziemen sich
auch traurge Worte. Ruhig, oder zürnend,
mutwillig oder ernsthaft, immer sei die Sprache
der Leidenschaft, der Stimmung angemessen,
die erst aus Miene und Gebärde spricht.
Denn jeder Wechsel unsers Glücks erregt
zuerst im Innern eine Leidenschaft;
Zorn, der zum Widerstand das Blut erhitzt,
die Arme ausstreckt – oder Traurigkeit,
die hoffnungslos zur Erde, wie zum Grabe,
uns niederzieht: und dies, bevor die Zunge
der Seele Dolmetsch wird, und ihre Regung
in Worte ausbricht. Dies ist allezeit
Gang der Natur. Verfehlt der Dichter ihn,
legt seinem Helden in den Mund, was nicht
zu seiner Lage paßt: so darfs ihn nicht befremden,
wenn Ritterschaft und FußvolkEin komischer Ausdruck für die zwei Haupteinteilungen des römischen Volkes, welche (wie anderswo schon bemerkt worden) unter Augusts Regierung Platz griff. überlaut
ihm, statt zu weinen, an die Nase lachen.

Nicht minder kommt sehr vieles darauf an,
ob die Person, die spricht, der Diener oder
der Herr im Haus, ein reifer Alter, oder
ein junger schwärmerischer Tollkopf ist;
ob eine Fürstin, oder ihre treuergebne
Hofmeisterin; ein Kaufmann, allenthalben
zu Haus und nirgends, oder ob ein Landwirt
der sich von seinem Gütchen nährt; ob er
Assyrer oder Kolcher, ob zu Theben oder
zu Argis auferzogend. i. der Dichter muß auch auf Klima, Landesart und Sitte, Staatsverfassung, kurz auf alles was den Charakter des Volks dem seine Personen zugehören, bildet, Rücksicht nehmen. So muß z. E. ein Dichter den Assyrer weichlich und sklavisch, den Kolcher roh und grausam, den Thebaner tapfer und ungeschliffen, den Argiver tapfer und poliert, schildern. . Übrigens
soll der Poet entweder an die Sage
sich halten, oder, wenn er dichten will,
das Wahre der Natur zum Muster nehmen.

Führst du Achillen auf, den jeder kennt,
so sei er hitzig, tätig, schnell zum Zorn
und unerbittlich, wolle nichts von Pflichten hören,
und mache alles mit dem Degen ausd. i. so sei er, wie ihn jedermann aus der Iliade kennt. Das dem Achilles im Grundtext gegebene Beiwort honoratus scheint (wie Baxter bemerkt hat) nichts als das Aequivalent für das Homerische τιμηεντα zu sein. Die Hypothese des Abbé Galiani (von dessen noch ungedrucktem scharfsinnigen Kommentar über Horazens Werke Süard uns in seinen Mélanges de Litterature einen Auszug gegeben hat, der nach dem Ganzen begierig macht), daß Horaz hier auf eine wirkliche, aber verunglückte Tragödie, Achilles honoratus betitelt, angespielt habe, scheint mir eben so unnötig, als ohne allen historischen Grund aus der Luft gegriffen zu sein. !
Medee sei trotzig und durch nichts zu schrecken,
die sanfte Ino weich und tränenreich,
Ixion treulos, schwermutsvoll OrestLauter damals bekannte tragische Süjets, die von den größten griechischen Dichtern waren bearbeitet worden, und durch sie also schon bestimmte Charaktere erhalten hatten, die ein Dichter, der sie wieder auf die Bühne bringen wollte, beibehalten mußte. – Die Io vaga des Originals wollte sich nicht in den teutschen Vers einsperren lassen. .

Bringst du hingegen etwas auf die Bühne
das nie versucht ward, wagest eine neue
Person zu schaffen – gut! so gib ihr Selbstbestand,
und wie sie sich im ersten Auftritt zeigt,
so führe sie, sich selber ähnlich, bis
zum letzten fort! – Es ist vielleicht nichts schwerers,
als aus der Luft gegriffnen Menschenbildern
das eigne Individuelle geben
was jeden täuscht, und den Erdichteten
uns anverwandt und unsersgleichen macht:
Du wirst daher mit minderer Gefahr
ein Schauspiel aus der Iliade ziehen,
als dich an was ganz neuerfundnes wagen.

Ein Süjet, das der ganzen Welt gehört,
wird wieder Eigentum, wenn du dich weder
auf einem Plan, der zum Gemeinplatz schon
geworden, tummelst, noch, als ein getreuer
demütger Übersetzer, Wort für Wort
dem GriechenOder, dem ersten Autor, der das nämliche Süjet vor dir bearbeitet hat. nachtrittst; noch, als bloßer
Nachahmer, dich so sehr zusammendrückest,
daß, etwas wegzulassen, dir die Scham,
hinzuzutun, die Regel dir verbietetd. i. daß die Furcht vor Tadel dir nicht erlaubt etwas wegzulassen, noch die Regeln (z. B. der Einheit des Orts und der Zeit, oder der fünf Akte) etwas hinzuzutun gestatten. .
Auch fange dein Gedicht so laut nicht an,
wie jener alte CyklischeWas Horaz unter dem Cyklischen Poeten verstehe, darüber sind die Ausleger nicht eins. Das Wahrscheinlichste ist, daß der Poetische Cyklus die ganze Götter- und Heldenzeit in sich begriffen, und daß gewisse Dichter, die alle diese Fabeln in Ein Werk zusammengewebt, Cyklische Poeten geheißen. Die alten Scholiasten sagten: Antimachus sei ein solcher Cyklischer Poet gewesen; und sein Werk habe schon aus 24 Büchern bestanden, eh ers noch bis auf die berühmten Sieben Helden vor Thebä gebracht habe. Cicero erzählt von diesem Antimachus im 51. Cap. de Clar. Orator. ein Geschichtchen, das sehr viel für ihn zu beweisen scheint. Er las sein Werk zu Athen in einer großen Versammlung vor. Die Athener waren kein Volk das sich ennuyieren ließ. Das Gedicht währte ihnen zu lang, und nach und nach ging jedermann davon, so daß zuletzt nur noch Plato übrig blieb. »Auch gut«, sagte Antimachus; »ich lese doch fort: der einzige Plato ist mir statt aller dieser Myriaden.« Poet:
»Von Priams Schicksal und dem weitberühmten Krieg
begeb ich mich zu singen« – Großgesprochen!
Was kann der Mann uns sagen, das, den Mund
dazu so weit zu öffnen, würdig wäre?
Es kreißte, wie die Fabel sagt, ein Berg,
und er gebar, zu großer Lustbarkeit
der Nachbarschaft, ein kleines kleines Mäuschen.
Um wieviel besser ErHomer. , der niemals was
unschicklichs vorgebracht: Erzähle mir,
o Muse, von dem Mann, der nach Eroberung
von Troja vieler Menschen Städt' und Sitten sah –
Er gibt kein Feurwerk das in Rauch sich endet,
erst macht er Rauch, dann folgt ein rein und gleich
fortbrennend Feuer, um die schönen Wunder,
den Lästrigonen-König, und mit Scylla
den Polyphem und die Charybdis uns
darin zu zeigen. Er beginnt die Wiederkehr
des Diomedes
nicht von Meleagers Tod,
noch den Trojanschen Krieg von Ledas EiernAus deren einem die schöne Helena ausgekrochen sein soll. Wieder eine Anspielung auf verunglückte alte Poeten, von denen wir nichts mehr wissen. Meleager, einer der Argonauten und der griechischen Fürsten, welche die berühmte Calydonische Bestie (wie sie Hr. Hederich nennt) erlegten, war ein Oheim des aus Homer und Virgil bekannten Diomedes. Seine Helden- und Wundergeschichte ist zu weitläufig um hier erzählt zu werden. .
Stets eilt er, ohne Hast, zum Ende fort,
stürzt seinen Hörer mitten in die Sachen,
als wären sie ihm sein bekannt, hinein,
läßt liegen, was nicht glänzend sich behandeln läßt,
und lügt, mit Einem Wort, so schön, mengt wahr und falsch
so künstlich in einander, daß das Ganze
aus Einem Stücke scheint, und, bis zum Schlusse
sich selber ähnlich, täuscht, gefällt, entzückt.

Nun hör auch du, der auf dem Schauplatz uns
zu unterhalten wünscht, was ich und was
das Publikum mit mir von dir verlangt.
Woferns um Hörer dir zu tun ist, die
des Vorhangs Fall erwarten, und so lange bleiben,
bis uns der Sänger zuruft PLAVDITE!
so mußt du jedes Alter richtig zeichnen,
und jedem den Charakter und die Farbe,
die ihm gebührt, genau zu geben wissen.

Kaum kann der Knabe reden, kaum bezeichnet
sein kleiner Fuß mit sicherm Tritt den Boden,
so spielt er gern mit Kindern seines Alters!
erbost sich leicht um nichts, läßt durch ein Nichts
sich wieder auch besänftgen, und verändert,
wie ein Apriltag, sich von Stund zu Stunde.

Der Jüngling ohne Bart, von seinem Hüter endlich
befreit, hat Lust zu Pferden und zu Hunden,
er liebt im sonnenreichen Campus sich herum-
zutummeln, nimmt wie Wachs des Bösen Eindruck an,
weist guten Rat und Warnung trotzig ab;
denkt immer an das Nützliche zuletztUtilium tardus provisor heißt dem Sanadon und Batteux ne prevoit point ses besoins. In dieser nachlässigen Manier war es freilich eine leichte Arbeit den Horaz zu übersetzen. Was Horaz sagt und sagen will, ist von weit größerm Umfang. ;
verstreut sein Geld wie Sand, ist stolz und rasch
in seinen Leidenschaften, aber läßt,
was er mit Hitze kaum geliebt, gleich schnell
für etwas Neues, das ihn anlockt, fahren.

Bald ändert sich das alles, und an Jahren
und Denkart nun ein Mann, bewirbt er sich
um Freunde, Rang, Vermögen, Ehrenstellen,
er lebt nach einem Plan, und hütet sich
nichts zu beginnen, das ihn reuen müßte.

Dem Alten kommt viel Not und Ungemachs
unmerklich übern Hals, entweder, weil er immer
zusammenscharrt, und doch, aus Furcht zu darben,
sich den Gebrauch verweigert – oder, weil
er alles kalt und furchtsam treibt, und überall
Bedenklichkeiten sieht. Er zaudert immer,
setzt immer weiter sich sein Ziel hinaus,
verliert den gegenwärtgen Augenblick
und lebt im künftgen; voller Schwierigkeiten,
verdrießlich, übeltrauend, hat er immer was
zu klagen, ist der ewge Leichenredner
der weiland guten Zeiten, da er noch
ein Knabe war, der ewge Censor und
Zuchtmeister aller jüngern, die jetzt sind
was er, zu seiner Zeit, gewesen war.

Viel Gutes bringen uns die JahreMan pflegt zu sagen, die Jahre kommen zu uns bis zum 46., und von da an entfernen sie sich wieder von uns, sagt ein alter Scholiast. Das Bild ist vom jährlichen Sonnenlauf und dem daher entstehenden Zu- und Abnehmen der Tage hergenommen. , wenn
sie kommen, mit, viel nehmen sie uns wieder
so wie sie allgemach zurückegehn.
Der Dichter nehme also wohl in acht,
was jedem Alter zukömmt, daß er nicht
dem Alten eine Jünglings-Rolle, noch
dem Knaben gebe was des Mannes ist!

Die Handlung wird entweder vor den Augen
der Gegenwärtgen abgehandelt, oder bloß
erzählt. Hier sehe sich der Dichter vor!
Was durch die Ohren in die Seele geht
rührt immer schwächer, langsamer, als was
die Augen sehen, deren Zeugnis uns
ganz anders überzeugt, als fremder Mund.

Doch darf darum nicht alles auf die Szene
gebracht sein, sondern manches muß den Augen
entzogen werden, was viel schicklicher,
von einem andern, der als Augenzeuge spricht,
mit Feuer und Begeistrung des Moments
erzählt, auch uns vergegenwärtigt wird.
Medea soll nicht vor dem Chor und Uns
die Kinder würgen, noch der Unmensch Atreus
der Neffen Fleisch vor unsern Augen kochen;
noch wandle Progne auf der Bühne sich
in eine Schwalb' und Kadmus in den Drachen.

Ein Stück, das oft begehrt zu werden und
zu bleiben wünscht, soll weder weiter als
zum fünften Akt gedehnt, noch kürzer sein.
Auch soll kein Gott sich in die Handlung mischen,
wofern der Knoten seine Zwischenkunft
nicht unvermeidlich macht und – ihrer würdig ist:
noch soll der Dichter seine Szene (gegen
der großen Meister Beispiel) mit der vierten
Person
beladenDie erste und dritte der Regeln, welche Horaz [siehe hier] dem dramatischen Dichter vorschreibt, sind nicht, wie die vorgehenden, in der Natur der Sache so begründet, daß sie als notwendig und unerläßlich anzusehen sind, sondern beziehen sich bloß auf das Beispiel der Griechen, welchen die Römer hierin mit einer Art von religiöser Scheu Fuß vor Fuß nachtraten. Es ist kein zureichender Grund vorhanden, warum ein Drama von 1, 2, 3 und 4 Akten nicht eben so gut ein Meisterwerk sein könnte, als eines von fünfen, und unsre Neuern haben sich also mit gutem Fug und Recht, nach Maßgabe des Stoffes, den sie bearbeiteten, über die Autorität dieser und andrer solcher willkürlicher Regeln und Formen hinweggesetzt. . Ihre Stelle mag
der Chor vertreten, der von Anfang bis
zu Ende seinen Anteil an der Handlung
behaupten muß: so, daß er niemals zwischen
den Akten etwas singe, das zum Zwecke
nichts taugt und sich auf das, was vorgeht, nicht
genau beziehet. Seine Rolle ist,
den Guten hold zu sein, sie zu beraten,
im Zorne sie zurückzuhalten, und
im Kampf der Leidenschaft und Pflicht zu unterstützen.
Er preise uns die leicht besetzte Tafel
der Mäßigkeit, die heilsame Justiz,
das Glück des Ruhestands bei offnen Toren.
Was ihm vertraut wird, wiss' er zu verschweigen;
auch wend er öfters an die Götter sich
mit feirlichem Gebet, und fleh um Rettung
der unterdrückten Unschuld, und des Stolzen Fall!

Die Flöte, die den Chorgesang begleitet,
war anfangs nicht, wie jetzt, mit Erzt verbundenOrichalco vincta; diese Flöte war vermutlich eine Art von Hautbois. ;
sie war noch dünn, und hatte wenig LöcherDie Flöten hatten anfangs nur vier Löcher. Antigenidas von Theben, der Meister des Alcibiades auf der Flöte, vermehrte ihre Anzahl (Theophrast. Histor. Plant. IV. 12), und vermutlich profitierte auch das Theater zu Athen, wo die Chöre mit Flöten begleitet wurden, von der größern Vollkommenheit, die dieser Virtuose seinem Instrumente gab. ,
und einen schwachen Ton, der damals doch
den Chorgesang hinlänglich unterstützte,
weils überflüssig war, mit stärkerm Laut
die noch nicht dichten Sitze anzufüllen,
worin ein leicht zu zählend Volk, das noch
bescheiden war und fromm, in großer Zucht
beisammen saß. Allein, nachdem durch Siege
der Staat erweitert, und die alten Mauern
zu enge worden, und nun auch an Festen
den ganzen langen Tag den Genius
mit Wein zu regalieren, Sitte ward:
da mußte wohl auch der Musik, wie allem,
mehr Luft und Spielraum zugestanden werden.
Ein Volk von ungebildetem Geschmack,
das seiner Sorgen sich entladen hatte,
und nun, nach seiner Weise, sich was Rechtes
zugut tun wollte, Bauer, Städter, Pöbel
und Adel, alles durcheinander
gemengt, – war, wenn es nur belustigt wurde,
gleichgültig wie? Und also nahm sich auch
der Flötenspieler mehr heraus, und füllte
im schleppenden Talar, mit seinem üppigern
Getön und freiern Tanz, die ganze Szene.
Gleichmäßig ließ, des alten Ernsts entbunden,
die Leier sich mit neuen Saiten hörenAuch die Lyra hatte anfangs nur 3 oder 4 Saiten. Terpander, ein berühmter Name unter den alten Musikern, vermehrte sie auf sieben, und Timotheus, ein Virtuos der zu Platons Zeiten lebte, auf zehn. .
Natürlich wollte dann der Dichter, der den Chor
regierte, nicht allein zurückebleiben.
Sein Chorgesang nahm einen höhern Schwung,
in einer unerhörten Art von Sprache stürzte
sich seine schwärmende Beredsamkeit
daher, und seine tiefer Weisheit vollen
und Zukunft ahnenden Sentenzen glichen oft
an Dunkelheit den Delphischen Orakeln.Daß Batteux, oder vor ihm die meisten Ausleger, diese Stelle, die sie für einen Tadel der Chöre in den Griechischen Tragödien angesehen haben, ganz falsch verstanden, braucht keines andern Beweises, als daß man sich die Mühe nehme, Seine Übersetzung nebst der Meinigen mit dem Original zu vergleichen. Horaz will hier eigentlich weder loben noch tadeln, sondern bloß historisch erzählen, wie es (wahrscheinlicher Weise) zugegangen, daß der Chor, der die Grundlage und Wurzel aller Arten von Griechischen Schauspielen war, nach und nach das geworden sei, wozu ihn Aeschylus und seine Nachfolger gemacht hatten. Indessen wird einem jeden, der mit den Alten etwas näher bekannt ist, in die Augen fallen: daß Horazens Bericht vom Ursprung und Fortgang der dramatischen Kunst und der verschiedenen Arten von Schauspielen, deren Erfinder die Griechen waren, weder exakt noch vollständig ist.

Noch mehr. Der Sänger, der am Bacchusfeste,
um einen schlechten Bock, mit Heldenspielen
zu streiten pflegte, kam bald auf den Einfall,
das ernste StückDie eigentliche Tragödie. mit etwas abzuwechseln,
das, ohne völlig aus dem vorgen Ton
zu kommen, muntern Scherz mit Ernst vermählte;
und so entstand ein neues Spiel, worin
halb nackte Satyrn, vom Silen geführt,
den Chor vertratenGriechen und Römer liebten diese Art von bürlesken Nachspielen sehr, und die größten Dichter gaben sich damit ab. Der Cyclops des Euripides ist das einzige Stück dieser Art, das bis zu uns gekommen ist, und aus diesem kann man sich, was Horaz hier von dieser Gattung sagt, am besten erläutern. . Denn es war dem Dichter bloß
darum zu tun, ein rohes trunknes Volk,
das, nach vollbrachtem Gottesdienst, den Rest
des Feiertages sich erlustgen wollte,
durch etwas Neues, seinen bäurischen
Geschmack piquierendes, zu seiner Bude
herbei zu locken. Doch, auch diese Art
von freier Dichterei hat ihre Regeln;
und, ob der Laune des geschwätzigen
und immer lachenden Silenen-Chors
schon viel erlaubt ist, soll der Übergang
vom Ernst zum Spaß sich doch mit Anstand machen;
und wenn ein Heros, oder Gott, der kaum
in königlichem Gold und Purpur sich
gezeigt, hernach im Satyrspiel von neuem
zum Vorschein kommtWie z. B. Ulysses im Cyclops des Euripides. : soll seine Sprache weder
zum Staub und Schmutz der pöbelhaften Posse
heruntersinken, noch, aus Furcht am Boden
zu kriechen, steigen und in Wolken taumeln.
Kurz, nie vergesse die Tragödie, was für sie
sich schickt; und, wenn sie auch bei losen Satyrn
sich blicken läßt, so zeig uns ihr Erröten
die züchtige Verwirrung einer ehrbarn Frau,
die öffentlich am Festtag tanzen muß!

Ich, wenn ich Satyrn schreiben sollte, würde mich
nicht bloß an Wörter des gemeinen Lebens halten;
und, ohne drum dem Ton des Heldenspiels
zu nah zu kommen, würd ich Mittel-Tinten
zu finden wissen, daß der Unterschied
von einem Davus, einer frechen PythiasPöbelhafte Personen, die gewöhnlich in den Komödien vorkommen. ,
die ihren alten Herrn um tausend Taler schneuzt,
und von dem Pflegevater eines GottesSilenus. ,
auch in der Art zu reden merklich würde.
Aus lauter jedermann bekannten Wörtern
wollt ich mir eine neue Sprache bilden, so,
daß jeder dächt er könnt es auch, und doch,
wenn ers versucht' und viel geschwitzt und lange
sich dran zermartert hätte, doch zuletzt
es bleiben lassen müßte! – Lieben Freunde,
so viel kommt auf die Kunst des Mischens an!
So viel kann dem Gemeinsten bloß die Stellung
und Nüancierung Glanz und Würde gebenDiese Stelle ist sehr merkwürdig. Sie enthält eine von den großen Mysterien der Kunst, welche Horaz ganz zuversichtlich ausschwatzen durfte, ohne Furcht, daß er den Αμυητοις etwas verraten habe. !

Auch dafür wollt ich, im Vorbeigehn, noch
die FaunenFaunen und Satyrn werden hier vermengt, wiewohl ihr Unterschied bekannt ist. Die Faunen waren die Satyrn der Lateiner, nur daß ihre Gestalt mehr menschliches und ihr Charakter mehr ländliche Einfalt und Hirtenmäßiges hat. , die man uns aus ihren Wäldern
so häufig auf die Bühne bringt, wohlmeinend
gewarnet haben: weder in so niedlichen
und schmucken Versen ihre Artigkeit
zu zeigen, daß man junge, mitten
in Rom erzogne Herrn zu hören glaubt,
noch zu Vermeidung dieses Übelstandes
mit Schmutz und groben Zoten um sich her
zu werfen. Denn die Leute, die ein Pferd
und einen Vater und was Eignes habenQuibus est equus et pater et res, d. i. die Ritter, die Patrizier, und Leute von Vermögen. Das ungemein Komische und Beißende in dieser Art sich auszudrücken, kann dem, der es nicht selbst merkt, nicht wohl erklärt werden. ,
erbauen sich an dieser Art von Witz
nicht sonderlich; und wenn den Käufern dürrer Erbsen
und Nüsse etwas wohlbehagt, so folgt
nicht, daß auch jene dran Belieben finden, und
den Kranz dem Dichter zuerkennen werden.

Ein Silbenfuß, wo eine lange Silbe
auf eine kurze folget, wird ein Jambus
genannt. Ein schneller Fuß! Daher vermutlich,
daß Verse von sechs Jamben TrimeterWeil man in dieser Versart immer zwei Füße zusammenrechnete, welches eine Dipodia hieß. Denn, der Zahl der Füße nach, mußten sie Hexameter heißen; und vielleicht gab man ihnen jenen Namen bloß zum Unterschied von dem Homerischen Hexameter.
zu heißen pflegen. Anfangs wurden sie
ganz rein gemacht, und einer wie der andre.
Allein schon lange nahm der Jamben-Vers,
um etwas langsamer und feierlicher
zu gehn, den ruhigern Spondeus
gefällig auf; doch, daß er aus der zweiten
und vierten Stelle nie verdrängt zu werden
sich vorbehieltDer Jambische Trimeter der Alten bestehet aus drei Dipodien, deren erste und zweite gemeiniglich folgendes Silben-Schema –-^-, die dritte ^-^^ beim Sophokles hat. Aeschylus nähert sich dem ursprünglichen Trimeter noch mehr; aber ein Stück aus lauter reinen Jamben würde in der griechischen Sprache kaum möglich gewesen sein. . So findet man ihn auch,
doch selten, in den hochberühmten Trimetern
des alten Accius: allein die zentnerschweren VerseIn scenam missos magno cum pondere versus, ein sehr komischer Ausdruck, der auch die Jamben des Euripides nicht selten trifft, worin die Spondeen oft mächtig gehäuft sind. ,
die Vater Ennius auf unsre Bühne schleudert,
beschuldigen ihn entweder, sichs zu leicht gemacht
und sehr geeilt zu haben, oder einer
nicht rühmlichen Unwissenheit der Kunst.

Zwar freilich hat nicht jeder Richter Ohren
für übel modulierte Verse, und man hat
den römischen Dichtern über diesen Punkt
mehr nachgesehen als uns Ehre macht.
Und soll ich nun, so milder Ohren wegen,
mich aller Regel quitt und ledig glauben?

Doch, wenn ich auch – als ob die ganze Welt,
sobald ich fehle, mich befreien würde –
vor Fehlern mich gehütet habe, – gut!
so hab ich immer nur gerechten Tadel
vermieden, lange noch kein Lob verdient.
Dies zu begreifen, Freunde, leset, leset
bei Tag und Nacht der Griechen MeisterstückeDen Kommentar zu dieser Vermahnung gibt Horaz selbst [siehe hier]. !

Indessen haben eure Ahnen doch
die schönen Verse und die feinen Scherze
des Plautus hoch erhoben; gar zu duldsam
in beidem, um nicht etwas härters noch
zu sagen! Wenn wir anders, Ihr und ich,
ein frostiges Bon-Mot von einem guten
zu unterscheiden, und, wie Verse klingen müssen,
durchs Ohr zu prüfen, oder wenigstens
doch an den Fingern abzuzählen wissen.Ich weiß nicht ob irgend ein Gelehrter ist, für dessen Ohr die Verse des Plautus und Terenz wirklich Verse sind; ich meines Orts bekenne, daß meine Ohren nicht dazu organisiert sind, Jamben, wo der Poet, so oft er will, und in jeder Zeile wenigstens drei- bis viermal, einen Spondeus, Daktylus, Anapäst, Tribrachys für einen Jambus brauchen darf, und wo eine Zelle bald aus 8 oder 12, bald aus 18, 20, 22 und mehr Silben (diejenigen, die zusammengezogen werden, nicht gerechnet) bestehen kann, – von Prose zu unterscheiden. Es ist wahr, wenn ich die Verse des Terenz als Prose lese, so finde ich überhaupt, daß sie das, was man in einer prosaischen Komposition Numerus nennt, in einem sehr vorzüglichen Grade haben: aber von Plautus kann ich dies auf keine Weise sagen; und mich dünkt vielmehr, es sei ihm gar nicht eingefallen, sich bei dergleichen Kleinigkeiten aufzuhalten; er hatte weder Lust noch Zeit dazu: denn er mußte eilen,

– – um sein Geld im Beutel klingen
zu hören, –

wie Horaz in der Epistel an August sagt. – Wie konnten nun die Römer der vorgehenden Generationen jemals von den Numeris eines Poeten, der von einer schönen Versifizierung nicht einmal einen Begriff gehabt zu haben scheint, mit solchem Beifall sprechen? – Mit den Salibus Plautinis hat es beinahe dieselbe Bewandtnis. Welcher Mann von Geschmack kann z. B. aus Plautus Amphitruo nur drei Szenen hintereinander aushalten? Wie viel mußte weggeschnitten werden, bis aus einer Plautinischen Szene eine Molierische wurde! Welche mörderliche Weitläufigkeit! Wieviel frostige Späße! Wieviel Unanständigkeit und Ungeschliffenheit, auch wo wirklich etwas Pikantes an seinen Scherzen ist! – Unser Autor scheint mir also sehr wohl begründet zu sein, wenn er den Proavis seiner Pisonen eine gar zu milde Nachsicht über diese beiden Punkte schuld gibt. Die Komödien des Plautus haben bei allem dem noch große Schönheiten, wiewohl sehr zu vermuten ist, daß er die meisten und besten den Griechen, als gute Beute, abgenommen: aber daß es ihm an Geschmack und feinerm Gefühl gefehlt habe, kann nur jemand leugnen, dem es selbst daran gebricht. Die Parteilichkeit solcher Römer, wie Varro und Cicero, für seine Sales und Numeros würde also immer etwas unbegreifliches bleiben, wenn nicht zu glauben wäre: daß die außerordentlichen Talente des Roscius, von dem sie gewohnt waren diese Stücke spielen zu sehen, das meiste dabei getan. In dem Munde eines Roscius konnten freilich auch Plautinische Verse wohlklingend werden. Übrigens ist nicht zu zweifeln, daß Horaz um so strenger gegen die nachlässigen Verse des Plautus werden mußte, wenn er an den Aristophanes dachte, dessen Jamben, Anapästen und Chöre, auch in Absicht der Versifikation, so schön gearbeitet sind, daß sie noch jetzt, da die Musik der griechischen Sprache größtenteils für uns verloren gegangen, jedes mit derselben nicht ganz unbekannte Ohr bezaubern.

Für den Erfinder der Tragödie
wird Thespis angesehn, der seine Stücke
auf Bauerkarren durch die Dörfer führte,
und von Personen, die mit Hefen sich
geschminkt, absingen und agieren ließ.
Nach ihm war Aeschylus der zweite, oder
vielmehr der wahre Vater dessen, was
den edeln Namen eines Heldenspiels
mit Recht verdienteIch gestehe, daß ich hier, aus Ehrfurcht gegen die Manes des göttlichen Aeschylus, etwas mehr gesagt habe, als Horaz; indessen ists in animam Horatii; denn an seinem Respekt für den Aeschylus zu zweifeln, würde beinahe eben so große Sünde sein, als den Dichter der Eumeniden und des Agamemnon so ohne Zeremonie mit Thespis in Eine Kategorie zu werfen. . Er erfand die Maske
und den Kothurn, erweiterte den Schauplatz,
veredelte die Kleidung, und (was mehr ist)
den wahren Ton der tragischen Camöne,
die Er zuerst erhaben sprechen lehrte.

Ein wenig später tat sich auch die Alte
Komödie
hervor, nicht ohne vielen Beifall;
allein die Freiheit, die man zu Athen
ihr zugestanden, artete zuletzt
in eine Frechheit aus, die nicht zu dulden war,
so daß die Polizei ins Mittel treten mußte.Horaz hat die wahre Ursache, warum der sogenannten alten Komödie zu Athen die unbeschränkte Freiheit, deren Aristophanes sich in seinen Rittern, Fröschen, Wolken, Vögeln, u. a. so überschwenglich bedient hat, benommen wurde, nicht richtig genug angegeben. Diese Freiheit muß nicht etwa als ein Mißbrauch betrachtet werden, den die Regierung zu Athen eine Zeitlang bloß duldete; sie war vielmehr, wie der Ostracismus, in der Verfassung dieses Aristokratisch-Demokratischen Staats in den Zeiten des Perikles gegründet. Es ist wider alle Wahrscheinlichkeit, sich einzubilden: der Magistrat zu Athen würde 40 oder 50 Jahre lang mehr als 370 Stücke dieser Art öffentlich autorisiert haben, wenn sie die Ungebundenheit dieser Komödie nicht der Republik im Ganzen für zuträglich angesehen, und nicht geglaubt hätten, daß der Verdruß und Schaden, den einige wenige mit Unrecht mißhandelte Personen dabei leiden könnten, durch die Furcht, die den Bösen dadurch eingejagt wurde, reichlich vergütet werde. Der stärkste Beweis, daß die Athener diese Freiheit ihres Theaters für einen sehr wichtigen Teil ihrer politischen Freiheit angesehen, ist, deucht mich: daß ein Aristophanes das ganze Volk, d. i. den Souverain selbst, so lächerlich machen durfte als es ihm beliebte: weil sie, bei allem ihrem Leichtsinn und Übermut, doch gesunden Verstands genug hatten, um zu fühlen, daß es ihnen gut sei, sich zuweilen lachend die Wahrheit, und selbst die bittersten Wahrheiten, sagen zu lassen. Auch ging dieses kostbare Stück ihrer Freiheit nicht eher als mit ihrer Verfassung verloren. Denn nicht der Magistrat der freien Republik, sondern die sogenannten dreißig Tyrannen, die mit Hülfe des Lysanders von Sparta zu Ende der 93sten Olymp. sich der Regierung von Athen bemächtigten, waren es, die das Gesetz, dessen Horaz hier erwähnt, aus Ursachen, die leicht zu erraten sind, durchsetzten, und hierin freilich einen großen Teil der Stadt, nämlich einen jeden

– qui dignus erat describi, quod malus, aut fur,
quod moechus foret aut sicarius, aut alioqui
famosus, –
Satir. L. I. 4.

auf ihrer Seite hatten. Der Despotismus der Oligarchie konnte sich mit einer Freiheit des Theaters, die keines Lasters und keiner Torheit schonte, sich weder durch Geburt, Reichtum, und Würden, noch selbst durch Verdienste in Respekt setzen ließ, nicht vertragen; und je verdorbner die Sitten wurden, je geneigter fühlte man sich auch, einander zu ertragen, und je verhaßter wurde ein öffentlicher Zensor, dessen unhöfliche Geißel niemanden erlauben wollte, ungestraft ein Narr oder Schurke zu sein, wenn er Vergnügen oder Vorteil dabei fand. Die alte Komödie fiel also zu Athen mit der Demokratie. Die mittlere, die an ihre Stelle trat, gab sich, um wenigstens noch einen Schatten ihrer ehemaligen Vorrechte beizubehalten, größtenteils mit Parodien ab, worin den Poeten erlaubt war sich untereinander so lächerlich zu machen als sie wollten; sie travestierte die Helden und Heldinnen aus der Fabelzeit, aus der Iliade und Odyssee, und fand dabei immer Gelegenheit satirische Züge anzubringen, die der Malignität der Zuschauer freie Hand ließen, sie nach eignem Belieben anzuwenden. So bildete sich endlich unter den Macedonischen Königen nach und nach die neue Komödie (in welcher Menander und Philemon sich so viel Ruhm erwarben), die sich gänzlich auf Intrigen-Stücke und allgemeine Charakter, und auf eine so feine und elegante Art von Kritik der herrschenden Sitten und Mode-Torheiten einschränkte, daß niemand beleidigt werden konnte, wenn er sich selbst in einem Spiegel erblickte, worin man wenigstens nicht häßlicher aussah als sein Nachbar. Die alte Komödie war die Lieblingsbelustigung eines von seinem Glücke und von ausschweifenden Hoffnungen trunknen, aber auf seine Freiheit und Rechte eifersüchtigen demokratischen Pöbels gewesen: die Neue wurde der angenehmste Zeitvertreib eines herabgekommnen müßigen, aber äußerst verfeinerten Volkes, das die hochfliegenden Entwürfe seiner Vorfahren endlich aufgegeben hatte, und bei Schauspielen und Kurzweilen zu vergessen suchte was es ehemals gewesen war.


Des Lustspiels Chor, sobald der Stachel ihm
benommen war, verstummte – und verschwand.

Von diesem allen haben unsre Dichter
nichts unversucht gelassen; und gewiß
verdienten jene nicht das kleinste Lob,
die sich getrauten aus der Griechen Fußtritt
herauszutreten, vaterländ'sche Taten
zu singen, und im Lust- und Trauerspiel
uns römische Personen vorzuführenHoraz, um doch etwas an seinen römischen Dichtern zu loben, rühmt wenigstens den Patriotismus eines Aelius Lamia, Afranius, Pomponius u. a. welche Praetextatas und Togatas, d. i. Tragödien und Komödien mit römischen Personen auf die Bühne gebracht. Das Kompliment, das er bei dieser Gelegenheit dem römischen Genie macht, konnten sich die Griechen unpräjudizierlich gefallen lassen. .
Auch würde Latium gewiß durch seine Spracheoder Literatur; denn die ist bei den römischen Autoren mit Sprache synonym.
nicht weniger, als durch die Kunst zu siegen
und zu regieren, über Griechenland
den Rang behaupten, wenn nicht unsre Dichter
der Feile Arbeit haßten
, und die Zeit,
die drüber hingeht, für verloren hielten.

Ihr, Numas edle SprossenO Pompilius sanguis! Die Calpurnische Familie leitete ihren Stammbaum von Calpus, einem Sohn des Königs Numa Pompilius, ab, wie Plutarch und Festus bezeugen; wiewohl einige Geschichtschreiber diesem Könige nur eine Tochter zugestanden. Wenigstens war die Tradition auf Seiten der Calpurnier. , lasset kein
Gedicht vor euern Augen Gnade finden,
das nicht durch viel Lituren zur Korrektheit
gebracht, und, bis das leiseste Gefühl
nichts mehr von Fugen spürt, geglättet worden.

Weil Demokrit dem glücklichen Genie
den Vorzug vor der armen Kunst gegeben,
und schlechterdings die Dichter, die nicht rasen,
vom Pindus ausgeschlossen haben will:Demokritus behauptete, niemand könne ohne eine Art von Raserei ein großer Dichter sein, neminem sine furore quemquam poetam esse posse. Dies sagt uns CiceroDe Divinat. Lib. I. c. 37. , und setzt hinzu: »eben dies behauptet auch Plato. Immerhin mag er diese Begeisterung, die den Dichter macht, Raserei nennen, da er von dieser Raserei so herrliche Dinge sagt, wie in seinem Phädrus.« Die Stelle des Homers der Philosophen, auf welche Cicero hier deutet, ist zu schön, als daß ich nicht versucht werden sollte sie zu übersetzen. – »Die dritte Art von Raserei (läßt er seinen Sokrates sagen) ist diejenige die von den Musen kommt. Diese, wenn sie eine zarte, noch unverfälschte und ungefärbte Seele anweht, treibt sie an, wie in einer Bacchischen SchwärmereiWie die Korybanten, sagt er im Ion, wo ebenfalls von diesem Enthusiasmus der Dichter die Rede ist. (d. i. in einer Art von geistiger Trunkenheit) in Gesängen und allen übrigen Gattungen der Dichterei, die Wunder und Taten der Alten Zeiten zu verschönern, und dadurch den Künftigen lehrreich zu werden. Wer sich aber, ohne von dieser Musenwut getrieben zu sein, den Pforten der Dichtkunst nähert, in der Meinung, die Kunst allein könne ihn schon zum Dichter machen, wird immer unvollkommen bleiben, und die Poesie eines solchen nüchternen und weisen (unbegeisterten) Dichters wird immer von der Poesie der Rasenden (Begeisterten) ausgelöscht werdenΤριτη δε η ΑΠΟ ΜΟΥΣΩΝ κατοχη τε και μανια, λαβουσα ΑΠΑΛΗΝ και ΑΒΑΠΤΟΝ ΨΥΧΗΝ, εγειρασα και εκβακχευουσα κατα τ' ωδας και κατα την αλλην ποιησιν, μυρια ΤΩΝ ΠΑΛΑΙΩΝ εργα ΚΟΣΜΟΥΣΑ, τους επιγινομενους παιδευει. Ος δ'αν ανευ μανιας Μουσων επι ποιητικας θυρας αφικηται, πεισθεις ως αρα εκ τεχνης ικανος ποιητης εσομενος, ατελης αυτος τε και η ποιησις υπο της των μαινομενων η του σωφρονουντος ηφανισθη. PLATO in PHAEDRO. .« – Ungeachtet des Mißbrauchs, den die mondsüchtigen, hirnwütigen, und aberwitzigen Poeten, über welche Horaz hier und in der Folge spottet, von der Theorie des Demokritus und Plato machen können, war er doch selbst von der Wahrheit derselben so überzeugt: daß, wenn sein poetischer Wahnsinn gleich nicht immer so reell war, wie in der 25sten Ode des IIIten Buches, Quo me, Bacche, rapis? er ihn doch öfters so schön zu simulieren wußte, als man von einem Dichter im Jahrhundert Augusts nur immer verlangen kann – wie z. B. in der Stelle auditis? an me ludit amabilis insania? und dem was folgt, in der 4ten Ode des III. B. Aber – was es auch mit Horazen, der (gewöhnlicher Weise) in die Klasse der Dichter, die ihrer Sinne mächtig bleiben, gehörte, für eine Bewandtnis haben mag – die Sache selbst hat ihre Richtigkeit; und die Erfahrung hat von jeher bei allen Nationen den Ausspruch bestätigt: daß die unbegeisterten Dichter, so sehr sie auch gefallen mögen, wenn man sie allein hört, niemals neben den begeisterten (sofern alles übrige gleich ist) bestehen können. Aber die Meinung Platons war wahrlich nicht, daß eine brennende und von der Musenwut besessene Imagination allein einen großen Dichter mache; und es ist auch hier, wie bei der religiosen und verliebten Begeistrung, ein großer Unterschied, ob man von einem Gott, oder von dem leidigen Satan besessen ist. Homer, Pindar, Aeschylus, die drei größten Dichter von der begeisterten Klasse, die je gewesen sind, sind an Verstand, Weisheit und Wissenschaft eben so groß als an Imagination; nie verläßt sie das richtige Gefühl des Schicklichen; immer schwebt in dem brausenden Chaos ihrer Ideen der Verstand, wie Ovids Deus aut melior Natura, in der Mitte, der es scheidet, ordnet, verbindet und vor unsern zuschauenden Augen in eine Welt voll lebendiger und zu Einem Zweck zusammenspielender Kräfte aufblühen läßt. Die Begeistrung, die amabilis insania, welche Plato – in diesem Augenblick selbst von ihr ergriffen – dem Anwehen der Musen zuschreibt, kann immer den ersten Keim ihrer Werke in ihrem Busen belebt, kann sie im Arbeiten angefeuert, kann ihnen diese Wärme, in welcher alle Schwingen der Seele sich entfalten, mitgeteilt, kann sie bei gewissen Stellen über sich selbst erhoben, den Nebel der Menschheit gleichsam von ihren Augen getrieben, und sie zum Anschauen göttlicher Gestalten tüchtig gemacht haben: aber alles dies setzt Organe voraus, die ihnen die Musen nicht geben, Kenntnisse, die sie ihnen nicht eingießen konnten; eine Sprache, die schon da sein mußte, und die sie (wie andre Menschen) hatten lernen müssen. – Kurz, eine Iliade, oder nur ein Gesang der Iliade, ist so wenig das bloße Werk der poetischen Raserei, als sie ein Werk des Augenblicks ist; und, wiewohl es Autoschediastische Poesien gibt, die als bloße Naturprodukte und Eingebungen einer begeisternden Leidenschaft, und einer durch diese über ihr gewöhnliches Maß gespannten Phantasie angesehen werden können, so bleibt doch wahr: daß auch in der Poesie die edelsten Gewächse durch Kultur mehr Schönheit, und ihre Früchte einen bessern Geschmack erhalten; und daß (wie Horaz besser unten sagt) ohne reiche Ader das strengste Studium, und ohne Kunst das beste Naturell zu Hervorbringung eines sehr vortrefflichen Werkes gleich unzulänglich ist.
so treibts ein guter Teil der unsrigen
so weit, sich weder Bart noch Nägel stutzen
zu lassen, weder Kamm noch Schwamm
zu dulden, Bäder wie verdächtge Häuser
zu fliehen, und, Gespenstern gleich, in öden
von Menschen unbetretnen Gegenden
herumzuirren; fest beglaubt, ein Kopf,
der dem barbierenden Senator LicinusEin Aristophanscher Zug! Julius Cäsar hatte einen gewissen Barbier namens Licinus in den Senat aufgenommen, weil er ein eifriger Anti-Pompejaner war. Licinus wurde so reich, daß ihm seine Erben ein Grabmal von Marmor setzen ließen, welches einem Biedermann zu folgender Grabschrift Anlaß gab:

Marmoreo tumulo Licinus jacet, at Cato nullo,
Pompejus parvo! Quis credat esse Deos?


sich nie vertraut, und mit drei Anticyrend. i. alle Niesewurz, die in drei Anticyren wachsen könnte. Die Insel Anticyra war sehr fruchtbar an dieser heilsamen Pflanze.
nicht heilbar wäre, sei zum Dichterkopf
allein gemacht, und würdig von den Musen
bewohnt zu werden. Was ich für ein Tor bin,
an jedem Frühling mir die Galle auszufegen!
Kein andrer sollte beßre Verse machen!
Doch, sei es drum! Wofern ich selber auch
nichts schreibe, kann ich doch, dem Schleifstein gleich,
der selber zwar nicht schneidet, aber doch
das Eisen schneidend macht
– – – – – Ich trachte den Poeten
Hinfort ein Sporn zu sein, ein Wetzstein ihrer Flöten!
                 
Gottsched in seiner Poetischen Übers. von Horazens Dichtk.
, die Andern lehren
was einen Dichter bilde, was ihn nähre,
was ihm gezieme oder nicht, und welche Wege
zum Nachruhms-Tempel führen, oder in die Sümpfe,
wo Aganippens Quelle sich verliert?

Um gut zu schreiben, muß ein Autor erst
Verstand und Sinn – um gut zu denken, haben.
An Stoff wirds die Sokrat'sche Schule euch
nicht fehlen lassen, und dem wohldurchdachten Stoffe
schmiegt sich von selbst der gute Ausdruck an.
Wer recht gelernt hat, was er seinen Freunden,
was seinem Vaterlande schuldig sei,
mit welcher Lieb ein Vater, Bruder, Gastfreund
zu lieben? was des Staatsmanns, Richters, was
des Feldherrn Amt und Pflicht erfodre? – Der
wird, was in jedem Falle jeder Rolle
geziemt, unfehlbar stets zu treffen wissen.
Doch nie vergesse der gelehrte Zögling
der dichterischen Bildnerkunst, auch auf
die Sittenschule und die lebenden
Modelle um ihn her
die Augen stets
zu heften, und daraus die wahre Sprache
des Lebens und des Umgangs
herzuholen.
Nicht selten sieht man daß ein wohlgezeichnetes
Charakterstück, wiewohl sonst ohne Reiz
und Stil und Kunst, beim Volke mehr gewinnt,
und besser unterhält, als schöne Verse,
an Schall und Wohlklang reich, an Sachen leer.

Den Griechen, Freunde! (immer komm ich wieder
auf dies zurück) den Griechen gab die Muse
zugleich Genie und feines Kunstgefühl,
die Gabe der Empfindung und des schönen
und runden Ausdrucks: aber ihre Seelen kannten
auch keinen andern Geiz als den nach RuhmO der goldnen Worte! – Aber zur Zeit der großen Dichter und Weisen Griechenlands war es auch noch keine Schande arm zu sein; und ein großer Mann, der arm starb, durfte nicht befürchten, daß seine Kinder betteln müßten! – Auch war es ein sehr kleiner Zeitraum, worin diese Nation große Köpfe hervorbrachte, und ihrer – wert war! .
Der Römer lernt von Kindesbeinen an
das As in hundert Teile teilen. Ruft,
zur Probe, nur den kleinen Sohn des Wechslers
Albinus her, und fragt ihn aus. – »Die Hälfte
von einem halben Gulden abgezogen,
was bleibt?« – »Ei«, spricht er lachend, »was wird bleiben?
Vier Groschen.« – »Braver Junge! Der
wird sein Vermögen nicht vergeuden! – Und
zum halben Gulden noch die vier
hinzugetan, macht –?« – »Einen halben Taler
Wie? Und von Seelen, die mit diesem Rost
von Habsucht einmal überzogen sind,
erwarten wir Gedichte, die vor Motten
verwahrt zu werden je verdienen könnten?

Des Dichters Zweck ist zu belustgen, oder
zu unterrichten, oder beides zu verbinden,
und unter einer angenehmen Hülle
uns Dinge, die im Leben brauchbar sind, zu sagen.
Lehrt er, so sei er kurz! Was schnell gesagt wird, faßt
der lehrbegierge Geist geschwinder auf
und hält es fester. Wie die Seele voll ist, läuft
das überflüßge ab.

                          Was bloß zur Lust
erdichtet wird, sei stets der Wahrheit ähnlich,
und um je weiter sich die Phantasie
von ihr entfernt, je stärker sei die Täuschung!
Ein Märchen soll nicht fodern, daß ihm Alles
geglaubet werd, und nicht den Knaben, den
die LamiaDie Lamia war in den Kindermärchen der Alten ungefähr, was die Popanzinnen (ogresses), die Nachtfrau, und andre dergleichen Unholdinnen in den modernen sind. Sie wurde als eine Frau mit Eselsfüßen abgebildet, und fraß die Kinder lebendig auf, wenn sie nicht fromm sein wollten. aufgegessen, wieder frisch
und ganz aus ihrem Leibe ziehen!

Der graue Teil des Publikums verdammt
was ohne Nutzen ist; hingegen steigt
die junge Mannschaft stolz bei einem ernsten
Gedicht vorbei. Der aber, der das Nützliche
so mit dem Angenehmen zu verbinden weiß,
daß er den Leser im Ergötzen bessert,
vereinigt alle Stimmen. Solch ein Werk
verdient den SosiernDen Buchhändlern. Geld, geht übers Meer,
macht seiner Meister Namen allen Zungen
geläufig und der späten Nachwelt wert!

Indessen sind auch Fehler, denen man
Verzeihung schuldig ist: denn immer gibt die Saite
den Ton nicht an, den Seel und Hand verlangte,
und auch der beste Bogen trifft nicht immer.
Doch, glänzt das Meiste nur in einem Werke,
so sollen wenig Flecken mich nicht ärgern, die
des Dichters Fleiß entwischt sind, oder, weil er doch
nur Mensch ist, nicht von ihm verhütet werden konnten.

Nur, daß die Herren diese Klausel sich
nicht gleich zunutze machen! Denn, wie ein Kopist,
der, aller Warnung ungeachtet, immer
am gleichen Worte sich verschriebe, keine
Entschuldigung verdiente; wie ein Geiger
verspottet würde, der die gleiche Note,
so oft sie käme, falsch gegriffen hätte:
so heißt ein Dichter, der sich oft verschreibt,
bei mir ein ChörilusS. die Epistel an August. ; und wenn ers gleich
auch zwei- bis dreimal gut gemacht, bewundre
ich ihn mit Lachen: wie es mich verdreußt,
wenn auch Homer sogar zuweilen – nickt;
wiewohl man doch in einem großen Werke
vom Schlaf ja wohl einmal beschlichen werden kann!

Gedichte sind darin den Malereien gleich,
daß manche desto mehr die Augen fesseln,
je näher man hinzutritt; andre, wenn man weiter
zurücktritt, erst die rechte Wirkung tun.Ut Pictura Poesis erit, usw. Horaz hat, wie es spruchreichen Autoren zu gehen pflegt, das Unglück gehabt, daß öfters Stellen aus seinen Schriften ausgehoben und (sehr wider seine Meinung) zu Apophthegmen oder Lehrsprüchen erhoben worden sind, die in dem Zusammenhang, aus welchem man sie herausgerissen hat, einen ganz andern, und zuweilen gerade den entgegengesetzten Sinn haben – von welcher Art das «Chorda semper oberrat eadem« und das «interdum quoque bonus dormitat Homerus« bekannte Beispiele sind. Eben so ist es auch mit dieser Stelle gegangen. Man hat das, was bloß Vergleichung in einem einzigen Punkt ist, zu einem allgemeinen Satz gemacht; und, diesem von allen Auslegern beförderten Wahn zufolge, paraphrasiert Batteux diesen halben Vers getrost: »Es ist mit der Poesie wie mit der Malerei beschaffenDer bloße grammatische Sinn der Wörter hätte ihm schon seinen Irrtum zeigen sollen: denn pictura und poesis heißt hier, augenscheinlich, nicht Malerei und Poesie, sondern ein Gemälde und ein Gedicht; und dies macht einen großen Unterschied im Sinn der ganzen Stelle. . Es ist kein andrer Unterschied unter diesen beiden Künsten als dieser, daß die eine sich durch Farben und Striche ausdrückt, und die andre durch die Rede und Harmonie« usw. – So kann freilich jemand schwatzen, der weder Dichter noch Maler ist, und von beiden Künsten nur oben abgeschöpfte Kenntnisse hat, ohne je durch eignes Nachdenken in ihr Wesen eingedrungen zu sein: aber Horaz konnte so was nicht sagen, und hat es nicht gesagt. Nun setzt dieser, um den Pisonen zu sagen, »worin es mit einem Gedichte wie mit einem Gemälde seie« – hinzu:

– – quae, si propius stes,
te capiat magis, et quaedam si longius abstes;
haec amat obscurum, volet haec sub luce videri,
judicis argutum quae non formidat acumen.

Und wie versteht nun dies der französische Kunstrichter? – »Ich sehe nicht ein«, sagt er, »Wie das Gleichnis des Horaz paßt, ausgenommen, wenn man das Wort poesis für quaedam poesis, eine Stelle eines Gedichts, annimmt. Denn ich kenne kein Gedicht, welches, im Ganzen betrachtet, gemacht wäre, nur bloß von ferne, in einem halben Lichte, und ein einzigsmal gesehen zu werden« – Und in diesem Tone gehts nun noch zwei Seiten fort; er tappt immer, mit seinem Dacier in der Hand, um den Sinn des Autors herum, stößt alle Augenblicke an ihn an, und kann ihn doch nicht erhaschen, weil das unglückliche: Es ist mit der Poesie wie mit der Malerei, seinem Auge nun einmal eine schiefe Richtung gegeben hat, daß er Schwierigkeiten sieht, wo keine sind. Es ist unbegreiflich, wie jemand Horazens wahre Meinung hat verfehlen können, denn ich sehe nicht, wie er sie deutlicher hätte ausdrucken sollen. – Wir kennen, aus vielen andern Stellen, seine vorzügliche Liebe zum äußerst ausgearbeiteten und korrekten, zu dem was er anderswo caelatum novem Musis opus nennt – und davon ist hier die Rede: bloß in Rücksicht auf das Fehlerlose und Vollendete (Fini) vergleicht er gewisse Gedichte mit gewissen Gemälden. So wie es Gemälde gibt, die man in einer gewissen Entfernung oder bei schwachem Lichte sehen muß, wenn sie einen guten Effekt machen sollen – und wieder andre, deren Detail mit dem sorgfältigsten Fleiß so reinlich ausgearbeitet, und jeder Pinselstrich so sanft in den andern verschmelzt ist, daß man das Stück desto schöner findet, je näher und genauer man es betrachtet: so gibt es Gedichte, z. E. Theaterstücke, die bei der ersten Vorstellung oder Lesung – vielleicht durch das Interessante der Handlung, durch eine gute Verwicklung, einen raschen Gang, neue Situationen, stark gezeichnete Charakter und Leidenschaften u. dergl. sehr gefallen; aber, wenn man sie in der Nähe und bei vollem Lichte, d. i. genauer, mit kälterm Blute, im Detail, mit Aufmerksamkeit auf alle Requisiten eines vortrefflichen Gedichtes untersucht: so entdeckt man nach und nach eine Menge Fehler, die man das erste- oder zweitemal entweder gar nicht, oder nicht deutlich wahrnahm; und so verliert das Werk, je schärfer es untersucht wird. Ein anders hingegen hat beim ersten Anblick das Frappante nicht, wodurch jenes überraschte und hinriß; aber es zieht das Auge sanft an, und je genauer man es bis auf die kleinsten Teile des Details betrachtet, je schöner, untadelicher und vollendeter findet mans; und eine ganz natürliche Folge davon ist: daß, wenn Jenes einmal oder beim ersten Anblick gefällt, aber bei jedem Wiedersehen etwas verliert, man hingegen an Diesem sich nicht satt lesen kann, und immer neue Schönheiten entdeckt, die unter der Menge, beim ersten-, zweiten-, drittenmale usw. dem Auge noch entwischt waren. Mich deucht, dies ist der einzig mögliche Sinn, den Horazens Worte, im Zusammenhang genommen, zulassen: und die Vergleichung paßt – auf diese Art eben so gut, als der Satz, der dadurch erläutert werden sollte, eine auf die Erfahrung gegründete unleugbare Wahrheit ist.


Dies liebt ein schwaches, jenes, das sich nicht
vorm schärfsten Auge scheut, ein helles Licht,
und wenn das erste einmal uns gefällt,
wird dieses zehnmal wiederholt gefallen.

Du, ältester der edlen Jünglinge,
wiewohl die Vaterstimme, und dein eignes
Gefühl dich schon zum Wahren bilden, präge doch
was ich jetzt sage fest in deinen Sinn.

Es gibt der Dinge viel, worin
die Mittelmäßigkeit mit gutem Fug
gestattet wird. Ein Rechtsgelehrter oder
ein Redner vor Gericht kann minder wissen
als ein Cascellius, an Beredsamkeit
weit unter dem Messala stehn, und hat
doch seinen Wert: den mittelmäßgen Dichter
schützenIch habe hier lieber das Metrum (wie hier) durch zwei Zeilen fortziehen, d. i. eigentlich einen Vers von 10 Jamben machen, als den Numerus des Perioden verderben wollen. Mit beschützen statt schützen wäre der anscheinende Trochäische Vers ein jambischer gewesen: aber das, was die Schönheit dieser Stelle macht, wäre verloren gegangen. weder Götter, Menschen, noch
Verleger vor dem Untergang! Warum? –
ist leicht zu sehn. So wie ein übelstimmendes
Konzert bei einer guten Tafel, oder
zu dickes SalbölUm seine Gäste wohl zu bewirten, mußte man sie vor der Tafel mit wohlriechenden Ölen für Bart und Haare bedienen lassen. , oder Mohn mit Sard'schem HonigDer Sardinische Honig hatte einen widrigen Beigeschmack wegen der Taxusbäume und bittern Kräuter, die dort sehr häufig sind.
bloß darum uns beleid'gen, weil die Mahlzeit
auch ohne sie recht wohl bestehen konnte;
just so verhält es sich mit einem Dichterwerke.
Denn da es bloß der Seele gütlich
zu tun
erfunden ist, so senkt es sich,
wie's nur ein wenig vom Vollkommnen abweicht,
zum Schlechtesten. Wer mit den Waffen, die
im Campus üblich sind, nicht umzugehn
versteht, der bleibt davon; wer mit dem Ball,
dem Diskus, oder Reif zu spielen nicht
gelernt hat, gibt sich auch damit nicht ab,
um nicht dem Volk, das zusieht, zum Gelächter
zu werden – Wie? und wer die Dichtkunst nie
gelernt hat, untersteht sich Verse
zu machen? – »Und warum denn nicht? Er ist
ja wohl von gutem Hause gnug dazu!
Ein freigeborner, biedrer, unbescholtner Mann,
von rittermäßgen Renten! und er sollte
nicht, wenns ihn ankömmt, Verse machen dürfen?«

Ich lasse mirs gefallen – Aber du,
mein Piso – dies verspricht uns dein Verstand
und guter Sinn – du wirst, in deinem Leben, mit
Minervens Widerwillen nichts beginnen.
Doch wenn du jemals etwas schreiben solltest,
laß TarpasDer Kunstrichter, dem Horaz hier ein sehr schmeichelhaftes Kompliment zu machen scheint, hieß Spurius Metius Tarpa. Die alten Kommentatoren berichten uns, daß dieser Tarpa einer von den fünf kritischen Kommissarien gewesen, welche dazu bestellt waren, alle neue Dramatische Stücke zu untersuchen ehe sie aufs Theater gebracht werden durften. Diese Zensur-Kommission hielt ihre Zusammenkünfte im Tempel des Apollo, wo sie, wahrscheinlicherweise, zu tun genug hatten, allen den Poeten Gehör zu geben, die sich daselbst einfanden, um ihnen ihre Werke vorzulegen und ihren richterlichen Ausspruch zu erwarten. Aus einem bereits angeführten Briefe des CiceroAn den M. Marius (ad Famil. VII. 1.), wo die Rede von allen den Schauspielen ist, womit das neuerbaute Amphitheater des Pompejus eingeweiht wurde. , im Jahre 699 geschrieben, ist zu schließen, daß dieser Metius oder Mäcius schon damals bestellter öffentlicher Schauspiel-Zensor war; aber die Art, wie sich Cicero über ihn ausdrückt, erweckt keine so vorteilhafte Meinung von seinem Geschmack als uns Horaz von ihm gibt. «Während daß du (auf seinem Landgute) den Tag nach deinem eignen Belieben hinbringen konntest, mußten wir ausdauren, was dem Spurius Mäcius gefallen hatte.« Nobis perpetiundum erat, quae Sp. Maecius probavisset. Der Verfolg zeigt, daß die Rede von Theaterstücken ist. Es scheint aber durch jenen ganzen Brief die üble Laune eines Zuschauers durch, der nicht mit dem Willen gekommen war, sich etwas wohlgefallen zu lassen. Cicero persiflierte gern bei solchen Gelegenheiten, und stand damals nicht so gut mit dem Pompejus, um seiner Neigung zum Spotten große Gewalt anzutun. Auch ist zu vermuten, daß Mäcius damals noch ein ziemlich junger Mann gewesen, und daß die scheinbare Verachtung des Cicero mehr der Jugend als dem schlechten Geschmack des Kunstrichters gelte. Die Meinung des Dr. Bentley, daß der Mäcius, dem der junge Piso seine Aufsätze vorlesen sollte, nicht der gewesen sein könne, von dessen kritischem Urteil Cicero, vierzig Jahre zuvor, so verächtlich sprach, ist also ohne hinlänglichen Grund. Ohr, und deines edeln Vaters
und meines Richter sein; verschließ es dann
in deinen Pult und halts ins neunte Jahr zurück,
so bleibst du Meister wieder auszulöschen
was nicht ediert ist. Ein entflognes Wort
ist nun aus unserm Recht, und kommt nicht wieder.

Indessen, daß du über deine Liebe
zur Muse mit der goldnen Leier nicht errötestUm mehrerer Deutlichkeit willen mußten diese zwei Verse, die im Original erst zu Ende dieser Digression über die Dienste, welche die Poesie von jeher der menschlichen Gesellschaft geleistet, stehen, voran geschickt werden. ,
so denke, was von ihrem Ursprung an
die Kunst der Dichter war. Ward nicht von Orpheus,
dem heiligen Seher, dem die Götter ihre
Mysterien offenbarten, weil er Thracens
halbtierische Bewohner aus dem Wust
der Wildheit zog und menschlich leben lernte,
gesagt, er habe Tiger zähmen, wütge Löwen
durch seiner Lieder Reiz besänftgen können?
Ward von Amphion, des Thebanschen Schlosses
Erbauer, nicht gesagt, er habe Felsen
und Wälder seiner Leier süßen Tönen,
wohin er wollte, folgsam nachgezogen?
Im Heldenalter wars der Weisen Amt,
ein rohes Waldgeschlecht aus ihren Grüften
zu ziehn, und an Geselligkeit, und Furcht
der Götter, Zucht und Ordnung, zu gewöhnen.
Sie stiftete der Ehe keuschen Bund,
sie legte Städte an und gab Gesetze:
und weil die Zauberkräfte des Gesangs
zu allem diesem ihr behülflich waren,
so stieg des Sängers Ansehn in den Augen
des Volkes, und ein Glaube, daß er näher
den Göttern wäre, goß was Göttliches
um seinen Mund, und seine Lieder wurden
Orakel des Vergangnen und der Zukunft.
Nun kam Homer, der über alle ragt,
und bald nach ihm Tyrtäus, dessen Lieder
den schönen Tod fürs väterliche Land
im Vorderreihn der Schlacht mit Eifersucht
zu suchen, Spartas MännerseelenStärker, aber unübersetzlich, im Original: mares animos. In der Übersetzung ist dafür (zum Ersatz) auf das berühmte Distichon des Tyrtäus angespielt:

Τεθναμεναι γαρ καλον επι προμαχοισι πεσοντα
Ανδρ' αγαθον, περι η πατριδι μαρναμενον.

spornte.
In Versen gab den Fragenden der Gott
zu Delphi Antwort; in der Musensprache
wies uns Pythagoras des Lebens WegHoraz drückt dies allgemeiner aus, hat aber ohne Zweifel auf die aurea carmina der Pythagoräer vorzüglich hier ein Auge gehabt. .
Zu ihren süßen Weisen neigte sich
das Ohr der Könige, und endlich schloß
des Jahres Arbeit sich mit ihren SpielenMit den Tragödien, Komödien, und andern Theaterspielen, welche anfangs nur nach der Ernte gegeben wurden. .
Den Göttern angenehm, den Menschen hold,
und mit des Krieges und des Friedens Künsten
gleich freundlich sich verschwisternd, ist fürwahr
die Kunst der Musen edler Schüler wert!

Man pflegt zu streiten, ob Naturkraft, oder
ob Kunst ein Dichterwerk vortrefflich mache?
Mir meines Orts scheint ohne reiche Ader
das strengste Studium, und ohne Kunst
das beste Naturell gleich unzulänglich:
Keins kann des andern mangeln: aber, freundlich
vereinigt, glänzen beide desto mehr.
Wer auf der Rennbahn siegen will, der muß
als Knabe schon viel tun und leiden, Frost
und Hitze dulden, und von Wein und Werken
der Venus sich enthalten. Lange hat zuvor
der Flötenspieler, der den Pythischen PreisAn den Pythischen Spielen war auch ein Preis für den besten Flötenspieler: und aus der Art wie die Alten davon sprechen, sieht man, daß er sehr schwer zu verdienen, und also natürlicherweise das höchste Ziel des Ehrgeizes eines Flötenspielers war.
verdienen will, sich üben und die Strenge
des Meisters fürchten müssen. Nur mit unsern Dichtern
ists anders; zuversichtlich gibt sich jeder
wofür er will, schimpft tapfer auf die Pfuscher,
und will aufs mindste nicht der Letzte sein;
als ob es Schande wäre einem andern
in dieser einzgen Kunst was einzuräumen,
und nicht zu können, was man nie gelernt.

Ein Dichter, der an Renten reicher als
an Witz ist, ruft die Schmeichler zum Gewinn
herbei: mir ists, ich höre einen Mäkler
zu einer Auktion die Leute rufen.
Und ist er gar der Mann, bei dem die Herren
auf eine gute Tafel rechnen können,
der willig ist, für einen armen Schelm
sich zu verbürgen, und Kredit hat, einem
aus einem schlimmen Handel auszuhelfen;
so wärs ein Wunder, wenn er von den vielen Freunden,
die ihm dies Alles macht, den Wahren aus den Falschen
zu kennen wüßte.

                          Du, mein Piso, wenn
Du einem was geschenkt hast, oder schenken willst,
nimm dich in acht, ihm in der ersten Wallung
der Freude deine Verse vorzulesen;
dann da versteht sichs, daß er alle Augenblicke
o! schön! vortrefflich! herrlich! rufen wird.
Bei jener Stelle wird er ordentlich erblassen,
ja wohl aus seinen treuergebnen Augen
dankbare Tränen tröpfeln: wird bei dieser
aufspringen und den Boden vor Entzücken stampfen.
So wie die Weiber, die bei einer Leiche
zum Weinen sich verdingen, ärger schrein
als jene denen es von Herzen geht:
so macht ein Schalk von Schmeichler allemal
mehr Lärmens, als wer aus Gefühl dich lobt.

Die Fürsten, sagt man, sollen große Humpen
als eine Art von Folter brauchen, wenn sie jemand
probieren wollen, ob er ihrer Freundschaft wert seiWie Horaz gerade hier auf den Einfall gekommen sein mag, ein paar so seltsame Freundschaftsproben neben einander zu stellen? Sollte er nicht etwa einen besondern Fall im Sinne gehabt haben, der ihm den Anlaß dazu gab und den Scherz desto pikanter machte? Gewiß ist, daß Lucius Piso selbst einer von den – nicht eben so gewöhnlichen – Männern war, die diese Wein-Probe aushielten. August und Tiberius hatten ihn beide darauf gesetzt und die Art, wie er sie bestanden, war es, was ihm (bei seinen übrigen Geschäfts-Fähigkeiten) ihr Zutrauen erworben hatte. Tiberius, der mehr als gewöhnliche Beweise foderte bis er einem Menschen traute, trieb es, nach Suetons VersicherungVita Tiberii c. 42. , mit L. Piso und Pomponius Flaccus so weit, daß sie zween Tage und eine Nacht in einem fort mit ihm zechen mußten: und unmittelbar darauf machte er den Flaccus zum Prokonsul in Syrien und den Piso zum Präfekt der Stadt RomDie Wahrheit der Anekdote bestätigt auch der ältere Plinius (L. XIV. c. 22.): Eaque commendatione credidere L. Pisonem urbis Romae curae ab eo delectum, quod biduo duabusque noctibus (also eine Nacht mehr als Sueton angibt) perpotationem continuasset apud ipsum jam Principem. . Beides waren Places de Confidence. Sueton scheint die Tat desto enormer zu finden, weil Tiberius eben damals in einer Art von Sitten-Reformation, kraft der mit seiner höchsten Würde verbundnen Censura perpetua, begriffen war. Aber das war es eben, was ihn vermutlich veranlaßte, ein paar Viros Consulares, die er sonst schon als Männer von Fähigkeit kannte, auf eine so entscheidende Probe zu stellen. Bei der ungeheuern Verdorbenheit der damaligen Sitten war Schwelgerei und Schlemmerei ein ziemlich allgemeines Laster in Rom; an großen Säufern konnte es dem Tiberius nicht fehlen, wenn es ihm bloß darum zu tun war: aber er suchte Männer, die auch unter den größten Ausschweifungen dieser Art noch Meister von ihrem Kopf und von ihrer Zunge blieben, und weil diese beide vermutlich im Ruf dieses seltnen Vorzugs stunden, wollte er sie auf eine Probe stellen, die keinem Zweifel Raum ließe. So stelle ich mir die Sache vor, und mich deucht, man müsse den Charakter des Tiberius schlecht kennen, um ihm, zumal in seinen ersten Regierungsjahren, die Tollheit zuzutrauen, ein Amt von solcher Wichtigkeit für die Stadt Rom und für ihn selbst, wie die Praefectura Urbis war, einem Menschen bloß deswegen, weil er tüchtig saufen konnte, anzuvertrauen. Die Art, wie Seneca von unserm L. Piso spricht, scheint zu beweisen, daß dieser der Welt und des Hofes sehr erfahrne Menschenkenner die Sache aus dem nämlichen Gesichtspunkt angesehen habe; und er gibt ihm das Zeugnis, daß er, ungeachtet es ihm etwas gewöhnliches gewesen die Nächte durch zu zechen und bis zur sechsten Morgenstunde zu schlafen, seinem Amte mit größter Sorgfalt vorgestanden sei. – Alles dies trug sich zwar erst lange nach Horazens Tode zu: aber Seneca sagt uns: auch Divus Augustus habe diesem Piso, da er ihn zum obersten Befehlshaber in Thracien gemacht, geheime Aufträge anvertraut; und aus dem ganzen Zusammenhang ist zu schließen, daß Augustus – der in seinen jüngern Jahren auch den Bacchischen Ausschweifungen sehr ergeben gewesen war – Gelegenheit gehabt, seine Zuverlässigkeit aus ähnlichen Proben kennen zu lernen. Und dies ists, worauf vielleicht Horaz, in seiner feinen indirekten Manier, bei dieser Stelle sein Augenmerk haben mochte. :
Um einen Freund im Fuchsbalg auszufinden
mach einer Verse! – Wenn man dem QuintilEben der Quintilius Varus von Cremona, dessen Tod die 24ste Ode des ersten Buchs so schön beweint, und der mit dem Dichter Lucius Varius nicht verwechselt werden muß.
was las, so hieß er euch bald dies bald das
verbessern. Sagte man: es gehe nicht,
man hab es schon vergebens zwei- bis dreimal
versucht: so hieß er euch die ganze Stelle
durchstreichen, und die schlecht geprägten Verse
noch einmal auf den Amboß legen. Wenn
nun aber jemand seine Fehler lieber
behaupten als verbessern wollte, so
verlor er auch kein Wörtchen mehr, und konnt
es wohl geschehen lassen, daß der Mann
sich und sein Werkchen ohne Nebenbuhler liebte.
Ein Freund, ders redlich meint und richtig denkt,
wird keine Härte, wird nichts mattes dulden;
die üppgen Ranken schneidt er frisch hinweg,
dem was nicht klar genug ist zwingt er euch
mehr Licht zu geben, läßt nichts doppelsinnigs,
nichts schielends, oder was am rechten Ort nicht steht,
unangezeichnet, kurz, er wird ein AristarchWie Horaz einen schlechten Dichter, wenn er ihn recht arg schimpfen will, einen Chörilus nennt, so ist ihm Aristarch (der berühmte Emendator der Handschriften von Homers Werken) das Ideal eines Kunstrichters; und ich denke nicht daß es einer gewichtigern Autorität bedarf, um die Verkleinerer dieses Kunstrichters zu Boden zu wägen. ,
und denkt nicht: ei, was soll ich meinem Freunde
Verdruß mit solchen Kleinigkeiten machen?
O! solche Kleinigkeiten können für den Freund,
der gleich aufs erstemal sich lächerlich
gemacht und schlecht vom Publikum
empfangen wird, sehr große Folgen haben.
Denn kluge Leute gehen einem abgeschmackten
Poeten überall behutsam aus dem Wege,
und scheuen sich so sehr ihn anzurühren,
als einen den ein böser Aussatz oder
der Zorn Dianens plagtEine Art von Wahnsinnigen, die bei den Lateinern Lunatici hießen, weil ihre böse Laune mit dem Mond ab- und zunehmen soll. ; nur Kinder, der Gefahr
unkundig, laufen schreiend hinter drein.
Wenn so ein Mensch in seinem Aberwitz,
unwissend wo, die Nase in der Luft,
durch alle Gassen läuft und Verse – rülpstIch bitte um Vergebung für dies Wort; aber es stehet im Original, und steht so sehr am rechten Ort, daß ich es nicht um viel Gold geben wollte. Jedes minder anstößige Wort hätte das ganze Bild verdorben. Übrigens war Horaz ein Mann, der sehr gute Gesellschaft zu sehen gewohnt war, und ich weiß nicht, warum wir in solchen Dingen eklere Ohren zu haben affektieren, als die Terrarum Domini zu Rom.
und drüber, wie ein Vogler, der aufs Amselfangen
zu sehr erpicht ist, plump! in eine Grube fällt:
so zieh ihn ja, wie laut er schreien mag,
kein Mensch heraus! Denn wenn du ihm
mit einem Seil zu Hülfe springen wolltest,
was weißt du, ob er nicht mit Vorsatz sich
hineingestürzt? wie einst Empedokles
die kühle Tat beging, und in den Feuerschlund
des Aetna sprang, damit die Leute dächten
er sei ein Gott geworden. Frei
und unbenommen seis den Verslern, nach Belieben
den Hals zu brechen! Jemand wider Willen
zum Leben zwingen, ist im Grunde nicht
viel besser als ihn mordenEs ist an sich selbst Gewalttat, wie dieses; und ist dem, der nicht mehr leben will, eben so verhaßt und grausam, als Ermordung dem, der gerne länger lebte. . Laßt ihn springen
wohin er will; dadurch, daß man heraus
ihn ziehet, wirds nicht besser mit ihm werden.
Die Wut, mit einer Art die Aufsehns macht
zu sterben, wird darum ihn nicht verlassen.
Warum er Verse macht, ist ohnehin
nicht sehr begreiflich, wenns nicht Strafe ist,
weil er die Asche seines Vaters einst
besudelt, oder sonst an heilger Stätte
was Greuliches begangen; immer ist gewiß,
er raset, und verjagt, sobald man ihn
mit seinem Heft in Händen kommen sieht,
Gelehrt' und Ungelehrte, wie ein Bär,
der durch die Latten seines Käfigs durchgebrochen.
Weh aber dem, den er ergriffen hat!
Er hält ihn fest, und – gleich dem Egel, der
nicht abläßt bis er voll ist – wird er ihn
mit Lesen quälen, bis der arme Patient
den Geist, vor Gähnen, aufgegeben hat.


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