Christoph Martin Wieland
Horazens Brief an die Pisonen
Christoph Martin Wieland

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Dies vorausgesetzt, stelle ich mir die Veranlassung zu dieser Epistel so vor. Der junge Piso zeigte im Lauf seiner Schulstudien eine besondere Liebe zur Poesie, und einen so starken Hang zum Versemachen, daß der Vater endlich unruhig darüber wurde. Man kann von einem unsäglichen Pruritus für die Musenkunst geplagt werden, ohne mit einem wirklichen Talent geboren zu sein. Dies ist sehr oft der Fall bei jungen Leuten, und wars vielleicht bei dem kleinen Piso auch. Der junge Herr traktierte die Sache nicht etwa bloß als Knabenspiel, oder um die Mode mitzumachen; er machte Ernst daraus. Der Vater, ein Mann aus einem der ersten Häuser in Rom, der unter der neuen Regierung so viel immer möglich von seinem angeerbten Glanz behalten wollte, und dem es nicht anstand, seinen Sohn dem Ridicüle einer zu seiner Geburt und Bestimmung so wenig passenden Leidenschaft ausgesetzt zu sehen, fand, daß es nötig sei, ihn mit guter Art davon zurückzuziehen. Die Calpurnische Familie hatte vermutlich seit ihrem ersten Ahnherrn Calpus, einem Sohn des Numa, keinen Poeten, weder guten noch schlechten, hervorgebracht: sollte sein Sohn der erste sein, der seine Reputation auf eine Kunst gründen wollte, worin es so schwer ist den Besten gleich zu kommen, und worin die Prätension ohne Talent eben so gemein als verächtlich ist? Nichts von dem schlimmen Eindruck zu sagen, den das erste schlechte Theaterstück, womit ein junger Calpurnius seinen Eintritt in die Welt gemacht hätte, im Publico zurücklassen konnte: wie nachteilig konnte eine so frivole und lächerliche Passion seinem Glücke beim Augustus sein, der aus dem jungen römischen Adel keine Dichter, sondern aufwartsame Höflinge und brauchbare Staatsdiener gezogen wissen wollte? Piso liebte zwar die Literatur; und, wenn er sie auch nicht aus Neigung geliebt hätte, so hätte er sich hierin dem allgemeinen Ton seiner Zeit konformieren müssen: aber er wollte darum eben so wenig, daß sein Sohn Profession davon machen sollte, als daß er ein Luftspringer würde, weil es ein Stück der Erziehung war, voltigieren zu können; und gerade weil er sich selbst, spielsweise, zuweilen mit Versemachen abgegeben hatte, war ihm so viel mehr daran gelegen, die Reputation der Poeterei in seinem Hause nicht erblich werden zu lassen.

Ich glaube, daß man diese Vorstellungsart bei einem Manne in L. Pisons Umständen ganz natürlich annehmen kann; und wenn auch die Gefahr, die sein Sohn, bei der Begierde poetische Kränze zu erringen, lief, nicht so wichtig in seinen Augen gewesen wäre: so war sie es doch immer genug, um seinen Freund Horaz zu vermögen, dem jungen Menschen richtigere Begriffe von der Dichtkunst und ihren Schwierigkeiten und Gefahren beizubringen. Piso stand (wie leicht zu erachten) mit unserm Dichter auf einem zu guten Fuß, als daß ihm dieser eine Gefälligkeit, die ihm so wenig kostete, hätte abschlagen können. Ein Aufsatz, worin die vornehmsten Regeln und gleichsam die Mysterien der poetischen Kunst entfaltet wären, schien das schicklichste Mittel, die erzielte Absicht auf eine indirekte Art desto gewisser zu erhalten. Vielleicht hatte der junge Calpurnius Horazen selbst um eine solche Anweisung ersucht; und so konnte dieser, unter dem Schein, als ob er ihn zum Dichter bilden wolle, den ganzen Diskurs darauf anlegen, ihn (ohne Miene zu machen, als ob dies seine wahre Absicht sei) davon abzuschrecken. Die Horazische Manier in seinen Sermonen und Episteln zu philosophieren taugte hierzu ganz besonders. Die Freiheit, ohne Methode sich bloß von seinen Gedanken führen zu lassen, die dieser Art von Komposition eigen ist, erlaubte ihm alle die kleinen Episoden und Digressionen, auf die ihn seine eigne Laune bringen mochte; seine Hauptabsicht fiel desto weniger in die Augen, und er konnte seinen Diskurs auch für andre Leser als für die, an die er unmittelbar gerichtet war, interessant machen. Hauptsächlich aber gewann er dadurch eine neue, (wie es scheint) immer willkommne Gelegenheit, den Dichterlingen, von denen es um ihn her wimmelte, ihre Wahrheiten zu sagen, und sie, mit aller kaltblütigen lachenden Verachtung, deren sie so würdig waren, fühlen zu lassen, daß sie von der Kunst, die sie sich zu treiben unterstanden, nicht einmal die ersten Elemente begriffen hätten.

Nimmt man diese Hypothese, über die Entstehung und die Absicht der Epistel an die Pisonen, an; so wird, deucht mich, alles darin hell, verständig und zweckmäßig; und diese sogenannte Horazische Ars poëtica, die, sobald man will, daß sie ein Kompendium der Dichtkunst sein soll, ein übel zusammenhängendes, flüchtiges, mit Nebensachen und Radotage angefülltes Sudelwerk wird; – wird, sobald man sie für das nimmt, was sie, dieser Absicht nach, sein sollte, nämlich für eine poetische Epistel, worin er den jungen Piso, vermöge einer mit seinem Vater genommenen Abrede, unter dem Vorwand ihm die Geheimnisse der poetischen Kunst aufzuschließen, von seiner Liebe zur Ausübung dieser Kunst abziehen will, – ein Horazens würdiges Werk, und verdient unter seinen Sermonen die erste Stelle.

Nimmt man diese Absicht an, so begreift sich, warum er in seinen Regeln nicht vollständiger ist? – Er wollte keine Poetik schreiben.

Warum er nicht mehr Methode in seinen Plan gebracht? – Er schrieb einen Brief, und hatte keinen andern Plan als seinen Hauptzweck, den er nie aus den Augen verliert.

Warum seine meisten Vorschriften in Warnungen vor Fehlern bestehen? – Der junge Piso bedurfte ihrer am meisten.

Warum diejenigen Stellen, in welchen wirklich die Mysterien der poetischen Kunst eingehüllt liegen, nur den Adepten verständlich sind, und warum bis auf den heutigen Tag noch kein Pfuscher aus dieser Epistel etwas gelernt hat? – Horaz dachte an nichts weniger, als den jungen Piso zu einem Dichter machen zu wollen.

Warum endlich die Sarkasmen über die elenden Dichter seiner Zeit, die Warnungen vor den verführerischen Reizen der Musen, die Gefahren des poetischen Selbstbetrugs, die strengen und einem angehenden Poetaster ganz unerträglichen Bedingungen, die er dem jungen Piso auferlegt, und die bis auf die Knochen brennende Lauge, womit er die wahnsinnigen Dichter (wie er die elenden nennt) ohne Gnade übergießt, – warum alles dies beinahe die Hälfte des ganzen Diskurses ausmacht? – Es war das, was er mit dem ganzen Diskurs wollte.

Ich habe meine Meinung von dem Zweck dieser Epistel eine Hypothese genannt, und dadurch jedermann berechtigt, sie, wenn er will, für nichts mehr zu halten: ich glaube aber, wenn man sich die kleine Mühe nicht dauern lassen wollte, unserm Dichter in seinem schlendernden Gang durch dieses Stück von Anfang bis Ende mit besonderer Aufmerksamkeit nachzuschleichen; so würde man vielleicht finden, daß sie wirklich wahr ist, und man könnte sich bis zur Evidenz überzeugen, daß er gleich von Anfang an darauf ausgeht, um zuletzt dahin zu kommen, wo er aufhört. Vielleicht ist es dem Leser angenehmer, diesen kleinen Spaziergang mit einem, der Horazen schon so lange nachschleicht, als allein zu machen.

In einem Werke, wo man eine Absicht hat, die bloß dadurch erreicht werden kann, wenn sie nicht angekündigt wird, ist es am besten gar nichts anzukündigen. Horaz fängt also seinen Diskurs ohne allen Eingang, aber mittelst einer zu Erregung der Aufmerksamkeit des jungen Piso sehr geschickten Wendung – in der Sokratischen Manier – damit an, den wesentlichsten Fehler, den ein Gedicht (und jedes andre Werk der Kunst) haben kann, in seiner ganzen Ungereimtheit darzustellen: und dies ist gerade der Fehler, womit alle Dichter ohne Genie und wahres Talent unheilbar behaftet sind. Sie können kein Ganzes machen. – Sie fangen anders an und hören anders auf; ihr Werk ist aus übelzusammenpassenden Teilen zusammengeleimt; anstatt, wie die schöne Menschengestalt, dem Auge beim Überblick eine Form darzustellen, an welcher die Einheit des Ganzen desto angenehmer frappiert, je mehr man die einzelnen Teile in ihrer Verbindung und gegenseitigem Verhältnisse betrachtet.

Die Einwendung, die er sich machen läßt: »wie? ist denn etwa Poeten und Malern nicht immer erlaubt gewesen alles zu wagen?« – konnte er nur von einem solchen Neuling, wie der junge Piso (nach unsrer Voraussetzung) war, erwarten: und er beantwortet sie ihm durch ein Bild, das die Wahrheit seiner Regel zwar sehr sinnlich macht, aber, weil die Anwendung lediglich von dem richtigen Urteil und feinen Gefühl des Dichters abhängt, ihm doch zu nichts helfen konnte.

Horaz fährt [hier] fort, die Fehler, die am gewöhnlichsten gegen die Regel der Einheit begangen werden, in einem sanften komischen Lichte sichtbar zu machen. Junge Leute tun sich gemeiniglich viel auf schöne Beschreibungen, Landschaftsgemälde u. dergl. zugut; sie malen immer, wo nur die kleinste Gelegenheit dazu aufstößt. Ob das Gemälde sich an diesen Ort schickt, ob es nicht zweckwidrig ist den Leser dabei aufzuhalten, ob es nicht einem andern Gegenstande, der gerade hier stehen mußte, im Lichte steht usw., das bekümmert sie nicht; und so kommt dann zuletzt ein Werk heraus, wo, wie in einem Fiebertraume, nichts zusammengehört: ein schöner Mädchenkopf steht auf einem Pferdehals – die schöne Cypresse ist die Hauptfigur auf dem Gemälde, wo der arme Schiffbrüchige unser Mitleid erregen soll – und der Meister, der eine große Vase zu drehen anfing, bringt am Ende einen Küchentopf hervor.

Ein andres Übel, welchem junge Dichter, wenn ihnen der warnende Genius fehltDer berühmte Genius des Sokrates sagte ihm immer nur was er nicht tun sollte. , der immer das wahre Talent leitet, selten entgehen, ist dieses: daß sie, um einen Fehler zu vermeiden, in den entgegengesetzten zu fallen pflegen [siehe hier]. Um nicht hart zu sein, werden sie weichlich; um nicht zu kriechen, fahren sie in Wolken herum, wenn sie mit einem edeln gleichen Schritt auf ebnem Boden fortgehen sollten; sie rasen um erhaben zu sein, und sagen Unsinn, weil sie was Neues sagen möchten. Dieser hat wahrgenommen, daß gewisse Vorstellungen, gewisse Züge eine große Wirkung tun, und nun glaubt er, um eine immer größere Wirkung zu tun, brauche er nichts, als die Dosis zu duplieren, triplieren usw. Ein andrer hat gemerkt, daß ein paar kleine Umstände einem Gemälde Wahrheit und Leben geben, und glaubt nun, nie zuviel Detail in seinen Schilderungen anbringen zu können, usw. Die große Quelle aller dieser Fehler ist der Mangel an einer richtigen Vorstellungsart, und an einer Urteilskraft, die beim Dichter (wie bei jedem andern Virtuosen) so schnell und sicher als der schärfste Sinn wirken muß. Man kann einem Menschen wohl sagen, daß es ihm an diesem Sinn fehle: aber wer kann ihm einen Sinn geben, den ihm die Natur versagt hat?

Wie Kinder aus Unwissenheit verwegen sind, so traut sich mancher aus Kindheit des Geistes mehr zu, als er ausführen kann. Daher vermahnt Horaz [hier] diejenigen, welche etwas schreiben wollen, vor allen Dingen ihre Kräfte wohl zu prüfen; und will, daß man sich an keinen Gegenstand wage, den man nicht genau kennt, von allen Seiten betrachtet, und so durchgedacht hat, daß man sich selbst auf alle nur mögliche Fragen antworten kann. Wie kann ein junger Mensch, der weder, was ihn umgibt, noch sich selbst kennt, und dem nur aus Unverstand alles in der Welt so klar und leicht vorkommt, wie kann er jemals gewiß sein, daß er seinen Kräften nicht zu viel zutraue, und in der Wahl des Gegenstandes, den er bearbeiten will, sich nicht vergriffen habe?

Aber wenn er dessen auch gewiß wäre, so ists damit noch lange nicht getan. Eben der richtige Verstand, eben die scharfe Beurteilung, die ihn in der Wahl und Anordnung seines Stoffs leiten muß, damit das Werk erst in seiner eignen Seele ganz und lebendig da stehe, welches er dann mit Hülfe der Sprache auch in die Seele seines Lesers oder Zuhörers drücken will – eben dieser Verstand muß ihn auch im Gebrauch der Sprache, in der Wahl, Stellung und Verbindung der Wörter leiten [siehe hier]. Horaz überläßt sich hier der ersten Gelegenheit zu einer kleinen Abschweifung, wobei er mehr sein römisches Publikum als die Pisonen im Auge gehabt zu haben scheint. Er rechtfertigt den klugen und bescheidnen Gebrauch veralteter, die Veredlung niedriger, und die Erschaffung neuer Wörter usw., und schließt mit einer Betrachtung, die einen Schriftsteller, der bei der Nachwelt fortzuleben wünscht, nicht aufmerksam genug auf seine Sprache machen kann, und, wenn er darin auch den höchsten Grad der Korrektheit erreicht hätte, ihm doch den Wunsch abnötigen muß, daß die Sprache, worin er geschrieben, ihn nicht lange überleben möge. Wäre die Lateinische Sprache bis auf diesen Tag die Sprache Italiens geblieben: so würden Virgil und Horaz den Italienern vermutlich itzt nicht verständlicher sein, als uns die Dichter aus Kaiser Heinrichs VI. Zeiten sind.


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