Christoph Martin Wieland
Das Geheimniß des Kosmopoliten-Ordens
Christoph Martin Wieland

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Das Geheimniß der Kosmopoliten.

I.

Vor allen Dingen müssen wir uns, um auch dem Schatten eines Mißverstandes auszuweichen, erklären, in welchem Sinne die Kosmopoliten eine Art von geheimer Gesellschaft ausmachen.

Sie haben nämlich mit allen andern menschlichen Gesellschaften gemein, daß sie unter einerlei Gesetzen auf einen Zweck durch ähnliche und zusammen stimmende Mittel arbeiten. Sie unterscheiden sich hingegen von allen andern theils durch die Größe und Vollkommenheit ihres Zwecks, theils durch die Lauterkeit ihrer Grundsätze und Gesinnungen, theils durch die immer zweckmäßige Güte und reine Zusammenstimmung ihrer Arbeiten und Bestrebungen.

Eine geheime Gesellschaft aber können sie genannt werden, insofern dasjenige, was sie zu Kosmopoliten macht, den Augen des großen Haufens von jeher verborgen geblieben und vermöge seiner Natur so beschaffen ist, daß selbst nach gegenwärtiger gänzlicher Aufdeckung ihres Geheimnisses Mancher, wiewohl ohne unsere Schuld, wenig mehr davon begreifen wird als vorher.

Man sieht bereits aus diesem einzigen Merkmale, wie wesentlich sie von allen andern, sowohl öffentlichen als 403 geheimen Gesellschaften, Hetärien, Orden und Verbrüderungen verschieden sind.

Andere geheime Orden sind nur darum geheim, weil sie es seyn wollen. Es hängt blos von ihnen ab, so hört ihr vorgebliches Geheimniß auf, ein Geheimniß zu seyn. und die ganze Welt weiß so viel oder wenig davon als sie selbst; kurz, um Einer von ihnen zu seyn, braucht man nur von ihnen aufgenommen und in ihren Mysterien unterrichtet zu werden.

Mit den Kosmopoliten verhält es sich gerade umgekehrt. Man wird kein Kosmopolit durch Aufnahme und Unterricht; sondern man befindet sich in ihrer Gesellschaft, weil man ein Kosmopolit ist. Man wird dazu geboren, und der hinzukommende Unterricht trägt nicht mehr dazu bei, als Nahrung und Bewegung zum Wachsthum und zur Ausbildung eines thierischen Körpers beiträgt, ohne ihn darum zu etwas Anderm machen zu können, als wozu ihm die Natur selbst die substantielle Form und innere Anlage gegeben hat.

 

II.

Die Kosmopoliten sind nicht nur durch keinen Eid zu Beobachtung eines unverbrüchlichen Geheimnisses gegen Alle, die nicht zu ihrem Orden gehören, verbunden: sondern sie behaupten sogar, daß keine Privatgesellschaft ohne ausdrückliche Erlaubniß des Staats, in welchem sie lebt, berechtigt seyn könne, ihren Gliedern einen solchen Eid aufzulegen; und sie erklären dergleichen geheime eidliche Verbindungen für unzulässig, wie unschuldig auch ihre ursprüngliche Absicht und Verfassung seyn möchte. Es ist augenscheinlich, sagen sie, daß eine eigenmächtige und von der höchsten Gewalt 404 nicht mit völliger Kenntniß der Sache autorisirte eidliche Verbindung eine Art von Zusammenverschwörung ist und einen Staat im Staat hervorbringt, der dem letztern auf vielerlei Art gefährlich und nachtheilig werden kann; zumal, wenn es blos in der Willkür der Zusammenverschwornen steht, die Anzahl ihrer Glieder auf so viele Tausende und Hunderttausende zu erstrecken, als ihnen beliebt. Nichts als die völligste Gewißheit, daß das gemeine Wesen durch kein anderes Mittel von seinem gänzlichen Verderben gerettet werden könnte, kann jemals eine solche geheime Conföderation rechtfertigen; denn ordentlicher Weise ist in keinem Staate Jemanden verwehrt, so viel Gutes zu thun, als er kann und will, insofern er nur in den Grenzen bleibt, die ihm die Verfassung und die öffentliche Ordnung und Ruhe vorschreiben. Und, gesetzt auch, diese Einschränkung wäre in einigen Staaten oder zu gewissen Zeiten so enge, daß mancher wohl gesinnte Mann nicht Alles thun könnte, wozu er einen Beruf in sich fühlt, so soll und muß er sich in dem Gedanken beruhigen, daß er als Mensch zu nichts verbunden ist, was er nicht ohne Verletzung seiner bürgerlichen Pflichten unternehmen könnte.

Die Versicherung, die eine solche zusammen verschworne geheime Gesellschaft von sich gibt, daß weder ihre Verfassung noch ihre Arbeiten dem Staate, der Religion, noch den Sitten nachtheilig sey, gesetzt auch, sie sey vollkommen aufrichtig, kann ihre Conföderation nicht unschuldiger noch rechtmäßiger machen; denn wer ist uns Bürge dafür, daß sie nicht dereinst werden, was sie jetzt nicht sind? Ueberdieß sind die Begriffe und Urtheile einzelner Menschen von so zusammengesetzten und äußerst verwickelten Gegenständen viel zu verschieden und unzuverlässig, als daß man es in einer Sache, 405 wobei die Ruhe des Staats betroffen ist, darauf ankommen lassen könnte, ob diejenigen, die eine solche Gesellschaft leiten, immer richtig oder unrichtig urtheilen und nicht vielleicht Religion und Staat durch eben die Mittel, wodurch sie ihnen nützlich zu seyn wähnen, gegen ihre Meinung untergraben könnten.

Am allerwenigsten aber (sagen die Kosmopoliten) können sich solche zum Geheimniß verschworne Gesellschaften mit dem Beispiele der alten ägyptischen, eleusinischen und anderer Mysterien dieser Art rechtfertigen, mit welchen sie sich eine Aehnlichkeit zu geben suchen, die keinem Sachkundigen den zwischen ihnen obwaltenden wesentlichen Unterschied verbergen kann; denn jene Mysterien waren von den Gesetzgebern selbst angeordnet, machten einen Theil der politisch-religiösen Verfassung aus und standen unmittelbar unter der Oberaufsicht des Staats. Sobald die geheimen Orden sich gleicher Vorzüge werden rühmen können, wird ihnen Niemand ihre Rechtmäßigkeit streitig machen.

Das Erste also, worin sich die Kosmopoliten von allen geheimen Orden und Hetärien unterscheiden, ist, daß sie weder ein Geheimniß zu verbergen haben, noch aus ihren Grundsätzen und Gesinnungen eines machen. Die ganze Welt darf wissen, wie sie denken, was sie unternehmen, und welche Wege sie gehen. Sie lächeln über die Affectation, symbolische Bücher und Hieroglyphen aus der Kindheit der Welt herüber zu holen, um Wahrheiten, die Jedermann in der Schule schon gelernt hat, darein zu vermummen. Was für Weisheit, sagen sie, kann man sich von Männern versprechen, die mit der feierlichsten Miene von der Welt – Puppen an- und auskleiden, blinde Kuh spielen und Nadeln verstecken? Oder was für männliche Geschäfte können das seyn, die man durch 406 einen Schein von Rückfall in die erste Kindheit der Aufmerksamkeit der Verständigen entziehen will?

 

III.

Die Kosmopoliten führen den Namen der Weltbürger in der eigentlichsten und eminentesten Bedeutung. Denn sie betrachten alle Völker des Erdbodens als eben so viele Zweige einer einzigen Familie und das Universum als einen Staat, worin sie mit unzähligen andern vernünftigen Wesen Bürger sind, um unter allgemeinen Naturgesetzen die Vollkommenheit des Ganzen zu befördern, indem jedes nach seiner besondern Art und Weise für seinen eigenen Wohlstand geschäftig ist.

Sie sind gleich weit von den beiden Extremen entfernt, dem Menschen entweder die erste Rolle im Weltall zu geben oder sein Daseyn für ein unbedeutendes Spiel des Zufalls, einen Traum ohne Zweck, Sinn und Zusammenhang anzusehen. Ohne sich der unmöglichen Bestimmung des eigentlichen Ranges, den er in der unendlichen Stadt Gottes einnimmt, anzumaßen – ohne (was eben so unmöglich ist) erforschen zu wollen, was er war, ehe er in seinen dermaligen Wirkungskreis gesetzt wurde, oder was er seyn wird, wenn er aufhört zu seyn, was er ist – überzeugt sie der Vorzug der Vernunft (die den Menschen über alle seine Mitbewohner dieses Sonnenstaubs im Universum, der für uns eine Welt ist, so hoch erhebt), daß der Mensch, seiner scheinbaren Kleinheit ungeachtet, nicht blos als organisirter und belebter Stoff ein blindes Werkzeug fremder Kräfte, sondern als denkendes und wollendes Wesen selbst eine wirkende Kraft ist und, auf diese zweifache Art in den allgemeinen Plan des Ganzen 407 verflochten, eine viel größere Rolle spielt, als er selbst zu übersehen fähig ist.

 

IV.

Aus dieser Ueberzeugung entspringt für die Kosmopoliten ein doppelter Grundsatz, der sie durch ihr ganzes Leben leitet.

Der erste ist: Alle Bestimmungen und Folgen ihres Daseyns, die nicht von ihrem Willen abhangen, alles anscheinende Böse, das sie entweder nicht voraussehen können oder, wenn sie es auch sahen, als natürliche Folge nothwendiger Collisionen oder Dissonanzen nicht vermeiden konnten, kurz, Alles, was sie, insofern sie blose Werkzeuge der Natur sind, unfreiwillig wirken oder leiden müssen, für etwas anzusehen, wofür sie sich selbst oder Andern eben so wenig verantwortlich sind, als für die Wirkungen der Gesetze des Stoßes, der Schwere oder irgend ein anderes Gesetz der Natur, dessen Wirkung nothwendig und unaufhaltbar ist.

Der andere ist: Alle ihre Aufmerksamkeit so viel möglich auf das zu richten, was von ihrem eigenen Verstand und Willen abhängt, was sie gut oder übel, besser oder schlechter machen können; in allen Dingen dieser Art, selbst in Kleinigkeiten, sich die möglichste Vollkommenheit zum Ziel zu setzen und hierin mit einer desto größern Strenge gegen sich selbst zu verfahren, je mehr Nachsicht Einer vom Andern sich versprechen könnte.

Die Natur (sagen sie) hat einem jeden Menschen die besondere Anlage zu dem, was er seyn soll, gegeben, und der Zusammenhang der Dinge setzt ihn in Umstände, die der Entwicklung derselben mehr oder weniger günstig sind; aber ihre 408 Ausbildung und Vollendung hat sie ihm selbst anvertraut. Ihm kommt es zu, was die Natur mangelhaft gelassen oder gar gefehlt hat, zu verbessern und seine Anlagen zu Kunstfertigkeiten zu erheben; es ist sein eigenes Interesse, und er kann kein angelegeneres Geschäft haben, als das Bestreben, der Vollkommenheit in seiner Art, die in gewissem Sinne keine Grenzen hat, so nahe zu kommen als möglich. Da der Plan seines Lebens nicht von ihm allein abhängt; da er zu jedem Gebrauche, den der oberste Regierer der Welt von ihm machen will, bereit seyn soll: so ist seine erste und höchste Pflicht, sich die möglichste Tauglichkeit zu erwerben.

Ein hoher Grad dieser Tauglichkeit, insofern er von Uebung, Fleiß, Anstrengung und Beharrung und also von unserem eigenen Willen abhängt, ist, was die Kosmopoliten Tugend nennen, und das Ideal derselben der Maßstab, wonach sie den Werth einzelner Personen bestimmen.

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich der Unterschied zwischen Weltbewohnern und Weltbürgern. Die erstere Benennung kommt nicht nur allen Menschen, sondern selbst der ganzen Leiter der unter ihm herab steigenden Thiere zu; aber ein Bürger der Welt in der engern und edlern Bedeutung dieses Wortes kann nur derjenige heißen, den seine herrschenden Grundsätze und Gesinnungen durch ihre reine Zusammenstimmung mit der Natur tauglich machen, in seinem angewiesenen Kreise zum Besten der großen Stadt Gottes mitzuwirken. Nur der gute Bürger verdient diesen Namen vorzugsweise.

 

V.

Die Kosmopoliten haben und erkennen als solche keine andere Obere, als die Nothwendigkeit und das Naturgesetz 409 oder – was im Grunde eben dasselbe sagt – als das unerforschliche ewige Urwesen, welches der Anfang und das Ende aller Dinge ist.

Es würde ein sehr unbedeutendes Wortspiel seyn, wenn man darum auch von ihnen sagen wollte, daß sie unbekannte Obere hätten. Wie verborgen und unzugangbar uns auch der höchste Regierer des Weltalls ist, so wissen wir doch genug von seiner Regierung, um unbeschränktes Vertrauen zu ihr zu fassen, und genug von seinen Gesetzen, d. i. von dem, was in der intellectuellen und moralischen Welt, Ordnung, Uebereinstimmung und fortschreitende Vollkommenheit hervorbringt, um unsern Willen und unsere Wirksamkeit, insofern sie von unserem Willen abhängt, denselben gleichförmig zu machen.

Außer dieser Subordination herrscht unter allen Kosmopoliten eine so vollkommene Gleichheit, als mit ihrer individuellen Verschiedenheit nur immer bestehen kann. Ihre Vollmacht und Instruction erhalten sie aus den Händen der Natur. Es gibt keine andere Grade unter ihnen, als die Stufen ihrer Tauglichkeit und innern moralischen Güte. Und da sie keinen besondern geheimen Plan haben, in keiner geheimen Verbindung zu Bearbeitung weit aussehender Absichten stehen, keinen erloschenen Orden von den Todten zu erwecken, keine Kirchenvereinigungen zu Stande zu bringen suchen und nichts weniger im Schilde führen, als die Welt nach ihrem Sinne reformiren und vermittelst einer künstlich ausgedachten Maschinerie, die eine unaufhörliche Aufsicht und Nachhülfe erfordert, nach jesuitischer Art und Kunst regieren zu wollen; kurz, da sie keinen Staat im Staate vorstellen und von keinem gemeinschaftlichen Ordensinteresse wissen, welches mit dem Interesse der bürgerlichen oder kirchlichen Gesellschaft in 410 Collision kommen könnte oder wohl gar in einer beständigen absichtlichen Opposition mit demselben stände: so ist klar, daß sie keiner besondern Constitution, keiner hochwürdigen Obern, keiner geheimen Canzlei, keines Säckelmeisters und keiner gemeinschaftlichen Casse nöthig haben.

 

VI.

Dieses Allen ungeachtet ist in buchstäblichem Verstande wahr, was an einem andern Orte schon vor vierzehn Jahren von ihnen gesagt wurde, nämlich: daß sie, trotz aller Entfernung von Raum und Zeit, in der engsten Verbindung mit einander stehen, ohne Schiboleth oder abgeredete Zeichen einander bei der ersten Zusammenkunft erkennen und sogleich die besten und vertrautesten Freunde sind. Das ganze Geheimniß liegt in einer gewissen natürlichen Verwandtschaft und Sympathie, die sich im ganzen Universum zwischen sehr ähnlichen Wesen äußert, und in dem geistigen Bande, womit Wahrheit, Güte und Lauterkeit des Herzens edle Menschen zusammen kettet. Ich kenne kein stärkeres: wenigstens bedürfen die Kosmopoliten kein anderes, um eine Gemeinheit auszumachen, die an Ordnung und Harmonie alle andere menschliche Gesellschaften übertrifft.

 

VII.

Aus dem bisher Gesagten erhellet schon von selbst, daß die Kosmopoliten über das, was der Zweck ihres Ordens sey, nie in die seltsame Verlegenheit gerathen können, worin man wohl eher andere ansehnliche und weltberühmte Gesellschaften gesehen hat. Nie werden sie allgemeine oder besondere Synoden 411 ausschreiben müssen, um das Geheimniß ihres Geheimnisses ausfindig zu machen und auf die Fragen: wer sind wir? was wollen wir? wo kommen wir her? und wo zielen wir hin? wenigstens sich selbst eine befriedigende Antwort geben zu können. Es gibt in ihrem Mittel keine verschiedene Meinungen über ihren Zweck, keine Parteien, die nicht etwa nur in Vorstellungsarten verschieden, sondern sogar die Antipoden von einander sind und, wiewohl sie äußerlich ein Ganzes auszumachen scheinen, innerlich in einem so schlimmen Verhältniß mit einander stehen, daß der Zweck der Einen ist, das Werk der Andern zu zerstören. Die Kosmopoliten, so viele ihrer in der Welt verstreut leben, sind alle zusammen, in der schärfsten Bedeutung dieser Redensart, ein Herz und eine Seele: denn sie haben nur einen gemeinschaftlichen Zweck, an welchem sie alle, ohne Geräusch, ohne das klappernde Getöse eines schwerfälligen Räderwerks, im Verborgenen, wiewohl von Jedermann gesehen, jeder nach dem Maße seiner Kräfte und Mittel und nach dem Standpunkte, worauf er gesetzt ist, ruhig fortarbeiten.

Dieser Zweck ist an sich der einfachste, unschuldigste und wohlthätigste, der sich denken läßt; denn er ist weder mehr noch weniger, als was in folgender Formel enthalten ist: »Die Summe der Uebel, welche die Menschheit drücken, so viel ihnen, ohne selbst Unheil anzurichten, möglich ist, zu vermindern und die Summe des Guten in der Welt nach ihrem besten Vermögen zu vermehren.« Sie sind sich bewußt, daß sie in jedem Augenblicke ihres Lebens den reinen und festen Willen haben, sich zu diesem Zwecke zu verwenden, der, ihrer Ueberzeugung nach, der Zweck ihres Daseyns ist und mit dem großen und letzten Zweck des ganzen Weltalls im reinsten Einklange steht. Sie können, als Menschen wie 412 Andere, im Besondern des besten Mittels oder des rechten Maßes oder der schicklichsten Zeit verfehlen, wiewohl ihnen dieß unendlich seltener als Andern begegnet: aber ihr Zweck ist immer der einzig wahre; und da eines ihrer Grundgesetze ist, nichts Gutes durch gewaltsame oder hinterlistige oder zweideutige, geschweige schändliche Mittel bewirken zu wollen, so ist es, wie gesagt, blos eine Folge der Schranken unserer Natur, wenn sie in besondern, oft sehr verwickelten Fällen ihres edeln Zwecks verfehlen. Dieser Fall muß bei ihnen nothwendig um so seltner seyn, da sie im Urtheilen von keinen Vorurtheilen und Wahnbegriffen, im Handeln weder von Nebenabsichten noch Leidenschaften getäuscht und irre geführt werden. Sie haben also den Vorzug vor Andern, daß nicht nur ihre Art zu denken immer gesund, und ihr Zweck immer lauter ist, sondern daß sie auch, so viel es das Loos der Menschheit zuläßt, ihren Grundsätzen immer gemäß handeln und daher immer sicher seyn können, das Gute wirklich zu thun, das sie thun wollen.

 

VIII.

Unter welcher Staatsverfassung ein Kosmopolit leben mag – es sey nun, daß er hierin blos von der Nothwendigkeit oder durch seine eigene Wahl bestimmt worden sey – so lebt er immer als ein guter und ruhiger Bürger. Die Grundsätze und Gesinnungen, die ihn zum Weltbürger machen, sind auch die Grundlage seines Wohlwollens gegen die besondere staatsbürgerliche Gesellschaft, deren Mitglied er ist; aber sie sind es auch, was den Wirkungen dieses Wohlwollens Schranken setzt.

413 Was man in den alten griechischen Republiken und bei den stolzen Bürgern jener Stadt, die zur Herrschaft über die Welt gestiftet zu seyn glaubte, Vaterlandsliebe nannte, ist eine mit den kosmopolitischen Grundbegriffen, Gesinnungen und Pflichten unverträgliche Leidenschaft. Kein Römer konnte ein Kosmopolit, kein Kosmopolit ein Römer seyn. Der einzige Pomponius Atticus machte vielleicht eine Ausnahme. Aber er war auch in der That, nach seinem Beinamen, mehr Athener als Römer; und was konnte er in seinen Verhältnissen während des Sturms, der die aristokratische Demokratie in Rom umstürzte, Weiseres und Besseres thun, als sich auf die Erfüllung seiner weltbürgerlichen Pflichten einzuschränken?

Der Kosmopolit befolgt alle Gesetze des Staats, worin er lebt, deren Weisheit, Gerechtigkeit und Gemeinnützigkeit offenkundig ist, als Weltbürger und unterwirft sich den übrigen aus Nothwendigkeit. Er meint es wohl mit seiner Nation; aber er meint es eben so wohl mit allen andern und ist unfähig, den Wohlstand, den Ruhm und die Größe seines Vaterlandes auf absichtliche Uebervortheilung und Unterdrückung anderer Staaten gründen zu wollen.

Die Kosmopoliten lassen sich daher niemals in besondere Verbindungen ein, die mit der Ausübung dieser Gesinnungen unverträglich wären. Sie entziehen sich aller Theilnehmung an einer Staatsverwaltung, wobei ihnen die entgegengesetzten Maximen als Grundregeln vorgeschrieben würden. Wenn es daher in irgend einem Staate von nicht ganz unbeträchtlicher Größe etwas noch Selteneres geben könnte, als einen Minister, der ein Kosmopolit wäre, so wär' es, wenn dieser Minister sich zehn Jahre lang hinter einander an seiner Stelle erhalten hätte. 414

 

IX.

Der Kosmopolit ist, vermöge seiner wesentlichsten Ordenspflichten, immer ein ruhiger Bürger, auch wenn er mit dem gegenwärtigen Zustande des gemeinen Wesens nicht zufrieden seyn kann. Aber, wiewohl dieses Letztere (aus einem Mangel an objectiven Beweggründen, woran er keine Schuld hat) zuweilen der Fall seyn muß; wiewohl er, mit dem besten Willen von der Welt, Alles, was gut ist, gut zu heißen, die Maßregeln und Handlungen der Vorsteher des Staats nicht immer besingen und beklatschen kann, ihre Schwächen, Untugenden, Schiefheiten, Mißgriffe, Inconsequenzen u. s. w. sehr wohl sieht und sehr ernstlich mißbilligt; – kurz, ob er gleich die Gebrechen der Staatsverfassung, Gesetzgebung, Polizei, Oekonomie und der ganzen Staatsverwaltung im Großen und Kleinen, auch vielleicht die Mittel, diesen Gebrechen abzuhelfen, kennt und nichts eifriger wünscht, als ihnen abgeholfen zu sehen; so kann man doch sicher darauf rechnen, daß er niemals, weder aus eigennützigen noch patriotischen Beweggründen, noch unter irgend einem andern Vorwande, die öffentliche Ruhe stören und irgend eine Verbesserung durch grundgesetzwidrige und gewaltsame Mittel zu bewirken trachten werde. Nie hat ein Kosmopolit an einer Zusammenverschwörung, an einem Aufruhr, an Erregung eines Bürgerkriegs, an einer gewaltsamen Revolution, an einem Königsmord absichtlichen Antheil gehabt, noch jemals diese oder ähnliche Mittel, die Welt zu verbessern, gebilligt, geschweige empfohlen und öffentlich zu rechtfertigen unternommen. Ein Timoleon, der sein Vaterland durch einen Brudermord in Freiheit setzte, Brutus und Cassius, welche Cäsarn zu einer Zeit ermordeten, da sein möglichst langes 415 Leben eine Wohlthat für die Welt gewesen wäre, Milton, der die Enthauptung Karls des Ersten öffentlich vertheidigte, Algernon Sidney, der gegen einen Tyrannen Alles für erlaubt hielt, waren republikanische Enthusiasten, keine Kosmopoliten.

Es fehlt zwar nicht an Beispielen, daß auch diese letztern gegen unerträgliche Mißbräuche der höchsten Gewalt, gegen politischen und religiösen Despotismus, gegen erweislich ungerechte und unvernünftige Gesetze, gegen eine unterdrückende Staatsverwaltung heilloser Minister und dergleichen in gewissem Sinne Partei gemacht und gearbeitet haben; aber nur, solange es durch rechtmäßige Mittel geschehen konnte. In solchen Fällen ist Widerstand sogar eine ihrer Ordenspflichten; nur sind ihnen dazu keine andere Waffen als die Waffen der Vernunft erlaubt. Diese mögen sie mit so viel Witz, Beredsamkeit, Scharfsinn und Stärke, als sie nur immer in ihrer Gewalt haben, zum Besten der guten Sache gebrauchen und in dieser Art von Krieg, vertheidigungs- und angriffsweise, so viel Verstand, Klugheit, Standhaftigkeit, Freimüthigkeit und Beharrlichkeit zeigen, als nur immer möglich ist; wenn sie Alles gethan haben, so haben sie weiter nichts als ihrer Kosmopolitenpflicht genug gethan.

Aber, sobald sie sehen, daß die brennenden Köpfe, die sich etwa an die Spitze der Bessergesinnten und der Unterdrückten stellen, solche Wege einschlagen, die durch ihre natürlichen Folgen den Staat gewaltsam erschüttern müssen; sobald es darauf angelegt wird, die abgezielten Verbesserungen theurer, als sie vielleicht werth sind, mit dem häuslichen Glücke, dem Wohlstand und dem Leben von Tausenden und Hunderttausenden zu erkaufen: dann ziehen sie sich zurück, arbeiten nun vielmehr, das im Staat angezündete Feuer zu 416 löschen, als die Flamme noch mehr anzublasen und zu unterhalten; und wenn die Stimme der Vernunft, die in allen Dingen Mäßigung gebietet, nicht mehr gehört wird, stehen sie lieber von allem Wirken ab, ehe sie Gefahr laufen wollten, wider ihre Absicht Schaden zu thun, und werden nicht eher wieder thätig, bis die Zeit gekommen ist, nach einem bessern Plane wieder aufzubauen, was unter den wilden Bewegungen des fanatischen Parteigeistes und des wüthenden Kampfes der willkürlichen Macht, die, sich zu erhalten, mit der beleidigten Menschheit, die sich frei zu machen und zu rächen sucht, zu Trümmern gehen mußte.

 

X.

Man hat den Kosmopoliten dieses Betragen von jeher für Menschenfurcht, Kleinmuth, Mangel an Eifer für die gute Sache und eigennützigen Egoismus ausgedeutet; und in der That können Leute, die keine Kosmopoliten sind, aus Feigheit und Mangel an edeln Gefühlen sich eben so zu betragen scheinen, wie jene.

Aber es ist, nach einer alten und sehr wahren Bemerkung, nicht immer einerlei, wenn Zwei dasselbe thun; und wie (mit Hallern zu reden) ein Narr thöricht sagen kann, was ein kluger Mann weislich sprach, so kann ein Mensch von kleiner Seele auf eine schlechte Art thun, was ein edler Mensch auf seine Weise thut. Der Grund des Betragens der Kosmopoliten in den vorbesagten Fällen ist ein Princip, das unter die ersten Grundgesetze ihres Ordens gehört, nämlich: »Daß in der moralischen Ordnung der Dinge (wie in der physischen) alle Bildung, alles Wachsthum, alle Fortschritte zur Vollkommenheit durch natürliche, sanfte und von 417 Moment zu Moment unmerkliche Bewegung, Nahrung und Entwicklung veranstaltet und zu Stande gebracht werden muß.« – Alle plötzliche Störungen des Gleichgewichts der Kräfte, alle gewaltsame Mittel, um in kürzerer Zeit durch Sprünge zu bewirken, was nach dem ordentlichen Gange der Natur nur in viel längerer Zeit erwachsen konnte, alle Wirkungen, die so heftig sind, daß man das Maß der Kraft, die zu Hervorbringung der Sache nöthig und hinlänglich ist, nicht dabei berechnen kann, sondern immer Gefahr läuft, weit mehr, als nöthig ist, zu thun – kurz, alle tumultuarische Wirkungen der Leidenschaften nach den Richtungen einseitiger Vorstellungsarten und übertriebener Forderungen, wenn sie auch am Ende etwas Gutes hervorbringen sollten, zerstören zu gleicher Zeit so viel Gutes und richten, indem sie großen Uebeln steuern wollen, selbst so großes Uebel an, daß nur ein Gott fähig ist zu entscheiden, ob das Gute oder Böse, das auf diese Art gewirkt wird, das Uebergewicht habe.

Nach den Grundbegriffen der Kosmopoliten ist daher der Gewinn, den die Menschheit durch heftige und gewaltsame Mittel, sich in einen bessern Zustand zu setzen, erhält, mehr scheinbar als wirklich. Ihrer Ueberzeugung nach verliert sie dadurch immer auf der einen Seite, was sie auf der andern gewinnt, und würde in längerer Zeit, mit unendlich weniger Aufopferungen, das nämliche Gute oder vielmehr ein weit größeres erhalten haben, wenn die Vernunft allein die Kräfte, die dazu angewendet wurden, geleitet hätte. Ja selbst diesen mehrern Aufwand von Zeit sehen sie als keinen Verlust an, da vermöge der Natur der Dinge eine größere Vollkommenheit und Dauerhaftigkeit des Guten, das auf diesem natürlichen Wege gewonnen wird, die unfehlbare Frucht desselben ist.

418 Uebrigens ist die anscheinende Neutralität, welche von den Kosmopoliten in den meisten Fällen, wo der Staat in Parteien zerfällt, beobachtet wird, nichts weniger als Gleichgültigkeit gegen die gute Sache; sondern gerade ihr erleuchteter und wohl geordneter Eifer für die gute Sache ist die Ursache, warum sie sich (zwei Fälle allein ausgenommen) für keine Partei erklären. Gewöhnlich liegt die gute Sache zwischen den Parteien, deren keine weder ganz Recht noch ganz Unrecht hat, mehr oder weniger in der Mitte; und die Kosmopoliten, deren Urtheil von keinen Leidenschaften verfälscht, von keinen Nebenabsichten irre geführt wird, finden bei aller ihrer anscheinenden Ruhe und Unthätigkeit tausend Gelegenheiten und Mittel, viel Böses zu verhindern und viel Gutes zu thun, die ihnen entgehen würden, wenn sie sich öffentlich und ausschließlich für eine Partei erklärten.

Ich kenne (vorberührter Maßen) nur zwei Fälle, wo die Kosmopoliten sich mit einer Partei gegen eine andere vereinigen.

Der erste ist, wenn es moralisch gewiß ist, daß ihr öffentlicher Beitritt der guten Sache wirklich den Ausschlag geben würde; der andere, wenn eine offenbar Unrecht leidende Partei in Gefahr wäre, ohne ihren Beistand gänzlich unterdrückt zu werden, oder wenn eine Partei die andere mit einer die Menschlichkeit empörenden Grausamkeit behandelte. So konnte z. B. in den niederländischen Unruhen unter Philipp dem Zweiten und seinem teuflischen Werkzeuge, dem Herzog von Alba, kein Kosmopolit anders als Partei gegen diese Unmenschen nehmen. So würde (als ein Beispiel des ersten Falles), wenn die künftigen Repräsentanten der französischen Nation auf den guten Gedanken kämen, der willkürlichen Gewalt des Königs und seiner Minister 419 zweckmäßige und der Natur ihres Staates angemessene Schranken zu setzen, kein Kosmopolit einen Augenblick anstehen können, diese Partei, solange sie in den oben bezeichneten Grenzen bliebe, aus allen seinen Kräften zu unterstützen.

 

XI.

Die Kosmopoliten behaupten, es gebe nur eine Regierungsform, gegen welche gar nichts einzuwenden sey, und dieß ist, sagen sie, die Regierungsform der Vernunft. Sie bestände darin, wenn ein vernünftiges Volk von vernünftigen Vorgesetzten nach vernünftigen Gesetzen regiert würde. – Es braucht wohl kaum erinnert zu werden, daß das Wort vernünftig hier in seiner eigentlichen Bedeutung genommen wird, nicht in der, wo es die blose Fähigkeit, vernünftig zu werden, sondern in der, wo es die wirkliche Thätigkeit der Vernunft und die volle Ausübung der ihr zustehenden Herrschaft über den thierischen Theil der menschlichen Natur bezeichnet.

Daß diese Regierungsform noch unter die Dinge gehöre, die zwar Jedermann in gewissen Augenblicken wünscht, die aber noch nie da gewesen sind, wird schwerlich irgend ein vernünftiger Mensch zu leugnen begehren. Aber, daß sie nicht nur möglich sey, sondern daß alle bürgerliche Gesellschaft, vermöge einer innern Nothwendigkeit, nach ihr strebe und – wie langsam auch immer der Fortschritt seyn mag – ihr mit der Zeit immer näher komme, ist ein Lieblingsgesetz der Kosmopoliten, dessen Wahrheit auf keinem schwächern Grunde beruht, als auf dem großen, ihrer Meinung nach unumstößlichen moralischen Axiom: »Daß, vermöge einer unfehlbaren 420 Veranstaltung der Natur, das menschliche Geschlecht sich dem Ideal menschlicher Vollkommenheit und daraus entspringender Glückseligkeit immer nähere, ohne es jemals zu erreichen.«

Ihrer Meinung nach sind alle bisher bekannte Regierungsformen eben so viele natürliche Stufen, auf welchen die menschliche Gesellschaft zur vollkommensten, zur Regierung der Vernunft empor steigt. Eine jede derselben bildete sich anfangs auf eine blos natürliche Art gleichsam von selbst, war fast immer das Werk zufälliger Ursachen, momentaner Bedürfnisse, persönlicher Vorzüge und Verdienste auf Seiten der Regenten, freiwilliger Zuneigung oder Dankbarkeit auf Seiten des Volks. Jede war den besondern Umständen des letztern, der niedrigern oder höhern Stufe seiner Cultur, dem Himmelsstrich, unter welchem es wohnte, der Lage und physischen Beschaffenheit des Landes, der Nahrung und Lebensweise, dem National-Temperamente u. s. w. bald mehr bald weniger angemessen.

In jenen ältesten Zeiten, die man mit Recht die Kindheit der Welt nennt, wirkte die Vernunft meistens nur als Instinct. Die Menschen, noch Kinder an Erfahrung, sinnlich, lebhaft, leichtsinnig, unruhig und ungeduldig wie die Kinder, sorgten immer nur für den gegenwärtigen Augenblick und sahen wenig mehr als Kinder – von der Zukunft, d. i. von den natürlichen, aber langsamen Folgen des Gegenwärtigen, voraus. Wenige unter den Völkern der ältern Zeiten wußten den Werth der Freiheit gehörig zu schätzen; noch wenigere wußten Freiheit mit bürgerlicher Ordnung und die Künste des Kriegs (der gewissermaßen der natürliche Zustand roher Menschen ist) mit den Künsten des Friedens zu verbinden. Die Griechen wußten es, und durch sie – 421 deren Verdienste um die Menschheit nie genug erkannt werden können – wurde Europa nach und nach, was es ist und vermuthlich immer bleiben wird, das wahre Vaterland der Künste und Wissenschaften, der Welttheil, worin die Cultur aufs Höchste gestiegen, und der, wiewohl der kleinste, kraft der unendlichen Obermacht, welche seine Bewohner durch die ungleich größere und immer fortschreitende Ausbildung aller menschlichen Naturfähigkeiten über die übrigen Völker des Erdbodens erhalten, auf immer der herrschende geworden ist.

Aus bekannten Ursachen erfolgte indessen die eben so bekannte Wirkung, daß – bei dem schnellsten Fortschritte der Cultur in einzelnen Künsten und Wissenschaften, die von der Erfindsamkeit, der Betriebsamkeit, dem hartnäckigen Fleiß und dem Wetteifer, den die Mitbewerbung hervorbringt, abhangen – die höchste Kunst aller Künste, die königliche Kunst, Völker durch Gesetzgebung und Staatsverwaltung in einen glücklichen Zustand zu setzen und darin zu erhalten, verhältnißmäßig am weitesten zurück geblieben ist. Noch immer liegt der größere und schönere Theil von Europa unter einem die edelsten Kräfte der Menschheit erstickenden Drucke, dem schweren Druck der Ueberreste der barbarischen Verfassung, der Unwissenheit und der Irrthümer eines rohen und finstern Jahrtausends. Noch sind in einigen unsrer mächtigsten Reiche die Rechte des Throns nicht aus einander gesetzt, nicht gegen einander abgewogen und dem ersten Grundgesetz aller bürgerlichen Gesellschaft gemäß bestimmt. Noch gibt es Staaten, wo nicht die allgemeine Vernunft, sondern der oft sehr blödsichtige Verstand und der schwankende Wille eines Einzigen oder der Wenigen, die sich seiner Autorität zu bemächtigen wissen, die Quelle der Gesetze ist. Noch wird das, was man Justizpflege nennt, in den meisten Ländern durch 422 barbarische oder schlecht zusammen hangende und auf Zeit und Umstände übel passende Gesetze geschändet. Noch ist in vielen Staaten nichts ungewisser, als die Sicherheit des Eigenthums, der Ehre, der Freiheit und des Lebens der Bürger. – Und Alles dieß in Europa! in einem Jahrhundert, wo Kunst und Wissenschaft, Geschmack, Aufklärung und Verfeinerung in verhältnißmäßig kurzer Zeit Stufen erstiegen haben, von deren Höhe man mit einer Art von Schwindel auf die vorigen Jahrhunderte herunter sieht!

Aber auch in diesen wichtigen und zum Glück der Völker so wesentlichen Stücken scheint sich (wenn uns unser Vertrauen nicht betrügt) der gegenwärtige Zustand von Europa einer wohlthätigen Revolution zu nähern; einer Revolution, die nicht durch wilde Empörungen und Bürgerkriege, sondern durch ruhige, unerschütterlich standhafte Beharrlichkeit bei einem pflichtmäßigen Widerstand – nicht durch das verderbliche Ringen der Leidenschaften mit Leidenschaften, der Gewalt mit Gewalt, sondern durch die sanfte, überzeugende und zuletzt unwiderstehliche Uebermacht der Vernunft bewirkt werden wird; kurz, einer Revolution, die, ohne Europa mit Menschenblut zu überschwemmen und in Feuer und Flammen zu setzen, das blose wohlthätige Werk der Belehrung der Menschen über ihr wahres Interesse, über ihre Rechte und Pflichten, über den Zweck ihres Daseyns und die einzigen Mittel, wodurch derselbe sicher und unfehlbar erreicht werden kann, seyn wird. – Was zu diesem Ende im Laufe des gegenwärtigen Jahrhunderts schon geschehen, ist bekannt: was im Werden ist, wird vielleicht noch vor Verfluß desselben entschieden und von den wichtigsten Folgen seyn; und man kann sich darauf verlassen, daß die Kosmopoliten bei Allem diesem keine müßige Zuschauer abgeben. 423

 

XII.

Es erhellet aus dem vorhin Gesagten, daß die Kosmopoliten die noch jetzt bestehenden Regierungsformen, so zu sagen, als blose Gerüste zu Aufführung jenes ewig bestehenden Tempels der allgemeinen Glückseligkeit betrachten, woran in gewissem Sinne alle vorgehende Jahrhunderte gearbeitet haben.

Aber Despotismus ist nach ihren Begriffen eine barbarische Regierungsform, welche, um lange bestehen zu können, Umstände und Bedingungen voraussetzt, die bei den aufgehellteren Nationen Europens nicht mehr denkbar sind. Ueberhaupt ist er diesem Welttheile, selbst in den Zeiten, die der Cultur und Aufklärung vorher gegangen, immer unbekannt gewesen. Jahrtausende lang war Freiheit das Element sowohl seiner rohen, als seiner policirten und gebildeten Bewohner. Alle Stifter der heutigen europäischen Reiche waren Anführer freier Menschen; und wo findet sich (ein einziges nordisches ausgenommen) eine öffentliche Acte, wodurch in einem der übrigen das Volk förmlich und feierlich seinem Freiheitsrecht entsagt hätte? Kann nicht vielmehr im Gegentheil aus der Geschichte deutlich dargethan werden, daß Alles, was der Thron in einigen Staaten über die unleugbaren Rechte der Nation gewonnen hat, entweder hinterlistig erschlichen oder gewaltsamer Weise usurpirt und erzwungen worden ist? Aber, könnte man auch beweisen, daß unsere Vorfahren jemals dumm genug gewesen wären, in ihre Unterdrückung einzuwilligen und es auf die blose Willkür eines oder mehrerer Menschen ankommen zu lassen, wie er oder sie über ihre Personen und ihr Eigenthum schalten wollten; was könnte eine solche Thatsache im Wege des Rechts den 424 Ansprüchen ihrer Nachkommenschaft schaden? Gegen die ewigen Gesetze der Vernunft, gegen die wesentlichen Rechte der Menschheit, gilt kein Verzicht, keine Verjährung, keine Verabsäumung der Gelegenheit, sie geltend zu machen oder anzusprechen. Das Erste, was Menschen, unter welcher Regierungsverfassung sie leben, zu fordern haben, und was ihnen nur ein erklärter Tyrann streitig machen könnte, ist, »Menschen zu seyn,« – und Menschen können sie nicht seyn, wenn sie Sklaven sind.

Die Anwendung dieser großen Grundwahrheit, die auch der schamloseste Schmeichler und verworfenste Knecht der Gewalthaber zu leugnen sich nicht unterstehen darf, ist reich und fruchtbar an eben so unleugbaren Folgerungen, die den Kosmopoliten gegründete Hoffnung geben, daß Europa zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts dem, was sie die Regierungsform der Vernunft nennen, um ein Großes näher gekommen seyn werde, als es dermalen ist. Das wohlthätige Licht, das sich immer weiter über diesen Welttheil ausbreitet, immer tiefer eindringt und auch das vorgebliche heilige Dunkel der falschen Staatskunst bis in seine geheimsten Höhlen und Winkel durchleuchtet, wird die Völker sowohl als die Regenten immer besser und gründlicher, jene über den Umfang ihrer Rechte und die Grenzen ihrer Pflichten, diese hingegen, umgekehrt, über die so oft überschrittenen Schranken ihrer Rechte und die so oft vergessene Größe ihrer Pflichten belehren. Jene werden einsehen lernen, daß nur ein Blödsinniger sich zumuthen läßt, Gold für gelbe Blätter hinzugeben und sich vor Blitzen von Bärlappenstaub zu fürchten; – daß nur Schafe einem Herrn unterthänig sind, der sie blos darum weiden läßt, um sie zu scheren und, sobald es ihm einfällt oder gelegen ist, abzuschlachten; – und daß es 425 nur an ihnen liegt, Spinnefäden, die sie in einer seltsamen Verblendung für unzerreißliche Stricke gehalten haben, für Spinnefäden zu erkennen. Auf der andern Seite wird die allmächtige Noth endlich auch den Regenten, die dessen bedürfen, die Augen öffnen und sie aus der traumähnlichen Täuschung erwecken, worin die meisten von ihnen ihr eigenes wahres Interesse von jeher so sehr verkannt haben. Aus innerster Ueberzeugung, daß es für die Inhaber der obersten Staatsgewalt unendliche Mal besser ist, über freie, thätige und glückliche Menschen, als über thierische, muthlose, langsam verhungernde Sklaven – besser, über volkreiche, blühende und überall durch die Wirkungen des Fleißes, der Betriebsamkeit, der Künste und des Reichthums verschönerte Länder, als über armselige Hütten und verwildernde Einöden zu regieren – werden sie sich willig der verhaßten Macht, gegen ihre Absicht Unheil anzurichten, entäußern, um desto unbeschränkter nichts als Gutes thun zu können; und indem sie sich einer Art von Gewalt, die keinem Gott, geschweige einem Menschen zukommen kann, begeben, werden sie aus innerer Ueberzeugung nichts verlieren, wohl aber sehr viel zu gewinnen glauben.

Es wäre wohl zu sanguinisch gehofft, wenn wir uns eine so wohlthätige Revolution von einem großmüthigen Entschluß, ihren eigenen Vortheil dem allgemeinen Besten aufzuopfern, versprechen wollten; aber, da sie so augenscheinlich ihr eignes höchstes Interesse ist, so läßt sich mit bestem Grund erwarten, daß die Zeit, wo eine so evidente Wahrheit auch bis zu ihnen durchdringen wird, nicht mehr so ferne sey, als viele Kleingläubige sich einbilden. Noth lehrt nicht nur beten; sie lehrt auch denken: und wenn man erwägt, wie groß und wie ausgebreitet oft der Nutzen eines 426 einzigen vernünftigen Gedankens ist, den ein Regent zu rechter Zeit hat; so können die Freunde der Menschheit nicht umhin, sich zu freuen, daß manche es so eifrig darauf angelegt zu haben scheinen, sich recht bald in diese heilsame Nothwendigkeit zu setzen.

 

XIII.

Da die vernunftmäßigste Verfassung und Regierung der Völker, welcher (nach dem System der Kosmopoliten) der ganze Zusammenhang der menschlichen Dinge mit langsamen, aber desto festern Schritten sich nähert, durch nichts mehr beschleunigt werden kann, als durch die möglichste Cultur der Vernunft, die möglichste Ausbreitung aller Grundwahrheiten, die möglichste Publicität aller Thatsachen, Beobachtungen, Entdeckungen, Untersuchungen, Vorschläge zu Verbesserungen oder Warnungen vor Schaden, deren Bekanntmachung einzelnen Gesellschaften und Staaten oder dem menschlichen Geschlechte überhaupt nützlich seyn kann; so betrachten die Kosmopoliten die Freiheit der Presse, ohne welche dieß Alles nicht bewerkstelliget werden könnte, als das dermalige wahre Palladium der Menschheit, von dessen Erhaltung alle Hoffnung einer bessern Zukunft abhängt, dessen Verlust hingegen eine lange und schreckliche Folge unabsehbarer Uebel nach sich ziehen würde.

Man beurtheile diese Sache weder einseitig noch obenhin! Wir wissen, was sich in einer lustigen Laune darüber witzeln oder in einer finstern darüber seufzen läßt; und eben so bekannt sind uns die mehr oder weniger scheinbaren Gründe, womit man eine vorgebliche Nothwendigkeit, der Preßfreiheit willkürliche Schranken zu setzen, aufstutzen und anstreichen 427 will. Aber sie fallen von sich selbst zusammen, wenn man bedenkt, daß die Freiheit selbst verloren ist, sobald ihr andere und engere Schranken gesetzt werden, als die Natur der Sache zuläßt. Nun ist aber schon längst unumstößlich erwiesen, daß man der Preßfreiheit (ohne sie nach und nach so lange zu beschneiden, bis nichts mehr von ihr übrig bliebe) gar keine andere Schranken setzen darf, als diejenigen, die jedem Schriftsteller, Buchhändler und Buchdrucker durch das gemeine bürgerliche und peinliche Recht gesetzt sind. Alle Schriften nämlich, deren Bekanntmachung in jedem policirten Staate, wie groß auch die persönliche Freiheit in demselben seyn mag, ein Verbrechen ist und es vermöge der Natur der Sache seyn muß – also Schriften, welche solche directe Beleidigungen einzelner benannter oder deutlich bezeichneter Personen enthalten, die in den bürgerlichen Gesetzen verboten und verpönt sind – Schriften, welche geradezu Aufruhr und Empörung gegen die gesetzmäßige Obrigkeit zu erregen suchen – Schriften, welche geradezu gegen die gesetzmäßige Grundverfassung des Staats gerichtet sind – Schriften, welche geradezu auf den Umsturz aller Religion, Sittlichkeit und bürgerlichen Ordnung arbeiten – alle solche Schriften sind in jedem Staat eben so gewiß strafwürdig als Hochverrath, Diebstahl, Meuchelmord u. s. w. Aber das Wörtchen direct oder geradezu ist hier nichts weniger als müßig; es ist so wesentlich, daß die ganze Strafwürdigkeit einer angeklagten Schrift gänzlich auf ihm beruhet. Denn, sobald es irgend einem bestellten Büchercensor oder dem bürgerlichen Richter erlaubt wäre, eine Schrift durch Folgerungen, die von seiner Vorstellungsart, seiner besondern Meinung oder seinen Vorurtheilen, dem Grade seines Verstandes oder Unverstandes, seiner Sachkenntniß oder Unwissenheit, der Schiefheit 428 oder Richtigkeit seines innern Auges, der Lauterkeit oder Verdorbenheit seines Gefühls und Geschmacks abhingen, zu richten – welches Buch wäre vor der Verdammung sicher? Und wissen wir nicht aus der Erfahrung, daß in Ländern, wo eine so willkürliche Censur herrscht, gerade die vortrefflichsten Bücher die ersten sind, die in das Verzeichniß der verbotenen gesetzt werden?

Es sey also, daß man, um ein Amt mehr zu haben, einen Büchercensor bestellen will, oder daß die Untersuchung über Schriften, die als verbrecherisch angegeben werden, dem ordentlichen Richter überlassen bleibt; immer ist unleugbar, daß jener nur solche Bücher verbieten kann, dessen Verfasser dadurch ein Verbrechen begangen hat, worüber dem bürgerlichen Richter die Erkenntniß zusteht. Ueber die Frage, ob der Inhalt des Buches alt oder neu, interessant oder unbedeutend, nützlich oder schädlich sey, ob der Autor wohl oder übel raisonnire, hat kein anderer Censor zu erkennen als das Publicum und die Zeit, welche die entscheidenden Stimmen sammelt und bekannt macht; viel weniger kann aus irgend einem solchen Vorwand ein Buch mit Gewalt unterdrückt werden, ohne sich an den wesentlichsten Rechten der Gelehrten-Republik zu vergreifen, die (eben so wie die christliche) vom Staat ganz unabhängig ist, solange sie nichts gegen seine Grundsätze unternimmt. Die Wissenschaften, die Literatur und die Buchdruckerkunst, die edelste und nützlichste aller Erfindungen, die seit Erfindung der alphabetischen Schreibekunst gemacht worden sind, gehören nicht diesem oder jenem Staate, sondern dem menschlichen Geschlechte zu. Wohl dem Volke, das ihren Werth zu schätzen weiß, sie aufnimmt, pflegt, aufmuntert, schützt und in der Freiheit, die ihr Element ist, ungehindert leben und weben läßt!

429 Vor allen andern Völkern hat die deutsche Nation vorzüglich Ursache, eine Beschützerin der Preßfreiheit zu seyn; sie, in deren Schoße zuerst die Erfinder der Typographie und bald darauf die muthvollen Männer entstanden sind, die blos durch den freien Gebrauch, den sie von jener machten, fähig wurden, die Hälfte Europens von der Tyrannei des römischen Hofes zu befreien, die Rechte der Vernunft gegen uralte Vorurtheile zu behaupten und den unabhängigen Geist der Untersuchung, der nach und nach über alle Gegenstände der menschlichen Kenntniß ein so wohlthätiges Licht verbreitete, aus einem mehr als tausendjährigen Schlummer aufzuwecken. Wie übel stände es uns an, unsere eigenen Wohlthaten wieder zurück nehmen, den Fortgang der Wissenschaften mitten in ihrem muntersten Lauf aufhalten und der Aufklärung, der wir so viel Gutes schon zu danken haben, und von welcher wir und unsere Nachkommen noch so viel Besseres uns versprechen dürfen, unnatürliche Grenzen setzen zu wollen, da sie doch vermöge der Natur des menschlichen Geistes eben so grenzenlos ist als die Vollkommenheit, wozu die Menschheit mit ihrer Hülfe gelangen kann und soll!

Uebrigens werden die Kosmopoliten nie ein Geheimniß daraus machen, daß die Preßfreiheit keinen eifrigern Verfechter haben kann, als ihren Orden; da sie in der That das einzige Mittel ist, wodurch er zur Beförderung seines oben angezeigten Zwecks in einem größern und seinen Kräften angemessenen Kreise thätig seyn und dadurch eine seiner wesentlichsten Pflichten erfüllen kann. Wahrlich, wenn diejenigen, die kein höheres Interesse kennen als Wahrheit, nicht frei sollten reden dürfen, »so müßten endlich – die Steine zu schreien anfangen.«

 


 


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