Christoph Martin Wieland
Athenion
Christoph Martin Wieland

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2.

Ungefähr hundert und dreißig Jahre vor der christlichen Zeitrechnung lebte zu Athen ein gewisser Athenion, Bürger und Philosoph daselbst; denn er gehörte zu der Schule des Peripatetikers Erymnäus, von dessen Leben und Thaten aber weiter nichts bis zu uns gekommen ist, als »daß er, ungefähr um diese Zeit, der Schule des Aristoteles oder dem sogenannten Lyceum vorgestanden haben soll.« Dieser Athenion schaffte sich in seinen alten Tagen eine ägyptische Sklavin an. Diese Sklavin gebar nach einiger Zeit einen Sohn; und dieser Sohn, der nach dem Namen seines Patrons Athenion genennt wurde, ist der Held der gegenwärtigen Geschichte. Wer auch der Vater seyn mochte, vermuthen läßt sich's wenigstens, daß es der Philosoph Athenion so gut seyn konnte als ein Anderer; und daß er es vielleicht selbst glaube, schlossen Viele daraus, weil er auf den jungen Menschen, nachdem er herangewachsen war, eine besondere Neigung warf und ihn sogar zum Erben einsetzte.

Indessen wollen wir denen, welche vielleicht, um der Ehre der peripatetischen Philosophie willen, lieber sehen möchten, daß der alte Athenion schußfest gegen die Reize der ägyptischen Magd geblieben wäre, unverhalten lassen, daß seine Freigebigkeit gegen den Sohn seiner Sklavin eben sowohl die blose Erkenntlichkeit für die besondere Treue, womit ihm der junge Mensch zugethan war, als ein stärkeres natürliches Gefühl zur Quelle gehabt haben könne. Denn die Geschichte sagt: als der Philosoph endlich vor hohem Alter schwach und unvermögend geworden, habe Athenion ihn überall, wo er gegangen und gestanden, an der Hand geführt, und Mutter und Sohn hätten ihm bis ans Ende alle die 311 Treue und Hülfleistung bewiesen, die er nur immer von der zärtlichsten Gattin und dem dankbarsten Sohn hätte erwarten können.

Diese besondere Treue und Ergebenheit konnte von Seiten des jungen Menschen die blose reine Wirkung seiner Dankbarkeit gegen seinen alten Wohlthäter seyn; sie konnte aber eben sowohl die blose reine Wirkung seiner Neigung zur Verlassenschaft desselben seyn. Wir erinnern dieses beiläufig denen zu Lieb, welche (mit weniger Menschenkenntniß als Gutherzigkeit) immer geneigt sind, von jedem Schein der Tugend das Beste zu denken, und sich dadurch der Unlust aussetzen, unter zehn Fällen gewöhnlich sieben oder acht Mal richtig betrogen zu werden. Wahr ist's, daß sie dafür auch von jedem Schein des Bösen das Aergste zu denken pflegen, und nicht wenig betroffen sind, wenn sich (wie öfters) am Ende zeigt, daß unter zweien der, den sie für den bösen Menschen ansahen, der gute, und der, für dessen Rechtschaffenheit sie sich verbürgt hätten, der Bösewicht ist.

Wie dem aber auch in gegenwärtigem Falle seyn mochte, genug, der Sohn der Aegypterin fand nach dem Tode des Alten, dessen präsumirter Sohn und Erb er war, Mittel, sich das athenische Bürgerrecht zu verschaffen, welches in diesen Zeiten nicht mehr so wichtig als im Jahrhundert des Perikles und Demosthenes und daher auch leichter zu erhalten war. Da er zu solchem Ende in eine von den athenischen Zünften eingeschrieben werden mußte, so vertauschte er bei dieser Gelegenheit seinen bisherigen Namen Athenion mit Aristion, den er in der Folge immer geführt hat, und unter welchem er bei den Alten, welche von ihm sprechen, vorkommt. 312



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