Christoph Martin Wieland
Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Africa
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

1.

Es gibt harte Köpfe, welche nicht begreifen können: »daß äußerliche Formen der Tugend nicht die Tugend selbst sind; daß gewisse lächerliche Gebräuche, womit bei gewissen Völkern, z. B. bei den Hottentotten und Kamtschadalen, gewisse ehrwürdige Handlungen begleitet werden, diesen Handlungen nicht das Geringste von ihrer innerlichen Würdigkeit benehmen; und daß (unparteiisch von der Sache zu reden) ein nacktes Mädchen in Californien, trotz ihrer Nacktheit, wenigstens so züchtig seyn kann, als die ehrsame Dame Quintagnone, Oberhofmeisterin der Königin Genievre (für welche wir übrigens alle gebührende Ehrfurcht tragen), in ihrem großen Kragen und in ihrer wohl ausgesteiften sehr decenten und sehr barockischen Vertugade.

Einer von diesen Leuten – doch, was hindert uns, gewissen spitzfindigen Forschern eine Mühe zu ersparen und es gerade heraus zu sagen, daß es ein alter ägyptischer Priester, aus den Zeiten des Königs Psammuthis des Dritten, war? – kam, wir wissen nicht wie, noch warum, in ein Land im innern Africa, wo er eine kleine Völkerschaft von fingernackten Leuten unschuldig und zufrieden unter ihren Palmbäumen wohnen fand.

Zum Unglück für dieß gute Völkchen war dieser Reisende – den unsere Nachrichten Abulfauaris nennen – kein Gymnosophist. Indessen hatte er doch Augen und, was einem 244 jeden Priester Ehre macht, ein gewisses natürliches Gefühl, welches ihn wahrnehmen ließ, daß diese nackten Leute sehr unschuldige Sitten hatten.

Er gestand in dem Berichte, den er dem Könige Psammuthis nach seiner Zurückkunft von dieser Reise erstattete: – »daß die Aegypter – ungeachtet unter allen Nationen des Erdbodens sie allein (wie er aus Patriotismus und – Unwissenheit meinte) sich rühmen könnten, Religion, Polizei und Sitten zu haben – dennoch in gewissen Tugenden von diesen unglücklichen Wilden unendlich übertroffen würden. Nichts gleicht, sagte er, der Sittsamkeit ihrer Töchter, als das anständige Betragen der Jünglinge, denen alle diese Ausschweifungen, welchen bei uns die strengsten Strafgesetze kaum Einhalt thun können, etwas gänzlich Unbekanntes sind. Knaben und Mädchen werden von der Kindheit an gewöhnt, bis ins achtzehnte Jahr der ersten und ins fünfzehnte der andern von einander abgesondert zu seyn. Nur von dieser Zeit an ist es ihnen erlaubt, an festlichen Tagen, in Gegenwart ihrer Eltern, mit einander zu spielen und zu tanzen. Denn, da dieses das Alter ist, worin alle junge Leute, insofern keine natürliche Untüchtigkeit es verhindert, verbunden sind, sich zu verehlichen: so sieht man es gern, daß die Ehestandscandidaten beiderlei Geschlechts einander vorher kennen lernen, um eine Wahl zu treffen, welche bei diesem Volke lediglich dem Herzen überlassen wird.

»Die Ehe (setzt er hinzu) ist in ihren Augen etwas so Ehrwürdiges, daß sie keinen Begriff davon zu haben scheinen, wie man einer solchen Verbindung ungetreu seyn könne. Ein Mann oder eine Frau, welche sich dieses Vergehens schuldig machten, würden auf lebenslang für unehrlich gehalten und von aller Gesellschaft ausgeschlossen werden. Allein man hat 245 von Menschengedenken her kein Beispiel, daß sich dieser Fall zugetragen hätte.« – –

Armes, ehrliches Völkchen, was hattest du gethan, um mit einem Priester der Isis heimgesucht zu werden!



 << zurück weiter >>