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Ernst Wiecherts Leben und Werk

Ernst Wiechert gehört zur Frontkämpfergeneration. Sein Schicksal spiegelt das Schicksal gerade der Wertvollsten wider, die durch die tragikerfüllten Geschehnisse des Weltkrieges mit allen daraus entstandenen Folgen, mit den Umstürzen und Schrecknissen, geschritten sind. Die unerhörten Spannungen zwischen Altem und Neuem, die das Ganze des Lebens in Gegensätze zerfetzten und zerklüfteten, haben ihn mit unausdenklicher Gewalt ergriffen und schwerste Erschütterungen in ihm hervorgerufen. Durch bitterhartes Leiden und Ringen mußte er hindurch, wobei ihm Um- oder Irrwege wie jedem wirklich schöpferischen Menschen nicht erspart geblieben sind, ehe sich sein ureigenstes, freiwollendes Selbst herauszukristallisieren begann.

Bei all den Krisenstimmungen, die ihn aufwühlten und zerrissen, blieben dem Dichter die Erlebnisse seiner Kindheit unverlierbarer Besitz. Im äußersten Osten unseres Vaterlandes, im Forsthause Kleinort (Masuren) in der Johannisburger Heide, ist er am 18. Mai 1887 geboren worden, über seine Heimat schreibt er im »Knecht Gottes Andreas Nyland«: »Es ist ein dunkles Land, und die Menschen sind sehr still, und die Vögel singen trauriger als anderswo.« Die Unermeßlichkeit und die Urwüchsigkeit der mächtig rauschenden Wälder, die Verlassenheit und die Einsamkeit der Moore haben sein Wesen geprägt. Insbesondere wurde ihm der Wald zu einem elementaren Erlebnisse: in ihm fand er »Geheimnis und Wunder, Grauen und Süße, Sehnsucht und Geborgenheit, Sprache und Schweigen, Zeit und Ewigkeit«. Und immer mehr verdichtete sich ihm dieser dunkle Wald zum Symbol; er wurde ihm zum »Urgrund der Dinge, aus dem die Sonne stieg und der Silberglanz der Sterne, aus dem Mensch und Tier sich hoben, Engel und Dämonen, der Feuermann und die Schöne mit den sieben Schleiern«. Die Schwermut der östlichen Landschaft wuchs in das Blut Wiecherts, durchdrang sein ganzes Sein und verband ihn unlöslich mit der heimatlichen Erde. Der Dichter berichtet von sich selbst, daß er ein stilles Kind gewesen ist, von einer leisen Trauer beschattet. Fremdes Leid fühlte er als sein eigenes und erschütterte ihn tief, ganz gleich ob es sich um die Tränen seiner schwermütigen Mutter handelte oder um das Klagen jungen verirrten Geflügels. Geschichten aus der Bibel oder Bürgers »Lenore« bewegten ihn so, daß er manche Träne vergoß. Mit der ganzen Inbrunst der kindlichen Seele liebte er neben den Blumen die Tiere, die ihm zu Brüdern wurden. So hegte und pflegte er z. B. mit aller Hingabe einen Kranich, der oft an seinem Herzen schlief. Frühzeitig spann er seine eigenen Träume, von einer ursprünglichen Phantasie genährt, und allmählich erwuchs in ihm eine unstillbare, unwiderstehliche Sehnsucht nach Großem und Leuchtendem.

Mit dem elften Jahre wurde Wiechert aus der Welt seiner Kindheit gerissen. Er mußte die unendlichen masurischen Wälder und die weiten Heidemoore mit der Enge der steinernen Stadt vertauschen, wo »das Lebendige hinter Gittern stand«. Aus der Natureinsamkeit wurde er in das Hasten und Treiben des modernen Getriebes gestoßen. Man setzte ihn in eine Welt hinein, die berauscht war von dem Glauben an ihre Vorzüge und Fortschritte. Der Prozeß der Anpassung und Einfügung war von vielen Schmerzen begleitet. Zunächst verlief sein Leben in durchaus geregelten Bahnen. Von 1898 bis 1905 besuchte Wiechert die Kgl. Oberrealschule auf der Burg in Königsberg. Hierauf bezog er die Albertus-Universität, um Naturwissenschaften, Deutsch, Philosophie, Erdkunde und Englisch zu studieren. Nach bestandener Staatsprüfung trat er in den Lehrberuf ein. Während dieser ganzen Zeit war Wiechert redlich bemüht, den damaligen Verhältnissen Rechnung zu tragen und sich mit den herkömmlichen Anschauungen, Meinungen, Autoritäten der herrschenden Kreise abzufinden. Aber eine wirklich tief innere Befriedigung und eine wahrhaftige Beglückung fand er nicht. Auch die Wissenschaft vermochte ihn letzten Endes nicht zu bannen, weil sie ihm mit ihrer Stoffülle und Begriffsakrobatik zu substanzlos war und nicht in das Wesenhafte des Lebendigen und des Göttlichen eindrang. Ebenso konnte er in seiner bürgerlichen Existenz mit ihrer gleichbleibenden Schablone nicht das satte Behagen finden, wie es bei so vielen anderen der Fall war. Es blieb deshalb nicht aus, daß ihm bei seiner trotzigen Wahrhaftigkeit und Unbestechlichkeit in zunehmendem Maße die Unzulänglichkeiten des kurzdenkenden Optimismus und der oberflächlichen Kulturauffassung der Fortschrittsphilister aufgingen. Immer mehr enthüllten sich ihm die vielfach gepriesenen Herrlichkeiten der zivilisatorischen Nützlichkeitmenschen als Blendwerk und Firnis. Deshalb wurde die Auseinandersetzung mit der Welt unvermeidlich, deshalb begann der Kampf mit den Götzen der braven, mit Rücksicht auf Nutzen und Erfolg ihre Schritte lenkenden Menschen. Wiecherts instinktiv richtig fühlende und empfindende Waldseele mußte wider die moralischen Gifte, Verhüllungen, Schleichwege und sonstigen verderblichen Erscheinungen des modernen Lebens zu Felde ziehen. Mit unwiderstehlicher Gewalt drängte es ihn zum Bekenntnis. Sein packender, tief erlebter Wertherroman »Die Flucht« entstand.

Mit der Kritik waren aber die herrschenden Anschauungen und Grundsätze noch nicht überwunden und damit ein vorwärts deutender Weg für einen positiven Aufbau noch nicht gefunden. Dazu mußten erst die aufwühlenden wilden Erlebnisse des Krieges und des Zusammenbruchs kommen, die Wiechert in die Augen des unerbittlichen Schicksals blicken ließen. Freilich bewirkte die völlige Loslösung von allen bisherigen Bindungen in seinem Inneren zunächst ein Chaos, das ihn verwirrte. Nur die Sehnsucht seiner Kindertage ließ stärker denn je ihre schwermütige Weise in ihm erklingen. Sie gewann gestaltetes Leben in seinem zweiten Buche »Die blauen Schwingen«, das an der galizischen Front begonnen und in den Stollen der Champagne beendet wurde. Eine sagenhafte Wehmut liegt über diesem Roman, in dem die Liebe als Schicksalsmacht symbolisch gebildet worden ist.

Wiechert fühlte in dem Umsturz und Wirrsal der Zeiten, daß er noch einmal beginnen mußte, daß eine vollständige Wandlung und Wiedergeburt des inneren Menschen notwendige Voraussetzung für die Erneuerung des Vaterlandes war. Mit Recht erwartete er, daß auch im Bewußtsein der anderen diese Einsicht aufleuchten müßte. Zu seiner größten Enttäuschung und zu seinem tiefsten Schmerze erlebte er aber, daß sich die meisten gedankenlos mit den gegebenen Tatsachen abfanden, daß im Gegenteil der selbstsüchtig gierige Daseinswille mehr denn je triumphierte. Mit Schaudern sah er in unserem Deutschland der Nachkriegszeit die Entartungen, Verwirrungen und Abgründe, die man durch eine feige Weltbeschönigung zu verdecken suchte. Furchtbar litt er unter dem Leid und Jammer, von denen unser Volk heimgesucht wurde. Haß und Zorn loderten in ihm auf gegen die naturentfremdete Zivilisation, vor allem aber gegen die Vertreter einer bequemen und verflachenden Daseinsweise, gegen die Ausbeuter, Heuchler und Scheinheiligen, die ihre wahre, selbstsüchtige Gesinnung so geschickt hinter einer Maske zu verbergen verstanden. Es war ein leidenschaftlicher Kampf, den Wiechert in sich ausfocht; handelte es sich doch dabei letzten Endes um den Sinn des Lebens überhaupt, um Gott. Mit seinem Herzblute schrieb er den »Wald« und den »Totenwolf«. In beiden Werken geht es um die verratene deutsche Seele, die durch die ihr wesensfremde Versteinerung der modernen Zivilisation – der Dichter geißelt sie mit unerbittlicher Rücksichtslosigkeit – heimatlos geworden ist. Und eine Rettung ist nur möglich, wenn man das Schicksal des deutschen Menschen wieder an seine unberührten Wälder fesselt, in denen Gott allein lebendig ist.

Nach Wiecherts Bekenntnis ließ ihn aber der Sturm dieser beiden Schöpfungen ohne Glück. Er fühlte nur zu gut, daß Haß keine segensreiche Saat aufgehen läßt. »Er ging in die stillen Kammern seiner Seele und setzte sich an Gottes Herdfeuer und besprach sich mit ihm.« Tief spürte er in den Gründen und Untergründen seines Seins, um dunkel ahnend zur All-Einheit zu dringen. In schwerem Seelenkampfe wurde das erschütternde Bekenntnisbuch »Der Knecht Gottes Andreas Nyland« geboren. Der Haß hat sich in Liebe gewandelt. Nyland will das deutsche Herz, das sich nach Gott und Bruder inbrünstiglich sehnt, in der Nachfolge Christi erlösen. Er will die Düsternisse der leidvollen Menschen freiwillig auf sich nehmen, damit das Leid aufhöre, eine Qual und eine Geißel zu sein. Nach seinem Glauben vermag nur das hilfreiche, unbedingt selbstlose Erbarmen, das nicht Hab und Gut, sondern das Leid teilt, das deutsche Dasein vom Untergang zu retten.

Hatten schon der »Wald« und der »Totenwolf« dem Dichter genug Spott eingebracht, so wurde es nach dem Erscheinen des »Knecht Gottes« noch schlimmer. Viele, leider nur allzu viele fühlten sich von diesem unbequemen Mahner und aufrüttelnden Gewissensprediger getroffen und suchten sich durch wohlfeile Verhöhnung zu rächen. Groß war auch der Kreis derer, die seinem starken Werke einfach verständnislos gegenüberstanden und ihn als Narren zu erledigen suchten. Man wandte sich von ihm ab, ja lästerte und verfolgte ihn. Es wurde immer einsamer um Ernst Wiechert. So schmerzensreich all diese Erfahrungen für den Dichter auch gewesen sind, so wenig konnten sie ihn an seiner Sendung irremachen. Auch die Erkrankung, die ihn seinen Lehrberuf aufzugeben zwang, vermochte nicht ihn zu brechen. Unentwegt folgte er dem Rufe seines Gottes; und das bedeutete für ihn, sich selbst entfalten, das Höchste von sich fordern und es dann auch leisten. In immer erneutem heldischen Ringen ist er am Werke, wie seine weiteren Schöpfungen bezeugen: »Der silberne Wagen«, »Die Flöte des Pan«, »Die kleine Passion«, »Das Spiel vom deutschen Bettelmann«, »Die Magd des Jürgen Doskocil«, »Jedermann, Geschichte eines Namenlosen«, »Die Majorin«, »Die Hirtennovelle«. Des Dichters heißestes Sehnen ist, wie er es bereits 1926 ausgesprochen hat. daß seine Dichtung wie sein fruchtbares Erleben ewig im Wandel sich fühle und nur getreu sei im Trachten nach dem Reich Gottes.

Trotz aller Wandlungen ist aber das Wesenhafte Ernst Wiecherts unverändert geblieben. Im Gegenteil hat das deutsch-nordische Stirb und Werde, hat der Kampf um die Reinheit des Christentums dazu geführt, die in der masurischen Wildnis wurzelnde Eigenwüchsigkeit des Dichters immer reiner und eindeutiger zu entfalten. Indem er aber den Passionsweg seiner Selbstschau ging und in Dichtungen schuf, offenbarte er deutsche Wesenheit. In seinen Schöpfungen wetterleuchtet die uralte unzerstörbare Kraft der germanischen Welt. Erbgut unseres Volkstums hat durch ihn mit ungewöhnlicher Eindringlichkeit und tiefer Seelenhaftigkeit, mit anschaulicher Schilderungskunst und seherischer Gestaltungskraft eine neue Form gefunden. Erst in unseren Tagen beginnt Ernst Wiechert endlich die Würdigung zu finden, die dieser ehrlich ringende deutsche Dichter verdient.

Die hier gebotene Geschichte ist aus dem Novellenbande »Der silberne Wagen« ausgewählt worden. Ein Grundthema, das in mannigfacher Weise abgewandelt wird, verbindet alle sieben Erzählungen: Suchende nach dem Ewigen des natürlichen Daseins vollenden durch die Erschütterung des Lebens ihr Wesen und ihre Aufgabe. Im »Kinderkreuzzug« findet der tapfere kleine Führer der hungernden Kriegskinder, die nach irdischer Sättigung ausziehen, das Reich Gottes, das ihm unverlierbarer Besitz bleiben wird.

Die Novelle ist mit ihrer seelischen Wärme und ihrer melodisch getragenen Sprache, die selbst Unaussprechliches zu vermitteln versteht, eine Probe reifer dichterischer Kraft und künstlerischer Vollendung.

Berlin
Dr. Kurt Krippendorf.

 


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