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[Der Kinderkreuzzug]

Als der Bergmann Peter Hamborn, Soldat ohne Rang in einem der namenlosen Infanterieregimenter zu Ende des großen Krieges, vor dem geschlossenen Tore des väterlichen Anwesens stand, genötigt und bereit, seine bestaubten Füße der Landstraße zuzuwenden, versank die blasse Herbstsonne gerade hinter dem grauen Scheunenfirst. Er wandte seine Augen vor dem finstern Antlitz des Bauern, der ihm gegenüber am Staket lehnte, und hob sie zu dem scheidenden Licht, das goldene Säume um Stroh und Balken legte.

Man konnte von seiner grauen Stirn die schweren Gedanken lesen, in die das Sonnenlicht verwirrend leuchtete, und als er noch einmal über Hof und Garten blickte, war es, deutlich erkennbar, der Blick eines Mannes aus jenen weglosen Jahren, der das Sturmgepäck fester zog, den Helmriemen verkürzte und nun, des leisen Befehles wartend, noch einmal vom dunklen Rande zurücksah auf eine Erde, die ihn, und sei es für Tage oder Stunden, getragen hatte wie seiner Mutter Erde.

»Sie hungern, Vater,« sagte er leise, dicht über des Bauern Antlitz in die Abendwolken blickend. »Schon drei Jahre … und das Kleinste ist erst fünf.«

Der Bauer lehnte sich von innen mit beiden Armen gegen das Tor. »Wer hat dir befohlen,« fragte er, »aus meinem Dienst zu laufen und diese da zu heiraten? Wie die Furche, so die Frucht.«

»Sie wissen nicht mehr, wie Milch und Butter schmeckt,« sagte der andere wieder, dem feierlichen Gang der Wolke folgend.

»Salz und Brot macht Wangen rot.«

»Ihre Augen sind alt, und Jürgen hat nicht mehr gelacht diesmal …«

»Jeden Tag stehen zehn solche vor meinem Tor.«

»Sieh!« sagte der Draußenstehende und hob die Hand gen Himmel, wo goldgerändert eine Wolkenflotte in den Abend fuhr. »In drei Tagen sind wir vielleicht schon so.«

Aber der Bauer zuckte nur mit den Schultern.

Eine Weile stand der Soldat noch in der Gebärde seiner letzten Worte, ernst, fast besorgt den Wolken nachblickend, als sei es ein Geschwader feindlicher Flieger. Dann griff er mit gedankenloser Gewohnheit unter die Riemen seines leeren Rucksacks, wandte sich kurz und schritt der nahen Landstraße zu. Der Staub hob sich zu grauen Wolken unter dem schweren Schritt seiner genagelten Stiefel. Das geflickte, zerschlissene Kleid seines Berufes erschien seltsam arm und freudlos, wie es an den leuchtenden Vogelbeeren des Heckenweges vorüberglitt. Und als er auf der nahen Höhe noch einmal in die letzte Sonne trat und mit gebeugten Schultern sich wendete, war er einem Bettler und Verstoßenen ähnlicher als einem harten Gesellen des Todes, der aus einem Zwischenspiel der Freude zurücktreten sollte in die lodernde Arena blutiger Tat.

Man sah in jenen Wochen, deren früh sinkende Tage an die kommende Zeit des Winters mahnten, viele solcher grauen Wanderer über die deutsche Erde ziehen. Sie hatten alle den schweren Schritt von Kolonnen, die ganze Länder hinter sich gelassen hatten wie ehemals Dörfer und Jahrmärkte, alle dasselbe schweiß- und erdeverklebte Kleid, alle das gleich gezeichnete Antlitz von Menschen, die einsam aus tiefen Fenstern auf eine fremde Welt blicken. Sie standen wie müßige Spaziergänger an Zäunen und Ackerrainen, die Hände in den Taschen, und blickten mit scheinbarem Gleichmut auf die Früchte des Feldes, die die Erde den Heimgebliebenen gab. Oder sie betraten die Höfe, deren Friede und Wohlstand sie bis ins Tiefe ihres Lebens erschütterten. Und zogen dann weiter, die Lippen zusammenpressend, und nur im Grunde ihrer scheuen Augen war zu ahnen, was sie an Jammer oder Haß erfüllte.

Des Infanteristen Peter Hamborn Augen aber verbargen selbst diesen wegweisenden Grund, und über »Ja« oder »Nein« der Bauern hoben sie sich mit gleicher Abgewandtheit zum Abendrot oder zu den ersten östlichen Sternen. Seit sein Leben vom dampfenden Acker unter die Erde gesunken war, wo nicht Wind war, noch Sonne, noch Vogelschrei, war er ein stiller Mann geworden, und er pflegte leise aufzutreten, auf den Straßen des Friedens wie auf den Feldern der Schlacht.

Doch war, als der Bogen der Milchstraße schon hell aus den fernen Räumen wuchs, sein Rucksack gefüllt und in seinem Brustbeutel nichts als die kleine Summe zur Rückfahrt zu den Seinen. Er erkannte an den Sternen – denn eine Uhr besaß er nicht mehr –, daß er den vorletzten Zug nicht mehr erreichen würde und die Zeit bis zur Mitternacht ganz sein eigen sei. So schlug er den weiteren Feldweg ein, der durch lichte Bauernwälder, an der großen Heide entlang, hügelauf und hügelab zur Station führte, abseits der gepflasterten Straße, und ging ihn vor sich hin, schweigend und gebeugt.

Auf dem letzten Hügel setzte er sich für eine halbe Stunde auf den Ackerrain, legte den Rucksack neben sich, faltete die Hände über den Knien und blickte regungslos über sich senkende Felder in das Tal hinab, durch das die Eisenbahn ihn nachher führen sollte. Seine Augen, an das Dunkel gewöhnt, erkannten langsam die großen Linien der schlafenden Erde, Feld und Wald und die Inseln ruhender Gehöfte. Lichter verloschen, wie zu friedlichem Schlafe sich verhüllend, und andere blühten aus leerem Dunkel empor, das Herz mit leiser Trauer füllend über den Kreis des Friedens, den sie wärmten. Ein scheuer Wind ging durch die Nacht, und hin und wieder fiel der Ton wandernder Vogelschwärme wie der unterbrochene Laut eines schlagenden Segels aus der verdunkelten Höhe.

Peter Hamborns Augen sahen dies alles nicht so sehr mit der wachen Deutlichkeit des Soldaten, dessen Herz tausend solcher Nächte zu unendlichen Minuten zerschlagen hatte, sondern mit der seherischen Vergeistigung desjenigen, der vom Berge Nebo auf das gelobte Land blickte. Wohl hüllten sich ihm zuweilen die Horizonte in Flammenschein und er las aus wechselnden Lichtern Signale von eherner Kürze und Gewalt, und dann lächelte er scheu und starrte wieder hinunter, als hebe sich das verschlossene Tor wieder vor seinen Füßen, und als sei es ein Traum, den Gottes Hand da unten vor ihm ausbreite, an den man nicht mit eines Fingers Spitze rühren dürfe, wenn er nicht zerfallen sollte in Nebel und Staub.

Dann stand er noch eine halbe Stunde auf der Station, fern dem Lichtkreis der Laterne, die Hände in den Taschen und den Rockkragen hochgeschlagen, da kein Vorgesetzter zu sehen war. Er fühlte zwischen Bitterkeit und Glück, daß keines Auges Teilnahme ihn fand und umgab, daß er nichts war als ein Teil von Millionen, ein Namenloser, der kam und ging, und daß von seiner Stirne unter dem grauen Mützenrand nicht zu lesen war, was heute oder drei Jahre lang sie angerührt hatte mit den letzten Erschütterungen menschlicher Not.

Die kalte Dämmerung tastete schon mühsam durch Ruß und Nebel der finsteren Stadt, als er zu seiner Wohnung emporstieg. Ein schmales Feuer flackerte im Herde, neben dem die Frau schon über der Nähmaschine saß. Er sah ihren Blick über Antlitz und Rucksack gleiten und schüttelte nur stumm den Kopf.

Während er den heißen Kaffee trank und der ärmliche Friede des kleinen Raumes nach der dunklen Mühsal der Nacht ihn voller Güte umstand, liefen seine Gedanken einen schmalen Schienenstrang entlang, durch Tag und Abend, über einen breiten Strom bis zum Rand der Erde, und er lehnte den Kopf an die kalkige Wand in seinem Rücken und sah mit starren Augen über die feuchten Dächer in den rieselnden Morgennebel.

»Es sind ja noch zwei Tage, Peter,« sagte sie leise.

Er sah sie fremd an. »Ja … zwei Tage,« wiederholte er erwachend.

Dann kam Jürgen. Er stand zwischen seines Vaters Knien und schob, wie er zu tun pflegte seine Finger zwischen die Knöpfe des Waffenrockes. »Ich habe dich gehört,« sagte er ernst, »aber ich konnte es nicht erwarten … war es schön?«

Peter Hamborn nickte und versuchte zu lächeln. Aber dann zog er den schmalen Knabenkörper im geflickten grauen Hemde an sich und verbarg sein Antlitz hinter der warmen Schulter. »Du frierst,« sagte er unnötig laut. »Komm, ich bringe dir alles ans Bett.«

Er beugte sich über Andres und Eva, die, dicht ineinandergeschmiegt, unter den gestreiften Kissen lagen, und setzte sich zu Jürgen, den geöffneten Rucksack vor sich auf der Erde. Nacheinander baute er auf dem Holzschemel auf, was der schwere Weg unter den Abendwolken ihm zugeteilt hatte, zu oberst die Butter und die beiden Speckseiten.

»Solch ein Hof!« flüsterte Jürgen. »Wie ein König kommst du an! Nun aber erzähle, und immer der Reihe nach!«

Peter Hamborn zog die Gardine wieder dichter zusammen und stützte den Kopf in beide Hände. »Ja, Jürgen … es sah noch immer so aus wie sonst. Der Heckenweg mit den Ebereschen und am Tor die beiden Pappeln. Der Junge schnitt Häcksel, und die Gänse waren im Obstgarten.«

»Haben sie nicht gepflügt?«

»Ja, der alte Klaus pflügte die Brache um. Es roch gut, wie beim Bäcker. Sie machten ein großes Hallo, als ich kam, und führten mich gleich zum Vater.«

»Liegt er noch immer?«

»Na, manchmal steht er schon wieder auf, und der Doktor meint, daß es immer besser wird, aber es will noch nicht so recht. Ich mußte mich dann zu ihm setzen und natürlich alles erzählen, vom Krieg und von meinem Hauptmann … und von euch.«

»Auch … auch nach mir hat er gefragt?«

»Natürlich, Jürgen. Nach dir am allermeisten. Und wenn er gesund ist, dann sollst du ihn endlich besuchen und ein ganzes Jahr dort bleiben. Reiten und pflügen und einfahren und alles andere. Und von diesem da sollst du das meiste haben, weil du der Älteste und der Bravste bist. Es könnte besser stehen auf dem Hof, weißt du, und er hätte mehr mitgegeben, aber er ist ja krank und dann ist das eben so …«

Jürgen lag unbeweglich, die großen, ernsten Augen auf das Fenster gerichtet und seine Hände fest um des Vaters Hand geschlossen.

»Ich denke, Vater,« sagte er endlich leise, »das meiste muß Eva haben. Sie hustet, und sie erzählt am Morgen, daß sie immer von einem großen Braten träumt, der über ihrem Bett liegt. Aber sie kann die Hände nicht heben, und davon stöhnt sie dann so im Schlaf. Wir andern, wir kommen schon durch.«

Peter nickte stumm.

»Es muß schön sein, so nach dem Hof zu gehen, Vater, nicht?« begann das Kind nach einer Weile. »Ich denke mir, daß überall die Vögel singen und daß alle Häuser weiß sind vor Sonne und die Menschen übers ganze Gesicht strahlen, wenn man ihnen guten Tag sagt … ganz anders wie hier, ganz anders … so wie damals, als der Heiland über die Erde ging … weißt du, Vater, manchmal, wenn du fort bist, dann baue ich es alles auf, aus Sand und Steinen und Gras … so zu Hause bin ich schon auf dem Hof … vielleicht, Vater, wenn du das nächste Mal kommst, dann bin ich schon eingesegnet, dann kann ich vielleicht schon mit, was meinst du?«

»Das glaube ich sicher, Jürgen,« sagte Peter zuversichtlich und wühlte mit der freien Hand in seinem Haar. »Und lange wird es ja nun auch nicht mehr dauern.«

»Horch, die Mutter spult den Faden,« flüsterte Jürgen. »Wie schön leise das geht … und satt werden wir uns heute essen …«

Er schloß die Augen, und die frühen Falten seiner Stirne glätteten sich mit jedem Atemzuge.

Peter Hamborn saß unbeweglich, bis Jürgen eingeschlafen war. Dann stand er leise auf und trat ans Fenster. Das tägliche Leben der engen Straße wuchs aus Dunkel und Armut ins bleiche Licht. Die Laternen erloschen, die Tore taten sich auf, und mit grauen Gesichtern tauchte das geschlagene Geschlecht in den dampfenden Strom der Frühe.

Durch das dämmernde Bild hindurch sah Peter die beiden Pappeln am Hoftor, dahinter die lichtgesäumten Abendwolken, und in der letzten Ferne, verfließend zu farbloser Weite, die aufgerissene Erde mit den zersplitterten Stümpfen entrindeter Bäume.

Nach zwei Tagen fuhr er wieder an die Front.

In dem Herbst, der seiner Abfahrt folgte, waren den Kindern in den lichtlosen Städten und weithin über die deutsche Erde die Tage kürzer als die Nächte. Wohl waren jene gefüllt mit Schule, mit Sammeln und schwer rinnenden Stunden des Wartens auf des Leibes Speise und Kleid, mit Hunger und Hocken am kalten Herde. Aber durch die Nächte schritten in langen, gleitenden Zügen die Träume. Das Dunkel rollte nicht gleich einer einzigen finsteren Woge über die versinkenden Seelen, die Frühe fast stufenlos an den Abend knüpfend, sondern in hundertfacher Not riß es aus dämmernden Gründen den betäubten Sinn zu Trugbildern des Scheines, so grausam deutlich, daß die Augen zu jähem Wachsein sich öffneten und wieder sich schlossen, weil die Hände ins Leere sich hoben und mit ersticktem Schrei die gemarterte Seele in den Abgrund der Erkenntnis stürzte.

Und nicht wie sonst wohl in blühender Zeit des Friedens schritten die Fabelwesen bunter Märchen glanzspendend durch Zaubergärten; nicht wie sonst hob verborgene Sehnsucht des Tages sich in den Nächten auf zu strahlender oder beglückender Gestalt, nachschimmernd über der erwachenden Stunde wie ein Stern über Tage. Nüchtern, alles Glanzes entkleidet, ging der Traumengel über die hunderttausend Betten und Bettlein, von Aufgang gegen Niedergang. Keine Glut der Blumen brach aus seinen Armen, kein Dichtertraum, kein Lächeln Gottes. Und aus der irdenen Schüssel, deren Deckel er hob, tauchte keiner Wunderschlange goldgekröntes, züngelndes Haupt, sondern Speise der Armen, zu Bergen gehäuft. Aus des Leibes Tiefe stiegen die Träume, und tot lagen die Seelen im Zwange der Gier.

Auf einer freien Ecke des Herdes, um den sie von früher Dämmerung saßen, hatte Jürgen den Hof erbaut, den er nie gesehen. Die Pappeln standen am Tor, und der Lampe spärlicher Schein glitt lebendigmachend über die kleinen Dächer. Davor konnte er Stunde um Stunde sitzen, das schmale Gesicht in die kalten Hände gestützt und die tiefen Augen von einem Glanze getränkt, der das Antlitz der Hirten erfüllt haben mochte, als sie vor der Krippe knieten.

»Der Bauer ist ein König, Mutter, hat der Lehrer gesagt,« flüsterte er, die Augen hebend. »Ist das wahr?«

»Ja, das ist wahr,« sagte sie, ohne daß er die Bitterkeit der Worte verstand.

Er nickte nur und tastete mit scheuen Fingern über den Sand der Felder. Und blieb weiter in seinen Träumen, mit denen er über der Tage und Nächte Not sich half.

Doch trafen auf wunderbare Weise zwei Dinge zusammen, die mit tiefer Erschütterung seine Seele bewegten und ihn aus dunklem Leiden auf einen Pfad stießen, wo aus tiefstem Sturze sich neues, unerhörtes Leben gebar.

Sie waren wie sonst in der Herdstunde versammelt, als die kleine Eva, ihre Puppe zärtlich zur Ruhe bettend, ein leises Lied zu singen begann, wie sie allabendlich zu tun pflegte. Und wiewohl die anderen ihrer kindlichen Weisen sonst wenig achteten, geschah es diesmal, daß sie alle zusammen mit ihrer Beschäftigung innehielten und den klagenden Tönen lauschten, weil das erste Wort sie wider Willen ergriff oder weil die selbstvergessene Mütterlichkeit des Kindes, von dunkler Ewigkeit erfüllt, den Strom überspannte, der zwischen ihren Sorgen und seinen Spielen unbeachtet rauschte.

»Mutter, ach Mutter, es hungert mich,« sang sie mit hoher, getragener Stimme, die Puppe leise hin- und herwiegend. »Gib mir Brot, sonst sterbe ich.«

Sie hielten den Atem an und blickten mit starren Augen auf das Kind, einander vergessend und dem Liede hingegeben, als geschehe das qualvolle Sterben unter ihren gefalteten Händen. Und als die Mutter nach den letzten Tönen das verhüllte Antlitz über die Nähmaschine senkte und in Weinen ausbrach, zerdrückte Jürgens Hand in unbewußtem Entsetzen das Haus seiner geträumten Erde, und er lief sinnlos auf die Straße hinaus, getrieben von einem jähen Schein, der bleich über zerbröckelnde Träume brach.

Ein paar Tage später, als er fröstelnd, mit leisem Fieber im Konfirmandenunterricht saß, erzählte der Pfarrer von den Kinderkreuzzügen des Mittelalters. Und weil seine mitleidende Seele dem wahren Bilde des Elends gegenüberstand, so fand er die warmen Worte, die auch das Ferne und Vergangene mit dem Schimmer des lebendigen Lebens erfüllen, so daß sie alle an seinem Munde hingen, wie er von der Leidenschaft des Beginnens, von dem Ersterben der Kraft und dem Jammer des Endes berichtete.

Ein tiefer Atem weitete den stillen Raum, als er schwieg. Und erst, als er in übertriebener Sorglichkeit des Seelenhirten nach dem gelobten Lande fragte, wo es liege und was sie davon wüßten, fanden sie sich langsam zurück in ihr eigenes, dunkles Leben. Doch lachte niemand, als Jürgen, freundlich aufgerufen, von weiten Wegen heimkehrend, ohne Zögern zur Antwort gab: »Beim Großvater, wo sechs Kühe im Stall stehen.«

Der Pfarrer sah ihn wortlos an, vom Unerwarteten tief berührt. Dann sagte er leise: »Damals war es wohl nicht so, Jürgen.« Und dann fragte er nicht weiter.

Am Nachmittag mußte Jürgen, da das Fieber wuchs, sich niederlegen, und als er nach drei Tagen wieder aufstand, war in seinem Antlitz zu lesen, daß seine Seele, die von Jugend auf um Gottes Füße ging, über Länder und Meere gewandert war.

Er brauchte nicht mehr mit dunklen Zweifeln zu ringen, und das Seltsame, ja Unmögliche wies ihm ein friedenvolles Angesicht, seit die Stimme ihn gerufen hatte über Jahrhunderte, aus den Tönen eines Liedes und dem Nachglanz eines wilden und traurigen Geschehens. Es blieb ihm nichts zu tun, als wie ein zweiter Prophet aufzustehen, nur nicht auf den Kanzeln und Märkten, sondern im Verborgenen, und zur Reise zu rufen, wer des Rufes bedürftig oder wert war.

Doch war er, den unbestechlichen Gesetzen knabenhafter Freundschaft und Treue folgend, nach kurzer Zeit seiner Auswahl ohne Schwanken sicher und jeder Form bis ins letzte gewiß, die Abschied, Fahrt und Wiederkunft erforderten. Was er seiner Mutter hinterließ, zeigte so gut den Zwang, der über seiner Tat waltete, wie die traumhafte Klarheit, mit der er seine Aufgabe sah. Er schrieb: »Liebe Mutter! Ich gehe mit Eva und Andres zum Großvater. Auch noch andere sind mit, die es brauchen. Wir werden zwölf sein. Auch Wagen haben wir mit für die Kleinen. Wir werden Brot holen und dort wie im heiligen Lande sein. Wie Eva gesungen hat, wirst Du wissen, daß ich das tun muß. Wir werden wohl zwei Wochen fort sein. Du sollst Dich nicht sorgen, weil einer ist, der über uns wacht. Der Schlüssel liegt unter dem Salzfaß. Wir werden so zurückkommen, daß Du nicht mehr zu weinen brauchst. Jürgen.«

Es war alles zu dem Tage vorbereitet, an dem die Mutter in der Frühe in ein fremdes Haus zur Näharbeit ging und erst in der Dunkelheit zurückkehrte. Sie sammelten sich jenseits der Vorstadt, wo ein kümmerlicher Wald in seinen lichten Wipfeln einen matten Glanz des letzten Herbstes fing. Jürgen und Andres zogen den Wagen, in dem Eva, die Puppe im Arm, einem strahlenden Märchen entgegenfuhr. In drei Gruppen stießen die anderen zu ihnen, mit gleichen Wagen gleich ihnen bewehrt, mit Stock und Rucksack gerüstet, die Jüngsten ihre Holzschwerter bedrohlich an der Seite.

Es gab kaum einen Unterschied der Rasse und des Blutes unter den Zwölfen wie sonst in Zeiten, wo die Geschlechter, wiewohl von gleicher Fron gebeugt, mit eigenen Augen nach Himmel und Erde strebten und der Nachglanz gesonderter Wege die Stirnen der Väter formte, mit leisen Spuren widerklingend im Antlitz ihrer Kinder. Sondern die Hand des Krieges, weithin tastend über den blutigen Kreis bis in die fernsten Hütten, hatte grau und gleichmachend über das Kleid der Seele gestrichen, und was nun entschlossen die Augen gegen das Künftige wendete, aller Sorge und Verantwortung sehr ernst bewußt, war ein milder Widerschein der grauen Gestalten, die hinter Schulterwehr und Nähmaschine in das steinerne Antlitz der letzten Entscheidung starrten.

Da war Dietrich, der Sohn des Kesselschmiedes, mit seinen zwei Geschwistern, dessen Vater seit Jahresfrist in belgischer Erde lag und dessen Mutter nun Tag um Tag am Waschfaß stand, ohne daß das Brot ihnen reichte. Wie sein großer Vorfahr aus Wanderungszeit stand er ruhig und fest an der Deichsel, den unerschütterten Blick in die Ferne gespannt.

Da war Klaus, eines Bergmanns Sohn, verspottet und gestoßen in Schule und Spiel wegen der Schwere seines Körpers und Geistes, der heimlich in der Bibel las und alle Woche bei Jürgen anfragte, ob Gott noch leben könne bei soviel Hunger und Blut.

Und da war Hinrich, des Straßenbahnschaffners Kind, mit weißem Haar und stahlgrauen Augen, dessen Vater in Rußland stand und dessen Mutter ein schlechtes Leben führte, gefüllt von Gier nach Männern und Rausch. Sein Antlitz bebte vor jedem rohen Wort, und er war eingesponnen in eine Welt des Hasses und der Qual, aus der heraus er die Hand hob gegen Mutter, Schule und Gott.

Sie nickten einander zu, und schweigend begannen sie die Fahrt zum Erlöser.

Die letzte Oktobersonne schmiegte sich wärmend um Hügel und Feld, hob den Horizont ins schmerzliche Blau geweiteter Räume und ließ die Straßen seltsam klar und streng erscheinen, als läge Heim und Friede weit jenseits der fernen Tore, die sie in den Raum des Himmels schnitten. Dünner Rauch stand über Gehöften, die entkleidet des schützenden Laubes, hart, fast feindlich in der Landschaft lagen, und jeder Ton der Felder, aus denen man die letzten Kartoffeln grub, hob sich weit über die Erde, wie auf verlassenen Wassern.

Was auf den Straßen unter dem leisen Winde wanderte, wurde der Sonne nicht viel gewahr und nicht des letzten Geschmeides, das farbig über Hecke und Rain sich verstreute. Es war, als ob aller Augen über ein inneres Gesicht sich neigten und als ob aller Züge gleichmäßig geformt würden von dem erschauten Bilde. Wohl traf hier und da ein versunkener Blick den seltsamen Zug der Kinder, ihm nachgleitend in Verständnis und schweigender Trauer; aber was in Zeiten des Friedens befremdlich, selbst rätselvoll geschienen hatte, war alltäglich geworden unter einem Schicksal, das die Kinder zu Bettlern um das Leben gemacht hatte.

So zogen sie dahin, unbehelligt, leise betäubt zunächst von dem Ungewohnten des Daseins, von der Unverhülltheit, mit der die Stunden sich offenbarten, überfließend von Freiheit, Weite und Licht. Lachen und heiterer Zuruf der Kleinen hingen wie ein Gezwitscher über der Schar, und selbst die sorgenden Mienen der Führer überflog ein stilles Glänzen.

Erst um die wärmende Mittagszeit fiel ein müdes Schweigen über den Staub ihres Weges, und Jürgen, der stumm und ernst an der Spitze ging, tauschte einen wissenden Blick mit den drei andern und deutete wortlos zur Höhe voraus, wo ein Eichenwäldchen zum Himmel flammte und über ein paar verstreuten Gehöften der Mittagsrauch sich hob.

Am Waldrande schoben sie die Wagen zusammen, den Schatten benutzend, und während die Jüngeren ins warme Gras sich legten, besprachen die anderen mit wenigen Worten Pflicht und Weg und trennten sich gleich darauf zu den Gehöften, aus denen sie nach einiger Zeit wieder zusammenstrebten, mehr oder minder gesegnet mit der Barmherzigkeit derer, die ihrer seltsamen Ankunft Zeuge gewesen waren.

Sie aßen und tranken, zu neuer Fröhlichkeit geweckt durch das Behagen des Mahles und die sonnige Weite des Raumes, aus dessen Linien der Umriß der Heimat bereits entschwunden war, umstanden von Neugier und Mitleid, deren Äußerung ihnen ein leichtes Bewußtsein von Stolz und Trauer verlieh.

Danach ruhten sie, bis die Schatten unmerklich sich verkürzten, und als der Rest an Speise und Trank sorgsam verwahrt worden war, nahmen sie von neuem die alte Ordnung ein und zogen den Hang hinunter, ein leises Lied versuchend, wie sie es von den grauen Kolonnen gehört hatten.

So zogen, bald in aufflackernder Fröhlichkeit, bald in leise wachsender Verzagtheit, unter dem hohen Herbsthimmel und der sich neigenden Sonne die Kreuzfahrer ihrem Ziel zu. Was vor den Augen der Jüngsten jenseits der blauen Wälder stand, leuchtete wie das Haus im Märchen oder dehnte sich wie ein Königreich. Riesige Hunde kauerten an den Pforten, Wächter in Erz hoben die Lanzen, aber dahinter, da war ein Kanaan, das Land, darinnen Milch und Honig floß. Die Füße schmerzten, die Fremde wuchs wie ein steigendes Meer bis an den Rand der Straße, unheimlich verklang der Krähenruf im leeren Wald. Aber ungebeugt schritten die Führer ihrem Herzen voran, und die Lichtbalken der sinkenden Sonne wuchsen wie Gottes Feuersäulen aus den westlichen Tälern.

Die frühen Nebel stiegen über der Weidenniederung eines Baches, als das erste Weinen aus erschüttertem Herzen brach und um das Verlorene klagte. Mit hartem Wort fuhr Hinrich das Weinende an, aber Jürgen hob die Hand und sagte einfach: »Denkst du, daß sie vor sechshundert Jahren nicht geweint haben? Wir wollen um ein Nachtlager bitten.«

Sie fanden einen Schuppen, mit Heu gefüllt, und sahen zum erstenmal eines Menschen Augen überfließen um ihr Leid. Der Bauer stand finster, wiewohl nicht abweisend, vor ihnen, aber die Bäuerin hatte das Tuch vor den Augen und hob in leidenschaftlicher Gebärde die Hand gegen die ersten Sterne. Jürgen verschwieg mit ruhiger Festigkeit Namen und Heimat. »Wir gehen zum Großvater,« sagte er nur. »Er hat sechs Kühe im Stall, und meine Schwester hat gesungen: ›Mutter, Mutter, es hungert mich … gib mir Brot, sonst sterbe ich.‹ Da sind wir denn gegangen.«

Sie wurden gesättigt und gewärmt– und dann stolperten sie todmüde in den Schuppen. Jürgen stand noch für eine kleine Weile unter dem dunklen Dach und sah über den Nebel hinweg die matte Straße entlang, die sie morgen gehen mußten. Die Sterne stiegen mit wachsendem Leuchten aus dem abendlichen Dunst, ein stärkerer Wind rauschte, fremden Lebens voll, im nahen Gehölz, und seltsame Laute, ungekannt in steinernen Straßen, kamen und gingen durch die schauervolle Welt.

Er atmete schwer, erzitternd unter dem neuen Dasein und hinter seinen Händen den Schlaf wissend, den er zu behüten hatte. Dann schloß er behutsam die Tür und tastete nach seinem Platz zu den Geschwistern. Er streckte sich zwischen sie, die nur leise aus bewußtlosem Schlafe stammelten, zog sie eng an seinen wärmenden Körper und ging so in das andere Land hinüber, ergriffen von dem Bewußtsein, fern von Vater und Mutter das gleiche zu tun, was sie getan haben würden.

Der zweite Tag hob sich auf und versank über fremden Straßen. Härter rollten seine Stunden über die Herzen der Fahrenden, und an seinem Ende schob sich ein Wald, schwer an Dunkel und Grauen, über ihren Weg. An seinem Rande standen sie in heimlicher Verstörung, vor kurzem mit schmähenden Worten von der Tür des letzten Gehöftes gewiesen. In lodernden Abgründen war die Sonne stürzend versunken, und riesige Wetterbäume schossen aus geballten Wipfeln in drohendem Weiß zum Firmament empor.

»Was stehen wir?« sagte Dietrich mit hartem Entschuß. »Es ist die letzte Nacht, und der Wald ist besser als ein Haus.«

Sie stürzten sich mit jähem Anlauf, fast geschlossenen Auges, in das ragende Dunkel, die schwankenden Wagen hinter sich herziehend, von unsichtbaren Ästen kühl gestreift, von letztem Laub rieselnd überschüttet. Der schwere Geruch des Herbstes floß aus dem rauschenden Dach, mit so seltsamer Bedrückung erfüllend, daß aus den Fremdlingen im Heiligtum wie aus der Brust nächtlich verlorener Kreatur ein einsamer Schrei mit steiler Klage zwischen den schweigenden Stämmen emporstieg und unter den Sternen verklang.

Doch nahm Dietrich, mit finster gefalteter Stirne in die Dickung brechend, den letzten Ton im Verklingen auf, weitete ihn zu ungegliederter, ekstatischer Melodie, die, einer Lanze gleich, sein Grauen behütend, vor ihm her die Finsternis zerschlug, und riß so die Seelen der Zagenden durch den nachtönenden Wald, bis einer fichtenbedachten Lichtung Wärme und Geborgenheit sie wie eine Hütte empfing.

Während die Kleinen wie gemähte Blumen im Moose lagen, aus der Welt des Grauens in Träume des kommenden Tages gleitend, brannte zu ihren Füßen das Wachtfeuer, mit zuckendem Schein über grüne Wände tastend und die Gesichter der Führer beleuchtend, die alt, in ernster Gefaßtheit, in die dunkle Fremde starrten.

In der Höhe ging bereits ein wachsender Wind wie durch fremde Häuser, zu Chören wachsend, deren Orgelton drohend über der waldfremden Seele der Lauschenden stand, und der Laut eines nächtlichen Tieres, aus ferner Dickung steigend, strich mit kühlem Schauer über ihre gesenkten Stirnen.

»Wir müssen wachen … jeder eine Stunde,« sagte Jürgen leise, die Augen nicht vom tröstenden Feuer wendend.

Die anderen nickten wortlos. Erst als der Laut des Tieres von neuem zwischen den Stämmen heranglitt und zu ihren Füßen im Moose sich zu verbergen schien, flüsterte Klaus: »Ob wir nicht zu zweien … wenn das Holz nicht reicht …«

»Angst?« fragte Hinrich scharf und verächtlich.

Sie sahen alle finster auf den schweren, zusammengefallenen Körper des Bergmannssohnes, bis dieser mit gequältem Lächeln den Blick hob. Aber als aus seinen Augen, ohne daß er ihnen wehren konnte, zwei Tränen langsam über seine fahlen Wangen rollten, bückten sie sich wortlos über das Feuer und schürten mit ihren Stöcken zwecklos die dünne Glut, daß ein leiser Funkenregen sprühend über der Lichtung stand.

»Morgen sind wir ja da,« sagte Jürgen nach einer Weile.

Es schien ihnen, als ob der Wind mit jedem Herzschlage stärker würde und als erfülle der Donner der Kronen die ganze nächtliche Erde. Ab und zu wehte einer der Zweige, die in die Lichtung niederhingen, leise hin und her, und die geheimnisvolle Bewegung, die aus unsichtbaren Wipfeln in ihre umfriedete Tiefe stieg, erfüllte die rieselnden Sekunden mit der Gespanntheit einer Wolke vor der Entladung.

Und es war nur eine Handlung ihrer aller, als Dietrich nach seiner hölzernen Lanze griff, die er am Abend vom Straßenrand aufgehoben hatte, und an die Grenze des Lichtscheines trat, wo die Wand des dunklen Waldes aus der Erde stieg. Hier blieb er regungslos, auf seine Waffe gestützt, in Haltung und Gebärde zu derselben Notwendigkeit getrieben wie die Knie des Beters zur Beugung vor dem Unendlichen.

Als sie schon in ihren Decken lagen, die offenen Augen noch auf die Gestalt des Wächters gerichtet, hob Hinrich leise den Kopf, blickte über das kleine Lager und flüsterte dann, sich wieder auf die Erde streckend: »Ob wir noch einmal nach Hause kommen? … So groß ist die Welt …«

Er erhielt keine Antwort, und dann brausten nur die Wipfel über den bebenden Stämmen.

Am späten Nachmittag erreichten sie die Straße, die Jürgens Vater ein paar Wochen zuvor mit schweren Stiefeln gegangen war, und Baum und Hecke wuchsen aus Jürgens geträumter Welt zur Klarheit ersten Erlebens. Er ging dem Zuge voran, getragen von Flügeln des Sturmes, berauscht vom Duft der dunklen Erde. Und als auf einer nahen Koppel eine Schar junger Pferde aufwiehernd im zwecklosen Spiel über die braune Grasnarbe dahinstob, die dunklen Leiber glänzend gestreckt, die Mähnen und Schweife lang hinflatternd, da hob er die Arme über sein Haupt, und sein wilder Schrei flog über sie hin, als liege er über ihrem Halse und spähe über die gestreckten Köpfe auf die Erde, die sein eigen sei.

Er hielt an derselben Stelle inne, wo sein Vater in stummer Zwiesprache den Arm zu den Abendwolken gehoben hatte. Vor ihm lag der Hof. Die Pappeln standen schief im Sturm, und dunkelblaue Wolken wälzten sich wie stürzende Berge über das dämmernde Land. Über dem grauen Gebälk hingen schwer die Dächer als Schirmer der Ernte, und der Geruch der Äcker erfüllte den Raum zwischen Himmel und Erde.

Vorgebeugt, die Hände auf seinen Stab gestützt, stand das Kind und starrte in das Antlitz seines gelobten Landes. Und wußte nicht, daß seinen Blick schon die Angst des Träumenden weitete, der das Unerhörte schaut und dem eine leise Stimme aus verklungenem Leben warnend zuraunt, daß der nächste Herzschlag versinken lassen werde, was aus den Gründen der Seligkeit ins flüchtige Leuchten sich hob.

Erst als die andern um ihn sich scharten und schweigend gleich ihm herniederblickten auf die Verheißung, sah er sich um, fast mit entstelltem Antlitz, faßte mit hartem Griff nach der Deichsel seines Wagens und schritt mit schmerzenden Knien, fast stolpernd, zum Tore hinab.

Es war geschlossen, und in demselben Augenblick, als die Schar noch zögernd davorstand, trat aus der Tür des niedrigen Hauses der Bauer, die Hände in den Taschen, ohne Verwunderung, als habe er schon lange am Fenster gestanden und sie prüfend betrachtet, Herkunft, Weg und Absicht im voraus erkennend.

Als er das Tor erreicht hatte, lehnte er sich mit beiden Armen über den grauen Zaun und blickte sie schweigend an, zuerst mit matter Neugier, dann mit zunehmender und unverhüllter Verachtung. »Vagabunden!« sagte er leise.

Dann war ein tödliches Schweigen zu beiden Seiten des Tores, über dem nur das Sausen der Pappeläste wie schlagende Peitschen stand.

Und dann begann Eva zu weinen, unvermutet, mit einer wilden Hilflosigkeit, als brächen ihre Tränen aus all den starren Augen, die vor den Riegeln des Paradieses standen.

»Du bist …« flüsterte Jürgen mit weißen, lächelnden Lippen, »du bist … wieder gesund?«

Auch der Bauer lächelte. »Vagabunden!« sagte er noch einmal, lauter als zuvor.

»Mein Vater hat gesagt …« begann Jürgen.

Der Bauer hob die Augenbrauen, als zwinge die Güte seines Herzens ihn zu gespannter Aufmerksamkeit, aber zu dieser Bewegung begann er plötzlich zu lachen, leise, fast unhörbar, indes seine kalten Augen über die zusammengedrängten Gesichter tasteten, als rühre er mit einem glühenden Eisen an die bebenden Körper junger Tiere, die vor ihm in einer Käfigecke sich ballten.

»Was hat er gesagt?« fragte er, sich behaglich über das Tor neigend.

Aber Jürgen schwieg.

Nun war, als der Bauer die Haustür verlassen hatte, zu derselben Zeit aus dem Schuppen neben dem Tore ein Mann getreten, mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem Stock in der Hand, der während des ganzen Gesprächs schweigend dagestanden hatte und dessen Augen mit finsterer Wachsamkeit von einer Seite des Tores zur anderen geglitten waren. Man sah wohl, daß er jung an Jahren war, aber das schmutzige Grau seines Kriegskleides gab seiner Erscheinung etwas Zeitloses, und der leere Rockärmel an seiner linken Seite, der im Sturme auf und ab flog, ging als ein flackernder Riß durch sein düsteres Bild.

Und endlich, wie eine späte Antwort auf des Bauern Frage, sagte Jürgen, auf den Fremden blickend: »Vielleicht … muß er auch schon so nach Hause gehen … und es ist doch nicht bloß der Arm, der dann fehlt …«

Der Bauer zog ein zerknülltes Briefblatt aus der Rocktasche und warf es über den Zaun. »Das gib deiner Mutter wieder.«

Und das Kind, noch immer mit den Augen am Fremden hängend, glättete den beschmutzten Bogen und las im letzten Tageslicht langsam und sorgfältig den Brief seiner Mutter.

Er barg ihn vorsichtig in der Brusttasche seines dünnen Rockes und hob wie sein Vater die Augen zum Abendgewölk. Dann wendete er die Deichsel seines Wagens und schickte sich an, denselben Weg zurückzunehmen, den sie gekommen waren.

Aber Hinrich, die Lanze in seiner bebenden Faust, faßte mit hartem Griff seine Brust. »Wo willst du hin?« schrie er außer sich.

»Zurück … umkehren … es ist alles nicht wahr … es gibt kein gelobtes Land.«

Aus der Lähmung hob die Lanze sich mit jähem Schwunge gegen das Tor. »Du!« schrie Hinrich. »Du Bauer du! Im Dreck liegen sie draußen … und du? Weißt du, daß uns die Füße bluten, du Hund?«

Die Stange, das Ziel verfehlend, schoß krachend gegen das Tor, bebte für Augenblicks Länge nachzitternd in der Gewalt des Stoßes und fiel dann kraftlos in den Staub der Straße.

Der Bauer, blaß geworden, hatte die Hände nutzlos vor das Gesicht gehoben und bückte sich mit einem Fluch nach einer Waffe. Aber Jürgen, groß und ernst geworden, legte die Hand auf Hinrichs Arm und blickte ohne Leidenschaft noch einmal auf das Tor zurück. »Auch vor sechshundert Jahren kamen sie nicht an«, sagte er ruhig. »Es muß woanders liegen, Großvater, ganz woanders …«

Und dann zog das Häuflein der Fahrenden in der fallenden Dunkelheit den Berg wieder in die Höhe, sehr langsam, indes der Sturm den Staub von ihren Rädern riß und das Weinen des Kindes weithin über die Erde führte.

Während der Bauer fluchend und türenschlagend durch die Ställe ging, stand der Einarmige noch immer an dem Tor, den Kopf geneigt, als lausche er den letzten Worten des Kindes, und verließ dann langsam den Hof, von seinem Hunde gefolgt, der ihn bellend umsprang.

Als er die Kinder eingeholt hatte, die in blinder Betäubung vom Orte ihrer Verstoßung fortstrebten, schritt er an Jürgens Seite mit ihnen die dunkle Straße entlang. Es war nichts zu vernehmen als das Brausen des Sturmes, das den ganzen Erdenraum erfüllte, und das leise Stoßen der Räder auf der unebenen Straße.

»Erzähle doch mal,« begann der Soldat endlich und faßte mit der rechten Hand in den Deichselgriff. »Du kannst es mir ruhig erzählen … Ich bin der Hirt auf dem Hof. Wir haben die Schafe noch draußen, in der Heide. Und alle Wochen komme ich, um mir zu holen, was ich brauche … nun fang man an.«

Und dann erzählte Jürgen seine Geschichte.

Noch während seiner ersten Worte kamen sie an einen Kreuzweg, wo ein bewachsener Hügel ihnen Schutz vor dem Winde gab. Hier blieb der Soldat stehen, als müßte er sich nachher von ihnen trennen, und blieb die ganze Zeit vorgebeugt, die finsteren Augen auf Jürgens Lippen gerichtet, während die andern im Staub der Straße saßen, die Arme auf den Knien, ein geschlagenes Heer ohne Ziel und Fahne.

»So,« sagte er, als Jürgen fertig war, und richtete sich auf. »Ein Kreuzzug … so …« Und er lachte bitter auf, daß sein Hund ihn fragend ansah. Dann beugte er sich noch einmal dicht zu Jürgen und sah ihm ganz nahe in die Augen. »Was meinst du?« fragte er leise. »Du sagtest … es ist nicht nur der Arm … wie?«

Jürgen mußte sich erst erinnern. Dann verstand er. »Es muß ein Stück vom Herzen mitgehen, denke ich mir,« sagte er sehr schonend.

Der Hirt stand noch eine Weile, als denke er über das Wort nach. Dann faßte er die Deichsel und bog in den schmalen Feldweg ein. »Kommt mit!« rief er zurück. »Ihr sollt warm und gut schlafen heute.«

Und dann stolperten sie durch die brausende Nacht hinter seinem Schatten her, ohne des Kommenden zu gedenken, tot auch für das Gewesene, und nichts als der Schritt, den sie gerade taten, war ihnen das Schicksal der Stunde.

Doch während ihre Seelen unter dem Sturme gingen, war die Seele des ihnen Voranschreitenden von dem Erlebnis der Stunde schwer erfüllt. Er war als ein junger und sehr ernster Mensch aus strengem Hofdienst unter die Fahnen gezogen. Er hatte gehungert und gefroren und gekämpft, schweigend und ordentlich, wie es seine Art war. Er hatte viel Grausiges gesehen und nicht gewußt, daß soviel Blut auf der Erde sein könne. Zuletzt hatten sie ihm den Arm abgenommen, und da stand er nun als ein elender Mensch in einem Lande, in dem der Mensch nach der Kraft seiner Arme gewogen wurde, und erfüllte sich langsam mit der Bitterkeit der Krüppel gegen die Gesunden und die Satten. Und da die Kraft seines Geistes nicht bis zur Erkenntnis und Versöhnung hinreichte, so warf er seinen langsam aufglühenden Haß gegen alle, die ihm zunächst als Überragende im engen Gesichtsfeld standen, vom Bauern, der ihm widerwillig den halben Lohn hinwarf, bis zum Pfarrer, der ihm von Gottes Gnade sprach.

Und wie die Bitterkeit seines Denkens alles auflöste, was als Güte oder Pflicht sich über seinen Tag erhob, so versank auch langsam alles Gewesene, was noch den Glanz einer Erinnerung trug, so daß nichts zurückblieb als der Haß des Ausgestoßenen, der nun von seinem Leben alles ausstieß außer dem Hunde, in dessen Augen zu blicken nicht Schmerz bereitete.

So war er ein paar Stunden zuvor beim Pfarrer gewesen, der ihn eingesegnet hatte, war mit harten Worten aus der Gemeinschaft der Kirche getreten und wie ein verlorener Mensch durch die leere Landschaft zum Hofe zurückgekehrt, um, mit seiner Zehrung versehen, wieder für eine Woche lang die Schafe zu weiden.

Er hätte nicht sagen können, was an dieser Schar der Hilflosen ihn ergriffen hatte und ihn bewog, sie mit sich zu nehmen in das dunkle Haus zwischen Wald und Heide. Vielleicht war es das Weinen des Kindes, denn er hatte sehr lange keine Kinder gesehen oder gar weinen gehört. Vielleicht war es der Haß des Jungen, der mit der Holzstange gegen den Bauern anging. Oder es war der Blick des Enkelkindes nach seinem leeren Ärmel und das Wort, das dazu gesprochen wurde.

Nicht daß er nun wahrend des Gehens über eine Freude nachdachte, die er diesen Armen bereiten könnte, aber in dem bisherigen schrecklichen Gefühl seiner Einsamkeit hellte seine Stirne sich langsam auf, wie er hinter sich das müde Rollen der Räder hörte und den stolpernden Schritt der Schar, die ihm blindlings folgte wie sonst nur sein Hund.

Eingebettet in ein brausendes Waldstück lag der Stall mit dem tiefen Dach. Davor dehnte sich die Heide im fahlen Licht der Nacht. Sie sahen nichts davon. Erst als aus der Laterne am Deckenbalken ein schwaches rötliches Licht über Herd und Tisch und Heukammer schwankte, ertrinkend in der grundlosen Tiefe des Stalles, aus dem nur vorne die Köpfe der Schafe auftauchten, trat das Wunder in ihre erwachenden Augen, und in Wärme und Geborgenheit schmolz die Erstarrung der Fremde, zum ersten Lächeln erblühend, daß dieser Tag ihnen gebar.

Unbeholfen, immer noch mit finsteren Augen, stand der Hirt unter der Laterne, geblendet von dem Glanz, den das matte Licht in soviel jungen Augen entzündete. Es war nichts zu hören als ab und zu die Bewegung der vielen Tierkörper, die wie eine leise Welle an der hintersten Wand sich erhob, bis sie stoßend an der Schwelle verklang, und der Wipfelchor des Sturmes, dessen auflodernde Akkorde am Dach zu ihren Häupten sich brachen.

Bis die kleine Eva in ihrem Wagen aufstand und, von kindlicher Erinnerung bewegt, in das Dunkel des Stalles die Frage schickte: »Ist das … der Stall von Bethlehem?«

Es kam keine Antwort. Nur der Hirt hob die Hand, als wollte er sie auf ihren Scheitel legen. Aber er ließ sie wieder sinken.

»Ihr könnt euch wohl ins Heu legen,« sagte er mit rauher Stimme. »Dann könnt ihr nachher essen.«

Sie gehorchten, nachdem sie die Wagen zusammengeschoben hatten. Aber sie schliefen nicht. Sie lauschten auf die Töne der nächtlichen Erde, sie blickten um sich wie Kinder in einem fremden Hause, leise einander zuflüsternd, was sie Seltsames sahen, und in ihren Augen wie in ihrer Stimme lag noch der Nachhall der Verstoßung und des Grauens vor der Verlorenheit auf dem Meer der Fremde.

Erst als das Feuer im Herde wuchs an Licht und Wärme, als sie den Einarmigen ab- und zugehen sahen, mit Zurüstungen beschäftigt wie zu einem Mahle, als der Hund sich streicheln ließ und sich behaglich in die Decken rollte, da stieg der erste tiefe Seufzer aus dem Abgrund des Erlebens, und ein leises Lachen flog wie ein später Herbstvogel über die sanft bestrahlten Scheitel.

Der Einarmige wandte sich nicht um. Er hielt nur verstohlen inne bei seiner Arbeit, und bittere Gedanken breiteten ihren Widerschein über seine gefaltete Stirn. Sie würden sonst in der Nacht sein, dachte er dann. Und die Nacht ist nicht gut …

Dann trat Jürgen zu ihm und bat, ihm helfen zu dürfen. »Es geht nicht gut mit einem Arm,« setzte er leise hinzu.

»Was wird dein Vater sagen, wenn du ihm das schreibst?« fragte der Hirt.

»Ich werde ihm nichts schreiben. Wie soll er dort solche Sorgen haben? Wenn Frieden ist, dann wird er alles wissen.«

»Frieden?« fragte der Hirt mit bitterem Lächeln. »Nie wird Frieden sein … das ist so wie mit eurem gelobten Land.«

Aber Jürgen war sehr ernst. »Was ist das hier?« fragte er eindringlich. »Wir hatten uns geirrt. Es war nicht dort am Tor. Hast du nicht gehört, was meine kleine Schwester sagte?«

»Sie redet, wie Kinder reden,« sagte der Hirt abweisend.

»Auch damals waren es Kinder, die auszogen,« meinte Jürgen, in Gedanken verloren.

»Gott ist gestorben,« flüsterte der Hirt. »Verstehst du? Sie haben ihn totgeschlagen dort draußen. Und als ich zurückkam hierher, da fand ich ihn nicht mehr. Nun muß man wohl so fertig werden.«

Jürgens Augen sahen ihn voller Schrecken an. »Wie kannst du sagen, daß Gott gestorben ist?« fragte er mit beherrschter Zurechtweisung. »Hast du uns nicht geführt und aufgenommen?«

Da verstummte der andere und trat zurück, fast als erschrecke er selbst nun vor den Worten des Kindes.

Danach, als er das Herbstgemüse in das Wasser tat, fragte er mit einem Blick nach der Heukammer, wie viele sie seien.

»Zwölf,« sagte Jürgen, der vor dem Feuer niedergekauert war, den Kopf in die Hände gestützt wie am Herde der Heimat vor dem Bilde des Hofes. »Zwölf,« wiederholte er aufblickend. »Weißt du nicht, daß wir soviel sein müssen?« Und aus der feuchten Tiefe seiner erschöpften Augen, in denen das Spiel der Herdflammen war, strahlte das Licht eines Altars auf den Fragenden.

Und darauf zog er den Brief seiner Mutter aus der Tasche und achtete nicht mehr des Treibens der andern.

Dem Einarmigen aber war es unter seiner Arbeit, als schlage sein Blut, in schweren Stößen rauschend, mitunter über seinem Herzen zusammen, so daß er, seiner Unruhe zu entweichen, ohne Zweck die Kammer verließ und draußen vor der Schwelle stand, die verwirrten Augen in die Nacht richtend.

Das Gewölk war zerrissen, und er sah die Sternbilder an alter Stelle über der Heide strahlen, wie auch die Umrisse des Waldes unverändert und schweigend ins Dunkel sich schwangen und sich verloren. Der Sturm riß an seinem leeren Kleide und stieß ihn in das kalte Bewußtsein seines hilflosen Lebens, doch sahen seine Augen zu gleicher Zeit das rötliche Viereck, mit dem die Laterne da drinnen den Umriß des Fensters in die Nacht hineinformte. Er trat an die halberblindeten Scheiben und sah hinein.

Er konnte geradeaus in die Heukammer blicken, wo die Gestalten der Kinder, ruhend oder sich leise bewegend, nicht mehr als Schatten darstellten. Aber wo das Helle der Gesichter vom Lichte getroffen wurde, blühte es vor dunklem Hintergrunde wie der sanfte Glanz eines Krippenspiels auf, als falle der rötliche Schein eines Sternes von oben her durch ein geflicktes Dach und beleuchte das uralte Geschehen, dem die fromme Sehnsucht die unveränderliche Form gegeben hatte.

Es war wohl nicht so, daß der regungslos Schauende das Sinnbildliche seiner selbst und des abendlichen Ereignisses in sich erlebte. Es mochte sogar sein, daß nur die Belebung seiner gewohnten finsteren Öde ihn ungewohnt bedrängte, daß nach dem harten Erfahren des Krieges und seiner Verstoßung aus Gemeinschaft und ewiger Bindung diese Aufhellung seines Lebens ihn erschütterte, als übersteige er mit einem Schritt die furchtbare Schwelle zwischen Haß und Tränen: aber er stand in dem hellen Ausschnitt der Nacht wie in einer Gnade, obwohl der Sturm ihn durchschauerte, und es war ihm, als müsse das alles vor seinen Augen ihm für immer entgleiten, wenn er aus dem Hellen in das Finstere trete.

Doch riß er sich endlich los und trat zur Schwelle zurück. Aber bevor er die Hand nach der Tür hob, kehrte er um und ging, das Antlitz tief gebeugt, nach dem kleinen Schuppen, in dem er sein Holz und ein wenig Gerät verwahrte. Er tastete mit der Hand an der freien Wand hinauf, hob das Gefundene mit leichter Mühe von dem Holznagel und kehrte nun erst wieder zu seinen Gasten zurück, indes seine schmalen Lippen fast verlegen lächelten.

»Fleisch!« rief Andres aus seiner dunklen Herberge. »Eva, es gibt Fleisch!«

Und da standen sie alle um den Herd, Heu im verwirrten Haar, die Decken noch in den Händen, und starrten schweigend auf das Wunder, das aus der Nacht zu ihnen getreten war.

»Ihr müßt wohl etwas Warmes haben,« sagte der Hirt wie zur Entschuldigung. »Ich habe es heute morgen schlachten müssen … besser ihr eßt es, als daß er es verkauft.«

»Es ist ein Lamm,« sagte Jürgen, die leuchtenden Augen zu ihm aufhebend. »Siehst du nun auch, daß er nicht gestorben ist?«

Doch war im Antlitz des Hirten nicht zu lesen, ob er ihn verstanden hatte. Nur schien er nicht erwarten zu können, daß das Mahl bereit sei, weil er die Augen der Kinder allen seinen Bewegungen folgen sah, und erst als der große Futterkasten statt einer Tafel unter die Laterne geschoben war und er aus dem Nachlaß des früheren Hirten eine Reihe weißer Schalen aus Lindenholz hervorgesucht hatte, stahl sich ein scheues Lächeln um seinen Mund.

Doch erhob sich Jürgen plötzlich und unerwartet aus seiner Versunkenheit mit der seltsamen Forderung, daß sie nach ihrer Kreuzfahrt erst ihre Füße waschen müßten, bevor sie zum gesegneten Mahle sich niederlassen könnten. Und so eindringlich und von tieferer Bedeutung erfüllt klangen seine Worte, daß sich keine Stimme dagegen erhob, ja sogar eine allgemeine, bewegte Freude sich kundtat und jeder sich dazu drängte, um der erste zu sein.

Doch ging nach Jürgens ernsten, fast feierlichen Weisungen das Ganze zwar fröhlich, aber ohne Streit und Störung vor sich. Und erst, als an seine Schwester die Reihe kam, während die andern schon wieder im Heu saßen und sich ankleideten, hob er unvermutet die Augen zu dem Hirten, der versunken auf Evas Scheitel niederblickte, und sagte ganz leise: »Sie ist unser Liebstes … Sieh ihre Füße an …«

Danach setzten sie sich zu Tische und das Licht der Lampe fiel über die schimmernden Scheitel, die über das Glück der Speise sich beugten, als sei es eine Handlung hingegebener Frömmigkeit, und es war nichts zu vernehmen als der weiche Laut der Löffel am Holz, das mahnende Winseln des Hundes und das verstohlene Drängen der Tierkörper in der Tiefe des dunklen Stalles.

In dieser Stunde erleuchtete das finstere Antlitz des Hirten sich von einem inneren Lichte, und wie er die Augen über die Köpfe der Kinder gleiten ließ, fühlte er dunkel und schwerfälligen Geistes, daß die Jahre des Krieges nicht den höchsten Gipfel der Welle bilden könnten, zu der sein Leben sich erhoben hatte, und daß selbst das Rauschen der Erde unter blanker Pflugschar ärmer erklingen müßte als der glückselige Atem dieser Hungrigen, denen er eine Speise bereitet hatte.

Und in solchem Gefühl wunderbarer Wandlung legte er den Arm um Evas Körper, die zu seiner Rechten saß und die nun, gesättigt und müde, den Kopf an seine Schulter gelehnt hatte, und blieb so, mit geschlossenen Augen in die Tiefe des Lebens blickend, das sich wie aus einem grauen Meere über Nacht vor seine Hand gehoben hatte.

Dann, als er jedem der Kinder seinen Platz im Heu gewiesen hatte, räumte er leise das Geschirr zum Herde, legte ein paar große Scheite auf die erlöschenden Flammen, sah mit der Laterne nach seiner Herde, der er Futter vorgeworfen hatte, und ging noch einmal vor die Türe, wo er wie vor dem Mahle neben der Schwelle stehenblieb, nach den Sternen blickend, die ostwärts über den Wald gestiegen waren.

Nach einer Weile öffnete sich die Türe neben ihm und schloß sich wieder, und er fühlte eine Gestalt neben sich, ohne daß er sie in der Schwärze der Nacht erkennen konnte.

Er wollte fragen, weshalb es nicht schlafe wie die übrigen, als er eine abwehrende Bewegung der Kinderhand an seinem Arme fühlte.

Da schwieg er, wissend, daß es das Enkelkind sei, dessen seltsame Worte ihn noch erfüllten.

Es war nun nichts zu vernehmen als der große Gang des Sturmes über den Wald und über die Heide unter den hohen Sternen hin, und ihr leiser Atem, der wie ein Hauch war gegen den schwarzen Schild, der vor ihren Füßen aufsprang bis an die Lichter des Himmels.

Da erklang die leise und gänzlich entrückte Stimme des Kindes in das große Brausen, und da sein Antlitz und seine Gestalt verborgen blieb, so schienen die Worte weither wie aus einem tiefen Walde zu klingen oder wie von einem großen Wasser im Nebel, aus dem kein Ruderschlag sich hob.

»Und da die Stunde kam,« sprach die Stimme, »setzte er sich nieder, und die zwölf Apostel mit ihm.

Und er sprach zu ihnen: Mich hat herzlich verlanget, das Osterlamm mit euch zu essen, ehe denn ich leide.

Denn ich sage euch, daß ich hinfort nicht mehr essen werde, bis daß es erfüllet werde im Reiche Gottes.

Und danach hielten sie miteinander das Abendmahl.«

Und nach einer Weile sagte dieselbe Stimme, nur noch leiser: »Weißt du nun, daß er nicht gestorben ist?«

Aber sie wartete nicht auf eine Antwort, und nur der Laut der Türe war zu vernehmen, die sich wieder öffnete und schloß.

Vor der Morgenstunde, als das Sternbild des Wagens schon die Wipfel berührte und der Atem der Kinder so unveränderlich durch die Stille ging wie das Steigen und Sinken eines nächtlichen Meeres, erhob der Hirte sich nach schlaflosem Lauschen, richtete seine Kleider im Dunkeln und verließ, von seinem Hunde gefolgt, das stille Haus.

Er ließ nicht eher ab, als bis der Pfarrer geweckt wurde – denn es lag erst ein kaltes Dämmerlicht über der Erde –, und dann erzählte er, was ihm widerfahren war. Doch nicht in der Art oder Absicht, sein göttliches Erlebnis vor dem andern auszubreiten, sondern nur mit der Bitte, daß der Geistliche die Mutter Jürgens benachrichtigen möchte, um ihr Unruhe zu ersparen, und daß er auf Mittel sinnen möchte, wie man etwas Geld für die Bahnfahrt der Kinder beschaffen könnte und etwas, um ihre Rucksäcke und Wagen zu füllen, damit ihnen nicht schon in den Kinderjahren das gelobte Land als ein Märchen oder gar als eine Lüge erscheinen möchte. Er selbst wolle sie etwa eine Woche bei sich behalten, wenn ihm der Bauer nicht dazwischen komme.

Das versprach der Pfarrer mit ergriffenen Worten, ohne auch nur mit dem geringsten an ihre gestrige Unterredung zu rühren. Und der Hirte, schon auf der Schwelle, sagte nur halb abgewendet, mit dem Austritt, das möchte er sich noch etwas bedenken, wenn es dem Pfarrer nicht allzusehr damit eile.

Danach waren die Kreuzfahrer acht Tage im gelobten Lande, und es schien ihnen nach Ablauf dieser Frist nicht mehr verwunderlich, daß sie zu Hause vom Erlöser gelehrt worden waren, er habe an sich genommen Knechtsgestalt und habe alle Sünde getragen.

Und als sie aus den Fenstern des Zuges zur Station zurückblickten, wo der Einarmige mit seinem Hunde stand und nur sein leerer Rockärmel im Winde sich bewegte, da weinten sie, als werde er ihnen entschwinden wie auf dem Gange nach Emmaus, und als würden sie ihn niemals mehr wiedersehen in den steinernen Tagen ihres Lebens.

Doch war es ihrer kindlichen Seele gemäß, daß jeder Stoß der Räder sie weiter fortriß von dem Erlebten und sie näher brachte zu der vertrauten Welt ihres bisherigen Daseins. Und sie malten einander mit großen Worten aus, wie sie als Weitgefahrene und als Sieger heimkehren würden zu ihren Müttern und ihren Kameraden, und welch ein Staunen sein würde über sie selbst und über die Beutewagen, mit denen sie einziehen würden wie nach einer großen Ernte.

 

Und als nach dem Verlassen des Zuges der unveränderte Atem der steinernen Stadt sie umfing, als die große Stille der Heide im Klange der Räder ertrank und sie an einer Straßenecke sich trennten wie nach einem Ausflug mit Eltern oder Lehrer, da fiel ein ernüchternder Tropfen in die leuchtende Schale, die sie solange mit sorglichen Händen durch Tage und Nächte getragen hatten, und ohne daß sie es wußten, legte sich langsam der graue Schein über ihre Stirnen, der damals über dem deutschen Lande lag, wo immer zwei Menschen einander anblickten, an deren Herz das Schicksal schlug.

Und wiewohl Jürgens Stirn nicht frei blieb von dem Schatten der neuen Erde, die ihn wieder umgab, so war er doch der einzige, der als ein Führer wiederkehrte, wie er ausgezogen war: erhobenen Hauptes und eines Lichtes voll, das nicht mehr verglühen konnte.

Und als sie wieder am Herde ihrer Heimat standen, als ihre Mutter zwischen Lachen und Weinen sie umarmte und Jürgens Antlitz zu ihren noch immer erschreckten Augen hob, da sagte er sehr ernst, die Hand an ihre Lippen hebend: »Still, Mutter, du darfst nichts sagen … wir haben es gefunden, und meine Augen haben den Heiland gesehen …«

Und darauf ging er still zum Herde und fuhr mit sorglicher Hand über das Bild des Hofes, der noch immer dort aufgebaut war, bis nichts zu sehen war als ein ebenmäßiger Sandberg auf einer blanken Eisenplatte.


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