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Tobias

Die Straße führt am Stadtpark entlang und dann, durch die alte Ringmauer hindurch, ins offene Land. Drei Lampen an hohen Masten hängen in den Abendstunden über ihr, und solange die Kastanien und Buchen belaubt sind, wechseln Brücken weißen Lichtes und Abgründe schwarzen Schattens auf dem glatten Pflaster. Geht aber ein Wind durch die Wipfel der Bäume, der auch die Lampen hin und her schwanken läßt, so ist immer ein gespenstisches Leben auf der unbewegten Fläche, sodaß die Lichtbrücken sich verengen und taumeln und zerbrechen und die fünf Finger der Kastanienblätter, im Schattenbild verlängert und verzerrt, über die Straße greifen und zurückweichen und voller Unruhe wieder vortasten.

In der Höhe der mittleren Laterne, verborgen unter zwei Trauerrüstern, stand die Bank, auf der sie zu dreien gesessen hatten. Sie hatten geraucht und gewartet. Es war nun nichts mehr zu besprechen gewesen, weil jedes Wort des Befehls eingebrannt war in ihr Gedächtnis, sodaß die Narben bei jeder Berührung schmerzten. Der Wind des frühen Herbstes war mit schwerem Brausen über sie hingegangen, und mitunter hatten sie nach oben geblickt, wenn der Ruf der Wildgänse eine unsichtbare Straße über sie gezogen hatte.

»Zittern Sie, Tobias?« hatte der Älteste gefragt. Nein, Tobias hatte nicht gezittert. Er hatte die Fingerspitzen in den weichen Stoff seines Mantels gepreßt, damit die Glut seiner Zigarette nicht das Beben seiner Hand verriete. Und dann waren seine Gedanken bei seinem Namen haften geblieben, weil sie sich an etwas Festes und Unveränderliches klammern mußten, um nicht zu stürzen. Ein lächerlicher Name war Tobias, ein Name aus Holzschnitten oder vergilbten Kupferstichen, aber hinter diesem lächerlichen Namen hob sich jedesmal das Gesicht seiner Großmutter auf, die ihm diesen Namen gegeben hatte. Und nichts Lächerliches war an diesem großen und strengen Gesicht. Die Pappeln um die Mühle hatte er noch gesehen, in der sie wohnte, eine einsame Herrin, und wie die hohen silbernen Schäfte im nächtlichen Raum sich bogen.

Und dann hatten sie die Schritte gehört. Nicht zwei, wie sie erwartet hatten, sondern mehr, fünf vielleicht oder sechs. »Verloren werde ich sein«, hatte Tobias noch gedacht, als er die Hand schon um das kühle Metall gelegt hatte. »Verloren muß sein, wer in solcher Stunde an seinen Namen denkt und an Bäume, die der Wind bewegt ...« Und dann waren sie hinausgetreten, noch immer im Schatten der hohen Wipfel.

Keiner von ihnen hätte nachher sagen können, wie es der Reihe nach geschehen war. Da waren die beiden Gesichter, aus vielen Versammlungen ihnen bekannt, schuldig an vielem Blut. Da waren die scharfen, hohen Stimmen, wie von eifernden Mönchen auf roten Kanzeln, die wilden Gebärden mit auch jetzt noch geballter Faust. Vielleicht hatte es einen Wortwechsel gegeben, vielleicht war alles ohne Laut geschehen. Zuerst hatte der Älteste geschossen, dann die andern, viele andre, und zuletzt Tobias. Einmal ... vielleicht zwei- ... vielleicht dreimal. Jemand hatte geschrien, laut und furchtbar. Leergewischt war die Straße gewesen, ein weißes Tuch mit roten Flecken. Und im grellen Licht der Lampe hatten die beiden Körper gelegen.

»Fort!« hatte Tobias gehört, aber er hatte nicht fortgekonnt. Einer der Toten hatte den Arm in einer gekrümmten Gebärde aufwärts gereckt, und die schwankende Lampe hatte den Schatten dieses Armes über das weiße Pflaster geschleudert, hin und her, sodaß er von dem Fuße der Kastanien bis zu Tobias' Füßen gegriffen hatte. Drüben, an der fahl beglänzten Hauswand, hatte ein Mensch gestanden, mit geöffneten Armen wie hingeschleudert an sie, und hinübergestarrt, auf den gleichen Schatten, der suchend über die Steine glitt. Jedesmal durch die dünne Blutlache, die schwarz erschienen war in dem erbarmungslosen Licht.

Und erst als Fenster sich klirrend geöffnet hatten, als das Signal des Überfallwagens in der Ferne aufgeheult hatte, war Tobias in den Schatten gesprungen, die Waffe immer noch in der Hand.

Er lief, blind, gehetzt, ins Dunkle hinein. Er wollte keine Laterne sehen. Er wollte seine Hände nicht sehen. Er wollte begraben sein vom barmherzigen Dunkel. Er merkte an seinem Atem, daß er den alten Ringwall hinaufjagte, und an der fallenden Leichtigkeit seines Körpers, daß er ihn auf der andern Seite hinunterstürzte. Er stieß an eine Bretterhütte und wußte nun, daß er am Rande der Stadt war und vor ihm das freie Land sich öffnete. Er blieb stehen, die Hände über dem schlagenden Herzen, und lehnte die Stirn an das kühle Holz. Tau war schon gefallen, und sein Gesicht empfing die Feuchtigkeit und den bitteren Geruch des Holzes. Stimmen gingen hin und her in der Ferne, ein Pfiff aus einer Signalpfeife, der aufsteigende Gang eines Motors. Aber es war eine fremde Welt, vergessen, fast nie gekannt, und nur der dumpfe Instinkt des Gehetzten in ihm empfing sie. Das andre aber, sein ganzes übriges Sein, ging zur Ruhe an diesem kühlen, betauten Holz, in dem Geruch der Wälder, der noch in ihm war, in den Bildern der Kindheit, die sich daran knüpften, Gewebe an Gewebe, weich, ebenmäßig, ohne Fehler, ohne Haß. Eine schwere Traurigkeit floß aus dem kühlen Holz in ihn hinein, die Traurigkeit erschöpfter Leidenschaft, und obwohl er gleichsam hinter der Bretterwand die Mahnung hörte, daß es gefährlich sei, hier zu stehen, daß man suchen würde, mir Hunden vielleicht, blieb seine gebeugte Stirn an dem kühlen Holz, und er weinte lange und lautlos, an eine kalte, fremde Hüttenwand gelehnt, indes hoch über ihm die Wipfel sich bogen und die schweren Wolken über die Erde stürmten.

Er richtete sich erst auf, als von neuem ein Zug von Wildgänsen sich über ihm durch das Dunkel pflügte, und ohne sich umzublicken ging er in das offene, dunkle Land hinaus, über Sturzäcker und Stoppeln und feuchte Wiesen, einen geraden Weg, der nicht auswich, als stünde zwischen den dunklen Hügeln ein Licht, das ihn erwarte. Er wußte, daß er dem Befehl untreu wurde, daß er in sein Zimmer zurückzukehren hatte, zu seinen Büchern und seiner Arbeit, zu den roten Plüschmöbeln und der Stehlampe auf seinem Schreibtisch. Daß er zu leben, zu sprechen, zu lächeln hatte, als ob nichts gewesen sei. Ja, daß ihm vorgeschrieben war, seine Laute zu nehmen und mit leiser Stimme zu singen: »Wir lugen hinaus in die sonnige Welt ...«, damit seine Wirtin hinter der dünnen Wand bezeugen könnte, er sei fröhlich und sorglos wie immer nach Hause gekommen.

Aber er konnte das nicht. Er mußte seine Hände waschen. Und das konnte er nicht in der breiten Steingutschüssel seiner Wirtin, mit dem Sprung, der durch den Rand ging, und der nachgemachten Marmorplatte, auf der sie stand. Er mußte seine Hände unter das kühle Wasser halten, das über das Mühlrad stürzte. »Ach, Großmutter«, würde er sagen, »nichts geht in der Welt über dieses Wasser ... alle Tinte nimmt es fort, allen Staub der Städte, allen Schmutz der Menschen, alles ... ja ... alles Böse nimmt es fort ... das Wasser des Lebens wird es wohl sein, aus dem Märchen ...« Und seine Großmutter wird ihn ansehen, mit den grauen, grundlosen Augen, und ihm zunicken und weitergehen, auf ihren Stock gestützt, aber kerzengerade wie ein junger Baum. Am Tor aber, wo die Kresse noch blüht, wird sie vielleicht stehenbleiben und sich halb zurückwenden und sagen: »Wenn Pilatus das gewußt hätte, oder jene englische Königin, mit ihren Händen, dann hätten sie es leichter gehabt, nicht wahr?« Und er wird vielleicht erblassen unter diesem Wort, weil sie seltsame Worte hat, die Großmutter, aber dann braucht er sich nur tiefer zu neigen und mit dem Kopf zu nicken oder auf das Wehr zu zeigen, unter dessen Donner man nichts verstehen kann.

Vier Tage und vier Nächte geht Tobias zwischen Hügeln und Wäldern nach Süden. Vielleicht ist es nicht so leicht, wie er gedacht hat, denn in der ersten Morgendämmerung verändert sich die Welt. Die Dinge der Erde stehen langsam auf, so langsam wie aus Gräbern: ein einzelner Baum auf dem nebligen Feld, der Giebel eines Hauses am Horizont, ein Busch an der Straße, der wie ein wartender Mensch aussieht, ein Kreuz auf einer fernen Höhe, das dann eine Telegraphenstange ist, mit einem Querholz für die weißen Isolatoren. Und neben den sichtbaren Dingen stehen die unsichtbaren auf, die dableiben, auch wenn er die Augen schließt: eine Straße, die nicht da ist, ein Mensch, der nicht da ist, ein gekrümmter Arm in einer klagenden oder auch drohenden Gebärde. Es hilft nichts, daß er lächelt. Das Lächeln ist erlogen. Es hilft nichts, daß er leise zum Takt seiner Schritte zu pfeifen beginnt. Im Walde pfeift es mit, hinter den betauten Bäumen, die so schweigsam auf ihn warten, ihn herankommen lassen, hinter ihm zurückbleiben. Und weshalb dreht er sich um, ganz plötzlich, immer wieder? Ist da ein Schritt hinter ihm? Nein, da ist kein Schritt, nur das unveränderte Gesicht der Bäume, ernst und grundlos wie das seiner Großmutter.

Leichter hat er es sich gedacht, das Gesicht des Tages, das Verschwinden der Schatten, die erste Röte über dem östlichen Himmel. »Und nähme ich Flügel der Morgenröte ...«, flüstert er und bleibt stehen, »und flöge bis ans äußerste Meer ...« Töricht sind sie, diese alten Psalmen ... Flügel der Morgenröte ... weshalb lernen wir solche Dinge, als unverständige Kinder ... und nachher schleppen wir sie fort, unser Leben entlang, zu allen andern Lasten ... schemenhafte Mahner, mit dem Geruch der Heiligkeit ... »So würde mich deine Hand daselbst finden ...«

Welche Hand? Hat jemand Gottes Hand gesehen? Wie sieht sie aus? Größer als eine Menschenhand? Blasser oder heiliger? Er blickt auf seine Rechte nieder, die rötlich beglänzt ist vom Morgenrot ... und mit einem Sprung ist er im Walde.

Das helle Licht versinkt, und ein tröstender, dämmernder Friede steht zwischen den grauen Stämmen. Er geht weit hinein in die feuchte Kühle, bis in eine Fichtenschonung, in die viele Birken verstreut sind. Er scharrt das welke Laub zusammen, in einem trockenen, verfallenen Graben, und schneidet Fichtenäste ab, so viele, daß sie wie ein Bett sind. Auf ihnen streckt er sich aus, bedeckt sich mit dem Mantel und häuft das trockene Laub über sich. Es riecht nach Harz, nach Tieren, nach Erde, ein verschollener Geruch, fern von Menschen und seiner Tat. Ein Specht klopft im hohen Holz ... so ruhig ist die Welt ... so sicher ... kein Vogel fürchtet sich ... in ihrem Eigenen sind sie, ganz zu Hause, mit anderen Gesetzen ... und sie haben ihn aufgenommen, daß er schlafen darf in ihrem Haus, in dem heiligen Gastrecht, das der Wald allen Verstoßenen gibt ... auch die Flügel sind nicht mehr da, die Flügel der Morgenröte, und keine Hand reckt sich aus ... bis ans äußerste Meer ... nicht Gottes Hand und nicht Menschenhand.

Er schläft nun bei Tage, und in der Abenddämmerung hebt er sich auf aus den großen Wäldern, ein Mensch mit Fichtennadeln im Haar und welken Blättern auf dem Mantelkragen. Ein arbeitsloser Student, jawohl, der durch Deutschland marschiert. Er bezahlt das Wenige, das er braucht, und manches bekommt er »um Christi willen«. Es ist schwer, etwas zu empfangen um Christi willen, weil es mehr als ein Wort ist, das man damit in seine Hand legt.

Am letzten Abend, in einem einsamen Hof, muß er mit dem Bauern und der Bäuerin am Tisch sitzen, wie ein Sohn des Hauses. Es sind Sektierer, und nachher, am Feuer, singen sie ein paar Lieder. Die Augen der Bäuerin sind immer auf ihn gerichtet, und er hört den Wind zu ihren Stimmen um das Haus gehen. »Gib mir und allen denen«, singen sie, »die sich von Herzen sehnen ... nach dir und deiner Hulde ... ein Herz, das sich gedulde ...«

Dann steht er auf und bedankt sich. Nein, er könne nicht bleiben. Aber vor der Tür dreht er sich noch einmal um und sagt leise: »Was ist das ... ein Herz, das sich gedulde?« Der Bauer will es ihm erklären, umständlich und aus seinem Glauben heraus, aber die Bäuerin schiebt ihn beiseite, tritt dicht an ihn heran und legt ihre harte Hand auf seinen geneigten Scheitel. »Sage es!« spricht sie leise. »Nicht uns ... aber dem nächsten, der so tut mit deiner Stirn ...«

Da geht er schnell davon, und hinter dem Tor beginnt er zu laufen, bis die Bäume der Landstraße wieder zu seiner Rechten und Linken sind.

Am nächsten Morgen steht er zwischen den Stämmen des Waldrandes und blickt auf die Mühle. Noch mehr Moos ist auf dem Rohrdach gewachsen, auf dem Mühlrad, auf den Pfosten des Zaunes. Die Dahlien blühen um das ganze Haus herum, ein brennender Kranz, und es ist ihm, als werde inmitten dieses Kranzes alles gut sein, wie in einem Zauberring. Er fühlt, daß sein Körper vor Erschöpfung zittert, und er setzt sich auf den Grenzhügel am Waldrand. Zu seinen Füßen geht der Mühlbach vorbei, mit dunklem, eiligem Wasser, aber das Rad steht still, und niemand könnte seine Hände unter ihm waschen. Nebel stehen noch um die dunklen Erlenstämme, und kein Rauch hebt sich über das Dach. Nur die Stare sammeln sich in den Rüstern, und in den Ställen klirren die Ketten der Pferde.

Er hat den Kopf in die Hände gestützt und starrt dies alles an, sein Kinderland, aus dem alles Kindliche nun ausgelöscht ist. Die Fenster sind geschlossen, und Feindschaft ist in ihrer blinden Regungslosigkeit. Die Blumen stehen unbewegt, schwer von Tau, und wer durch sie hindurch wollte, müßte den Tau von ihren Kelchen streifen. Er zieht die Pistole aus der Tasche und hält sie lange in den Händen. Dann nimmt er das Magazin heraus, ohne hinzusehen, und endlich zählt er auch die Patronen. Dreimal also hat er geschossen ... Bis jetzt hat er es nicht gewußt, aber nun weiß er es. Und um diese Stunde werden sie schon unter der Erde sein, die dunklen Körper auf der weißen Straße. Niemand weiß, wem ihr Tod zugehört. Sie hatten dieselben Waffen, und jeder von ihnen kann es gewesen sein. Und so wird es bleiben bis an seines Lebens Ende.

Mit einer müden Bewegung hebt er den Arm und wirft die Pistole in den Mühlenbach. Moder ist auf seinem Grund, Schlingpflanzen und wehendes Kraut. Dann folgen die Patronen, jede einzeln, und dann das Magazin. Jedesmal gibt es einen trüben Kreis, und jedesmal schließt sich das Wasser mit einem seufzenden Laut. Und dann ist die Strömung wieder dunkel und lautlos und glatt.

Als er sich wieder aufrichtet, steht die Großmutter auf dem Hof und sieht ihm zu. Die Jahre haben ihr Bild nicht berührt. Sie trägt die hohen Stiefel wie sonst, den grünen, halblangen Mantel, den Krückstock, das weiße Haar zu einem Knoten im Nacken gerafft. Sie sieht aus wie ein Soldat aus einem fremden Land, und wenige Menschen sind in der Landschaft, die dem Blick ihrer grauen Augen widerstanden haben. Und Tobias hat nicht zu diesen wenigen gehört.

Er sitzt auf seinem Grenzhügel, ein grauer Landstreicher vor dem Braun des Waldes, und blickt zu ihr hinüber. Immer, solange er denken kann, ist sie seine Mutter gewesen. Er steht im Kinderkittel vor ihr, und seine Hände brennen noch von den Äpfeln, die er dem Maurer gestohlen hat. »Bist du es gewesen, Tobias?« »Nein.« »Ein Lügner ist wie eine Distel im Weizen«, hat sie gesagt und sich umgedreht. Und sie hat kein Wort mit ihm gesprochen, tage- und nächtelang, eine ganz furchtbare Woche hindurch. Aber beim Essen, wenn er das Gebet gesprochen hat, hat sie ihn angesehen, schweigend und wartend. Wahrscheinlich hat Jehova so ausgesehen, als er in der Wüste stand und das Goldene Kalb betrachtete. Und nach einer Woche, beim Beten, hat er es nicht mehr tragen können und sich über das Buch geworfen und bekannt. Und sie hat ihre Hand auf seine Stirn gelegt und nur gesagt: »Nun bist du wieder im Weizenfeld ...«

Immer noch sitzt er da, grübelnd und zusammengesunken, und starrt zu ihr hinüber. Und immer noch steht sie da, auf ihren Stock gestützt, und sieht in den Wald. Er weiß nicht, daß ihre Hände zittern vor Angst, und sie weiß nicht, daß eine finstere Falte zwischen seinen Brauen steht. Jetzt erst bedenkt er, weshalb er hierhergekommen ist, und seine Stirn ist finster, weil er es nicht weiß. Vielleicht hat er sich verbergen wollen; aber nun erkennt er, daß man nur im Schatten sich verbergen kann, und die Großmutter hat keinen Schatten. Nie war soviel Klarheit um einen Menschen wie um seine Großmutter. Und wenn die Mühle Kammern und Gänge und Winkel hat, auch in der Mühle ist kein Schatten, weil die Augen der Großmutter in der Mühle sind. Alle Disteln sterben auf ihrem Feld.

Er hört die Blätter hinter sich fallen, und wie ein warmes Haus ist ihm nun der Wald, voller Schatten und Gnade. Er dreht das Gesicht zur Seite, ganz langsam, um zu sehen, welche Büsche ihn verbergen könnten, und in dieser kurzen Zeit ist die Großmutter zum Taubenhaus gegangen. Sie hat die Tür geöffnet, und ein vieltönendes Brausen steigt in die Stille. Und als Tobias wieder den Kopf wendet, sieht er die Großmutter in einer weißen, auf und ab steigenden Wolke. Auf ihren Schultern und Händen sitzen die Vögel, verdrängen einander, kehren wieder zurück, und mit einem Mal ist der stille und strenge Hof von lebendiger Güte erfüllt, von einem warmen Schein des Lebens, vor dem der Wald zurückweicht in eine finstere und zugeschlossene Abwehr.

Da steht Tobias auf und geht auf den Hof. Im Vorbeigehen berührt er mit der rechten Hand leise die Dahlien, die sich durch den Zaun drängen, und seine Hand ist naß vom kühlen Tau.

»Nun, Tobias«, sagt die Großmutter ruhig, »hast du schon Ferien gemacht?« Er küßt ihre Hand und versucht zu lächeln. Ja, sagt er, man habe sich wieder ein bißchen geprügelt an der Universität, und da habe der Rektor die Bude für acht Tage zugemacht.

»Ach, ihr jungen Heiden ...« erwiderte sie lächelnd und küßt ihn auf die Stirn. »Nun komm ins Haus ... bei der Großmutter gibt es weder Rektor noch Prügel ...«

»Nichts fragt sie«, denkt Tobias voller Unruhe. »Nicht, wie ich hergekommen bin, und nicht, weshalb meine Schuhe so naß sind ... Immer noch wartet sie, bis man nicht anders kann als alles herausschreien ... Aber vielleicht ist sie alt geworden und nur glücklich, daß ich wieder da bin ...«

Aber schon beim Morgenfrühstück ist es ihm schwer, daß niemand sich wundert, wie er so in der Frühe plötzlich da ist. Sie kommen alle heran und reichen ihm die Hand, das alte Mädchen und der Müller, der schon weißes Haar hat, und der Geselle und zuletzt die beiden Lehrjungen, die er noch nicht kennt. Alles ist unverändert, der schwere Hausrat, der dunkle, große Tisch, die Zinnteller, die Bibel auf dem alten Platz aus der Kinderzeit. Und niemand spricht auch, den die Großmutter nicht fragt. Sie sitzt in ihrem hohen Stuhl, ein Tuch um die Schultern, und das Morgenlicht gleitet von ihrem Gesicht ab wie vom glatten Holz. Nur in ihren Augen sammelt es sich; aber sie sind ebenso grau wie das Licht, und nichts ist aus ihnen zu lesen, als daß sie wachsam sind und verschwiegen.

»Möchtest du nun beten, Tobias?« sagt sie leise und schiebt das schwere Buch etwas näher an seine Hand.

Solange Tobias denken kann, ist es sein Amt gewesen, das Gebet zu sprechen, selbst in den Tagen, als er »gleich den Disteln« war. Es ist kein Anlaß, daß er nun erblaßt. Niemand sieht ihn an außer der alten Frau. Alle andern sehen still auf ihre gefalteten Hände. Aber er kann es nicht. Er kann mit seinen Händen nicht das heilige Buch öffnen und die großen und klaren Worte der Gottesmänner lesen. Bitterkeit ist in seinem Munde, und die Worte würden sich entheiligen vor seinen Lippen. »Ach, Großmutter«, sagt er und versucht, einen gütigen Scherz daraus zu machen, »vielleicht bin ich doch schon zu alt dazu ...«

Sie lächelt nicht zur Antwort, aber sie zeigt auch weder Trauer noch Zorn. Sie legt nur die alte Hand mit den bläulichen Adern auf das schwere Buch und schiebt es über den Tisch dem Müller zu, demselben, dessen Haar schon weiß ist. »Vielleicht hast du recht, Tobias«, sagt sie, »und es ist nur eine Sache für die Jungen ... Lesen Sie nun, Heinrich ... am hundertundneununddreißigsten Psalm ...«

Und Heinrich zieht die Brille aus der Tasche, dort, wo er in ein abgegriffenes Buch die Getreidesäcke und die Gewichte einträgt, setzt sie feierlich auf und beginnt mit seiner schweren Stimme zu lesen, den mehlbestaubten Finger unter den großen Buchstabenzeilen: »Ein Psalm Davids, vorzusingen ... Herr, Du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; Du verstehest meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist Du um mich und siehest alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, daß Du, Herr, nicht alles wissest. Von allen Seiten umgibst Du mich und hältst Deine Hand über mir. Solche Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch; ich kann sie nicht begreifen. Wo soll ich hingehen vor Deinem Geist? Und wo soll ich hinfliehen vor Deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist Du da. Bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist Du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch Deine Hand daselbst führen und Deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken!, so muß die Nacht auch Licht um mich sein ...«

»Es ist nun genug, Heinrich«, sagt die Großmutter ruhig und zieht das Buch wieder auf ihren Platz. »Nun wollen wir essen ...«

Und so geschieht es. Auch Tobias ißt. Dasselbe Brot, das er als Kind gegessen hat, ein schwarzes, schweres Brot, auf dessen Rücken die Großmutter drei Kreuze mit dem Messer zeichnet, bevor sie es anschneidet. Aber er weiß nicht, daß es Brot ist. Es könnten auch Steine sein, Steine, die in seinem Mund zu glühen beginnen. Ja, es ist derselbe Psalm, den er oft an diesem Platz gelesen hat. Nichts Merkwürdiges ist dabei. Aber sie hätte einen andern aussuchen können, einen vom Frieden und vom frischen Wasser. Nichts ist merkwürdig an der Großmutter. Eine alte Frau, die ihr Brot in die Suppe bröckelt, wie man es zu ihrer Kinderzeit getan hat, und dazwischen jeden anweist, was er zu tun habe bis zum Sonnenuntergang. Nichts merkwürdig als ihre Augen, die auf seine Hände sehen.

Ja, Tobias will schlafen, denn er ist die ganze Nacht gewandert. Studenten hätten niemals Geld, und so sei er eben zu Fuß gegangen. Die Großmutter kommt noch einmal herein, als er schon in dem breiten Bett liegt. Sie zieht die Vorhänge noch dichter zusammen, obwohl kein Licht hineinfällt, und rückt die Vase mit den Dahlien genau in die Mitte des Tisches. Ob sie das Rad abstellen sollten, wenn es ihn vielleicht störe? Ach nein, er sei es ja gewohnt von Kindheit an! Und die Mühle müsse doch mahlen, damit die Menschen Brot hätten. Ja, das sei wohl wichtig, sagt die Großmutter, und nirgends schlafe es sich so gut wie in einer Mühle, wo die Steine mahlten wie von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und damit geht sie leise aus der Tür.

Die Tage gehen still dahin, unter einer verhüllten Sonne. Der Wald färbt und entlaubt sich, und man kann weit hineinsehen vom Tor aus oder von der Steinbank am Mühlenrad. Man kann die Straße weit entlangsehen, bis zur Fichtenschonung, die der Herbst nicht berührt hat und aus der sie hervortritt wie aus einem dunklen Tor. Und kann jeden Menschen sehen, der aus diesem Tor heraustritt, den Briefträger oder den Förster oder die Wagen, die mit Korn zur Mühle gefahren kommen. Der Bauer geht daneben, die Leine in der Hand, und wenn er jung ist, kann es sein, daß er ein Lied pfeift, und man hört es lange, bevor er aus der Schonung heraustritt, in der stillen Luft, die über den Wäldern steht. Auch wenn der Landjäger käme, würde man ihn von weitem sehen und wissen, daß er zur Mühle kommt.

Aber es geschieht nichts. Tobias hat an seine Wirtin geschrieben, daß seine Großmutter erkrankt sei und daß er das Zimmer behalten möchte. Und das ist der einzige Brief, den er geschrieben hat. Und nun hat er weiter nichts zu tun. Er steht am Tor, hinter den welkenden Dahlien, und blickt auf die Straße. Oder er sitzt neben dem Mühlrad und streckt ab und zu seine rechte Hand unter das schäumende Wasser und blickt auf die Straße. Und erst als zwei Wochen vergangen sind, ohne daß die Straße ihm jemanden geschickt hätte, sagt er eines Morgens zur Großmutter, daß er gern pflügen möchte statt des Gesellen, der doch in der Mühle nötig sei.

Und nun geht er vom Morgen bis zum Abend hinter dem Pfluge her, von den Nebeln der Frühe bis zu denen der Dämmerung, und es ist ihm in seinen langsamen Gedanken, als breche auch sein ganzer Lebensweg so aus den Nebeln auf und gehe so in ihnen unter. Er weiß nicht, was mit ihm werden soll. Er ist ausgebrannt von seiner Tat, und nur ein finsterer Trotz ist wie eine düstere Brandmauer stehengeblieben. Da ist nicht die Tat, die ihn zerfrißt. Die Tat hat ihn nur leer gemacht. Aber da ist die Großmutter, die vor seiner Leere steht, schweigend, auf ihren Stock gestützt, und in diese Leere hineinsieht wie auf eine abgebrannte Hofstelle. Ob sich dort noch etwas regen werde unter der erkaltenden Asche, etwas, das verschont geblieben ist. Sie fragt nicht, und es sind auch keine besonderen Psalmen mehr, die sie aussucht. Aber sie ist anders geworden, und jeden Morgen ist es eine neue Veränderung, die er bemerkt. Sie leidet, und jedermann in der Mühle sieht es. Es ist so außerhalb aller Ordnung, daß ein Mensch wie die Großmutter leidet, daß es alles Leben verdunkelt, alle spärlichen Gespräche, allen Lampenschein in der großen Stube, ja selbst das Wasser, das über das Mühlrad braust.

Wenn der alte Müller nach dem Essen fragt, ob sie nun einen neuen Stein bestellen sollen zu dem zweiten Mahlgang, wie sie im Frühjahr besprochen hatten, sieht sie ihn an, als hätte es aus der Wand hinter ihm gefragt, und sagt dann leise: »Ich weiß nicht, Heinrich ... ich weiß es wirklich nicht ...« Dann fliegen alle Augen einmal über ihr Gesicht und schlagen sich dann wieder zu Boden, und einmal, nach einer solchen Antwort, steht die Magd vom Tische auf und geht laut weinend hinaus.

Rastlos ist die Großmutter geworden. Das Maß aller Dinge, das sie gewesen ist, solange man denken kann, ist zerbrochen, und das Gesetz hat aufgehört, in der Mühle zu stehen. Sie geht am Tage umher, auf ihren Stock gestützt, vom Hoftor zum Stall, vom Stall zur Mühle, von der Mühle zum Rad, und wieder zurück. Sie bleibt bei Heinrich stehen und sieht zu, wie das Mehl in die Säcke rauscht, aber sie sieht nichts. Sie bleibt am Hoftor stehen und sieht zu, wie Tobias pflügt, aber sie sieht nichts. In zwei Schlangen könnten die Pferde sich verwandeln: ihre Lider würden nicht zucken. Und auch in den Nächten steht sie auf und wandert, ans Tor, in die Ställe, die Treppen hinauf und hinunter. Sie bleibt vor den Kammern des Ingesindes stehen, und sie wachen auf davon, daß das Stoßen des Stockes aufhört vor ihrer Tür und daß es leise spricht hinter dem dunklen Holz, eine zerbrochene, ratlose und ganz verirrte Stimme.

»Es ist nicht gut, Frau«, sagt Heinrich eines Abends, als er den Mahlgang abstellt und sie auf seine Hände blickt. »Sagen Sie, was wir tun sollen ... alles werden wir tun ...« Aber sie schüttelt nur den Kopf. »Gott züchtigt mich«, sagt sie leise, wie im Traum. »Haltet nun still mit mir ... ganz still ...«

Und Tobias, so sehr er im Nebel zu Hause ist, fühlt, daß sie ihn ausstoßen, schweigend, ohne Haß in den Blicken, aber mit einer unerschütterlichen Festigkeit. Die Welt seiner Zuflucht stößt ihn aus. Es tröstet ihn nicht, daß er sie die Welt der alten Ordnungen nennt, die nichts von den Krämpfen wisse, in denen seine Jugend nach Boden und Recht und Ehre tastet. Daß sie in der Verschollenheit lebe, indes draußen, auf den hellen Straßen, um das Leben des Volkes gerungen wird. Daß die Mühlen der Städte anders mahlen als hier, daß Blut zwischen ihren Steinen steht und nicht Brot. Er ordnet sie mit großen Worten, diese Gesetze der neuen Welt, und richtet sie auf vor diesen stillen Gesichtern, aber die Gesichter wenden sich ab, und auf ihren Stirnen steht schweigend das alte Gesetz, das stille und ganz einfache, das Gesetz aller alten Mühlen: Maß für Maß.

Und er sieht nun nicht mehr die Landstraße entlang, ob aus der dunklen Schonung ein Mensch oder ein Schicksal komme. Leer und erstorben ist das Schicksal der Straße für ihn. Er sieht nur noch in das Gesicht seiner Großmutter, heimlich und mit wachsender Verzweiflung, und er erkennt, daß nur aus diesem Gesicht sein Schicksal kommen wird. Und daß er es rufen muß, er allein, und früher wird kein Leben sein, sondern nur ein langsamer Tod.

Auch er erwacht nun in den Nächten, wenn ihr Stock durch das Haus wandert. Er sitzt aufrecht in seinem Bett, mit schlagendem Herzen, und verfolgt den dumpfen Ton, mit dem sein Schicksal umgeht, ein Wiederkehrer, den niemand erlösen will. Er hört den Schritt verstummen vor seiner Tür, lange, qualvolle Zeit, und wieder davongehen, langsamer nun, schleppend, wie ein zerbrochenes Tier. Und er stürzt an den Riegel und preßt das Ohr an das kühle Holz, bis alles verstummt in dem großen, dunklen Haus und nur der Wind über die Felder geht, ein klagender, mahnender Ton, der in den Wäldern ertrinkt.

Er fühlt, daß die Großmutter mit ihm ringt, ja daß sie ihn zerbricht, ohne ein einziges Wort, ohne seine Hand anzurühren, aber daß sie ihn zerbricht. Eine alte Frau, aus einer verschollenen Welt, mit einem erloschenen Gesicht, und daß sie sterben wird, wenn er sich wehrt, lautlos sterben wird, mit einer unhörbaren Klage gegen Gott, für den sie gefochten hat und gefallen ist.

Und in der nächsten Nacht, als der Schritt vor seiner Schwelle verstummt, springt er auf und reißt den Riegel zurück. Vielleicht will er schreien oder fluchen oder nur weinen, wie damals als Kind. Aber alles dieses kann er nicht. Denn als er die Tür ins Zimmer reißt, kniet die Großmutter auf der Schwelle, und ihr weißer Scheitel, der Stütze beraubt, sinkt gegen seine Knie. Der Stock fällt auf die Dielen, und es hallt dumpf den Gang entlang, alle die vielen Gänge, die bis unter das Dach der Mühle laufen.

»Großmutter!« schreit er. »Großmutter ... erlöse mich ...!«

Und siehe, die alte Frau steht auf, ohne nach dem Stock zu greifen. Ein aufrechter, fester, in sich ruhender Mensch, eine Herrin wieder über Tier und Feld, und geleitet ihn auf sein Lager, behutsam, als ob sie ein weinendes Kind geleite, und hüllt ihn in seine Decke und legt die Hand auf seine Stirn und sagt leise, fast glücklich: »Sage es nun, mein Kind ...«

Und in ihre Hände hinein sagt er alles, was gewesen ist.

Nichts wird verabredet, nichts gefragt, nichts erwogen. Aber am nächsten Morgen, an dem schweren, dunklen Tisch, legt die Großmutter die Hand auf die alte Bibel und sagt: »Wir wollen nachher beten ...« Und dann, als die beiden Lehrjungen ihre Zinnteller zurückgeschoben haben, steht die Großmutter auf und sieht langsam von Gesicht zu Gesicht, bis auch die andern aufgestanden sind. »Mein Enkelkind«, sagt sie und legt die Hand auf Tobias' Hand zu ihrer Rechten, »mein Enkelkind hat getötet und wird sich nun beugen unter das Gesetz ... tretet heran und nehmt Abschied von ihm ... mit reinem Herzen ... wie er mit reinem Herzen Abschied nimmt von uns ... und nun wollen wir beten ...«

Und die Großmutter spricht das Vaterunser, mit lauter und freudiger Stimme.

Und dann befiehlt sie, daß Heinrich anspanne und mit ihnen zur Stadt fahre.

*


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