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Atli der Bestmann

Er kam an Bord, nachdem der Motor anderthalb Stunden angelassen war. Die Jungs warteten an den Haltetrossen, der Kapitän stand am Ruder und fluchte, daß das Bollwerk sich bekreuzigte, der Lotse tat, als habe er eine Erfindung am Ankerspill gemacht, und ich stand unter dem Schonermast und überlegte, ob es nicht besser sei, noch von Bord zu gehen.

Es war nicht sehr gemütlich.

Dann kam der Kapitän nach vorn, als sei ihm die Resonanz am Ruder zu gering, wobei er dem Abzugsrohr des Motors einen Fußtritt gab, und starrte den Lotsen und mich abwechselnd aus seinen kleinen Augen an, die vor Zorn überliefen. »Angelogen hat mich das Schwein«, schrie er, »diese Schweine lügen immer.«

Das »Schwein« war einer der Freunde des Kapitäns, Heuerbaas, Schankwirt, ship-chandler, Mann für alles. Um vier Uhr morgens hatte er einen etwas schmierigen Zettel geschickt: »Bestmann »Bestmann« heißt der Steuermann auf kleinen Segelschiffen. kommt um sieben an Bord.« Koarl, der bisherige, war am Abend ins Lazarett gegangen, nachdem die »Marianne« ausklariert und der Lotse auf sechs Uhr früh bestellt worden war. Jetzt war die Uhr acht.

Es war nicht sehr gemütlich.

Er kam um viertelneun, nicht besonders eilig, einen altertümlichen Seemannssack auf der linken Schulter. Bevor er über das Laufbrett kam, blieb er stehen und sah einmal prüfend über das Schiff, vom Klüverbaum bis zum Windwimpel über dem Besan. Es war ein mißtrauischer, spähender Blick aus zusammengekniffenen Augen, und dann nickte er flüchtig über uns alle hin, als sei nun alles in Ordnung und wir dürften nun »bequem stehen«.

Es war entwaffnend.

Alle Augen hingen am Gesicht des Kapitäns wie an einer Dynamitkiste. Aber es geschah nichts, er hatte die Sprache verloren, und wir hörten, daß er stöhnte.

»Plenty of time, captain«, sagte Atli und warf den Sack vor das Logis, »hatte noch einiges auszuklaren, können starten, scheint mir.«

Der Kapitän fraß ihn gleichsam mit seinen Augen, aber Atli wickelte sich einen Wollschal um den Hals, band den Sack wieder zu und ging einmal um das ganze Schiff, nickte dem Maschinisten zu, der am Fuß seiner Treppe stand, beugte sich über das geöffnete skylight, legte die Hand im Vorübergehen auf das Ruder und machte Bekanntschaft mit seiner neuen Heimat. Alles an seinen Augen und Bewegungen war schnell, sorgfältig, überlegen, selbstverständlich.

»Vorne los!« brüllte der Kapitän unvermittelt und stürzte nach dem Ruder. Die Leine flog los, der Motor sprang an, die »Marianne« kam vorne frei, dann achtern, der Lotse seufzte erleichtert auf, das Bollwerk blieb zurück, das Schicksal hatte entschieden.

»Klüver hoch!« brüllte der Kapitän.

»Klüver hoch!« wiederholte Atli gehorsam mit der gleichen Tonstärke.

Es rauschte leise am Bug, und es gab keine Rückkehr mehr.

Das war Atli, wie wir ihn zuerst sahen. Wir sahen später noch mehr von ihm, aber gleichsam nur dem Umfang, nicht dem Inhalt nach. Der Inhalt blieb verborgen, war aus Worten, Gebärden, Handlungen zu erraten, zu vermuten. Wir hörten ihn auf einer nächtlichen Straße gehen und schlossen aus dem Klang seiner Schritte auf den Sinn seines Weges. Aber wir sahen ihn nicht. Er war ein Mensch im Dunklen.

Die »Marianne« war ein Dreimastschoner mit Hilfsmotor, dreiundzwanzig Meter lang, in Dänemark gebaut, auf den Färöern gekauft. Sie fuhr mit fünfundsechzig Standard Holz nach England, lief zwölf Seemeilen mit Motor und voller Leinwand, hatte einen Kapitän, »Schiffer für große Fahrt«, einen Bestmann, vier Jungs und mich.

Ich war Passagier und der Ordnung halber als Koch angemustert. Ich hatte ein Gedicht auf »Marianne« in der Zeitung veröffentlicht, und der Reeder war zu mir gekommen und hatte mich gefragt, ob ich nach England mitfahren wollte. Zwar der Kapitän sei etwas schwierig. Ich erwiderte, daß meine seelische Verfassung schwieriger sei als alle Kapitäne der Welt zusammen und daß ich mit dem schwierigen Kapitän bis Cayenne fahren würde. Der Reeder meinte, Dichter schienen ihm ebenso schwierig zu sein wie Kapitäne, und der Handel war abgeschlossen.

Es war eine solide, ja es war eine fast bürgerliche Angelegenheit. Fünfundsechzig Standard Bretter, Bohlen und Stempel für Dawson Walker & Co. Ltd. Dort nach Möglichkeit Heringe von den Shetlandinseln oder beliebige Fracht nach Skandinavien, von dort mit Steinen oder Papierholz zurück. Dauer vier bis fünf Wochen, Fracht, Ölverbrauch, Lotsen, Assekuranz, alles aufs genaueste auskalkuliert.

Ich betone es ausdrücklich, daß es eine fast bürgerliche Angelegenheit schien. Ich fuhr hinaus wie zu einer Ferienreise, des Kommenden in den Einzelheiten nicht ganz gewiß, aber in Unterkunft, Verpflegung und frischer Luft hinreichend gesichert. Und da England nicht der Kongo war, machte es kein besonderes Aufsehen, daß ich nach England fuhr.

Der Kapitän war nicht schwieriger als Verleger oder andere Diktatoren. Er hatte mich ins Mannschaftslogis gesteckt und sah mich nicht. Er hatte drei Kisten Genever in seiner Kajüte und war ein Mann, der keine Gesellschaft brauchte. Unter dem skylight hing eine Kompaßscheibe, und er konnte von seinem Sofa den Wimpel am Besan sehen. Infolgedessen brüllte er seine Befehle für den Mann am Ruder aus der Unterwelt. Ich dachte, daß das so sein müsse. Ich wußte nichts von Segelschiffahrt und Kapitänen.

Er pflegte mich erst nach einer bestimmten Genevermenge zu sehen. Er trank ihn aus einer flachen, edelgeformten Schale, von der ich immer glaubte, er habe sie bei einem Überfall geraubt. Es fiel ihm dann »wie Schuppen von den Augen«, und er machte, nicht vor der Abendzeit, ein paar Runden um das Deck. »Alles klar?« fragte er im Vorübergehen, die rötlichen Augen mörderisch auf mich gerichtet. »Alles klar, Kapitän«, erwiderte ich höflich. Womit beide Teile befriedigt schienen.

Mit den Jungs ging es gut. Sie betrachteten mich als ihren Schützling, eine Art von König, der kronenlos an ihre Küste gespült war, hatten harte Arbeit und schliefen, wenn sie am Mast standen, in fünf Minuten ein. Gemein sei der Alte nicht, aber hart wie eine Stahltrosse. Der Älteste war siebzehn, und sie schrieben jeden Abend eine Karte nach Hause. Auf Vorrat.

Aber alles dieses, Kapitän, Jungs, Segel, Wind und Meer, war für mich nicht Inhalt. Es waren Bilder an der schwankenden Wand meiner Tage und Nächte, nahe und entferntere, deutliche und verschwimmende.

Der Inhalt war Atli, Atli war das Meer, das Schiff, der Horizont, das Unbekannte, das Geheimnis. Alles andere war einzuordnen in mein Leben, war fremdartig, neu, selbst zugeschlossen. Aber es gehörte nicht einer anderen Erde an. Es gehorchte Gesetzen, hatte Ursache und Wirkung, war zu enträtseln, zu begreifen.

Atli aber war von einer anderen Erde. Er war ein Vogel, der bei uns rastete, aus einem fremden Klima verflogen. Kein Zweifel, daß es ein Raubvogel war. Sein Gesicht mit den wimperlosen Augen, hell, scharf, wach, war eines Habichts Gesicht, und so war sein Körper, gedrungen, beherrscht, stoßbereit, von unsichtbaren Spannungen geladen. Er war der König im Logis, gleichviel ob er erzählte, Mundharmonika blies oder finster, von einer fremdartigen Trauer umhüllt, in seiner Koje lag und über sich ins Leere starrte.

Er war kein Tyrann, kein Raufbold, kein billiger Athlet. Er war einfach ein König, und die Selbstverständlichkeit des Zepters ruhte in seinen gerechten Händen. Er umfaßte alles mit gleicher Kühle, Sachlichkeit und Teilnahme: Schiff, Menschen, Wetter, Verpflegung, Zwischenfälle. Er schwebte über den Wäldern und sah mit ruhiger Aufmerksamkeit auf unser ärmliches Leben.

» Well, was bist du für ein Vogel?« fragte er in der ersten Stunde.

»Passagier.«

»Olala ... Reporter?«

»Nein, Schriftsteller.«

»Romane?«

»Ja.«

» All right ... war drei Monate Reporter in Frisco. Warfen mich über Bord, weil alles Schwindel war, was ich schrieb. Brande, Überfälle, Morde and so on. Was war zu machen? Ich mußte leben. Konnte nicht dafür, daß so wenig geschah in dieser verdammten Stadt. Oder immer woanders geschah.«

Ich lachte, und er sah mich von der Seite an. »Hast gut lachen«, sagte er abwesend.

Der Kapitän sah ihn noch weniger als mich. Er wechselte niemals ein Wort mit ihm. Er schrie Befehle oder Fragen über Deck, irgendwo in eine lauschende Allgemeinheit hinein, und Atli, vom Ruder oder aus dem Logis oder aus den Wanten, schrie die Antwort oder wiederholte den Befehl. Es war sehr seltsam.

Bis ich merkte, daß der Kapitän sich fürchtete. Wir kreuzten in der Abenddämmerung durch den Fehmarnsund. Regenböen und fixe See. Alle zehn Minuten gingen wir über Stag, ohne Lotsen, wie ein Piratenschiff. Ich stand am Schonermast und sang in den wilden Abend. Ich hatte das Land schon vergessen. »Alles klar?« schrie der Kapitän durch den Sturm. »Alles klar, Kaptein«. Aber er kam noch einmal zurück und sah sich verstohlen um. Atli stand am Ruder, und sein helles, kühnes Gesicht war vorgebeugt wie von einem Horstrand über einen donnernden Wald. »Er ist ein Hund«, flüsterte der Kapitän aus einer Geneverwolke. »Ich werde ihn in Eisen legen ... wetten, daß noch was passiert?« Eine müde, gleichsam erschöpfte Angst flatterte aus seinen Augen, aber bevor ich etwas erwidern konnte, war er fort, mit einer jähen Wendung, als stehe ein Mörder hinter dem Logis. Ich glaubte, es sei der Genever, und es war mir eine tröstende Gewißheit, daß Atli am Ruder stand, wach, gespannt, wie ein Vogel mit angezogenen Schwingen.

Es geschah nichts. Wir kamen heil um Skagen und machten gute Fahrt. Alle vier Stunden zog ich die Logleine ein und las die Seemeilen ab. Atli schrieb die Zahlen in ein zerknülltes Heft. Das Leben unter den hohen Segeln war groß, rauschend und weit. In den Nächten lag ich unter dem Großmast, und wenn ich die Augen öffnete, sah ich die Sterne über den weißen Mastspitzen. Sie glitten hinauf und hinab, mit jeder sanften Bewegung des Schiffes, und es war mir, als führen wir in sie hinein, aus einer alltäglichen Erde in das Unerhörte einer beschwingten und leuchtenden Welt. Mitunter stand Atli neben mir, an den Großbaum gelehnt, und ließ ein paar nebensächliche Stücke seines Lebens wie achtlos aus den Händen fallen. Sturm bei den Hawai-Inseln, vier Wochen Schlachthof in Sidney, Hafenkeilerei auf Kuba, Schwarzfahrt durch die Pampas. Ohne große Worte ... blooming job ... ein paar Handbewegungen ... eine resignierte Hebung der Schultern. »Nie passiert was«, sagte er müde, »wo ich bin. Just as in Frisco. Es ist, als ob alle diese Kähne bloß Äppel geladen haben ... Meinst du, daß hier was passiert, passenger? Not a bit of it!«

Es war kein Zweifel, daß ich Atli liebte. Ich liebte ihn gleichsam wie die Vollendung meines Lebensfragments. Er war der wilde Bruder meiner gezähmten Seele, das ungebrochen Schweifende, die furchtlose Verwirklichung gestaltloser Träume. Wir alle waren Kinder vor seiner Jugend, früh verhärtete Formungen der Zivilisation, der Beugung, des Gehorsams. Er war ein Wesen außerhalb des Käfigs, und wir starrten seinem Fluge nach wie Hausgeflügel mit beschnittenen Schwingen.

In Newcastle erwies sich, daß Atli ein König war. Nicht nur der König des Logis, sondern der König des Schiffes, der Situation, des Lebens. England hatte vier Monate Kohlenstreik hinter sich, und auf dem Kai standen fünfhundert Mann, Fäuste in den Taschen, und warteten. Es war ungemütlich anzusehen. Die »Marianne« sollte mit eigener Mannschaft gelöscht werden. Der »Sprecher« der Fünfhundert verkündete, daß dem ersten, der einen Balken über Bord bringe, der Schädel eingeschlagen werde ... » blow out his brain«. Mr. Elliot, von Ashley Brothers, Ship-brokers, betrachtete seine Fingernägel. Ein police-man, sehr weit im Hintergrunde, bemühte sich, weder zu sehen, noch zu hören. Der Kapitän brüllte, daß der erste Balken über Bord gehen sollte.

Dann ging Atli mit einem langen Schritt an Land. Wollschal um den Hals, Hände in den Taschen. » Come here, gentlemen«, sagte er ruhig. » What's the matter? Tell me your story«. Er hörte aufmerksam zu. » All right«, sagte er, » a blooming job of strike that ... fair play for all of you, gentlemen

»Vier Monate Streik, Käpt'n«, sagte er zurückkehrend. »Erster Verdienst seit drei Tagen. Crew kann nicht löschen. Nicht gentlemanlike

Der Kapitän brüllte über das leere Deck, ob jemand vielleicht in Eisen gelegt werden wolle. Verdammt hohe Zeit dafür. Der Clerk legte sich ins Mittel, und fünf von den Fünfhundert stürzten sich auf die Balken. Atli saß auf dem Klüverbaum, rauchte seine Pfeife und sah aufmerksam in die schweigende Menge der Vierhundertfünfundneunzig.

Ich liebte ihn mehr, als ich sagen kann.

Um Mitternacht kam ich aus einem Theater. Das Schiff war leer, nur Atli saß auf der Ruderbank. »Vielleicht, passenger ...«, sagte er grübelnd, vielleicht passiert doch noch was ...« » What's up, Atli

»Weißt du, was wir an Bord haben, passenger?« »Nun?« »Sprit, my dear. Ein paar Tausend Liter, schätze ich.« Er lächelte: »Denke, daß er nach Schweden gehen wird oder da herum. Neugierig, was er laden wird. Man kann nämlich nur heran, wenn der Kahn leer ist. Wollen sehen. Aber, shut up! Verstanden? Es kann was passieren ... es braucht nicht, aber es kann.«

Wir luden Kleie nach Schweden, in Säcken, die aus dem zweiten Stock der Mühle in einem Holzschacht in den Laderaum glitten. Ich saß dabei und hörte das Rauschen jedes Sackes hinter dem Holz, und mir war, als gleite mit jeder Last eine dunkle Gefahr mit in das Schiff hinein. Die Zollbeamten lungerten an Bord herum und dufteten unauffällig nach Genever. Atli stand an der Luke und zählte die Säcke. »Wundervolle Menschenklasse, die customers«, sagte er über die Schulter zu mir, » just as sharks ... Haifische in Uniform ... bemerkt, daß sie alle grüne Augen haben, passenger?« Ich lächelte abwesend, weil eine neue Last durch den Schacht niederrauschte.

Hinter dem ersten Feuerschiff durften die Plomben gelöst werden. Der Kapitän bekam seinen Genever wieder und wir unseren Tabak. Der Himmel sah brandig aus, und es wehte hart aus Nordost. Die »Marianne« nahm viel Wasser über, und die Jungs hatten einen unruhigen Zug um den Mund. Wir hatten wenig Leinwand gesetzt und machten wenig Fahrt.

Der Kapitän kam spät an Deck. Er unterließ zu fragen, ob alles klar sei, und ich wunderte mich. Er sah schlecht aus und lehnte schwer gegen das Logisdach. » What's wrong, captain«? fragte ich. »Sehen nicht gut aus.« »Fieber«, murmelte er, »verdammte Kiste!« Er sah über den Klüver hinaus, der sich im Schaum begrub und dann aufwärts in den Himmel schoß. Seine Augen sahen erloschen aus, wie erblindet. Sein Gesicht hatte die fahle Farbe abgestorbener Bäume. Er gefiel mir nicht. Er versuchte sich umzusehen, aber die Bewegung stockte auf halbem Wege. »Wenn was passiert, Doktor«, flüsterte er, »den Hund in Eisen ... gefällt mir nicht ... schlägt die Augen vor mir nicht nieder ... starrt mich an wie eine Schlange ... Gerhard kann die Kiste steuern ... müssen ihm helfen Karten lesen ... nicht umsonst studiert ... von Land an Reeder telegraphieren ...«

Er wartete keine Antwort ab und schwankte nach seiner Kajüte zurück. Ich sah, daß er sich an der Reeling halten mußte.

Um Mitternacht begann er zu phantasieren, Zahlen, Flüche, Zollkisten, Sprit, in Eisen legen. Ich stand mit Atli am Ruder. »Mußt hinunter, passenger«, sagte er. »Sehen, ob er eine Apotheke hat ... Chinin ... plenty ...«

Am nächsten Abend konnten wir nicht mehr zweifeln. Zwischen seinen Augen saß der Tod. Atli ging hinunter und blieb eine Weile an der Koje. Er sagte nichts, als er heraufkam, sondern ging ins Logis. Dort saß er die ganze Nacht über Seekarten und Büchern unter der Hängelampe, den Kopf in beide Hände gestützt. Keiner von uns wagte ihn zu stören. Atli war unser Kapitän.

Wir trugen die Sterbestunde ins Schiffsjournal. Er war nicht mehr zur Besinnung gekommen.

Am nächsten Abend überholte uns der finnische Passagierdampfer. Atli verlangte mit der Flagge einen Arzt. Es stand schwere See, aber wir bekamen ihn glücklich an Bord. Er stellte den Totenschein aus und machte die Eintragung ins Journal. Nervenfieber. Wir verständigten uns deutsch und englisch. Atli stand dabei, wachsam, daß nichts vergessen würde. » You will be the captain?« fragte der Arzt, bevor er wieder über Bord kletterte. » Yes, I shall«, sagte Atli. Der Regen peitschte in sein helles Gesicht und lief von seiner Haut wie von den Federn eines Vogels.

Wir sahen die Lichterreihen des Dampfers noch für eine Weile, und dann war alles dunkel voraus. Wolkengebirge brachen über uns auseinander, und die Brecher schlugen schwer auf das Vorschiff nieder. Wir saßen stumm im Logis, und Erich, der Jüngste, weinte leise in seiner Koje. Seine Wache begann um Mitternacht.

Atli gab keine Erklärungen am Morgen. »Befehl vom Captain«, war das einzige, was er sagte. Der Motor war abgestellt, und wir brausten mit gereffter Leinwand nach Südsüdwest. Ich sah es an der Kompaßscheibe. Und ich sah, daß Atlis Stirn leuchtete. Die Jungs waren grün im Gesicht, und Atli ließ das Steuer den ganzen Tag nicht aus der Hand. Er ließ die Leiche heraufbringen und einnähen. Sie mußte festgebunden werden, um nicht über Bord zu gehen. Atli bat mich, ein Vaterunser zu sprechen. Dann ließen wir sie hinab. Die Wellen rissen sie uns fast aus den Händen. » Ship hört auf mein Kommando«, brüllte Atli durch den Sturm.

Er ließ die Lichter setzen und schickte uns in Logis. Gehorsam war selbstverständlich. »Was wird?« fragten die Jungs mit bangen Augen. Ich nickte ihnen lächelnd zu. »Atli ist allright, wird die Sache schon machen.« Sie flüsterten noch eine Weile, während die Kojen auf- und niederschossen. Bei jedem Stampfen des Schiffes schienen die Ölmäntel die Wand hinaufzuklettern, und ein Holzschemel, der nicht festgezurrt war, fuhr im Logis herum, zwischen den beiden Kojenreihen, wie von einem Zauber besessen.

Zwei Stunden vor Mitternacht ging ich hinauf. Das Meer brüllte aus fahlen Schaumgebirgen, und ein dumpfes Heulen erfüllte den ganzen Raum bis zu den Sternen hinauf. Aber in meiner Seele stand ein Lächeln, das nicht verlorengegangen war in vierzig Jahren der Ordnung und sicheren Behaglichkeit, das Lächeln des Leichtsinns, der Wildheit oder der Kindlichkeit, ein Lächeln bebender Glückseligkeit, das der Sturm entband und die Schaumfetzen, die über meine Stirne schlugen, die sich bäumenden Masten und die jagenden Schreie, die von Wogenkamm zu Wogenkamm zu springen schienen wie Wölfe hinter einer Fährte. Jedesmal wenn der Klüver in den Abgrund schoß, schien das Ruder in die Sterne zu steigen, und jedesmal erschien vor dem fahlen Schein des nordöstlichen Himmels die unbewegliche Gestalt in Ölrock und Südwester, schwer und hart in ihren Umrissen, hinaufgeschleudert aus der brüllenden Tiefe, aber verwachsen mit dem Schiff, nicht zu lösen von seinem tanzenden Boden: Atli, dessen Hände in das Ruder wuchsen.

Im Schutz der Reeling, auf Händen und Knien, kam ich zu ihm. Die erleuchtete Kompaßscheibe sah mich an, das geheimnisvoll aufgeschlagene Auge eines dunklen Wesens, das schweigend durch die Nacht stürmte. Nein, es war ein törichtes Wort vom »Spielball der Elemente«. Brüderlichkeit war zwischen dem dumpfen Brausen und uns, Einheit, die uns rasend umschloß und mit sich riß, und wenn Atli sich über die Scheibe beugte und wieder aufrichtete, schien es, als habe er sich leise besprochen mit dem Element, wie zwei Brüder durch einen Blick sich verständigen auf gefährlichem Weg.

»Atli, wohin?« schrie ich, »wohin?«

Ein Brecher kam über, warf uns gegen das Rad und verbrauste wie ein entbundener Strom im Abgrund der Finsternis voraus. Die Kompaßlaternen waren erloschen, und Atli beugte sich tief über das Auge des Elements. »Mit dem Wind!« schrie er zurück. »Mit dem Wind! Atlantik ... Westindien ... die Ewigkeit!« Und als hätte meine Frage die Tore des gelobten Landes vor ihm aufgerissen, daß alle seine Herrlichkeit sich vor ihm breitete, begann er plötzlich zu singen, nach einer wilden und gleichsam sich ekstatisch verströmenden Melodie, wie Besessene singen mögen, die auf einem Berge stehen und den Strick ihrer Lenden zerreißen, damit ihr Gewand sich breite und Gott sie aufhebe über die Zinnen der Welt.

»Rolling home, my boys, to winless!
Rolling home, our cable is all clear ...«

Der Sturm riß das Lied von seinen Lippen und schleuderte es zwischen die Masten hinauf, und mir war, als hinge es dort gleich glühenden Wimpeln, nachbrennend von dem Feuer der Sehnsucht und eine gewisse Verkündigung leuchtender Meere, lodernder Küsten, sich verzehrenden Lebens, nach dem wir atemlos stürzten, gezogen und getrieben, gleich einem flammenden Meteor, des eigenen Wollens entkleidet und leuchtend in das Leuchtende zersprühend.

Wir sprachen nichts weiter, denn das Meer sprach und der Sturm, und nichts kam uns zu als zu schweigen. Ich aber gab in dieser Stunde mein Leben an das Kommende. Denn die Bindungen mit dem Gewesenen zerrissen als ein lächerliches Gespinst, und es fiel von mir ab, was mich regiert hatte ein Leben lang. Aber unter dem Bröckelnden und Fallenden erschien nicht eine Verwandlung oder eine neue Schöpfung, sondern das Begrabene enthüllte sich nur und entband sich nur, das Eingedämmte und Gezähmte der Knabenträume, in denen eines Volkes Jugend noch einmal aufsieht, bis die Last der Jahrtausende es beugt zum schleppenden Gang eines Sklaven der Mühle.

Was tat es, ob der Kapitän in Fieberdelirien es befohlen hatte oder ob Atli log? Ein Stab war gelockert im Käfig des Lebens, und durch die Lücke des Schicksals brachen wir aus in das Ungebundene, wie die Tiere ausbrechen oder die Sklaven. Sturm hob uns über die Zweifel der Entscheidung wie junge Vögel über einen Wald, und wir hatten nichts zu tun als die Schwingen zu breiten gegen die Ewigkeit, die vor uns stand. Und deshalb sang Atli das Lied seiner Heimat, denn seine Heimat war Ewigkeit, in die er zurückkehrte aus dem Zeitlichen der Dumpfheit und der Begrenzung. Und ein Abglanz seiner Ewigkeit war in meine Kammer gefallen und hatte sie hell gemacht wie eine enthüllte Monstranz.

Atemlos gleichsam trieb das Schicksal uns bis zu den Azoren, und als ob es wisse, daß nun niemand mehr nach einer Rückkehr trachten würde, trat es still zur Seite, verbarg den Sturm in seinem Gewand und ließ uns auf hoher Dünung hinausrollen in die Bläue der Ferne und des Wunders, die mit fremden Sternen aus fremdem Meere stiegen und deren Fremdheit uns doch anrührte wie ein Atem aus verschollener Kinderzeit, als kehrten wir nun erst zurück in das uns Bestimmte und legten die Verkleidung des Lebens ab, in dem wir Schauspieler bezahlter Märkte gewesen waren.

Wir kreuzten vor Fayal, und Atli ging mit zwei der Jungs in dem kleinen Boot an Land. Sie kamen in ein paar Stunden wieder, mit Proviant beladen, und wir hielten schwere Ananasfrüchte in den Händen wie beschenkte Kinder. »Sagte ihnen, daß wir verschlagen seien«, erzählte Atli. » Looked rather stupid, daß wir es überstanden hatten mit diesem Kahn. Ging aber alles all right

Nach den Azoren war es dann, als seien wir eine selige Wolke und glitten, der Sonne folgend, in den Horizont. Das Wilde der Entscheidungen blieb zurück, und wir waren gleich Genesenden nach einem Fieber, die zur Erde wiederkehren aus den Labyrinthen dumpfer Träume. Wir hatten Zeit, wir hatten Raum, und waren aufgenommen in die Gemeinschaft der Ewigkeit. Keiner von den Jungs sah vom Ruder zurück nach dem, was versank, keiner trat mehr heimlich zu mir mit der Frage: »Wohin?« Alle Fragen erloschen wie das Künstliche eines Lichts. Die Sterne kreisten, und solange ihre Kuppel über uns stand, waren wir im ewigen Raum und konnten nicht hinausfallen aus dem All der Welt. Nicht Rausch war in uns, nicht Fieber, nicht brennendes Verlangen, sondern das Lächeln der Heiterkeit, und wenn wir abends um das Ruder saßen und die Segel über uns in die brennenden Himmel blühten, war keine Last auf unserer Seele und kein Schatten auf unserer Stirn. » Rolling home ...« sang Atli leise über uns hin, und leise hob unser Chor seine Stimme empor, daß sie wie Flügel war über unserem Winde:

» Rolling home for thee, my fairy ...
Rolling home, we 're bound for thee
...«

In diesen Nächten der Erlösung kam es auch über Atli, daß seine Seele sich ein wenig erschloß. »Sie wissen alle nicht, was Blut ist, passenger«, sagte er, und seine Hand machte eine nachlässige Bewegung über seine Schulter hinweg. Wir saßen am Klüver, die Füße über dem leuchtenden Meer, und jede sanfte Neigung der »Marianne« durchströmte unseren Körper mit der Seligkeit eines Fluges. »Sie schöpfen es aus einem Brunnen, aber sie lassen es nicht zurückfallen in das ganz Tiefe, sondern sie füllen es in Flaschen und machen es zu. Mein Blut aber wollte fallen. What was to be done? Ich warf Fensterscheiben ein, ich stahl Äpfel, ich kletterte auf den Kirchturm. Mein Vater band mich an, an die Pferdekrippe, weißt du, an zwei Eisenringe. Es war sicher und still. Und dann schnallte er seinen Riemen ab. Väter tragen immer einen Riemen, yes ... Es war am Sonnabend nach Feierabend. Ich wußte es die ganze Woche. Und wenn nichts passiert war, absolutely nothing, band er mich trotzdem an. »Auf Vorrat«, sagte er. Er war ein wortkarger Mann. Kannst du es dir vorstellen, passenger? Jeden Sonnabend? Wie das Amen in der Kirche? A blooming job to look forward to these sundays, ain't it? Als meine Mutter aus seiner Stube kam und sagte, daß er tot war, sagte ich: »Halleluja!« Und meine Mutter wunderte sich nicht. Es war an einem Sonnabend.

Yes, so it was ... Und so war es mit allem. Zu Weihnachten gab es zwei paar wollene Socken, ein Hemd und eine Mundharmonika. Jedes Jahr, verstehst du, passenger? Ich habe sie noch, die Harmonikas, zehn Stück. Heimatmuseum. Mit sechzehn riß ich aus, sonst wären es zweiundzwanzig.

Ja, und dann ging ich los. Aber es passierte nichts, siehst du. Es war alles zahm, das Übliche. Kein Schiffsbrand, keine Meuterei, kein neuer Erdteil. Als ob sie alle Äpfel geladen hatten. Vielleicht waren die anderen zufrieden. Aber ich war nicht zufrieden. Von Sidney nach Frisco. Schön. Aber du wußtest eben, daß du nach Frisco fährst. Das Unbekannte fehlte, do you see? Der Raum, die Ewigkeit. Alles stand auf der Karte oben, in der Charter, im Journal. Alles. Raum ist das Leben, verstehst du, passenger? Nur Raum. Sie haben mich zu viel angebunden, jeden Sonnabend, that is it ...«

»Dein Name, Atli?« fragte ich nach einer Weile. »Wo kommt dein Name her?«

Er lächelte müde. »Ich sah einen Athleten in einer Jahrmarktsbude, der eiserne Kugeln auffing. Und ich wollte Athlet werden. Die Kinder nannten mich so, weil sie das Wort nicht verstanden. Nie versteht einer, was der andere werden will ...«

»Und jetzt, Atli?«

Er starrte schweigend über den Klüverbaum hinaus, auf die rote Dünung, hinter der die Sonne versunken war. »Es ist was passiert«, sagte er finster. »Wir sind überfällig, und sie werden uns verloren geben. Das wenigstens bleibt. Aber das Schönste war schon, der Sturm, die Entscheidung, die beiden Nächte allein am Ruder. Irgendwo werden wir wieder in eine Seekarte hereinlaufen. Denkst du mit dieser crew den Raum zu erobern, passenger? Sie werden uns kitschen, und ich werde über Bord gehen. Amazonenstrom, denke ich, da muß noch Raum sein, plenty of room ... yes ...«

»Zuerst, of course, werden wir den Sprit verhökern«, murmelte er nach einer Weile, »und dann wird wieder nichts passieren.«

Wir »verhökerten« ihn in einer stillen Bucht der Bahamas. Der Mond schien allen leisen Flüchen zum Trotz, und wahrend die Kleie aus dem Laderaum an Deck geholt wurde, saß ich auf der Ruderbank und starrte auf die überglänzte Mauer des Uferwaldes. Sie schien mir zu kochen von einer verstohlenen, zügellosen Wildnis des Lebens, und ich dachte, daß es so aussehen müßte, wenn Silber koche. Ein süßer Duft war über dem Wasser, so süß, daß er schon gleich der Sünde war, und hinter der silbernen Wand seufzte und schrie die fremde Nacht in Begierde, Empfängnis, Geburt und Tod.

Ich habe gesagt, daß es eine bürgerliche Reise war, fünfundsechzig Standard Holz für Dawson Walker & Co. Ltd., und nun saß ich auf der Ruderbank und der Mond der Bahamas tropfte auf das Deck, auf dem die Kleiesäcke sich türmten, und rieselte von den Masten, die in die fremden Sterne stiegen. Es war wohl dazu angetan, um still zu werden vor dem Wunder des Lebens.

Auch Atli stand an der Reeling, und während der Amerikaner flüsternd und leidenschaftlich auf ihn einredete, starrte er regungslos durch alle Worte hindurch nach dem silbernen Wald, ob die Tür sich nicht öffnen würde, die in den »Raum« führen mußte, in den Raum des Unbekannten, Unerschöpflichen, nirgends Verzeichneten.

Ich glaube, daß er in dieser Stunde schon Abschied nahm von uns, weil es zu Ende »passiert« war. Das Kapitel war beschlossen für ihn, und seine hungrigen Augen wandten sich von dem Rest der Speise, mit dem ewigen Hunger, dem keine Speise genugtut.

Wir blieben ein paar Tage in der stillen Bucht. Wir verloren uns in dem Schweigen des Waldes, einzeln oder zu zweien. Unsere Augen tranken den Rausch der Fremdheit, das Gift seiner Verschwendung, aber ein leichter Schmerz war über allem diesem, das Gefühl eines ungeladenen Gastes, einer Verkleidung, eines angemaßten Rechtes. Wir kehrten zurück mit Schmetterlingen, mit unwirklichen Blumen, mit seltsamen Käfern, wie mit gestohlenen Träumen, die wir mit leiser Bangigkeit einander zeigten.

Atli ging nicht von Bord. Wenn wir die »Marianne« verließen und wenn wir wiederkehrten, saß er über den Seekarten, die der Amerikaner ihm überlassen hatte, den Kopf in beide Hände gestützt, und wenn wir unsere Schätze vor ihm ausbreiteten, ging sein Blick über uns hin wie über Steine, und er nickte uns zu, wie Kindern, die ein kindliches Spiel zu seinen Füßen trieben. Er sprach nicht mehr. Er hatte sich zugeschlossen, und wir wußten nicht, woran seine Gedanken webten und wirkten.

Und eines Morgens verließen wir die Bucht und nahmen Kurs nach Südost. Wir hatten Proviant und Wasser vom Amerikaner übergenommen. Wir hatten ruhige See und hatten uns aller Sorgen entschlagen. Wir waren ein wenig müde von der Sonne und den Farben und der Spurlosigkeit unseres Weges. Aber wir dachten, daß wir in dieser leisen Müdigkeit ruhig um die Erde kommen würden, solange die Segel hielten und Wind über dem blauen Wasser war. Die Jungs schrieben nicht mehr nach Hause. Sie lagen auf Deck, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und sahen zu den fremden Sternen empor und dem silbernen Licht, das von den Mastspitzen fiel.

Und dann liefen wir in den Amazonenstrom ein. Es war am Morgen. Die eingehende Flut trug uns wie in ein Riesentor, und wir standen an der Reeling und sahen die Wälder wachsen, in einem fremden blauen Licht, das niemand von uns zuvor gesehen hatte. Atli stand am Ruder und sprach den ganzen Tag kein Wort.

Wir warfen Anker um die Abendzeit, und Atli ließ das Boot ins Wasser bringen und klar machen. Aber er ging nicht an Land.

Wir saßen über dem Klüver wie sonst und lauschten, wie der Strom mit dunklen Tönen unter der »Marianne« meerwärts zog. In den Wäldern schrie die Nacht mit nie vernommenen Lauten, drohend und geheimnisvoll. Aber alles dieses schien uns weit und nicht unmittelbar zugehörig, und wir horchten immer wieder auf das leise Klagen und Rauschen, mit dem die dunklen Wirbel unter unseren Füßen verglitten und erstarben.

»Wie weit das ist, von wo es alles herkommt ...« sagte ich leise. Er schrak zusammen und richtete sich auf. »Das ist der Raum, passenger«, erwiderte er, und ich sah, wie sein helles Gesicht sich stromaufwärts wandte, als habe die Feme seinen Namen gerufen. » The greatest I ever saw«, setzte er leise hinzu.

Und das war das letzte, was ich von Atli erfuhr. Sein kühnes Gesicht, das fast weiß erschien im Licht der Sterne, hinausgewendet nach dem Ursprung der dunklen Wasser, und der leise Klang seiner Stimme, die Stimme eines Träumenden oder eines Fieberkranken, die von seinen Lippen fiel, ohne daß er es wußte, und hinunterzutropfen schien in das rauschende Ziehen der Flut, die sich mit ihr verbarg, schnell und gleichsam verstohlen unter dem dunklen Schiffsrumpf, um sie nie wieder herzugeben an das Licht des Tages, der Ordnung, der hellen Gesetze.

Als wir erwachten, war er fort. In der Kajüte lag das Geld für den Sprit, und auf einem Zettel hatte er aufgeschrieben, was er mitgenommen hatte: das Boot, Proviant, die Winchesterbüchse, die er dem Amerikaner abgekauft hatte. Alles war angegeben, mit der peinlichen Genauigkeit eines Testaments, in einer großen, schwerfälligen, gleichsam treuherzigen Kinderschrift. »Ihr müßt zum nächsten Hafen«, hatte er an das Ende geschrieben: »Ich denke Para. Und zum Konsul gehen. Erzählt alles (nichts vom Sprit, of course!) und gebt es alles auf meine Kappe. Kabelt an den Reeder. Ihr könnt sagen, daß ich verrückt war. A lunatic. Ich gehe hinauf nach der Quelle. Goodbye.«

Wir saßen sehr lange über diesen wenigen Worten. Erich, der Jüngste, weinte wieder.

Um die Mittagszeit nahmen wir den Anker hoch und trieben stromab. Wir trieben wie aus einem Traum in die graue Kälte des wachen Morgens.

Es ist viel geredet worden von allem diesem. Der Konsul hatte Lust, uns in Eisen legen zu lassen, aber dann konnte er nicht verhindern, daß ein Schimmer dieses Traumes Gewalt über seine Seele gewann. Es wurde eine Menge Geld verkabelt, und schließlich trieb der Konsul den zweiten Steuermann eines deutschen Seglers auf, der uns zurückbringen sollte. Während der ganzen Fahrt trug er seinen Revolver in der Hosentasche. Er traute uns nie ganz. Die Kleie war immer noch an Bord.

Es war ein großer Empfang, als wir am Bollwerk anlegten. Der Reeder streichelte die »Marianne« und wußte nicht, ob er uns über Bord werfen oder umarmen sollte.

Als ich ihm das Geld auf den Tisch zählte, verlor er für eine Weile die Sprache. Wir einigten uns, daß er Kosten und Verluste abziehen und den Rest dem Seemannsheim übergeben sollte. Als ich mich verabschiedete, waren seine Augen noch wirr und fassungslos.

Ich stand in den Straßen der Stadt wie auf dem Monde. Ich ging nicht nach Hause, sondern noch einmal zum Hafen. Die Laternen brannten auf dem Bollwerk, und über den Masten der »Marianne« standen die ersten Sterne. Ich saß an der Wand eines Schuppens und starrte nach dem Schiff. Ich war müde und traurig, eingehüllt in eine schreckliche Verlassenheit. Ich wußte, daß nun alles wieder zurückgekehrt war in die Welt der Ordnung und der Gesetze, das Schiff, die Mannschaft, ich selbst. Sie würden es wieder beladen, Holz, fünfundsechzig Standard, oder Ölkuchen, oder Zement. Und alles würde sein wie vorher, mein eigenes Leben, der Schreibtisch, die weißen Manuskriptblätter.

Aber irgend eine verborgene Ader war angeschnitten, und ich saß im Dunklen an der kalten Schuppenwand und hörte das Blut auf die Steine tropfen und fortrinnen ins Ewige, Unwiederbringliche, gleich den dunklen Wirbeln des Stromes in jener letzten Nacht.

Und ich sah das helle Gesicht über dem Klüver, hinausgewendet in den Raum, und ich hörte seine leise Stimme, die Stimme eines Träumenden oder eines Fieberkranken, die in das dunkle Wasser fiel » The greatest I ever saw ...«

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