Ernst Wichert
Die Schwestern
Ernst Wichert

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Eines Abends, als sie sehr spät nach Hause kam, und Mare, die nicht schlafen gegangen war, sie vor der Tür mit dem sie begleitenden Matrosen hatte sprechen hören, kam es wieder zu heftigem Streit unter den Schwestern. Mare ließ sich zu einem Schlage hinreißen, Katre setzte sich zur Wehr und reizte sie dadurch so zur Wut, daß sie mit den Nägeln gegen sie losging. Am andern Morgen zeigten sich die Kratzwunden in Katres Gesicht.

So konnte Janis nicht verborgen bleiben, was geschehen war. »Nächstens wird sie sich auch an mir vergreifen«, meinte er. Katre lachte dazu. »Nein, nein«, versicherte er, »das ist kein Scherz. Sieh nur, was sie mir manchmal für Augen macht, wenn sie uns zusammen trifft. Sie kann mir's nicht verzeihen, daß ich die Kubillene abgewiesen habe.«

»Du kannst dich ja noch anders besinnen«, neckte Katre. »Tu's nur, solange ich so häßlich aussehe.«

Er klopfte ihre runde Schulter. »Sie könnte sich freuen«, sagte er schmunzelnd, »wenn sie so hübsch wäre, wie du jetzt. Das heilt auch bald.«

Sie fürchtete nur, die Risse könnten noch kenntlich sein bei der Hochzeit, die in acht Tagen beim Wirt Klimkus in Bubischken gefeiert werden sollte. Der verheiratete seine Tochter und hatte die ganze Nachbarschaft eingeladen. Dem Matrosen blieb von seinem Urlaub gerade noch so viel Zeit, daß er diese Lustbarkeit mitmachen konnte. »An einem Tänzer soll es dir unter allen Umständen nicht fehlen«, versicherte er und drückte ihr dabei zärtlich die Hand.

Katre glaubte nun auf ihre Schwester gar keine Rücksicht mehr nehmen zu dürfen. Hatte sie bisher in ihrer Gegenwart wenigstens den Liebhaber noch immer kurz gehalten, so legte sie sich und ihm jetzt keinen Zwang weiter auf. Den größten Teil des Tages waren sie zusammen, und bis in die Nacht hinein hörte man sie auf der Dorfstraße lachen und tollen. Die laute Lustigkeit sollte beweisen, daß sie ihr Tun und Treiben zu verstecken gar keinen Grund hätten.

Die Hochzeit in Bubischken wurde ganz der altlitauischen Sitte gemäß gefeiert. Gehörte doch die Familie Klimkus zu denen im Lande, die am zähesten an der nationalen Lebensweise festhielten, und der Bräutigam aus dem Nachbardorf zählte der nächsten gleichgesinnten Freundschaft zu. Man rechnete also darauf, vom Sonntag mindestens bis Donnerstag aus dem Trubel nicht herauszukommen. Wer eingeladen war, brachte schon eine Woche vorher sein Fuhrwerk in guten Stand: war der Kutscher betrunken, so ging's ja doch über Stock und Stein, und die Räder und Deichseln hatten etwas auszuhalten. Mare und Katre waren Brautjungfern, mußten daher auf einem Wagen anfahren, der sich sehen lassen konnte. Deshalb fütterte denn auch der Knecht Jurgis Matuttis, der ihn zu lenken hatte, seine Pferde mit Arsenik, damit sie ein glattes und glänzendes Fell bekämen. Mare gab für sie reichlich Hafer heraus, denn sie sollten sich bei der Kirchfahrt besonders mutig erweisen und dem Hause Ehre machen. Am festgesetzten Sonntag des Morgens war der Wagen mit Laubkränzen, Birkenreisern und Feldblumensträußen fast im Übermaße geschmückt. Auf dem hinteren Sitz nahmen Davids Lukatis und seine alte Mutter, die Ausgedingerin, Platz, in der Mitte die beiden Mädchen in ihren Feiertagskleidern, auch Mare, diesmal in schneeweißem gesticktem Ärmelhemde und bunt bebändert, jede einen großen Blumenstrauß in der Hand. Kaum hatte man die Straße erreicht, als auch vom Hofe Skwirblies her ein ebensolches Gefährt nachgejagt kam. Auf diesem nahmen Janis und Marikke den mittleren Platz ein, beide festlich bekränzt. Und nun begann sogleich eine lustige Wettfahrt. Endrik Skwirblies, der selbst kutschierte, wollte vorbeieilen; stehend hieb er auf die Pferde ein. Aber Matuttis gab acht und lenkte immer geschickt nach rechts und links bis dicht an den Graben heran, ihm den Weg abzuschneiden. Manchmal schien's, als müßten die Wagen im nächsten Augenblick ineinanderfahren. Dann gab's ein Gejohle und Gekreische hier und dort. Endlich mußten die Tiere doch zur Einfahrt in Bubischken geschont werden und durften aus dem Galopp in den Trab fallen. Man langte ohne Unfall vor dem Hause des Brautvaters an.

Dort versammelten sich auf dem Hof die Gäste. Dann fuhr der mit Kränzen und Bändern geschmückte Brautwagen nach der Kirche ab. Der Bräutigam mit seinen Gesellen zu Pferde umschwärmten ihn mit jauchzenden Zurufen. Die Wagen der Eltern und der Gäste folgten. Im Marktflecken stiegen alle vor dem Krug ab und gingen zu Fuß nach der Kirche, aus der die Orgel tönte. Es wurde sehr andächtig ein langes Lied gesungen. Nach der Trauung stand im Kruge ein Imbiß bereit, zu dem man sich nicht nötigen ließ. Mancher trank schon hier einen Schluck über den Durst. Dann ging's nach Bubischken zurück, wo in der Brauteltern großer Stube der Tisch gedeckt stand. Und nun begann ein Schmausen und Trinken, Spielen und Tanzen, das fast ohne Unterbrechung Tag und Nacht und wieder Tag und Nacht bis zum Dienstag fortgesetzt wurde. Wer müde war oder ein wenig ausnüchtern wollte, zog sich zurück und legte sich auf dem Heuboden, in einem Scheunenfach, einem Wagen oder auch nur in einem trockenen Graben schlafen. Alt und jung, Männlein und Weiblein lagerten da traulich nebeneinander, bis ein Spaßmacher sie wieder auftrieb und durch die Meldung ermunterte, es sei ein neues Faß angestochen.

Mare Lukatis vergnügte sich wohl mit den jungen Leuten, wußte sich aber allezeit in Schranken zu halten. Das war der Grund, weshalb man sie bald beiseite stehen ließ. Der Matrose forderte auch sie zum Tanz auf, wurde jedoch stolz abgewiesen. Er wiederholte den Versuch noch mehrmals, nicht mit besserem Glück. »Gib dir keine Mühe«, sagte sie, »wenn ich tanzen will, wird es mir an Tänzern nicht fehlen, aber ich sehe lieber zu.«

»Was hast du gegen mich einzuwenden?« fragte er, vorn Branntwein erhitzt. »Ich tat dir mit Willen nichts.«

Sie zog verächtlich die Lippe.

Das ärgerte ihn. »War ich dir gut genug zum Mann«, stichelte er, »so brauchst du dich auch des Tänzers nicht zu schämen.«

»Mit einem, wie du bist, will ich nicht tanzen«, entgegnete Mare, ihm die Zähne zeigend.

»Wie ich bin?« zischelte er ihr zu. »Du gibst den Leuten zu reden, daß du auf Katre neidisch bist.«

»Wohl deinetwegen?« spottete sie und kehrte ihm den Rücken zu. »Ich danke dafür, wie sie betrogen zu werden.«

Er biß die Lippe. Was meinte sie da? Betrog er Katre? Sein Gewissen war nicht ganz rein. Er hatte ihr absichtlich so oft zugetrunken, bis sie sich trällernd auf der Diele herumzudrehen und das tollste Zeug zu reden anfing. Und dann war er ihr in eine Schirrkammer neben der Klete nachgeschlichen und hatte die Tür von innen verriegelt, damit sie ganz ungestört sein könnten. Das hätte er nicht sollen, wenn er es ehrlich mit ihr meinte. Sie war ihm aber gar nicht böse gewesen, und so wendete er sich ihr denn auch nach diesem unerfreulichen Gespräch mit Mare gleich wieder zu. Mit Katre tanzte er am liebsten nach litauischer Art, indem er sie dicht an sich heranzog und, unbekümmert um das Tempo der Musik, in ganz kleinen Schritten nach rechts und links rückwärts über die Diele hinschob. Man sah sie auch weiter stets zusammen essen und trinken oder auf dem Hof oder im Garten herumgehen, und wer etwa darüber noch im ungewissen gewesen war, betrachtete sie nun als ein versprochenes Paar.

Die in der Ecke der Stube aus Birkenzweigen aufgebaute, mit Bändern ausgeputzte Brautlaube war verwelkt. Endlich schien es an der Zeit, den mit der Ausstattung der Braut bepackten Wagen anspannen und vorfahren zu lassen. Diese selbst wurde in der Klete von ihrer Mutter zur Reise angekleidet und dann vom Bräutigam, der den Eintritt in die von den Verwandten scheinbar verteidigte Tür erzwingen mußte, mit sanfter Gewalt herausgeholt. Sie trug nun die Frauenhaube, und es gehörte zur guten Sitte, daß sie sich sträubte und an der Mutter Brust weinte. Zuletzt ließ sie sich doch auf den Wagen heben, der junge Ehemann setzte sich zu ihr, und fort ging's unter Begleitung der Gäste nach dem Hause seiner Eltern, wo die Schmauserei fortgesetzt wurde.

Lukatis hatte so schwer geladen, daß er den Abschied verschlief. Mare hielt es für geraten, ihn lieber gleich nach Hause zu schaffen. Sie hatte schon längst übergenug von der lärmenden Festlichkeit und war froh, sich mit gutem Vorwande zurückziehen zu können. Matuttis, der freilich selbst nicht ganz nüchtern war, half ihr, den Betrunkenen auf den Wagen legen. Katre hatte erklärt, nicht mitkommen zu wollen, und sich zu Janis Skwirblies auf den Wagen seines Bruders gesetzt. Endrik wollte sie auch nach Lukatellen zurückbringen. Er meinte, das würde noch denselben Abend geschehen, aber erst nach einer weiteren vertollten Nacht, am andern Tage spät nach Sonnenuntergang setzte er sie an dem Seitenweg ab. Janis reichte ihr die Hand. »Übermorgen muß ich fort«, sagte er, »schlaf' nicht zu lange.«

Die Ermüdung war zu groß; Katre kam nicht vor Mittag aus ihrer Kammer. Sie war ganz gegen ihre Gewohnheit still und verdrießlich. Mare glaubte zu bemerken, daß sie sich Tränen aus den Augen wischte. Ist dir's auch einmal zum Weinen? dachte sie. Nun haben freilich die lustigen Tage bald ein Ende. Sie wußte, daß der Matrose abreisen mußte, und schob ihren Kummer oder Ärger darauf.

Gegen Abend saß Janis auf einer Zaunlatte am Dorfweg und wartete auf Katre. Nach einer Weile ging sie vorüber, als ob sie Marikke besuchen wollte. Er rief sie mit einem »Pst–pst!« an und folgte ihr, da sie das Zeichen nicht beachten zu wollen schien. Sie reichte ihm zwar die Hand, wendete aber das Gesicht ab. »Was hast du denn?« fragte er. Sie gab ihm keine Antwort.

Er lenkte in einen Feldweg ein, immer ihre Hand haltend, und sie widersetzte sich nicht. Der Weg führte nach einer mit Kiefern bewachsenen Sandscholle, die das tieferliegende Haffmoor abgrenzte, vielleicht das Überbleibsel einer alten Sanddüne aus der Zeit, als die Kurische Nehrung sich noch nicht gebildet hatte. Auch sonst schon hatten sie dieses einsame Plätzchen gern aufgesucht, von dem man unter den graugrünen Baumkronen, in den weißen weichen Sand gelagert, weit über das Wasser sah. Sie gingen eine Weile schweigend dicht nebeneinander. Endlich lehnte Katre ihre Schulter an seinen Arm und sagte: »Was soll nun werden, Janis?«

»Was soll werden?« fragte er zurück. »Du weißt, daß mein Urlaub zu Ende ist.«

»Ja.«

»Mitnehmen kann ich dich nicht.«

»Nein.«

»Also müssen wir zufrieden sein, wie's ist.«

»Das können wir doch nicht.«

»Ja . . .« Er zog die Schultern.

Katre fing plötzlich an laut zu schluchzen.

Er umfaßte sie. »Aber so weine doch nicht«, sagte er in verweisendem Tone. »Was ist's denn weiter? Es wird alles gut werden.«

Sie trocknete mit dem Ärmel ihre Augen. »Du wirst mich auf dem Schiff bald vergessen haben, Janis.«

»Nein, gewiß nicht.«

»Das darf auch nicht sein – jetzt nicht mehr, Janis! – Wie lange mußt du noch fahren?«

»Zwei Jahre – mindestens.«

»Zwei Jahre!« Sie weinte wieder. »Und wenn inzwischen . . .«

»Ach! – Was soll . . .? Sei nicht närrisch.«

»Du hast mir versprochen, Janis –«

»Als Matrose kann ich doch nicht heiraten.«

»Kannst du nicht?«

»Das heißt, wenn es sein muß . . .« Er hob ihren Kopf und küßte sie. »Nun sei vergnügt, Katre, und verdirb uns nicht den letzten Tag.«

Sie lächelte schon wieder. »Es ist auch Torheit«, sagte sie und hing sich an ihn. »Ich kann dir vertrauen. Und es hilft mir auch nichts, wenn ich mir Sorgen mache. Komm, wir wollen lustig sein und an morgen nicht denken.«

Sie tänzelte an seinem Arm über den spärlichen Rasen hin, der sich hier vor der Sandscholle bandartig zwischen großen Steinen und Kämpen von Blaubeerstrauch hindurchzog. Dann setzten sie sich hinter einer Wacholderhecke auf den Rand eines Erdlochs, das eine beim letzten Sturm umgestürzte Kiefer ausgerissen hatte. Sie saßen da noch, als die Sonne drüben hinter den Sandbergen der Nehrung unterging und im Scheiden das zackige Geäst in den Nadelkronen über ihnen vergoldete. Im Dorf nahmen sie auf dem Kreuzwege voneinander ohne viele Worte Abschied. Als Katre schon ein Stück Wegs ihres Vaters Hause zugegangen war, kam Janis ihr noch einmal nach und rief ihren Namen. Aber sie lief ihm nun fort und ließ sich nicht einholen. Lachend schlug sie die Haustür hinter sich zu.

Ganz früh am nächsten Morgen fuhr der Matrose ab. Katre schlief noch, aber Mare stand am Fenster und blickte ihm mit bitteren Empfindungen nach. An sie dachte er freilich nicht.

Es war gegen Weihnachten und Lukatellen tief eingeschneit, als eines Tages Lukatis in seinem Hause so laut lärmte, daß man es bis auf die Dorfstraße hin vernehmen konnte. Er war betrunken und schlug Katre unbarmherzig mit einem umgekehrten Peitschenstock über den Kopf und Rücken und wohin er sonst traf. Dabei belegte er sie mit den schlimmsten Schimpfworten und schrie immer wieder: »Ich schlage die nichtsnutzige Margelle tot, die schlechte Person, ich schlage sie tot!« Katre kreischte und heulte vor Furcht und Schmerz, Mare und die Altsitzerin versuchten ihn von ihr abzubringen, wodurch sie den Lärm noch vermehrten. Endlich stieß der Wütende Katre zur Tür hinaus, so daß sie in den Schnee taumelte und niederfiel. »Geh', wohin du willst«, schrie er ihr nach, »ich will dich nicht mehr sehen, – ich will nichts mehr von dir hören, – mein Haus betrittst du nicht wieder!« Seine Mutter riß ihn zurück, und Mare schloß die Tür.

Katre lag eine Weile im Schnee und wimmerte kläglich. Nicht einmal der Knecht wagte sich ihrer anzunehmen. Sie war nur mit Rock und Weste bekleidet, hatte kein Kopftuch und zitterte bald vor Frost. Sie versuchte aufzustehen und sich wenige Schritte bis zu dem Torfhaufen unter dem Vordache fortzuschleppen. Es gelang mühsam. Dort saß sie noch eine Viertelstunde und weinte in die vor das Gesicht gehaltenen Hände. Was sollte sie nun tun? Dem Vater durfte sie nicht vor die Augen kommen, von Mare heimlich wieder eingelassen zu werden, hatte sie gar keine Hoffnung, hier unter freiem Himmel bleiben konnte sie auch nicht. So entschloß sie sich zuletzt, zu Marikke zu gehen, und sie um ein vorläufiges Obdach zu bitten. Unter großen Schmerzen hinkte sie mit gebeugtem Rücken bis zum Hause des Endrik Skwirblies und klopfte dort an.

Marikke war nicht wenig verwundert, sie in so kläglichem Zustand, das Gesicht voll blutrünstiger Striemen, zu sehen. »Was ist denn geschehen?« fragte sie mitleidig. »Wer hat dich so übel zugerichtet?«

»Der Vater hat mich geschlagen«, schluchzte Katre, »es ist ein Wunder, daß ich noch lebe.«

»Aber weshalb?«

»Ach – deines Bruders wegen.«

»Des Janis?«

»Ja, wegen des Janis. Ach Gott, ach Gott! wenn er wüßte . . . Ich kann's gar nicht sagen.«

Marikke brauchte auch nicht mehr zu hören, sie reimte sich das Weitere selbst zusammen. »Hat dich die Mare ausgebracht?« fragte sie nur.

»Ja«, antwortete Katre, »sie hat mir's so laut vorgeworfen, daß es der Vater endlich wohl hören mußte. Aber es hätt' ja auch ohne sie nicht mehr lange verborgen bleiben können. Ach Gott, ach Gott! was fange ich nun an?«

Skwirblies und seine Frau waren hinzugekommen, da sie ihr Jammern vernahmen. »Lukatis wird sich wieder beruhigen«, meinte der Wirt. »Da ist doch nun nicht zu helfen.«

»Nein, nein«, versicherte Katre, »ich kann nicht mehr zurück, das überwindet er nicht. Er schlägt mich wirklich tot, wie er gedroht hat.«

»Ich kann dich bei mir nicht aufnehmen«, sagte Endrik, »das gibt Feindschaft mit ihm. Und ich weiß auch nicht, wie Janis darüber denkt – er muß freie Hand behalten. Wenn du aber arbeiten willst, wirst du ja noch einige Zeit bei guten Freunden in der Nachbarschaft eine Stelle finden. Wir wollen uns für dich bemühen, und so lange kannst du allenfalls bei Marikke bleiben.«

Seine Frau ging nach einigen Stunden zu Lukatis hinüber und sprach mit Mare. Diese gab ihrer Schwester Sachen heraus, ohne daß es der Vater merkte, der seinen Rausch ausschlief. Sie fügte auch etwas Geld hinzu. »Ich hab's doch nicht stillhalten können«, sagte sie mürrisch. »Was man sich eingebrockt hat, muß man auch ausessen.«

»Du bist hart«, meinte die Skwirblene.

»Es geht endlich nach der Gerechtigkeit«, entgegnete Mare. »Ich habe gewarnt. Macht ihr nur kein Gerede, unter die Leute kommt's doch schnell genug.«

Matuttis brachte auf ihr Geheiß die neue Lade mit den roten Rosen auf dem Deckel, worin sich die Sachen befanden, auf einem Handkarren hinüber.

Katre weinte schon nicht mehr. Sie meinte, die Welt sei ja weit, und es werde ihr auch so gelingen, sich durchzubringen. Besorgt war sie eigentlich nur noch wegen ihres geschwollenen Gesichts. »Wie häßlich sehe ich aus«, sagte sie, nachdem sie sich im Spiegel betrachtet hatte. Marikke mußte ihr kalte Umschläge machen. »Es ist auch schon andern Mädchen so gegangen«, tröstete sie sich, »und hinterher fragt keiner danach. Wer die Nase rümpfen will, dem lass' ich das Vergnügen. Der Vater hat mich geschlagen, und nun ist's gut. Die Mare aber – die neidet mir doch nur mein Unglück. Sie ist auch gar nicht so schlimm, als sie sich anstellt. Mit ihr komme ich leicht wieder zusammen. Es muß nur die Zeit darüber hingehen! Jung bin ich ja noch und kann arbeiten. Nicht wahr?«

Drei Tage lang hielt sie's in ihrem Versteck aus. Dann meinte sie, ein paar blaue Flecke im Gesicht schadeten auch nichts; sie könnte sich ja wohl gestoßen haben. »Und wenn mein Wirt erfährt, daß ich von Hause fortgelaufen bin, weil der Vater mich geprügelt hat, so mach' ich mir wenig daraus. Das kann auch einen anderen Grund gehabt haben.« Skwirblies brachte sie mit seinem Fuhrwerk in ein Dorf, eine Meile hinter dem Marktflecken. Dort trat sie bei einem Deutschen als Stubenmädchen in Dienst. Es fiel ihr nicht ein, die Wahrheit zu sagen. Das wäre gar zu dumm gewesen.

*

Der Winter ging vorüber, der Schnee war längst geschmolzen, und die warme Maisonne brachte die Knospen der Birken zum Schwellen; man konnte auf grüne Pfingsten rechnen. In Lukatellen bestellten die Wirte den Acker und streuten die Sommersaat ein. Auch Lukatis bequemte sich, wenn schon seufzend, zur Arbeit. Mare mußte oft genug hören, daß er schon ein alter Mann sei und andre Wirte in seinen Jahren sich längst zur Ruhe gesetzt hätten. Es bewarb sich ein Witwer um sie, der sein Grundstück vorteilhaft verkauft hatte, von Geldgeschäften lebte und sich wieder »nach etwas« umsah. Lukatis war sein Schuldner und redete ihr eifrig zu, aber Mare wollte nicht. Er sei ein Leuteschinder, sagte sie, und bringe auch drei Kinder mit; für die wolle sie sich nicht placken. Der Knecht Jurgis Mutattis ließ sie wissen, daß er noch ein Erbteil ausstehen habe. So herrisch sie ihn manchmal behandelte, war er doch ernstlich verliebt in sie und meinte, eine tüchtigere Frau gar nicht finden zu können. So nahe er ihr's jedoch legte, daß er am liebsten ganz auf dem Hof bliebe, sie tat so, als ob sie ihn nicht verstände. Der war ja am Ende noch immer zu haben.

Eines Abends spät, als sie schon in ihre Kammer gegangen war, um sich schlafen zu legen, wurde an das kleine Fenster geklopft. Sie trat dicht heran, konnte aber niemand draußen sehen. »Wer ist denn da?« fragte sie.

»Laß mich ein«, bat eine klägliche Stimme.

»Wen soll ich einlassen?«

»Kennst du mich nicht? Ich bin's ja.«

»Katre –!«

Sie stieß den Namen erschreckt aus und trat zwei Schritte zurück. Kurz atmend stand sie eine Weile da und starrte auf das Fenster hin. Es verdunkelte sich von der Seite her, und der Schattenriß eines Kopfes wurde auf der Scheibe sichtbar. Eine Hand klopfte wieder an. »Mach' mir doch auf, Mare«, ließ sich die Stimme in noch kläglicherem Ton vernehmen.

»Was willst du –?«

»Ich kann nicht weiter. Soll ich in der kalten Nacht – auf der Straße . . .« Die Worte zitterten.

»Aber ich darf nicht. Der Vater –«

»Du kannst, wenn du willst. Nur die eine Nacht . . . Wo soll ich denn hin? Ich bin ganz hilflos.«

Mare wurde von Mitleid bewegt. Es war doch die Schwester, die sie um ein Obdach anflehte, und sie kam nach dem, was geschehen war, gewiß nur in der äußersten Not. Deshalb öffnete sie leise die Tür und trat hinaus. Katre saß auf einem Baumstubben, vornübergebeugt, und wimmerte. »Ich tue, was ich nicht soll«, sagte Mare, »aber ich kann's nicht anders verantworten. Komm denn ins Haus und sprich morgen mit dem Vater. Will er dich bei sich leiden, so soll's mir recht sein. Ich vergesse nicht, daß wir einer Mutter Kinder sind.«

Sie küßte Katre, richtete sie auf und führte sie nach ihrer Kammer. Dort zündete sie ein Licht an. Ein Blick auf die an die Wand gelehnte Gestalt sagte ihr alles. »Ich glaubte, es wäre schon . . .«, stammelte sie, ganz bleich, von einem sehr schreckhaften Gedanken erfaßt.

Katre sank auf die Bank nieder, streckte die Arme über den davorstehenden Tisch und legte den Kopf darauf. »Ach nein, nein, nein«, klagte sie, »ich wollte ja – aber wer nimmt mich so auf? Aus dem Dienst mußte ich schon vor vierzehn Tagen . . ., es war viel, daß man mich so lange behielt. Und dann bin ich im Lande herumgezogen, bis mein ersparter Lohn verbraucht war – und dann wollte ich mich unter einen Windmühlenflügel stellen, oder ins Wasser werfen. Aber ich hatte doch nicht den Mut, und ich bedacht' auch, daß es Sünde wäre wegen . . . Ach Gott, ach Gott! ich weiß ja selbst nicht, was mir alles durch den Kopf ging. Zuletzt wollt' ich die Kubillene um Rat fragen. Sie behielt mich aber nicht länger als drei Tage und sagte, ich müßte eilig nach der Stadt ins Krankenhaus. Auf dem Weg aber erfaßte mich eine solche Angst, daß ich umkehrte. Es war mir gewiß, daß ich sterben müßte, und dann, meint' ich, sei's schon gleich, ob der Vater mich totschlüge. Dich aber wollt' ich doch noch einmal sehen, Mare, und dir alles Unrecht abbitten, und das unschuldige Kind, wenn es der liebe Gott doch nicht sollte zu sich nehmen wollen . . .« Ihre Stimme wurde schluchzend, und sie begrub das Gesicht in den Händen.

Mare brachte die Schwester in ihr Bett. »Du bist nun hier«, sagte sie, »und heute kannst du nicht fort. Wir wollen morgen beraten, was weiter zu tun ist.«

Aber dazu kam's nicht. Katre war vor Ermüdung rasch eingeschlafen. Mare hatte sich zu ihr gelegt, mußte aber schon vor Tage wieder aufstehen. Nur notdürftig bekleidet eilte sie nach dem Stall und weckte den Knecht. Er sollte sofort anspannen und nach Kuraten zu Frau Adomeit fahren. »Für wen?« fragte er spöttisch.

»Was du nicht weißt, brauchst du nicht zu sagen«, antwortete sie scharf abweisend.

Es vergingen einige bange Stunden. Lukatis merkte, daß in Mares Kammer etwas vorging, erhielt aber keine Auskunft und begab sich aufs Feld. Als er gegen Mittag zurückkam, hatte Matuttis schon von weitem etwas angedeutet. So schimpfte und fluchte er nun vorläufig im Hofe auf allerhand Möglichkeiten hin. Mare ließ ihn erst essen und fing dann von Katre zu sprechen an. Sie war aber noch nicht weit gekommen, als sie das aus der Kammer dringende Geschrei eines Kindes aller weiteren Mitteilungen überhob. Lukatis horchte auf, schlug mit der Faust auf den Tisch und brach in ein gellendes Lachen aus. »Steht's so!« rief er. »In meinem Haus ist die Dirne . . . Sie muß fort – fort mit dem Balg – fort, sag' ich!«

Er sprang auf und stürmte nach der Tür. Mare hielt ihn zurück und ließ ihn nicht hinaus, obgleich er sie abzuschütteln versuchte. »Das kann jetzt nicht sein«, sagte sie ernst, »und in die Kammer darfst du nicht in deinem Zorn. Es gibt ein Unglück.«

Sie hatte die Schnapsflasche auf dem Tisch stehen lassen und füllte ihm jetzt selbst das Glas. »Spüle dir den Ärger hinunter«, riet sie. »Was geschehen ist, ist geschehen – du versäumst nichts.«

Das leuchtete ihm ein. Mit einem Fluch goß er das Glas hinunter. Und dann schien er zu meinen, daß er heut' gewissermaßen in seinem guten Recht sei, sich den Verstand fortzutrinken. »Der Teufel hat mich zum Großvater gemacht«, lallte er bald mit schwerer Zunge, »dem Teufel muß ich's danken. Komm, Teufel, trink! Aus, aus, aus! Was? Ist dir das Zeug zu scharf? Sieh, wie ich's eingieße. So – so! Leer, wieder leer. Ich weiß noch nicht einmal, ob das Balg ein Junge oder eine Margelle ist. Ich will mit dir trinken, Teufel, auf den Jungen. Hinunter das Feuer! Ah! – das brennt in den Eingeweiden. Was? ziehst du mir ein Gesicht, Hinkefuß – winkst du mit dem Schwanz ab? Kein Junge? Gut! ist mir jetzt alles gleich – alles – alles. Trink! Die Margelle soll leben.«

Er lärmte noch eine Stunde in der Stube herum und lag dann langgestreckt auf der Ofenbank bis zum andern Morgen.

Als er aufwachte, befand er sich in einem jämmerlichen Zustand – nicht mehr betrunken und doch noch nicht ganz nüchtern. Er fühlte sich so schwach, daß ihn ein Kind hätte umstoßen können, und es fehlte ihm auch die Willenskraft, etwas in der Wirtschaft anzuordnen oder selbst anzugreifen. Jedesmal nach solcher Ausschweifung verfiel er in eine weinerliche Stimmung. So war's auch diesmal. Er schämte sich vor Mare und gab ihr allerhand Kosenamen, als ob er sie zu begütigen hätte. Nachdem er eine Weile in der Stube und auf dem Hofe herumgeduselt war, nahm er sie beiseite und fragte: »Ist's denn nun wahr oder hab' ich's geträumt? Die Katre –«

»Es ist wahr«, antwortete Mare, »man kann es nicht verbergen. Du hast es ja auch schon vorher gewußt.«

»Ja, ich hab's . . .«, bestätigte er mit unsicherer Stimme. »Und mein Kind ist sie doch und bleibt sie doch. Und schwach sind wir Menschen einmal alle – so oder so. Der eine so und der andere so. Was? Hab' ich nicht recht? Es wär' besser anders. Aber der liebe Gott hat uns so geschaffen. Ich hab' das meinige getan – den Peitschenstock auf ihr zerschlagen und sie aus dem Hause geworfen. Es kann mir keiner nachsagen, daß ich einverstanden gewesen sei. Aber wenn sie nun doch zurückgekommen ist, und es hat sich so gefügt . . . Ja, was kann ich dafür? Ich will die Katre sehen und ihr kein böses Wort sagen, solange sie krank ist – und das Kind . . . Was ist's denn?«

»Ein Mädchen, Vater.«

»Ein Mädchen – gut. Es ist alles ganz gleich. Ich will auch das Kind sehen. Ich bin doch der Großvater – so oder so. Ich will das Kind sehen. Es ist hoffentlich ein gesundes Kind. Der Janis muß die Katre heiraten – das muß er. Dann ist alles wieder in Ordnung. Meinst du nicht? Du hast ihn haben wollen. Und ich hätt' dir ja gern das Grundstück –«

»Sprich nicht davon«, unterbrach ihn Mare, »daran denk' ich nicht mehr.« Ihre Stirn zog sich in finstere Falten. »Wenn du die Katre sehen willst, werd' ich's ihr vorher sagen, damit sie nicht erschrickt.«

»Ja, tu' das«, bat er. »Tu' das, und gleich. Wer weiß, was einem später wieder durch den Kopf geht. Ärgerlich ist's doch . . .«

Mare nahm den günstigen Augenblick wahr und holte ihn bald in die Kammer ab, in der Katre in ihrem Bett lag. Sie sah sehr hübsch aus und hatte, obgleich sie die Augen niederschlug, einen schelmischen Zug im Gesicht. Lukatis schien sehr gerührt. Er küßte sie, ohne ein Wort zu sprechen, und küßte auch das Kind, das neben ihr in einem Korb auf dem Stuhle schlief. Dann ging er wieder möglichst leise hinaus, zog auf dem Hof den Brunneneimer auf und wusch sich mit dem kalten Wasser. Zu Matuttis sagte er: »Es ist ein hübsches Kind. Spann an! Wir müssen zur Anzeige.«

Diese weiche Stimmung erhielt sich bei ihm nicht lange. Von den Nachbarn mußte er spöttische Bemerkungen hören; Endrik Skwirblies, der seinem Bruder nichts vergeben wollte, tat so, als wisse er von dessen Mitschuld nichts; im Hause verursachten die Kranke und das Kind mancherlei fühlbare Unordnung. Er murrte und knurrte. Sobald Katre wieder aufgestanden und außer Gefahr war, fuhr er sie mitunter recht rauh an. Das Kind konnte er nicht schreien hören, ohne in Wut zu geraten. Hatte er ein Glas über den Durst getrunken, was leider nicht selten vorkam, so wurde er nun gar zanksüchtig und unleidlich. Er schimpfte dann in den derbsten Ausdrücken seinen Unmut heraus und ließ sich auch von Mare nicht beschwichtigen. Dabei platzte auch immer wieder der Ärger darüber mit heraus, daß er die Wirtschaft noch nicht habe abgeben können. Wer ihn hörte, mußte glauben, daß er die ganze Last derselben allein auf den Schultern habe. »Die Töchter könnten längst versorgt sein. Dafür bringt die mit dem hübschen Gesicht noch das Kind mit, und zu der andern findet sich erst recht keiner.«

Es wurde mit ihm alle Tage schlimmer. Noch waren keine drei Wochen vergangen, als er erklärte, die schlechte Person, die unnütze Brotesserin nicht mehr sehen zu können. Ging er an Katre vorbei, so stieß er sie mit dem Ellbogen an oder schnitt ihr wenigstens eine Grimasse und grunzte: »Äh – du!« Sie selbst fühlte sich dabei sehr gedrückt. Mare behandelte sie oft unfreundlich, und ein Besuch bei Marikke, die sich gar nicht blicken ließ, hatte ihr beweisen müssen, daß drüben Stellung gegen sie genommen war. Das verdroß sie am meisten. »Es ist hier nicht auszuhalten«, sagte sie, »ich gehe nach Königsberg in den Dienst.«

»Und das Kind –?« fragte Mare.

»Ah, das Kind!« rief sie. »Das wird irgendwo mit der Flasche aufgezogen.«

»Kannst du dich so leicht von dem Kinde trennen?«

»Ich muß doch. Daß hier meines Bleibens nicht ist, sehe ich alle Tage mehr. Was soll ich aber mit dem Würmchen anfangen, wenn ich mich irgendwo einmiete und in Arbeit gehe? Davon verdien' ich auch nicht soviel, daß ich ein Pflegegeld bezahlen kann. Ich habe bei meinem letzten Herrn etwas Deutsch gelernt, das kann ich in Königsberg gut gebrauchen. Es hat mir auch einer gesagt, daß da ein Professor ist, der für die litauischen Mädchen sorgt. Ich weiß, wo er wohnt, und frage bei ihm an. Hab' ich eine Stelle in einem reichen und vornehmen Hause, so kann ich alle Tage spazierengehen und Sonntagskleider tragen.«

Das hatte ungefähr so seine Richtigkeit. Man macht in Königsberg mit einer Litauerin in Nationaltracht Staat, wie in Berlin mit einer Spreewälderin. Mare wußte auch gegen ihre Gründe sonst nichts einzuwenden, nur tat ihr das Kind leid. Sie hatte zu dem kleinen Ding eine ihr selbst unerklärliche Neigung gefaßt und beschäftigte sich zärtlicher mit ihm, als die eigene Mutter. Als Lukatis einmal wieder arg gelärmt hatte, erklärte Katre es für beschlossene Sache, daß sie am andern Morgen weggehe. »Du wirst doch das Kind erst taufen lassen«, sagte Mare vorwurfsvoll.

»Das geschieht besser, wenn es in Pflege ist«, antwortete Katre leichthin. »Ich will mich in der Kirche nicht begaffen und gar vom Herrn Pfarrer ausschelten lassen. Du kannst mir aber große Liebe erweisen, wenn du dich bei der Kubillene erkundigst, wo das Kind am billigsten unterzubringen ist. Die weiß alles. Da kann es dann auch getauft werden, wenn ich erst etwas Geld geschickt habe.«

Mare widersprach nicht weiter. Lukatis war ganz einverstanden und brachte Katre, die mit vielen Tränen von dem Kinde Abschied nahm, aber bald getröstet war, selbst zur Eisenbahnstation. Er war nicht wenig verwundert, als Mare ihm dann erklärte, sie selbst werde das Kind in Pflege behalten. »Du bist dumm«, meinte er, »dir um nichts solche Plage aufzubürden.«

»Das Pflegegeld kann ja an uns gezahlt werden«, antwortete sie. Es war ihr schwerlich ernst damit, etwas für ihre Mühe anzunehmen, aber sie wußte, daß der Vater sie so besser verstehen und auch gegen die Kleine duldsamer sein würde, die nichts umsonst haben wollte.

Am nächsten Sonntag schon fuhr sie mit dem Kind nach der Kirche. Es erhielt in der Taufe den Namen Ewe. Sie selbst und auf ihre Bitte Matuttis waren die Paten.

So hatte nun wieder Mare alle Mühe und Sorge, während ihre Schwester sich das Leben möglichst leicht sein ließ. Es war nichts Kleines, das Kind an die Flasche zu gewöhnen und Tag und Nacht zu beaufsichtigen und zu beschwichtigen, damit der Großvater nicht über das Geschrei verdrießlich wurde. Aber darein fand sie sich. Es ärgerte sie nur, wenn Katre sehr vergnügt schrieb, wie gut es ihr bei der jungen Herrschaft gehe, die ihr schwächliches Würmchen gar nicht zärtlich genug behüten könnte, wie sie den ganzen Tag nichts zu arbeiten habe und sich nur mit ihrem Putz beschäftigen dürfe, wie ihr die Leute auf der Straße nachgafften, wenn sie den zierlichen Korbwagen mit den seidenen Vorhängen schöbe, und wie man nun bald nach dem Seebadeort Neuhäuser ziehen werde, wo der gnädige Herr für die gnädige Frau eine schöne Villa habe erbauen lassen. »Es muß ja so sein«, haderte die Mare; »dem einen bleibt der bescheidenste Wunsch unerfüllt und dem andern schlägt auch das unsinnigste Beginnen zum Glück aus.« Getauscht hätte sie mit Katre doch nicht.

Dabei war es nun aber recht wundersam, daß auch die zornigste Stimmung sich nie gegen das Kind richtete. Keine rechte Mutter konnte es sorgsamer behandeln. Was sie für die kleine Ewe tat, ging weit über das Maß treuer Pflichterfüllung hinaus. So oft sie in der Nacht geweckt wurde, nie zeigte sie sich unwillig. Die derben Scheltreden des Vaters, daß sie die Wirtschaft vernachlässige, nahm sie geduldig hin. Wenn sie mit dem Kind spielte, verzogen sich die finsteren Falten von der Stirn und nahm das gestrenge Gesicht einen fast lieblichen Ausdruck an. Sie sang es in Schlaf und die rauhe Stimme wurde dabei weich. Als es einmal erkrankte, ließ sie nicht nach, bis zum Arzt geschickt wurde, und ging mit feuchten Augen herum, solange die Gefahr nicht ganz beseitigt schien.

Kein Zweifel, Ewchen wuchs ihr von Tag zu Tag mehr ans Herz. Nicht als der Schwester Kind, nicht weil sie an Janis erinnerte, sondern weil sie an ihr nun doch etwas ganz für sich hatte. Nichts lag ihr ferner als die Vorstellung, daß sie um Gottes willen handle, indem sie an der von Vater und Mutter Verlassenen ein gutes Werk tat: für sich selbst sammelte sie den Schatz ihrer Wohltaten.

Aber die Wirkung war dieselbe. Das Kind gedieh in ihrer Pflege, lächelte ihr zu, schmiegte sich an sie, lallte ihr die ersten Laute der Sprache nach, lernte unter ihren hilfreichen Händen gehen und stehen. Das brachte ihr Freuden, die sie mit niemand zu teilen hatte. »Wir beide gehören zueinander«, sagte sie oft tief überzeugt, »wir beide!«

*

So ging ein Jahr hin und noch ein viertel. Katre war in ihrem Dienst geblieben, der ihr so wohl gefiel, daß sie gar nicht an eine Veränderung ihrer Lage dachte. Die Herrschaft hatte sie gern wegen ihrer Heiterkeit und Drolligkeit, jeder Gast sagte ihr ein freundliches Wort, die Großeltern, Onkel und Tanten des kleinen Burschen, den sie wartete, überhäuften sie mit Geschenken. Besser meinte sie es nirgendwo haben zu können, am wenigsten zu Hause.

Da kam eines Tages Janis Skwirblies nach Lukatellen zurück. Er hatte seiner Dienstpflicht genügt und war nun vorläufig sein freier Herr. Durch Briefe hatte er längst erfahren, was sich zugetragen; auf den ersten war auch seine Antwort an Katre ziemlich pünktlich eingetroffen, daß er wisse, was er versprochen habe und Wort halten werde. Daß er dann nichts weiter von sich hören ließ, wurde ihm kaum als ein Zeichen von Lieblosigkeit angerechnet. Was sollte er auch schreiben? Tun konnte er ja doch zur Zeit für Mutter und Kind nichts.

Nun mochte er wohl den guten Willen mitgebracht haben, als ein ehrlicher Mann zu handeln, aber sein Bruder und seine Schwägerin wirkten eifrig auf ihn ein, daß er die Dinge an sich kommen lassen solle. »Wer weiß, was sie in der Stadt alle die Zeit getrieben hat«, sagte Marikke naserümpfend. »Sie hat immer die Augen überall gehabt und wird wohl auch dort mehr als einen gefunden haben, der ihr gefallen hat. Was bist du ihr denn schuldig? Ich kann bezeugen, daß sie dich in ihr Netz hat ziehen wollen. Wenn ich gewußt hätte, daß es darauf hinaus sollte, wär' ich vorsichtiger gewesen.«

Janis stimmte ihnen nicht zu, wartete aber doch ab Zu Lukatis ging er gar nicht. Er hatte weniger vor ihm als vor Mare Angst, die er gekränkt wußte, und deren strenge Art nun eine gerade Erklärung fordern würde. Wie sollte er sich dem Kinde gegenüber verhalten? Die Neugier, es zu sehen, war wohl groß; aber größer noch die Verlegenheit, wie er sich bei der ersten Begegnung zu benehmen hätte, wenn er sich doch nicht als den gerührten Vater zu erkennen geben wollte. Und je länger er zögerte, um so schwerer wurde ihm der Gang.

Mare konnte sich über das, was da mitspielte, nicht täuschen. Sie war zu sehr aufgewachsen in den Anschauungen ihrer bäuerlichen Umgebung, um sich darüber zu entrüsten. Sie teilte den Nützlichkeitsstandpunkt, von dem auch hier alle dergleichen Dinge angesehen wurden, und begriff den Wunsch der Nachbarn, durch schroffe Haltung jeden Anspruch schon an der Schwelle abzuweisen, sehr gut. Nun war es ihr aber für ihre eigene Familie eine Ehrensache, sich nicht so abtrumpfen zu lassen: und wenn Mare auch ihrer Schwester Wohl nicht bedacht hätte, da war das Kind, das sie liebte und für dessen Recht einzutreten sie die heilige Verpflichtung fühlte. Es beleidigte sie selbst, daß Janis sich nicht zu überzeugen anschickte, wie treu sie Mutterstelle vertreten hatte. Nachdem sie einige Tage vergeblich auf seinen Besuch abwartet, beschloß sie daher, Zwang zu üben. »Deinetwegen geschieht's«, sagte sie, als sie die kleine Ewe, der sie ein reines Röckchen angezogen und das Gesicht gewaschen hatte, auf den Arm nahm und nach der Dorfstraße trug. Sie hatte Janis vom Marktflecken her kommen sehen und überlegte, daß er an ihr vorüber müßte, wenn sie sich an die Zaunecke unten am Querweg stellte.

Sie irrte darin auch nicht. Der Weidenstumpf hatte sie verdeckt, bis er ganz in die Nähe kam, und nun konnte er nicht mehr ausweichen. Sowie er ihrer mit dem Kinde ansichtig wurde, blieb er einen Augenblick stehen, hob den Kopf mit einer zuckenden Bewegung und errötete bis zur Stirn hinauf. Da war nun doch die Notwendigkeit gegeben, Stellung zu nehmen. Er setzte seinen Weg ein paar Schritte fort, lächelte und sagte: »Guten Tag, Mare! Wie geht es dir? Wartest du hier auf einen?«

»Ja, auf dich«, antwortete sie scharf.

»Auf mich? Das kann mir gefallen«, versuchte er zu scherzen. Er schielte nach dem Kind, das sich ängstlich von dem fremden Mann abgewandt und versteckt hatte. Er meinte, jetzt ein dreistes Wort nötig zu haben. »Es hat sich hier in Lukatellen manches verändert, wovon ich erst nach und nach erfahre«, sagte er deshalb, »du trägst dich da mit einem Kinde. Gehört es dir?«

Der Blick, mit dem sie ihn von unten bis oben musterte, schien fragen zu wollen, ob seine Unverschämtheit wirklich eine Antwort erwarte. »Ja«, sagte sie dann, verächtlich lachend, »es gehört mir. – Es gehört mir«, wiederholte sie, sich hochaufrichtend, mit ernstem Nachdruck und setzte mit leicht bebender Stimme hinzu: »weil die Mutter für sein Leben dienen muß, und der Vater so schlecht ist, es nicht kennen zu wollen.«

Der Matrose senkte die Augen. »Wenn du von mir sprichst . . .«, murmelte er.

»Von dir spreche ich«, fiel sie ein, »von dir, Janis Skwirblies. Pfui, so etwas hätte ich dir nicht zugetraut, wie ich dich einmal vor Jahren kannte. Ich stehe hier nicht für mich, sondern des Kindes wegen, darum geht mich deine Schlechtigkeit an.« Sie löste die Ärmchen der kleinen Ewe von ihrem Halse und setzte sie aufrecht. »Sieh! es ist ein hübsches Kind und ein liebes Kind – dessen hat sich wahrlich niemand zu schämen. Und weil ich es liebhabe, darum will ich, daß ihm sein Recht werde.«

Janis lächelte verlegen. »Was weißt du von meiner Schlechtigkeit?« fragte er kleinlaut. »Es hat mancher die besten Absichten, aber . . . Und hier auf der Straße, denk' ich . . .«

»Warum kommst du nicht zu uns ins Haus?«

»Ja . . .« Er machte mit der Hand eine Bewegung. »Ich kann doch nicht wissen, was dein Vater für eine Meinung hat. Wirklich ein hübsches Kind!« Er tätschelte der Kleinen die Wangen. »Ein sehr hübsches Kind. Und so artig . . .«

Er kitzelte mit dem Finger das runde Kinn und pfiff. Ewe fing an zu lachen und streckte plötzlich die Ärmchen nach ihm aus. »Siehst du, sie will zu dir«, sagte Mare und reichte sie zu ihm hinüber.

Janis nahm das Kind mit beiden Händen, schwenkte es ein paarmal ungeschickt auf und ab und küßte es dann, bis es das Gesichtchen zum Weinen verzog. Er war ganz weich geworden. »Ein so niedliches Dingelchen«, lobte er, »man muß ihm gut sein.«

Er behielt das Kind auf dem Arm, während sie nun auf dem Seitenwege dem Hause zugingen. Nicht weit von demselben kam ihnen Lukatis entgegen.

»Ich wollte eben zu dir«, bemerkte er stutzend. »Es will doch jeder wissen, woran er ist.«

»Ich kann ja auch bei dir hören, was du mir zu sagen hast«, antwortete der Matrose. Es war ihm nun schon lieb, daß er durch Mare genötigt worden war, sich auszusprechen. Er ließ sich von Ewe die Mütze vom Kopf nehmen und wieder aufsetzen, drei, viermal, ohne des Spiels müde zu werden. Erst nachdem sie eingetreten waren, gab er das Kind ab, das sich nun nicht von ihm trennen wollte; Mare mußte es mit allerlei Mätzchen zu sich locken.

Dann setzten sich die beiden Männer an den Tisch. Der Matrose schob eine Pille Kautabak in den breiten Mund. Lukatis strich sich verdrießlich das unrasierte Kinn. »Na –«, begann er, »bekennst du dich nun dazu?«

»So weit schon«, antwortete Janis.

»Wie weit?«

»Du hast ja gesehen.«

»Das ist ganz gut, aber . . .« Das Streichen der rauhen Hand über die Bartstoppeln gab einen kratzenden Ton. »Gerad' heraus, Janis – wirst du die Katre heiraten?«

»Meinetwegen schon.«

»Na, meinetwegen –«

»Ja, es kommt auf dich an, Davids.«

»Wie ist das gemeint?«

»Wie es gesagt ist. Willst du der Katre das Grundstück abtreten?«

»Ah, das Grundstück –!«

»Sonst geht es doch nicht. Du weißt, ich bin Seemann und habe kein eigenes.«

Lukatis kratzte sich den Kopf. »Aber da ist die Mare . . .«

»Ja – sieh, wie du mit ihr fertig wirst. Mich geht es nichts an. Wenn ich die Katre heiraten soll –«

»Das ist deine Schuldigkeit.«

»Kann sein. Aber es muß auch von der andern Seite seine Richtigkeit haben. Mein Bruder und seine Frau lassen es sonst nicht zu.«

Dieser Grund war für Lukatis ganz einleuchtend. Er widersprach daher auch nicht, sondern sagte nur nach einer Weile: »Warum hast du nicht die Mare geheiratet?«

»Es wär' vielleicht besser gewesen«, antwortete der Matrose ganz ruhig. »Darüber lohnt es doch nicht zu reden. Die Katre ist auch deine Tochter.«

»Das wohl.«

»Und sie muß das Grundstück billiger bekommen. Wer nimmt sie sonst mit dem Kinde?«

Auch dafür hatte Lukatis ein Verständnis. »Mein Ausgedinge muß ich doch haben«, sagte er verdrießlich.

»Ich werde dir Endrik schicken«, sagte der Matrose aufstehend, »der versteht mehr davon als ich. Was er mit dir und Mare ausmacht, das soll gelten.«

Lukatis nickte. Er wußte ja, daß er ohne diesen Vermittler nicht zum Schluß kommen könnte.

Bei Mare hatte er keinen ganz leichten Stand. »So bin ich wieder zurückgesetzt«, lamentierte sie, »und ungerecht hinter Katre geschoben. Ich habe für das Grundstück gearbeitet und sie wird die Wirtin – die Faule, Leichtsinnige. Und weshalb? Weil sie alles leicht genommen hat. Unehre hat sie uns ins Haus gebracht, und dafür wird sie jetzt belohnt. Weil ich ihr die Sorge für das Kind abgenommen habe, dafür wird mir auch noch das Erbteil geschmälert. Weil ich verlange, daß das Kind seinen rechten Vater haben soll, kann ich als Magd zu fremden Leuten gehen. Das ist eine Gerechtigkeit! Der eine sät und der andere erntet – der eine gräbt und der andere hebt den Schatz aus. Mich hat der Mann verschmäht, aber Haus und Hof nimmt er mir fort. Wie darf das geschehen?«

Sie mußte sich endlich doch fügen, da die beiden Skwirblies hartnäckig auf ihrem Stück bestanden. Ganz gelb vor Verdruß und mit Tränen in den Augen gab sie ihre Einwilligung. »Für dich tu' ich's«, rief sie, indem sie die kleine Ewe küßte und ans Herz drückte, »für dich allein! Weil ich dich liebhabe, tu' ich mir dies Leid an. Was kannst du dafür, daß du auf der Welt bist? Dir will ich's nicht nachtragen. Stoßt mich aus – mein Verderben wird es nicht sein!«

Nun wurde an Katre geschrieben. Janis sei zurück und wolle Hochzeit machen, sobald ihr das Grundstück übertragen sei; sie solle so rasch als möglich nach Hause kommen.


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