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Hexengold

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»Also das ist nun deine Heimat und hier hast du wirklich zehn Jahre lang gesessen, in diesem gottverlassenen kleinen Neste? So schlimm habe ich mir die Sache doch nicht gedacht!«

»Gottverlassenes kleines Nest! Das laß unsere Heilsberger hören, die so stolz sind auf ihre Stadt und deren historische Vergangenheit! Sie thun dich in Acht und Bann, wenn ihnen derartiges zu Ohren kommt.«

Die beiden Herren, die dies Gespräch führten, befanden sich in einem kleinen Stadtgarten, eng umschlossen von den hohen Giebelhäusern des altertümlichen Städtchens, der eine groß und schlank, mit dunklem Haar und Bart und ernsten dunklen Augen, der andere etwas kleiner, aber eine stattliche, kraftvolle Erscheinung, das Haar voll und blond, das Antlitz gebräunt von der Sonne. Er zuckte lachend die Achseln. »Ja, sie sind allesamt Philister, die braven Heilsberger, und der ehrengeachtete und hochwohllöbliche Herr Notar Raimar – so lautet ja wohl dein voller Titel? – der ist leider auch einer geworden.«

Raimar lächelte flüchtig, es lag eine gewisse Müdigkeit in seinen Zügen und seiner ganzen Haltung, auch die Stimme hatte einen müden, halb verschleierten Klang, als er erwiderte: »Spotte nur, Arnold, du hast ja recht. Ein Notar von Heilsberg nimmt allerdings keine weltbewegende Stellung ein, aber wie findest du die Lage unserer Stadt?«

»Recht hübsch, recht idyllisch,« gestand Arnold zu. »Aber wenn ich jahrelang immer nur diese Idylle anschauen müßte und dazu diese stillen, sonnenbeschienenen Straßen und ringsherum die biederen Heilsberger – ich glaube, ich würde verrückt!«

»Das habe ich im Anfang auch geglaubt,« sagte Raimar gelassen. »Aber man gewöhnt sich schließlich an alles.«

»Das ist ja eben das Unglück, daß du dich daran gewöhnt hast,« brauste der andere auf. »Ernst, was ist aus dir geworden! Wenn ich denke, was du einst gewesen bist, damals, als wir uns kennen lernten, wie du da mit vollen Segeln hinaussteuertest in das Leben – und hier bist du gelandet!«

»Gescheitert meinst du,« ergänzte Ernst. »Ja, es macht nicht jeder Karriere, wie Herr Major Hartmut, der mir jetzt so nachdrücklich den Text liest.«

»Zum Kuckuck, du hattest aber das Zeug dazu,« fiel der Major ein. »Ich war ja dabei, als du deine erste Probe bestandest, eigentlich noch blutjung als Verteidiger, aber du warst der geborene Redner. Und welch ein Erfolg bei diesem ersten öffentlichen Auftreten!«

»Es war auch mein letztes,« sagte Raimar mit schwerer Betonung. »Gleich darauf brach die Katastrophe herein. Du weißt es ja, was mich aus meiner Laufbahn gerissen hat.«

»Ja, ich weiß, der Bankrott deines Vaters.« Das Gesicht Hartmuts wurde plötzlich ernst. »Das war allerdings eine schlimme Geschichte, aber du hättest die Flinte nicht so schnell ins Korn werfen sollen. Du mußtest dableiben, standhalten und die Zähne zusammenbeißen. Leicht wäre es ja nicht gewesen, aber es galt deine ganze Zukunft.«

»Die war ohnehin vernichtet! Dem jähen Glückswechsel hätte ich standgehalten, aber der Schande –« »Ach was Schande! du warst doch schuldlos, das wußte jeder. Du warst nicht einmal Kaufmann, sondern Jurist und standest dem Bankgeschäft deines Vaters ganz fern.«

»Aber ich trug seinen Namen, und der war fortan verfemt. Meinst du, ich hätte die Stirn gehabt, wieder hinzutreten und das Recht und die Ehre anderer zu verteidigen, wenn mir jeder in das Gesicht schleudern konnte, daß meine eigene Ehre befleckt, daß mein Vater ein Dieb sei? – das war vorbei, für immer!«

»Ja, das Unglück war, daß die sämtlichen Depots fehlten,« sagte der Major halblaut. »Ein Bankrott ist ja noch keine Schande, aber ein solcher Vertrauensbruch – du hast freilich nie an die Schuld deines Vaters glauben wollen.«

»Nein!« Das Wort klang dumpf, aber fest.

»Er hatte große Verluste gehabt,« warf Hartmut ein. »Da verliert mancher die Besinnung. Er glaubte zweifellos, alles ersetzen zu können, und dann brach die Katastrophe so jäh herein – «

»Nein, sage ich dir!« unterbrach ihn Ernst. »Er ließ mir ja noch ein paar Zeilen zurück, ehe er in den Tod ging, und den Weg geht man nicht mit einer Lüge auf den Lippen. Ein Schuldiger hat nicht die letzte, verzweifelte Mahnung an den Sohn: ›Rette mein Andenken und meine Ehre, wenn du kannst!‹ – ich habe es nicht gekonnt!«

Man hörte es an dem qualvoll gepreßten Ton, wie die Erinnerung noch heute den Mann erregte, jetzt richtete er sich mit einem tiefen Atemzuge empor.

»Lassen wir das ruhen! Aber siehst du, Arnold, das ist es, was mir die Schwingen gelähmt hat. Ich konnte damals keinem Menschen mehr ins Auge sehen, ich kann es noch heute nicht, aber ich mußte fort aus Berlin, fort um jeden Preis!«

»Aber warum gerade nach Heilsberg?« rief der Major heftig. »Ich wäre an deiner Stelle in die weite Welt gegangen, meinetwegen in die afrikanische Wüste oder in die australischen Urwälder, oder in sonst eine kulturbedürftige Gegend – in die Heilsberger Kanzlei wäre ich nicht gegangen.«

»Und meine Mutter?« fragte Raimar ernst, »und Max, der damals noch ein Knabe war? Sollte ich mich hinüberretten in ein neues Leben und sie dem Mangel preisgeben, denn das war doch ihr Los, wenn ich nicht für sie eintrat. Für mich gab es überhaupt keine Wahl, ich mußte froh sein, daß ich unser Wrack hier landen durfte.«

»Sie haben es dir aber nicht einmal gedankt, deine lieben Angehörigen,« grollte Hartmut, »Deine Frau Mutter machte dir fortwährend das Leben schwer, mit ihrem Jammer über die verlorene glänzende Vergangenheit. Sie hat dir überhaupt immer den dummen Jungen, den Max, vorgezogen. Der war ihr Liebling, der sollte mit aller Gewalt ein großer Künstler werden, und du mußtest die Mittel schaffen. Sie fand es ganz in der Ordnung, daß du dich halb zu Tode arbeitetest für sie und ihren vielgeliebten Max.«

»Arnold, ich bitte dich!« unterbrach ihn der Freund.

»Nun ja, es war deine Mutter – Gott hab' sie selig! Aber jetzt ist sie tot und dein Bruder endlich fertig mit seinen Studien. Nun wirfst du hoffentlich die ganze Jammergeschichte hier über Bord.«

Ernst sah ihn befremdet an. »Was soll ich über Bord werfen?«

»Nun, deine hochwohllöbliche Kanzlei, inklusive Schreiber und Akten. Oder willst du vielleicht zeitlebens hier sitzen, um zu beurkunden, daß Hinz dem Kunz einen Acker verkauft hat, oder ähnliche welterschütternde Thatsachen? Jetzt bist du frei, jetzt fort mit der ganzen Heilsberger Erbärmlichkeit und wieder hinaus in das Leben!«

Raimar lächelte, aber es war ein müdes, hoffnungsloses Lächeln. »Jetzt noch? In meinem Alter? Dazu ist es zu spät.«

»Unsinn!« sagte der Major kurz und bündig, »In deinem Alter? Bist wohl schon ein Greis mit deinen siebenunddreißig Jahren? Da sieh mich an! Ich bin drei Jahr älter, aber es soll sich einer unterstehen, mich alt zu nennen!«

Er sprang auf und stellte sich mit militärischer Strammheit vor den Freund hin. Die stattliche, kraftstrotzende Gestalt zeigte in der That noch nichts vom Alter, und in das dichte blonde Haar mischte sich noch kein einziger Silberfaden, Raimar streifte ihn mit einem langen, düstern Blick.

»Ja, du – das ist etwas anderes! Du warst stets mit Leib und Seele bei deinem Beruf, du hast immer mitten im Leben und Wirken gestanden. Ich habe zehn Jahre lang meine Kraft vergeudet, an die erbärmlichsten Alltäglichkeiten – vergeuden müssen, da bleibt nichts mehr übrig für das Leben.«

»Ernst, thu mir den Gefallen und sieh nicht so entsagungsvoll aus!« brach Hartmut los. »Werde meinetwegen grob gegen das Schicksal und den schändlichen Streich, den es dir gespielt hat, aber diese elegische Miene kann ich nicht aushalten, die treibe ich dir aus und müßte ich mit einem Donnerwetter dreinfahren!«

Das angekündigte Donnerwetter kam glücklicherweise nicht zum Ausbruch, denn soeben trat ein junger Mann aus dem Hause und näherte sich mit einem etwas schläfrigen »Guten Morgen!« den beiden Herren.

»Guten Morgen, Max!« sagte Raimar, sich umwendend. »Kommst du endlich zum Vorschein?«

»Ja, es ist elf Uhr,« bestätigte der Major. »So lange hat der junge Herr in den Federn gelegen.«

Max Raimar zog einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder. Er war bedeutend jünger als der Notar und auffallend hübsch, schien sich dessen aber auch vollkommen bewußt zu sein.

Die Brüder hatten eigentlich nur die dunkle Farbe des Haars gemeinsam und die dunklen Augen, die bei dem älteren nur viel tiefer und ausdrucksvoller waren, sonst bestand kaum eine Aehnlichkeit zwischen ihnen. Ernst war in seinem Aeußeren die Einfachheit selbst, aber es lag eine unbewußte Vornehmheit darin, die sich nie verleugnete. Max hatte einen gewissen genialen Anstrich, der ein klein wenig theatralisch war, ebenso wie sein, übrigens sehr sorgfältiger Anzug, aber das stand ihm sehr gut. Der junge Künstler war jedenfalls das, was man in den Salons eine interessante Erscheinung nennt.

»Ich war angegriffen von der gestrigen Reise,« erwiderte er. »Die lange Eisenbahnfahrt von Berlin und dann noch drei Stunden im Wagen, von Neustadt bis hierher, da wird man ja todmüde, das halten meine Nerven nicht aus.«

»Nerven hast du auch mitgebracht, Maxl?« fragte Hartmut. »Du scheinst ja recht modern geworden zu sein. Laß dich einmal anschauen, du siehst freilich etwas abgetakelt aus.«

»Herr Major!« sagte der junge Mann mit etwas gereizter Betonung.

»Ach so, du nimmst das übel? Man darf den Herrn Künstler und angehenden Raffael wohl gar nicht mehr beim Vornamen nennen?«

Max machte eine halbe Verneigung. »Bitte, Herr Major, dem alten Freunde meines Bruders gestatte ich gern die alte Vertraulichkeit.«

»Gestattest du? Freut mich, ich werde von deiner gütigen Erlaubnis Gebrauch machen. Aber du kommst ja wie vom Himmel geschneit. Was verschafft uns denn eigentlich die ganz plötzliche Ehre deiner Gegenwart?«

»Ja, Max, das möchte ich auch fragen,« mischte sich Raimar ein, »Du kommst ganz unerwartet, ist irgend etwas vorgefallen?«

»O nein, durchaus nichts,« versicherte Max. »Ich fühlte nur, daß ich des Ausruhens, der Erholung bedurfte. Du kennst das freilich nicht, Ernst! Danke Gott, daß du ruhig hier in deinem stillen Heilsberg sitzest und nichts siehst und hörst von dem Wogen und Treiben der Großstadt. Diese ewige, ruhelose Hetzjagd, dieser tägliche, aufreibende Kampf ums Dasein!«

»Ist der dir so schwer geworden?« spottete der Major. »Ich dachte, das wäre bisher Sache deines Bruders gewesen. Du hast in unentwegter Tapferkeit nur immer die Geldbriefe angenommen, die er dir schickte.«

»Ich werde Ernst nicht mehr lange in Anspruch nehmen,« erklärte der junge Künstler mit beleidigter Miene. »Ich hoffe, mich sehr bald schon auf eigene Füße stellen zu können.«

»Es wäre auch Zeit, Max,« sagte der ältere Bruder ernst, aber ohne Vorwurf. »Ich habe seit sechs Jahren deine sämtlichen Ausgaben in Berlin bestritten, und das ist mir nicht immer leicht geworden, denn du hast sehr viel gebraucht. Ich wollte dir aber die Möglichkeit geben, dich frei zu entwickeln, wollte dir die volle Unabhängigkeit sichern bei deinen Studien. Jetzt ist die Bahn offen, nun zeige, was du kannst.« »Ja, wenn das Fach nur nicht so überfüllt wäre!« versetzte Max in einem höchst prosaischen Tone. »Alles drängt ja jetzt zur Kunst, es ist gar kein Raum da für den einzelnen und sein Talent. Und dann dieser Neid, diese Eifersucht bei jedem Erfolge und vor allem diese boshafte Kritik mit ihren ewigen Nergeleien – es ist ein jämmerliches Dasein!«

Ernst zog die Brauen zusammen. »Ist das deine ganze Begeisterung für deinen Beruf?«

»Begeisterung!« Max nahm eine tragische Miene an. »O, die verlernt man bald genug. Die Kunst, der Ruhm, das sind doch im Grunde auch nur Chimären. Es ist furchtbar dies Erkennen, aber es ist unausbleiblich. Ich habe überhaupt keine Ideale mehr! Das Leben verzehrt sie alle. Mir ist oft zu Mute, als wäre ich ein ausgebrannter Krater.«

Der Major hatte sich zurückgelehnt und blickte höchst belustigt auf den jungen Herrn, der sich offenbar sehr interessant vorkam bei diesen pessimistischen Geständnissen.

»Sehr schön gesagt!« bemerkte er. »Ausgebrannter Krater ist gut, es fragt sich nur, ob da etwas zu verbrennen war. Ernst, was sagst du denn eigentlich zu deinem Herrn Bruder mit der Kraterseele?«

»Ich und Max, wir verstehen uns schon längst nicht mehr,« sagte Raimar kalt. »Ich möchte nur wissen, wie er mit solchen Ansichten die geplante Selbständigkeit durchsetzen will.«

»Das wird sich ja finden,« erklärte Max mit einem vielsagenden Lächeln. »Ich bin noch nicht ganz im reinen mit meinen Zukunftsplänen, aber das klärt sich hoffentlich bald. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich einige Wochen hier bleibe?«

»Die Heimat steht dir immer offen, das weißt du, aber was willst du denn wochenlang in Heilsberg? Sonst hast du jeden Besuch hier als ein Opfer betrachtet und ihn möglichst abgekürzt.«

»Ich suche ja diesmal nur Erholung,« erklärte der junge Künstler. »Und dann hoffe ich auch Bekannte hier zu treffen, du verkehrst ja wohl in Gernsbach, bei Frau von Maiendorf?«

»Bisweilen und meist nur geschäftlich,« lautete die kühle Antwort. »Ich bin ihr Rechtsvertreter.«

»Gleichviel, wir müssen in den nächsten Tagen hinüberfahren. Ich habe die Dame in Berlin kennen gelernt, im Hause ihrer Verwandten, die sie jetzt zum Besuch erwartet, Herrn Marlow nebst Tochter.«

Den Notar schien diese Nachricht nicht im mindesten zu interessieren, Hartmut aber wiederholte nachsinnend: »Marlow? Etwa den Chef des Bankhauses in Berlin?«

»Jawohl – ein Millionär!« Max sprach das Wort mit einer gewissen Feierlichkeit aus. »Eine alte, sehr solide Firma und sehr angesehen in den Finanzkreisen. Ich verkehre viel im Marlowschen Hause, der Sohn ist vor einigen Jahren gestorben, jetzt ist nur noch eine einzige Tochter da. Ein sehr schönes Mädchen, und natürlich von allen Seiten umschwärmt und umworben, da sie dereinst Alleinerbin ist – eine brillante Partie!«

Raimar stutzte und richtete einen forschenden Blick auf den Bruder.

»Du scheinst ja sehr genau unterrichtet –« hob er an, doch der Major unterbrach ihn mit einem lauten Auflachen.

»Aber Ernst, merkst du denn nicht, was der geniale Maxl da ausgeheckt hat? Heiraten will er die Erbin und den Kampf ums Dasein als Millionär fortsetzen. Darum ist er dir wie eine Bombe ins Haus gefallen – und das nennt er, sich auf eigene Füße stellen!«

Ernst antwortete nicht, er blickte noch fragend auf Max, der jetzt mit einer halb beleidigten, halb selbstbewußten Miene den Kopf hob.

»Ich wüßte nicht, Herr Major, was daran so Merkwürdiges wäre. Ich verkehre, wie gesagt, sehr viel bei den Marlows und werde demnächst die junge Dame malen, auf ihren ausdrücklichen Wunsch. Ich glaube ihr nicht gleichgültig zu sein, aber in Berlin sind immer so viel andere in ihrer Nähe, mit den vornehmsten Namen und Titeln, da kann man sich nie zur Geltung bringen. In Gernsbach, auf dem Lande, ist das leichter, da steht man allein im Vordergrunde.«

»Nun, mein Geschmack wärst du nicht, Maxl, so hübsch du auch bist,« sagte der Major trocken. »Aber der Geschmack ist verschieden und die Millionärin kann ja in ihren sonstigen Ansprüchen bescheiden sein.«

Max hielt es unter seiner Würde, den Ausfall zu bemerken, er wandte sich zu seinem Bruder, der noch kein Wort gesprochen hatte. »Dir gegenüber brauche ich ja kein Geheimnis aus meinen Wünschen und Hoffnungen zu machen, aber das bleibt natürlich unter uns. Ich habe vorläufig noch gar keine Gewißheit, aber ich glaube hoffen zu dürfen. Dann brauchte ich dich allerdings nicht länger in Anspruch zu nehmen, du hast Opfer genug gebracht für mich –«

»Für deine künstlerische Zukunft habe ich sie gebracht!« unterbrach ihn Raimar. »Damit scheint es jetzt vorbei zu sein. Nach deinen Aeußerungen von vorhin wirst du der Kunst einfach den Rücken kehren, wenn du eine Million heiratest.«

Der junge Mann geriet einen Augenblick in Verlegenheit bei diesen mit voller Schärfe gesprochenen Worten, die durchaus das Richtige zu treffen schienen, dann aber zuckte er mit überlegener Miene die Achseln.

»Ich glaube, du willst mir einen Vorwurf daraus machen, daß ich das Glück nehme, wo ich es finde. Nimm es mir nicht übel, Ernst, aber du sitzest seit zehn Jahren in Heilsberg, und was weiß man denn hier, in dem abgelegenen kleinen Orte von der Welt und ihren Anforderungen! Du kennst sie überhaupt nur in der Vergangenheit, wo sie vielleicht noch einen romantischen Schimmer hatte, aber wir Kinder der Gegenwart haben keine Illusionen mehr. Wir sehen Welt und Leben, wie sie wirklich sind, und rechnen damit, deshalb gehört uns die Zukunft. – Du hast mit der deinigen ja eigentlich schon abgeschlossen.«

Damit stand er auf und trat in einer Haltung, die schon sehr an den künftigen Millionär erinnerte, zu einem der Blumenbeete, wo er eine Knospe abpflückte und sie in das Knopfloch steckte.

»Höre, Ernst,« der Major sprach halblaut, aber es grollte bedenklich in seiner Stimme. »Läßt du dir von dem dummen Jungen den Text so weiter lesen und dich als eine Art Urahn aus der Vorzeit behandeln, dann sage ich ihm die Wahrheit!«

Raimar machte nur eine abwehrende Bewegung, dann erhob er sich gleichfalls.

»Max!«

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Der Gerufene wendete sich etwas erstaunt um, der Bruder stand ihm ruhig gegenüber, aber in seiner Stimme klang die tiefste Bitterkeit und Verachtung. »Ich wünsche dir Glück zu deinen Zukunftsplänen, aber mich, laß aus dem Spiele dabei, und vor allem verschone mich mit deinen weisen Belehrungen. Es ist das erste Mal, daß du dir einen derartigen Ton erlaubst, und ich wünsche, daß es auch das letzte Mal ist, denn ich dulde ihn nicht, solange du in meinem Hause bist!«

»Aber, Ernst, ich bitte dich –« Max war offenbar eingeschüchtert durch diese strenge Zurechtweisung, die er bei dem allzeit nachsichtigen Bruder gar nicht gewohnt war, und wollte einlenken, doch Ernst schnitt ihm das Wort ab.

»Du hast wohl ganz vergessen, was mich in Heilsberg festgekettet hat! Ich wollte dich und die Mutter vor Not bewahren, ich wollte dir eine große Laufbahn öffnen, die sich mir verschloß, und jetzt, wo du am Eingange stehst, machst du nur Jagd auf eine reiche Frau, für die du offenbar gar keine Neigung hast. Jetzt willst du dein Talent, die Kunst, deine ganze Zukunft über Bord werfen, um dir mit dem Gelde dieser Frau das zu erkaufen, was du Lebensgenuß nennst. Ein Leben ohne Arbeit, ohne Zweck und Ziel, ein träges Prassen im Schoße des Reichtums, den andere erworben haben. Ich sage dir gerade heraus, daß ich deine klugen Berechnungen erbärmlich finde, durch und durch, erbärmlich – und dich dazu!«

»Amen! Schäm dich, Maxl!« sagte Major Hartmut, dann folgte er dem Freunde, der seinem Bruder den Rücken gewandt hatte und in das Haus getreten war.

Maxl stand da und sah ganz verblüfft den beiden nach. Er begriff gar nicht, weshalb er sich schämen sollte, aber allmählich kam es ihm doch zum Bewußtsein, daß man ihn, der gar keine Illusionen mehr hatte und auf der Höhe der modernen Anschauungen stand, wie einen Schuljungen behandelt und ausgescholten hatte. Er war natürlich empört darüber, aber an das Fortgehen dachte er trotzdem nicht. Der Aufenthalt in Heilsberg war notwendig, um sich bei der besagten Millionärin in den Vordergrund zu stellen, da mußte man sich notgedrungen fügen. Aber es war wirklich Zeit, daß man loskam von dieser Kette der Abhängigkeit von dem Bruder, die allerhöchste Zeit!

Inzwischen machte Major Hartmut im Hausflur, wo er seinen Freund eingeholt hatte, seinem Herzen Luft, in sehr nachdrücklicher Weise.

»Der Maxl ist ja ein recht nettes Gewächs geworden! Das hast du davon, daß du ihn nach Berlin geschickt hast, während du hier sitzen bliebst, um für ihn und die Frau Mama zu arbeiten. Der Junge hat ja all die modernen Schlagworte auswendig gelernt und plappert sie nach wie ein Starmatz, verstehen thut er natürlich nichts davon. Du scheinst ihn auch heut erst in seiner ganzen Pracht kennen gelernt zu haben, sonst hättest du ihm hoffentlich schon früher die Wechsel entzogen.«

Ernst zuckte die Achseln, der bittere, verächtliche Ausdruck von vorhin lag noch in seinen Zügen, als er erwiderte: »Max ist immer nur selten und flüchtig hier gewesen, und da war er klug genug, sich die nötige Rücksicht aufzuerlegen – solange er mich brauchte. Jetzt scheint er das überflüssig zu finden.«

»Ja, die Million, die er noch gar nicht hat, ist ihm zu Kopfe gestiegen,« spottete Hartmut. »Schade, daß der Bengel so bildhübsch ist! Eine Millionärin zeichnet sich gewöhnlich nicht durch hohe Geistesgaben aus, und da hat er mit dem Gesicht und der Geniekomödie möglicherweise Aussichten, da wird seine sonstige Dummheit mit in den Kauf genommen. Uebrigens warst du noch viel zu zahm in deiner Predigt, ich hätte ihn ganz anders ins Gebet genommen. Wenn er mir einmal kommt mit der ›eigentlich schon abgeschlossenen Zukunft‹, dann gnade ihm Gott!«

Raimar wollte antworten, da wurde die Hausthür geöffnet, und ein alter Herr trat herein, so eilig, daß er sich kaum Zeit nahm, zu grüßen.

»Aber, Ernst, was soll das heißen?« rief er vorwurfsvoll. »Maxl ist hier, die halbe Stadt weiß es schon, und ich erfahre es eben erst durch den Bürgermeister, der hat es von der Frau Doktor, und die weiß es von dem Apotheker, der den Maxl vorbeifahren sah. Warum hast du denn nicht zu mir geschickt?«

»Max kam gestern spät abends und ganz unerwartet,« sagte Ernst. »Er wäre heut jedenfalls zu dir gekommen, Onkel Treumann.«

Herr Notar Treumann, der bereits in der Mitte der Sechzig stand, war ein kleines, bewegliches Männchen, mit grauen Haaren und scharfen grauen Augen, noch sehr rüstig und lebhaft für seine Jahre. Er wandte sich jetzt erst an den Freund seines Neffen, den er bereits kennen gelernt hatte.

»Ihr Diener, Herr Major! Nun, wie gefällt Ihnen unser Heilsberg? Interessant, nicht wahr, hochinteressant! Und die Hauptsachen haben Sie noch gar nicht gesehen. Sie müssen nach dem Rathaus kommen, da haben wir eine historische Sammlung, Urkunden, Waffen, Marterinstrumente aus den Hexenprozessen, wir haben eine ganze Folterkammer zusammengestellt, die müssen Sie sehen!«

»Danke, ich inkliniere nicht für Folterkammern,« sagte der Major trocken. »Wenn Sie einen historischen Burg- oder Klosterkeller hätten – mit Inhalt natürlich – das wäre eher mein Fall.« »Bedaure, den haben wir nicht,« gestand der alte Herr, »aber im ›goldenen Löwen‹ finden Sie auch einen guten Tropfen. Dort haben wir heute abend Zusammenkunft, Sitzung des historischen Vereins. – Du bringst deinen Freund natürlich mit, Ernst.«

»Du wirst uns wohl entschuldigen müssen, Onkel,« warf Ernst ein. »Arnold ist erst seit vorgestern hier, und da möchten wir doch –«

»Was, du willst wieder nicht kommen?« unterbrach ihn der Onkel entrüstet, »Zwei Sitzungen hast du schon versäumt, heute werden wir wohl endlich auf die Ehre deiner Gegenwart rechnen dürfen. Freilich, du interessierst dich ja weder für das Historische noch für Heilsberg überhaupt, da hat der Maxl mehr Herz für seine Heimat. Denken Sie nur!« wandte er sich triumphierend an den Major. »Er hat seine Heilsberger Studien in Berlin im Kunstverein ausgestellt, alle Welt hat sie gesehen, die Zeitungen haben sie besprochen. Ja, unser Maxl, das ist ein Talent! Der wird die Familie noch zu Ehren bringen und Heilsberg berühmt machen mit seinem Genie. Aber wo ist er denn?«

»Das Familiengenie sitzt im Garten,« sagte der Major. »Wir haben es schon gebührend bewundert.«

»So, da will ich doch gleich zu ihm. Also heut abend um sieben Uhr, im goldenen Löwen! Sitzung – Vorträge und dann ein gemütliches Zusammensein. Da bringen wir dem Maxl eine Ovation für seine Heilsberger Studien, habe ich schon abgemacht mit dem Bürgermeister, alles abgemacht!«

Damit schoß der Herr Notar davon und in den Garten, um das Familiengenie gleichfalls zu bewundern. Hartmut sah ihm ärgerlich nach.

»Der Herr Onkel scheint das Geschäft deiner Frau Mama fortzusetzen,« bemerkte er. »Die ging auch ganz auf in der Anbetung ihres genialen Maxl.«

»Ja, er steht sehr in Gunst bei dem Onkel,« sagte Ernst. »Was gibt es denn?«

Die letzten Worte waren an den Schreiber gerichtet, der eben aus der Kanzlei trat und eintönig meldete: »Herr Notar, Anton Lechner und Johann Obermaier sind da und wollen einen Vergleich schließen wegen des Feldheimer Ackers – und vom Herrn Bürgermeister ist auch Bescheid gekommen wegen Verpachtung der Viehweide auf dem Gemeindeanger – und um zwölf Uhr kommt der Herr Apotheker wegen seiner Erbschaftssache –«

»Es ist gut, ich weiß schon,« sagte Raimar müde. »Auf Wiedersehen, Arnold!« Er ging in seine Kanzlei und der Major stieg die Treppe hinauf, aber dabei brummte er wütend.

»Und das hält er nun Tag für Tag aus! Bauernacker und Viehweide auf dem Gemeindeanger und apothekerliche Erbschaft – eigentlich ist es ein Wunder, daß Ernst nicht verrückt geworden ist dabei. Ich wäre es längst schon!«

Inzwischen saß Notar Raimar in seiner Kanzlei und hörte zu, wie Anton Lechner und Johann Obermaier ihm weitschweifig auseinandersetzten, daß sie sich jetzt wegen des Feldheimer Ackers, um den sie so lange gestritten, vergleichen wollten. Dabei gerieten sie aber aufs neue in Hader und Zank und kamen beinahe bis zu Thätlichkeiten. Dann wurde die Verpachtung des Gemeindeangers erledigt, und zum Schluß erschien der Herr Apotheker, von dessen Erbschaft die ganze Stadt seit vier Wochen sprach, feierlich, im schwarzen Rock, einen Flor um den Arm, um die notarielle Beglaubigung einiger Unterschriften vollziehen zu lassen, mit denen jene welterschütternde Thatsache bestätigt werden sollte.

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Heilsberg war ein altertümliches Städtchen, das sich sogar einer historischen Vergangenheit rühmen konnte. Es hatte im Mittelalter bei den Fehden des in der Gegend ansässigen Adels öfter eine Rolle gespielt, die Stadtchronik gab beglaubigte Kunde davon. Die noch erhaltenen Reste des ehemaligen Wallgrabens und seiner Türme, das Rathaus und verschiedene Bürgerhäuser stammten noch aus der alten Zeit, und der nahe Burgberg trug die zerfallenen Mauern eines alten Grafenschlosses.

Für die undankbare Gegenwart war das freilich verschollen und vergessen, denn Heilsberg lag abseits von allen Verkehrslinien. Die nächste Eisenbahnstation war mehrere Stunden entfernt, und sonst gab es keine größeren Orte in der Nachbarschaft, nicht einmal eine Sommerfrische. Die bescheidenen Reize der Landschaft zogen die Fremden nicht an, und so kam es, daß das Städtchen sich einer idyllischen Ruhe und Abgeschlossenheit erfreute, wie sie im Zeitalter des Verkehrs selten sind.

Die Heilsberger waren freilich nicht einverstanden damit, sie empfanden diese Abgeschlossenheit als eine Zurücksetzung, um so mehr, als Neustadt, die erwähnte Bahnstation, sie längst überflügelt hatte. Dort lagen die Steinfelder Gruben und Hüttenwerke in unmittelbarer Nähe, fast vor den Thoren der Stadt, und das brachte dieser unberechenbare Vorteile. Das große industrielle Unternehmen war förmlich aus dem Boden emporgeschossen und hatte in wenigen Jahren einen Umfang und eine Bedeutung erlangt, zu der andere ein halbes Menschenalter brauchten.

Dem Besitzer der Werke standen freilich der Einfluß und die Mittel zu Gebote, um jeder seiner Schöpfungen den Erfolg zu sichern, Felix Ronald spielte eine erste Rolle in der Finanzwelt und galt für einen der kühnsten, aber auch der genialsten Spekulanten. Er hatte sich in unglaublich kurzer Zeit zu der Höhe des Reichtums emporgeschwungen. Vor zehn Jahren noch in einer abhängigen Stellung in einem Bankhause, hatte er durch glückliches Börsenspiel den Grund zu seinem Vermögen gelegt und damit Unternehmungen begonnen, die bald genug in das Große gingen. Was andere erst nach jahrelanger Arbeit erreichten, das gewann er mit einem kecken Wagnis in Monaten. Das alte Sprichwort vom Wagen und Gewinnen bewährte sich auch hier.

Ronald schien in der That das Geheimnis zu besitzen, Glück und Erfolg an sich zu fesseln, sie blieben ihm treu, mochte der Einsatz auch noch so hoch sein, und er wagte oft genug ein hohes Spiel. Jetzt war er eine Macht geworden, deren Einfluß sich nicht nur an der Börse, auch in der Presse, selbst bei der Regierung geltend machte, deren rastlose Thätigkeit sich auf alle möglichen Gebiete erstreckte. Er wußte alles an sich zu ketten, alles seinen Zwecken dienstbar zu machen und beherrschte das ganze weite Feld seiner Unternehmungen mit bewundernswerter Energie.

Nach den Steinfelder Werken kam er nur selten, die technische Leitung lag in den Händen seiner Oberbeamten, die geschäftliche in Berlin, wo der Chef seinen Wohnsitz hatte. Jedenfalls wurde der Betrieb in großartigster Weise geführt. Neustadt war eigentlich nur der Vorort der großen Steinfelder Kolonie geworden, aber die zahlreichen Beamten, die sämtlichen Arbeiter verkehrten in der Stadt, wohnten sogar zum Teil dort. Neustadt hatte die Bahnlinie erhalten und spielte eine große Rolle in der Provinz, Das kannte jeder, davon sprach alle Welt – von Heilsberg wußte man auf einige Kilometer Entfernung kaum mehr, daß es auf der Welt sei, und Heilsberg war doch »historisch«!

Dort gab es meist nur Bauerngüter in der Umgegend, der einzige herrschaftliche Besitz war Gernsbach, das eine Stunde von der Stadt entfernt lag. Es gehörte einer verwitweten Dame, die es mit ihrem kleinen Töchterchen bewohnte, und das geräumige, etwas altertümliche Herrenhaus, mit der breiten Steinterrasse und dem großen, schattigen Park war in der That ein behaglicher Wohnsitz. Die ziemlich umfangreiche Gutswirtschaft war verpachtet für eine recht ansehnliche Summe. Frau von Maiendorf galt überhaupt, wenn nicht für reich, doch für sehr wohlhabend.

Es war in den Morgenstunden eines sonnigen Maitages, auf der Terrasse des Herrenhauses saßen zwei Damen am Frühstückstisch, während ein kleines, etwa siebenjähriges Mädchen sich mit Ballspielen vergnügte und dabei lustig die steinernen Stufen auf und ab sprang.

»Ich fürchtete schon, du würdest nicht Wort halten mit dem versprochenen Besuche,« sagte die ältere. »Freilich, was kann ich dir bieten, du verwöhnte Prinzessin, hier in der Stille und Einsamkeit des Landlebens!«

»Du ahnst nicht, Wilma, wie wohl mir diese Stille thut,« erwiderte die jüngere. »Wenn du wüßtest, was man uns alles zugemutet hat in dieser Saison – es war wirklich etwas zu viel.«

»Ja, ich hielte diesen ewigen Strudel des Gesellschaftslebens nicht aus,« erklärte Wilma. »Du bist freilich daran gewöhnt, Edith, Du hast ja schon seit dem Tode deiner Mutter die Dame des Hauses vertreten müssen, eine schwere Aufgabe, du warst damals erst sechzehn Jahre alt.«

»Das lernt sich,« sagte Edith ruhig. »Wenn es nur auf die Dauer nicht so ermüdend wäre! Immer neue Gesichter und immer dieselben Menschen, dieselben Redensarten und Komplimente! Wie selten findet man einen darunter, mit dem es sich überhaupt lohnt, zu reden, und wenn man näher zusieht, hält das Interesse auch nicht stand – er ist eben wie all die anderen.«

Das herbe Urteil kam aus dem Munde einer jungen Dame von zwanzig Jahren. Edith Marlow war in der That ein schönes Mädchen, mit regelmäßigen, etwas kalten Zügen und großen braunen Augen, die sehr klug in die Welt blickten. Kühle, vornehme Ruhe war überhaupt der hervorstechende Zug in ihrem Aeußeren, und dazu gesellte sich eine gewisse Herablassung gegen alles, was ihr nicht als ebenbürtig erschien. Sie war im hellen Morgenkleide, das braune Haar nur lose aufgesteckt, aber sie verleugnete selbst hier, in dieser zwanglosen Umgebung, nicht die Weltdame.

Wilma von Maiendorf stand dagegen schon am Ende der Zwanzig, sah aber noch sehr jugendlich aus. Die zierliche Gestalt mit dem blonden Haar und den hellen Augen konnte freilich nicht auf Schönheit Anspruch machen, aber es lag ein eigener Reiz in diesen weichen Zügen, der selbst neben der blendenden Erscheinung ihrer Cousine noch standhielt.

»Du wohnst recht behaglich hier,« hob die letztere wieder an. »Gernsbach ist ein sehr hübscher Sommersitz, aber wie hältst du es nur das ganze Jahr hier aus?«

»Ich komme ja in jedem Jahre nach Berlin,« warf Wilma ein.

»Auf sechs oder acht Wochen, und dann sitzest du wieder allein hier in Schnee und Einsamkeit. Weshalb denn? Dein Vermögen erlaubt dir doch einen regelmäßigen Winteraufenthalt in Berlin. Papa meint überhaupt, du solltest dich wieder vermählen, du bist ja seit fünf Jahren Witwe. Es hat sich schon so mancher um dich bemüht, aber du läßt es nie zu einer Bewerbung und Aussprache kommen.«

»Weil ich stets im Zweifel war, ob diese Bewerbung mir oder Gernsbach galt.«

»Vermutlich beiden! Das ist nun einmal nicht anders in unserer Zeit. Die Männer rechnen alle, müssen es meist thun, deine Eltern haben es auch gethan, als sie dir Maiendorf zum Gatten auswählten. Er rechnete allerdings nicht, denn das Vermögen war auf seiner Seite, aber – warst du denn so glücklich mit dem Manne, der dich nur um deiner selbst willen nahm?«

Wilma blieb die Antwort schuldig auf diese kluge, kühle Auseinandersetzung. Edith war ja noch ein Kind gewesen, als ihre Cousine sich vermählte, aber sie wußte durch ihren Vater, daß jene kurze Ehe keine glückliche gewesen war. Der derbe, rohe Landjunker, dem das junge Mädchen auf Andrängen der Eltern die Hand gereicht hatte, war ein sehr tyrannischer Ehemann gewesen. Er hatte die Zeit mit Trinken und Spielen vergeudet und, nachdem die erste verliebte Tändelei vorüber war, sich kaum mehr um Frau und Kind gekümmert. Die junge Frau hatte das schweigend getragen, ohne zu klagen, aber ein Geheimnis war es auch für ihre Verwandten nicht geblieben, und die Erinnerung that ihr noch jetzt weh, das sah man an dem schmerzlichen Zucken ihrer Lippen, auch Edith sah es und lenkte ein.

»Verzeih, ich wollte dich nicht kränken, aber du bist achtundzwanzig Jahre, da hat man doch noch ein Anrecht an das Leben.«

»Soll ich meiner Lisbeth einen Stiefvater geben, der kein Herz für sie hat, dem sie vielleicht sogar im Wege ist, mit ihren Ansprüchen an Gernsbach?« fragte Wilma gepreßt. »Um keinen Preis! Dein Vater meint es gut, ich weiß es – er kommt also erst übermorgen?«

»Jawohl, er ist erst noch mit Herrn Ronald nach Steinfeld gefahren, in Geschäften natürlich. Die Werke sollen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden, und Papa wird die Finanzierung übernehmen, sie haben da weitgehende Pläne. Vermutlich kommt Ronald auch einmal nach Gernsbach herüber, wenigstens sprach er davon bei seiner Abreise. Du hast ihn ja in unserem Hause kennen gelernt, da wird er dir wohl einen Besuch machen.«

»Mir?« die junge Frau lächelte. »Nein. Edith, so eitel bin ich nicht, zu glauben, der Mann, der eine solche Rolle in der Welt spielt und nie eine Stunde übrig hat, würde mich in meinem einfachen Hause aufsuchen. Er kennt mich ja nur ganz flüchtig, aber freilich, du bist hier – das ändert die Sache.«

»Hat dir Papa etwa schon eine Andeutung gemacht?« fragte Edith mit einem raschen Aufblick.

»Nein, aber ich sah ja selbst, wie Ronald dich auszeichnete, und der Onkel ist offenbar ganz von ihm eingenommen.«

»Gewiß, er schätzt seine Thatkraft und Energie sehr hoch, er nennt ihn eine geniale Kraft, die das Glück zu zwingen versteht und in Zukunft noch weit mehr leisten wird. Bis jetzt ist Ronald freilich nur ein kühner glücklicher Spekulant gewesen; vielleicht läßt er sich zu Größerem spornen.«

»Und dieser Sporn wirst du sein?« neckte Wilma. »Ich dachte es mir, daß diese Verbindung der Wunsch und Wille des Onkels war.«

»Hier kommt es doch wohl auf meinen Willen an,« sagte die junge Dame hoheitsvoll. »Ich lasse mir darin nichts vorschreiben. Das weiß mein Vater. Uebrigens hat sich Ronald noch nicht erklärt, wenigstens mir gegenüber nicht.«

»Ist er denn wirklich ein solcher Krösus?« fragte die junge Frau. »Man spricht von, ich weiß nicht wie vielen Millionen.«

Die Lippen des schönen Mädchens kräuselten sich verächtlich und ihre Augen blitzten auf.

»Denkst du, daß mich das bestimmt? Ich will nicht nur die Frau eines reichen Mannes heißen. Der Mann, dessen Namen ich trage, soll mehr sein als all die anderen. Er soll sich und mich emportragen zu den Höhen des Lebens, ich muß auf ihn stolz sein können. Ronald steht bereits auf einer Höhe, wo ihm so leicht keiner nachklimmt, er ist eine Macht geworden, vor der sich alles beugt – es würde sich schon lohnen, an seiner Seite zu leben!«

»Ja – hast du ihn denn auch lieb?« fragte die kleine Frau von Maiendorf ganz naiv.

Edith sah sie mit einem etwas erstaunten Blick an, sie hatte sich diese Frage offenbar noch gar nicht vorgelegt, dann aber erwiderte sie mit voller Gelassenheit: »Wir sind uns ja bisher noch gar nicht so nahe getreten. Ein Mann wie Ronald hat wenig Zeit, auch für seine Werbung, aber mit der Gemeinsamkeit der Interessen kommt auch die Neigung, das findet sich in der Ehe.«

»Nein, das findet sich nicht!« sagte Wilma leise. »Man kann sich fremd bleiben und immer fremder werden. Wenn ich mein Kind nicht gehabt hätte – Lisbeth, komm zu mir!«

Die Kleine folgte dem Rufe und kam herbeigelaufen, es war ein munteres, rosiges Ding, mit den hellen Augen der Mutter, die ihm jetzt zärtlich die Arme entgegenstreckte.

»Siehst du, Edith, ich habe trotzdem nicht gedarbt an Liebe. Ich hatte ja meine Lisbeth, und die hat mir alles, alles ersetzt. Gelt, mein süßer kleiner Wildfang?«

Die Kleine antwortete mit stürmischen Liebkosungen. Edith lächelte flüchtig, aber sie sagte zugleich tadelnd: »Du verwöhnst das Kind mit dieser überschwenglichen Zärtlichkeit. Ich lerne das ausgelassene kleine Ding wirklich erst hier kennen, in Berlin ist es so scheu und fremd, aber das kommt von dieser einsamen Erziehung. Lisbeth kennt und sieht ja nichts als dich allein; was soll denn daraus werden, wenn sie einmal in das Leben treten soll? – Doch ich will mich jetzt umkleiden und einen Spaziergang in den Wald machen. Auf Wiedersehen!«

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Sie erhob sich, küßte mit kühler Freundlichkeit das Kind und ging in das Haus. Lisbeth hatte andächtig zugehört, wie ihre Mama von der viel jüngeren Verwandten abgekanzelt wurde: Ganz unbegründet mochte jener Vorwurf wohl nicht sein, denn die Kleine hegte eine sichtbare Scheu vor der schönen, vornehmen Tante. Auch jetzt blickte sie ihr nach und fragte in einem äußerst respektvollen Tone: »Mama – Tante Edith ist wohl sehr klug?«

Wilma lachte laut auf bei der naiven Frage, es war ein frisches, beinahe kindliches Lachen, dann aber nahm sie das blonde Köpfchen zwischen ihre Hände und küßte es.

»Ja, Lisbeth, sehr klug!« bestätigte sie. »Viel klüger als ich und du, aber es wird einem so kalt dabei. Du brauchst nicht so eisig klug zu werden – deine Mama ist es auch nicht!«

 

Die Umgebung von Heilsberg bot keine malerischen Reize, nur Wälder und Wiesen und fern am Horizont einen duftig blauen Höhenzug, aber der Wald war hier von einer seltenen Schönheit. Die prächtigen alten Forste, die als Staatseigentum sorgfältig geschont und geschützt wurden, dehnten sich stundenweit aus, man konnte sich verlieren in diesen tiefen, stillen Waldgründen.

Draußen flutete der helle Sonnenschein des Maitages, aber hier im Tannendunkel war es schattig kühl, und auf dem moosbedeckten Boden lag noch der Morgentau, als Edith Marlow den schmalen, halb verwachsenen Fußweg dahinschritt. Sie hatte den Spaziergang gar nicht so weit ausdehnen wollen, aber es war ihr so neu, ganz allein durch den einsamen Forst zu streifen. Sie kannte als Sommeraufenthalt ja nur die großen Seebäder und Kurorte, wo man immer von einem Schwarm von Menschen umgeben war, wo man auf Schritt und Tritt Bekannten begegnete und der Begriff Einsamkeit überhaupt nicht vorhanden war. Diese Waldesstille umfing sie mit dem ganzen Reiz des Fremden, Ungewohnten und lockte sie immer weiter und weiter.

Da plötzlich endete der Weg an einer niedrigen, halb zerbröckelten Mauer, hinter der sich so etwas wie eine grüne Wildnis auszudehnen schien. Die junge Dame blieb befremdet stehen, sie sah weder ein Haus noch sonst eine Wohnstätte, und doch war der Platz umfriedet und sogar durch ein Gitterthor abgeschlossen. Der Zugang war freilich leicht genug, das verrostete Gitter hing nur lose in den Angeln und gab einem leisen Drucke nach. Edith that noch einige Schritte vorwärts und stand nun inmitten eines kleinen Friedhofes, der einsam und ganz verwildert und verwachsen tief im Herzen des Waldes lag.

Er mochte wohl aus der alten Zeit stammen, wo es hier noch Waldbauern gab, die in ihren abgelegenen, weit zerstreuten Gehöften wohnten und dort gemeinsam ihre Kirche und ihre Grabstätten hatten. Die Lebenden waren längst schon hinausgezogen aus dem düstern Forst in die Dörfer, das Kirchlein war zerfallen, aber man schonte pietätvoll die Ruhestätte der Toten, die hier vergessen schlummerten. Mächtige dunkle Tannen erhoben sich darüber, und dazwischen war ein ganzer Wald von Flieder- und Holundergebüschen emporgewachsen. Dichtes Riedgras wucherte auf dem Boden und auf den eingesunkenen Hügeln. Die schlichten Holzkreuze waren längst zerfallen und vermodert, die eisernen Gedenktafeln vom Roste zerfressen, nur die Grabsteine trotzten der Zeit und der Vergänglichkeit. Sie hoben sich grau und verwittert aus dem Moos und dem wilden, üppigen Rankenwerk, das sich darüber hinspann, und hie und da waren noch einzelne Worte der Inschriften erkennbar.

Drüben unter den Tannen war ein uraltes Gemäuer sichtbar, die Ueberreste der einstigen Waldkirche, dorthin lenkte Edith ihre Schritte, als sie zu ihrer Ueberraschung gewahrte, daß sie nicht allein hier sei. Vor der Mauer stand die hochgewachsene Gestalt eines Mannes, der ein altes Denkmal sehr angelegentlich zu betrachten schien, sich aber beim Nahen der Schritte umwandte. Auch er schien überrascht, zog aber, als er eine Dame erblickte, leicht grüßend den Hut und trat seitwärts, um sie vorbeizulassen. Edith dankte flüchtig und wollte vorübergehen, geriet aber dabei in ein Brombeergesträuch, dessen wuchernde Ranken ihr den Weg verlegten, und ein ungeduldiger Versuch, sich zu befreien, verstrickte sie noch tiefer darin. Der Fremde kam ihr artig zu Hilfe, aber die eigensinnigen Ranken, die sich an ihr Kleid festgeklammert hatten, wollten nicht loslassen. Es dauerte einige Minuten, bis es ihm gelang, sie zu entfernen.

»Ich danke,« sagte die junge Dame in ihrer kühlen, herablassenden Weise, sie hielt es aber jetzt doch für nötig, noch einige Worte zu sprechen, und so warf sie die Bemerkung hin: »Ein seltsamer Ort, dieser einsame Friedhof, mitten im tiefen Walde!«

»Und ein schöner Ort! Hier dringt kein Laut des Lebens herüber, hier stört nichts den ernsten, heiligen Todesfrieden.«

Edith blickte überrascht auf, sie hatte auf ihre gleichgültige Bemerkung eine ähnliche erwartet. Die Worte berührten sie ebenso eigentümlich wie der halb verschleierte Klang der Stimme. Sie ließ sich jetzt erst herab, den Fremden näher anzusehen. Es war ein Mann in mittleren Jahren, eine schlanke, durchaus vornehme Erscheinung mit dunklen Augen, in denen ein ernster, ja düsterer Ausdruck lag. Die Art, wie er sprach, wie er sich verneigte und ihr jenen kleinen Dienst leistete, verriet, daß er mit den Formen der höheren Gesellschaft vollkommen vertraut war. Das konnte doch kein Heilsberger Bürger sein! In der jungen Dame begann sich eine flüchtige Neugier zu regen.

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»Ich bin ganz zufällig auf einem Spaziergange hierher geraten, Sie sind vermutlich in dem gleichen Falle,« sagte sie, wie mit einer halben Frage.

»Nein, ich bin auf dem Wege nach Steinfeld, aber ich wollte die Fahrt auf der sonnigen, staubigen Landstraße abkürzen und habe meinen Wagen vorausgesandt. Der Waldweg ist so schön, und da lockte es mich hier zum Eintritt,« war die einfache Antwort.

Die Nahe Steinfelds erklärte allerdings den Besuch eines Fremden in dieser Gegend. Die dortigen Werke hatten ja Beziehungen in aller Welt, sie standen in regelmäßiger Verbindung mit Berlin, und die großartigen Anlagen galten überhaupt für eine Sehenswürdigkeit, sie wurden oft genug besichtigt, vielleicht war das auch hier die Veranlassung.

Wenn Edith sich noch im Zweifel über die Persönlichkeit ihres Gefährten befand, so war ihm die ihrige kein Geheimnis mehr. Ernst Raimar hatte längst erraten, mit wem ihn der Zufall hier zusammenführte. Die junge Dame trug zwar auf diesem Waldspaziergange nur ein einfaches Lodenkleid und einen ebenso einfachen Strohhut, aber ihr ganzes Aeußere verriet, welchen Lebenskreisen sie angehörte. Solche Erscheinungen gab es nicht in der Umgebung von Heilsberg, das konnte nur der Gast der Frau von Maiendorf sein.

Der schweigsame, zurückhaltende Mann würde unter anderen Umständen wohl die Unterhaltung abgebrochen und sich mit einem Gruße entfernt haben, jetzt blieb er. Er wollte doch Näheres über die Frau erfahren, an die sich die etwas verwegenen Hoffnungen seines Bruders knüpften. Schön war sie, gewiß! Ob aber dies schöne Mädchen mit den stolzen, kalten Zügen und der sehr selbstbewußten Haltung wirklich den jungen Maler liebte, der ihr noch nicht einmal einen Künstlernamen bieten konnte? Ob er in der That hoffen durfte? Es galt, darüber ins klare zu kommen.

»Der Friedhof ist sehr alt,« sagte Raimar, an seine letzte Bemerkung anknüpfend, »Man kann noch hie und da die Jahreszahl auf den Grabsteinen entziffern. Es ist auch ein Stück der historischen Vergangenheit, auf die Heilsberg so stolz ist.«

»Heilsberg? Sie stammen doch nicht aus dem kleinen Landstädtchen?«

Die Frage klang erstaunt und ungläubig, Ernst zögerte einen Augenblick, dann erwiderte er ruhig: »Nein, mein gnädiges Fräulein, meine Heimat ist Berlin.«

»Ah so!« Die Auskunft schien die junge Dame zu befriedigen, sie fuhr mit leichtem Spotte fort: »Jedenfalls ist dies Heilsberg eine längst verschollene Merkwürdigkeit, aber man weiß in Berlin wenigstens, daß es auf der Welt ist. Vor einigen Monaten waren im Kunstverein ein paar sehr hübsche Aquarelle ausgestellt, Heilsberger Studien, das Rathaus, ein altes Stadtthor und ähnliches.«

»Vielleicht von Max Raimar?«

»Ja – Sie kennen ihn?«

»Er ist augenblicklich in Heilsberg, und ich komme eben von dort. Man scheint Hoffnungen auf die Zukunft des jungen Mannes zu setzen, es wird ihm allseitig Talent zugesprochen.«

»Gewiß hat er Talent,« sagte Edith mit einiger Lebhaftigkeit, »und hoffentlich erobert er sich damit eine Zukunft. Freilich, wenn ein junger Künstler jahrelang ringen und arbeiten muß, um sich nur das Studium zu ermöglichen, wenn er fortwährend mit Verkennung, Unterdrückung, mit feindseligen Einflüssen in der eigenen Familie zu kämpfen hat, das muß ja seinen Flug hemmen.«

»Unterdrückung? Feindselige Einflüsse?« wiederholte Raimar, der mit steigender Verwunderung, aber für den Augenblick noch ganz verständnislos zuhörte. »Das Talent des jungen Mannes ist doch nur gestützt und gefördert worden, es standen ihm hinreichende Mittel zu Gebote – so hörte ich wenigstens.«

»Da sind Sie falsch berichtet,« erklärte Edith mit voller Bestimmtheit. »Ich weiß von Raimar selbst, wie schwer er sich hat losringen müssen von einer Umgebung, die nicht das mindeste Verständnis für Kunst und Künstlerberuf hatte und ihn in ihrem spießbürgerlichen Kreis festhalten wollte. Es zeugt immerhin von Charakter, daß er den Mut hatte, diese Fesseln zu zerreißen, und den Kampf mit dem Leben aufnahm, um, ganz auf die eigene Kraft gestellt, seinem inneren Drange zu folgen.«

Ein unendlich bitteres Lächeln zuckte um Ernsts Lippen, er begriff jetzt, auf welche Art sich sein Bruder »interessant« gemacht hatte in den Berliner Kreisen. Ein junger Maler, der stets als ein Wunderkind von den Seinen verwöhnt und verhätschelt worden war, der in aller Behaglichkeit, mit reichlichen Mitteln versehen, seine Studien vollendete, war eben nichts Besonderes. Aber das ringende, kämpfende Genie, das die unwürdigen Fesseln zerbrach und in die Welt hinausging, um sich mit eigener Hand Leben und Zukunft zu erobern, das erweckte Interesse und Bewunderung. Max mußte die Dame seines Herzens wohl ziemlich genau kennen, bei ihr war das Manöver entschieden geglückt, das zeigte ihre lebhafte Parteinahme.

»Das wußte ich in der That nicht,« sagte Raimar langsam. »Ich hörte nur, daß der junge Maler einen älteren Bruder besitzt, der ihn teilweise erzogen hat. Vermutlich ist dieser Bruder das ›Hemmnis‹ in seinem Leben gewesen.«

Edith zuckte mit sehr verächtlicher Miene die Achseln.

»Vermutlich! Ein alter, verknöcherter Hagestolz, der von der Welt nichts weiß und in seinem Heilsberg lebt und stirbt, wo er, glaube ich, Notar ist. Von dem ist allerdings nicht zu erwarten, daß er Höheres auch nur begreift. Ich habe dies kleine weltverlorene Städtchen kürzlich bei der Durchfahrt kennen gelernt, Raimar hatte es mir auch bereits geschildert – man ist ja wie lebendig begraben an einem solchen Orte!« »Lebendig begraben – jawohl! Dort ist man tot für die Welt und das Leben.«

Die junge Dame richtete den Blick groß und fragend auf den Sprechenden. Die Worte waren ja zustimmend, aber es klang darin wie ein dumpfer, mühsam niedergehaltener Groll, und in den dunklen Augen blitzte es auf, fast wie eine Drohung. Eine andere hätte das vielleicht befremdend und unheimlich gefunden, Edith Marlow wurde gefesselt dadurch. Der Mann fing an, sie zu interessieren, er war offenbar nicht wie »all die anderen«, über die sie heut morgen so verächtlich den Stab gebrochen hatte. In seiner Haltung, seinem ganzen Wesen lag etwas, das dem an sich so gleichgültigen Gespräch den Charakter des Ungewöhnlichen gab, oder war es nur dieser Ort und diese Stunde, die so ganz der Alltäglichkeit entrückt schienen?

Draußen lag der Wald in schweigender Mittagsruhe, die hohen, düsteren Tannen standen so dicht ringsum, als wollten sie die kleine vergessene Ruhestätte schützen und verbergen vor der Welt da draußen, aber auf dem grasbewachsenen Boden und den eingesunkenen Hügeln lag goldenes Sonnenlicht. Bunte Falter gaukelten darüber hin, wilde Bienen summten und hingen sich an Blumen und Gesträuche, der ganze Friedhof war ein blühender Garten.

Von der einstigen Waldkapelle standen nur noch die äußeren Mauern, und innen war ein ganzer kleiner Frühlingswald lustig emporgewachsen. Aus dem Maiengrün schimmerten überall die weißen Blüten des Holunders, und hundertjähriger Epheu umspann die Trümmer mit seinen dichten Netzen. Er umrankte auch das uralte Grabdenkmal, das, in die Mauer eingefügt, den Verfall überdauert hatte. Es war bemoost und verwittert, man unterschied nur noch ein Kreuz und darunter eine Inschrift, die sich nicht mehr entziffern ließ, aber es schien ein frommer Spruch zu sein, von dem noch hie und da ein Buchstabe zu erkennen war.

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Nur ein einziges Wort stand noch deutlich lesbar in dem schwarzgrauen Gestein:

Erwachen!

Tiefe Stille ringsum, nur das leise Wehen und Flüstern der Gesträuche, das Summen der Insekten, das wie ferne Musik klang, und jetzt der helle Ruf einer Amsel. Er kam aus jener grünen Wildnis, inmitten der zerfallenen Mauern, erst in einzelnen Locktönen, dann ward er zum Gesange. Ein Lied, so einfach süß und doch so voll jubelnder Maienlust, als gäbe es an dieser Stätte des Todes nur Licht und Leben.

Edith stand regungslos und lauschte den Tönen, die sie noch nie gehört. Der Amselschlag erklang ja nur in der Stille, der Einsamkeit, und das gab es nicht in ihrem glänzenden, bewegten Leben. Da gab es auch nicht so seltsame Stunden, wie diese hier, so ernst, zwischen den halbversunkenen Gräbern, und so traumhaft schön mit ihrem leisen Frühlingsweben, eine Stunde, wie aus einem Märchen emporgestiegen.

Es war ein minutenlanges Schweigen eingetreten. Edith fühlte, daß die Augen ihres Gefährten unverwandt auf ihr ruhten, es war kein neugieriges Anstarren, das sie verletzte, aber es wachte eine rätselhafte, halb beklemmende Empfindung auf unter diesem Blicke, als übe er irgend einen Zwang aus. Sie empfand das, ohne sich Rechenschaft davon zu geben, und in diesem langen Schweigen lag auch etwas Lastendes, Bedrückendes. Sie brach es deshalb mit der in gleichgültigem Gesprächston hingeworfenen Frage: »Sie kannten den kleinen Waldfriedhof bereits?«

»Jawohl!« lautete die ruhige Antwort. »Ich versuchte vorhin, die alte Inschrift dort zu entziffern, es ist aber nicht mehr möglich, nur ein einziges Wort ist noch erkennbar.«

Er wies auf das verwitterte, moosbedeckte Denkmal an der Kirchenmauer, Edith folgte der Richtung seiner Hand.

»Erwachen!« las sie halblaut. »Ein verheißungsvolles Wort!«

»Für die Toten, gewiß!« ergänzte Raimar mit schwerer Betonung.

»Nun, für die anderen gilt es auch nicht,« sagte die junge Dame in ihrer kühlen, bestimmten Art. »Wer noch mitten im Leben steht, der muß wach sein und wach bleiben.«

»Es gibt aber viele, die abseits stehen vom Leben. Wen das Schicksal zum Beispiel an einen ›weltverlorenen Ort‹ wie dies Heilsberg versprengt hat –«

»Ich sprach von Menschen, die etwas sein und bedeuten wollen im Leben,« unterbrach Edith, »Die anderen zählen nicht.«

»Ganz recht, die zählen nicht! Aber der Wille ist nicht immer allmächtig und nicht jeder erreicht das ersehnte Ziel. Sie, mein Fräulein, stehen vielleicht auf den Höhen des Lebens. Dort sehen Sie nur die Sieger im Kampfe, nicht die Unterliegenden. Die verschwinden im Dunkel und gehen irgendwo zu Grunde.«

Edith hob mit einer stolzen Bewegung den schönen Kopf.

»Nun, wer ein solches Los ertragen kann, der mag es thun. Ich halte es mit denen, die auch im Lebenskampfe zu siegen oder zu fallen wissen. Wer ihn feig verläßt vor der Entscheidung, der ist eben ein Feigling.«

Raimar zuckte leise zusammen, als habe das schmachvolle Wort ihm gegolten, und sein Auge heftete sich düster und vorwurfsvoll auf sie, als er halblaut sagte: »Sie urteilen sehr schonungslos.«

»Ich urteile nur nach meinem eigenen Gefühl, und das sagt mir, wie ich handeln würde, wenn ich ein Mann wäre. Ein energischer Wille weiß sich Bahn zu schaffen im Leben. Sie wollen ja nach Steinfeld – dort haben Sie ein Beispiel, was ein solcher Wille vermag.«

»Sie meinen den Herrn der großen Steinfelder Werke, Felix Ronald?« Die Frage klang eigentümlich herb.

»Gewiß, der Name ist ja jetzt in aller Munde. Ein so schwindelnd schnelles Emporsteigen und so ungemessene Erfolge ist man in Deutschland nicht gewöhnt.«

»Nein. Ein so schwindelhaftes Glück ist bei uns in der That unerhört.«

»Hier handelt es sich doch wohl um mehr als blindes Glück,« sagte die junge Dame, gereizt durch den Ton, in dem etwas beinahe Verächtliches lag. »Ronald war arm, in abhängiger Stellung, ohne einflußreiche Verbindungen, er verdankt all seine Erfolge nur sich selbst und seiner rastlosen Energie. Freilich, um das zu erreichen, muß man nicht nur ein energischer, sondern auch ein genial beanlagter Mann sein.«

»Oder ein –« Raimar brach plötzlich ab und preßte die Lippen zusammen, als habe er bereits zu viel gesagt.

»Nun – oder? Weshalb fahren Sie nicht fort?«

»Verzeihung, mein gnädiges Fräulein, aber wir geraten da auf ein ganz persönliches Gebiet, Sie kennen Herrn Ronald vielleicht näher, jedenfalls bewundern Sie ihn und seine Erfolge, da habe ich weder das Recht noch den Wunsch, Ihnen mein Urteil aufzudrängen. Es kann Sie ja auch durchaus nicht interessieren, da wir uns völlig fremd sind.«

Er sprach wieder mit jener höflich kühlen Zurückhaltung, wie im Anfange der Begegnung, aber dies jähe Abbrechen reizte Edith nur noch mehr, denn sie fühlte, daß es etwas Beleidigendes war, was er vorhin unterdrückt hatte. Dieser Fremde konnte ja freilich nicht ahnen, daß der Mann, von dem eben die Rede war, um sie warb, und daß sie auf dem Punkte stand, diese Werbung anzunehmen, aber anstatt nun auch ihrerseits das Gespräch abzubrechen, das eine so eigentümliche Wendung nahm, beharrte sie dabei. Es verletzte sie und hatte doch einen eigenen, unerklärlichen Reiz

»Sie sind ein Gegner Ronalds?« fragte sie, ohne sein Ausweichen zu beachten. »Vielleicht sogar ein Feind?«

Ernst schwieg, er schien nicht gewillt, das hier zu erörtern, aber da sah er, wie die Lippen der jungen Dame sich verächtlich kräuselten, er las in ihrem Gesichte, daß sie glaubte, er wage es nicht, sich als Feind des Mannes zu bekennen, der in manchen Kreisen allmächtig war, und das entschied. Er richtete sich plötzlich hoch und fest auf und sprach: »Ja!«

Es war nur ein einziges Wort, aber es lag eine finstere, drohende Energie darin, und die bisher so verschleierte Stimme klang jetzt voll und laut. Edith blickte betroffen, fast bestürzt auf den Mann, der ihr mit jeder Minute rätselhafter wurde. Er stand ja auf einmal als ein ganz anderer vor ihr. Aber dies drohende »Ja« galt dem Namen, den auch sie dereinst tragen sollte, da fühlte sie sich mit beleidigt.

»Ein sehr aufrichtiges Geständnis!« sagte sie kalt, aber mit dem ganzen hochmütigen Stolze, der ihr so meisterhaft zu Gebote stand, wenn sie jemand in seine Schranken zurückweisen wollte. »In einer Stellung, wie Ronald sie einnimmt, hat man natürlich Gegner und Feinde, und gegen eine offene, ehrliche Feindschaft ist ja auch nichts einzuwenden, aber die Feindschaft entstammt meist anderen Quellen. Man verzeiht es dem Manne nicht, daß er so hoch emporgestiegen ist, daß er Sieger blieb in einem Kampfe, wo andere unterliegen und ›im Dunkel verschwinden‹! Der Neid freilich – –«

Sie hielt plötzlich inne, denn Raimar war aufgefahren und seine Augen sprühten. Das war nicht jenes unwillige Aufblitzen wie vorhin, da schlug eine Flamme auf – Edith Marlow war nicht furchtsam, aber sie erschrak vor diesem Blick, vor diesem Ton, der anfangs noch halb erstickt klang vor Erregung und sich dann zu voller glühender Empörung steigerte.

»Sollen diese Worte mir gelten? dann weise ich sie zurück! Sie haben kein Recht, einem Fremden, dessen Beweggründe Sie nicht kennen, Niedrigkeit und Gemeinheit zuzutrauen, weil er sich als Feind eines anderen bekennt, und ich habe meine Gründe. Was wissen Sie überhaupt vom Kampfe des Lebens? Ihnen ist er doch schwerlich je genaht! Wer frei und glücklich dasteht, der hat es leicht, den Stab zu brechen über andere, die nicht kämpfen konnten, weil sie die Arme nicht frei hatten. Lernen Sie erst verstehen, was ›Schicksal‹ heißt, das plötzlich über einen Menschen hereinbricht und ihn wehrlos macht gegen feindliche Mächte, und dann verurteilen Sie!«

Edith stand wie erstarrt vor diesem jähen Ausbruch, sie fand im Augenblick gar keine Antwort darauf. Wer war denn eigentlich dieser Fremde, dessen Haltung im Anfange so müde schien, der so düster und entsagungsvoll vom Leben sprach, als läge es bereits hinter ihm? Jetzt hatte er auf einmal Blitze in diesen müden, düsteren Augen, jetzt führte er eine Sprache, wie sie das verwöhnte, vielumworbene Mädchen noch nie gehört, das jetzt mitten in der Entrüstung, der Empörung über die empfangene Zurechtweisung doch etwas wie Bewunderung empfand. Aber das dauerte nur einen Moment, dann gewann die Entrüstung die Oberhand.

»Ich glaube, wir müssen diese Unterredung endigen, sie führt uns allzu weit!« sagte die junge Dame in einem eiskalten Tone, und dabei traf ein vernichtender Blick den Mann, der es wagte, so mit ihr zu reden, aber hier blieb das wirkungslos. Jene dunklen Augen hielten den ihrigen stand, und die Flamme loderte noch immer darin. So standen sie einige Sekunden lang, ohne daß ein Wort gesprochen wurde, dann neigte Edith mit einer kaum merklichen Bewegung das Haupt, und mit der Miene einer beleidigten Fürstin wandte sie sich ab, um zu gehen.

Ernst Raimar verharrte an seinem Platze. Er sah, wie sie über den Friedhof eilte, das Gitter öffnete und im Walde verschwand, dann atmete er tief auf und strich mit der Hand über die Stirn. Es kam ihm erst jetzt zum Bewußtsein, wie er sich hatte fortreißen lassen. Also das war der Dank eines Bruders, für den er sich aufgeopfert, so stand er da in den Augen des Mädchens, zu dem Max seine Blicke erhob. Ein alter, verknöcherter Hagestolz, der Höheres gar nicht begriff und in spießbürgerlicher Beschränktheit den jungen Künstler festketten wollte an den eigenen Lebenskreis! Noch gestern hätte er eine derartige Erfahrung mit einem bitteren Lächeln und einem Achselzucken hingenommen, jetzt biß er die Zähne zusammen, und auf seiner Stirn lagerte es wie eine Wetterwolke, als er der Enteilenden nachblickte.

»Sie muß in irgend einer Beziehung zu diesem Ronald stehen!« murmelte er halblaut. »Das war nicht die Parteinahme einer Fremden, gleichviel, was geht es mich an! Sie werden freilich wie eine Meute über mich herfallen von allen Seiten, wenn ich wage, was jeder wagen darf, dessen Name rein ist, aber was liegt an mir, wenn es nur erreicht wird. Einer muß das Wort sprechen, und da sich kein anderer findet« – er richtete sich empor mit einer Bewegung, als werfe er eine lang getragene Last von sich – »ich will nicht länger ein Feigling sein, der »im Dunkel verschwindet«. Jetzt ist es entschieden! Werde daraus, was da will!«

Er ging, da tönte wieder der helle Ruf der Amsel, und jetzt schwirrte sie hervor aus den zerfallenen Mauern und hinein in den Wald, in das Frühlingsleben da draußen. Still und einsam lag der kleine Friedhof wieder da, aber die Sonnenstrahlen spannen ihre goldenen Fäden über das alte, verwitterte Gestein, wo unter Moos und Epheuranken das verheißungsvolle Wort stand:

Erwachen!

Herr Notar Treumann war eine sehr beliebte Persönlichkeit in Heilsberg, wo er, obgleich er sein Amt schon vor Jahren niedergelegt hatte, noch die erste Rolle spielte. Er hatte in einer beinahe dreißigjährigen Amtsführung ein Vermögen erworben, das für seine bescheidenen Bedürfnisse ausreichend war, besaß außerdem ein hübsches Haus nebst Garten und lebte dort, da er Junggeselle war, unter der Pflege einer alten Wirtschafterin sehr behaglich und zufrieden.

Jedermann hatte den alten Herrn gern, der die Gutmütigkeit und Dienstfertigkeit selbst war. Es gab nur einen Punkt, wo diese Eigenschaften versagten und sich sogar in das Gegenteil verkehrten, und das trat unfehlbar ein, wenn jemand sich erlaubte, Heilsberg den gebührenden Zoll der Achtung und Bewunderung zu versagen. Der Notar liebte die Stadt, in der er geboren war und wo er bereits die zweite Generation aufwachsen sah, mit einem förmlichen Fanatismus. Was man ihm selbst anthat, das konnte er verzeihen, und wenn es das Aergste war, aber Heilsberg – da wurde er wild.

Er hatte damals, als das Unglück über die Familie seiner Schwester hereinbrach, gethan, was nur in seinen Kräften stand. Er war schleunigst nach Berlin gekommen und hatte die Witwe nebst ihrem jüngsten Sohne mit nach Heilsberg genommen, um sie all dem Schweren zu entziehen, was der Katastrophe unmittelbar folgte. Ernst blieb zurück, um das Notwendigste zu ordnen, eine furchtbare Aufgabe für den jungen Mann, der nur den völligen Ruin feststellen konnte und verzweifelte, aber vergebliche Anstrengungen machte, wenigstens den ehrlichen Namen seines Vaters zu retten. Dann trat die zweite schwere Aufgabe an ihn heran, für Mutter und Bruder eine Existenz zu schaffen, und da war es wieder Onkel Treumann, der helfend eingriff.

Er legte das Notariat zu Gunsten seines ältesten Neffen nieder, früher als es ursprünglich seine Absicht gewesen war, führte ihn in das Amt ein und erleichterte ihm in jeder Weise den Eintritt in den neuen Wirkungskreis. Daß der junge Jurist, der bereits als Verteidiger seinen ersten Lorbeer errungen hatte und von einer großen Zukunft träumte, das als den geistigen Tod ansah, kam dem Onkel nicht in den Sinn, aber er stand immer auf einer Art von Kriegsfuß mit ihm. Er hatte Ernst in Verdacht, mit einer geheimen Geringschätzung auf seine Umgebung und auf Heilsberg herabzublicken, und damit hatte dieser verspielt bei dem Herrn Notar, der das düstere, verschlossene Wesen Ernsts seit jener Katastrophe überhaupt unbegreiflich und undankbar fand. Die Sache war ja doch nun längst überwunden, man hatte ihm eine behagliche, gesicherte und ziemlich einträgliche Stellung verschafft – was wollte er denn noch mehr?

Der erklärte Liebling des Onkels war sein jüngster Neffe, den er um die Wette mit seiner Schwester verzog und verhätschelte. Er hielt ihn für ein Talent ersten Ranges, hegte die ungemessensten Erwartungen von seiner Zukunft und behandelte ihn schon ganz als künftige Größe. Max ließ sich das natürlich gefallen, der »Erbonkel« hatte ohnehin Anspruch auf seine Liebenswürdigkeit und hatte auch stets eine offene Hand für ihn, wenn er, wie gewöhnlich, nicht auskam. Da ließ er denn auch seinerseits diese Liebenswürdigkeit nicht vermissen, und die beiden standen auf dem allerbesten Fuß miteinander.

Jetzt, wo Ernst auf zwei Tage nach Neustadt gefahren war, fühlte sich Treumann verpflichtet, dem Freunde seines Neffen die Honneurs von Heilsberg zu machen. Er schleppte ihn in der ganzen Stadt herum, zeigte ihm alles, natürlich auch die berühmte Folterkammer, und gab als Vorstand des historischen Vereins auch die nötigen Erklärungen. Er merkte es dabei gar nicht, daß der Major sich über ihn und sein Steckenpferd lustig machte, und nahm dessen ironische Bewunderung für bare Münze.

So waren sie denn auch heute auf den Burgberg gestiegen, wo die Ruine des alten Schlosses lag. Der Herr Notar hatte die ganze Chronik des betreffenden Grafengeschlechts zum besten gegeben und war dabei so tief in das Mittelalter geraten, daß er sich gar nicht wieder herausfand, jetzt schloß er mit einer großartigen Handbewegung: »Ja, wir stehen hier auf historischem Boden! Jeder Stein, jeder Fuß breit in und um Heilsberg zeugt von einer großen Vergangenheit. Das ist es, was wir voraushaben vor all den anderen Städten in der Provinz – wir sind durch und durch historisch!«

»Aber Neustadt hat die Bahn,« warf der Major etwas nüchtern ein, »und die Steinfelder Werke gehören ja doch auch dazu, damit hat es Heilsberg längst überflügelt.«

Treumann, der noch im sechzehnten Jahrhundert schwelgte, tauchte urplötzlich daraus empor und war mit einem förmlichen Ruck mitten in der Gegenwart.

»Neustadt?« wiederholte er. »Ja freilich, das möchte sich jetzt als Großstadt aufspielen, weil es ein paar tausend Einwohner mehr hat. Lächerlich! Kennen Sie dies Neustadt?«

»Nur als Bahnstation. Ernst hat mich dort erwartet, und wir sind hindurchgefahren. Ein stattlicher Ort!«

»Finden Sie das?« fragte der alte Herr in sehr gereiztem Tone. »Nun, vor acht Jahren war es noch ein jämmerliches Oertchen, das gar nicht den Namen einer Stadt verdiente, bis es dem großmächtigen Herrn Ronald gefiel, seine Werke dort anzulegen, und dann setzte er natürlich auch die Bahn durch. Der setzt ja alles durch! Stattlicher Ort? Pah, Arbeiterbevölkerung, Menschen ohne Bildung – Kohlenstaub und Maschinenlärm – gemeines Alltagsleben – das ist Neustadt, und das ist gar nichts!«

Hartmut lächelte, er wußte bereits aus gelegentlichen Gesprächen, daß zwischen Neustadt und Heilsberg grimmige Fehde herrschte, die zum Glück nur theoretisch ausgefochten wurde. Die Neustädter verspotteten die »historischen Heilsberger«, und diese verachteten die »moderne Schwindelstadt«, wie sie den Nachbarort wegen seines schnellen Wachstums nannten. Der Herr Notar stand natürlich vorn im Kampfe, und seine sonst so freundlichen Augen leuchteten in einem förmlichen Ingrimm, als er fortfuhr: »Und Ernst ist schon wieder hinübergefahren, in Geschäften, wie er behauptet. Wenn ich nur wüßte, was das für Geschäfte sind! Sie haben doch drüben ihre eigenen Notare und ihre eigene Gerichtsbarkeit. Werden nächstens noch Gesetze erlassen, die Herren Neustädter! Aber aus dem Ernst ist nichts herauszubekommen, nicht das geringste.«

»Vermutlich Privatangelegenheiten. Amtsgeheimnis – er kommt ja schon heut abend zurück. Haben Sie übrigens in der Zeitung gelesen, daß Ronald in diesen Tagen auf seinen Werken erwartet wird?«

»Natürlich habe ich es gelesen, die Zeitungen melden das ja so gewissenhaft, wie die Ankunft irgend einer Fürstlichkeit. Dieser Nabob, der schon die ganze Berliner Finanzwelt regiert, spielt ja auch in unserer Provinz den Pascha. Es ist die reine Paschawirtschaft bei ihm und seiner Umgebung. Wochenlang vorher muß man sich um die Gnade einer Audienz bewerben, stundenlang muß man im Vorzimmer warten, und wenn man ihn dann endlich zu sehen bekommt, dann wirft er einen hinaus – mich hat er auch hinausgeworfen!«

»O, wie kam er denn dazu?« fragte der Major erstaunt. »Kennen Sie ihn denn überhaupt?«

Treumann schien nicht recht zu wissen, ob er die Begegnung, bei der er eine so merkwürdige Rolle gespielt hatte, erzählen oder verschweigen sollte, aber sein Mitteilungsbedürfnis war überwiegend, und so sprudelte er denn mit gewohnter Lebhaftigkeit die ganze Geschichte heraus. »Es war im vorigen Jahre und es geschah nur Heilsbergs wegen. Sehen Sie, Herr Major, hier in unserem Boden schlummern zweifellos noch eine Menge von historischen Schätzen aus dem Mittelalter, vielleicht aus der Römerzeit. Man müßte nur große, umfangreiche Nachgrabungen veranstalten, aber dazu gehört Geld, sehr viel Geld, und das haben wir nicht. Da kam ich auf den Gedanken, mich an Ronald zu wenden, für den Nabob sind ja die Summen, die wir brauchen, eine Kleinigkeit. Ich wollte ihm einen Vortrag halten und ihm klar machen, daß er hier etwas Großes vollbringen könnte für die Welt, für die Wissenschaft, aber er ließ mich gar nicht zu Worte kommen.«

»Das kann ich mir denken!« warf Hartmut trocken ein.

»Gleich im Anfange fiel er mir in die Rede und erklärte mir kurz und bündig, er habe mit der Gegenwart zu thun, nicht mit dem Staub und Moder der Vergangenheit, er habe weder Zeit noch Geld für solche Narrheiten. Da wurde ich natürlich auch gereizt, und das nahm der Pascha übel, denn er wurde grob und sagte mir die empörendsten Dinge ins Gesicht. Die erste beste Torfgrube wäre ihm lieber als der ganze historische Boden von Heilsberg. Ich solle doch sehen, was er aus Neustadt gemacht habe, Neustadt werde in zehn Jahren ein großer Industrieort sein und Heilsberg würde ein jammervolles kleines Nest bleiben, wo das Gras in den Straßen wachse. Ja, das – das hat er mir gesagt – wörtlich!«

Hier versagte dem alten Herrn vor Empörung die Sprache, er schluckte ein paarmal heftig und sah den Major an, der mühsam das Lachen unterdrückte. Er stellte sich die urkomische Scene vor, wie der praktische Nabob den »historischen« Besuch zur Thür hinausbeförderte, aber er that diesem den Gefallen, mit ein paar kräftigen Worten in seine Entrüstung einzustimmen.

»Und dieser Mensch war vor zehn Jahren noch Prokurist meines Schwagers Raimar und wurde Sonntags zu Tische eingeladen!« rief Treumann, noch immer ganz außer sich. »Das wissen Sie doch?«

»Ja, ich weiß,« sagte Hartmut nachdenklich. »Ich habe ihn dort kennen gelernt, aber seitdem nicht wieder gesehen. Herr Raimar hielt sehr viel von dem kaufmännischen Talent seines damaligen Prokuristen, eine solche Carriere freilich hat er wohl nicht geahnt.« »Eine Schwindelcarriere!« erklärte verächtlich der Notar, dem seine sonstige Gutmütigkeit ganz abhanden kam, sobald von Neustadt oder von dem »Nabob« die Rede war, »Nichts als Schwindel! Auf ehrliche, solide Weise kann man doch die Millionen nicht so ohne weiteres aus dem Boden stampfen und in ein paar Jahren ein Dutzend Unternehmungen hinstellen, von denen jede einzelne ein Menschenalter braucht, um zu gedeihen. Wenn Sie nur wüßten, was man da alles flüstert! Laut wagt keiner etwas zu sagen, es ist ja alles bestochen, geknebelt, mundtot gemacht. Warten wir erst ab, wie die Geschichte endigt! Das habe ich dem Ernst schon oft gesagt, aber der zuckt die Achseln und schweigt, der kümmert sich überhaupt nicht darum. Ernst hat für gar nichts mehr Interesse.«

»Ja, Gott sei's geklagt!« brummte der Major, fuhr aber plötzlich auf und beugte sich über die Mauerbrüstung, an der sie standen. Dort ertönte der Schrei einer Kinderstimme und gleich darauf ein lauter Angstruf von unten her. In demselben Augenblick setzte Hartmut aber auch schon mit einem Sprunge über die niedrige Mauer, brach durch die Gebüsche, die den Abhang bedeckten, und dann hörte man seine Kommandostimme: »Festhalten! Nicht loslassen! Ich komme schon!«

Der alte Herr droben wußte gar nicht, was geschehen war, und lief ängstlich auf und nieder, während er vergebens versuchte, durch das Gebüsch zu schauen; aber schon nach wenigen Minuten tauchte sein Begleiter wieder auf, ein kleines Mädchen in den Armen, das er bis zur Ruine trug und dann auf den Boden stellte.

»Das hätte schlimmer ablaufen können!« sagte er. »Kleine Gemse, wer hieß dich denn da hinaufklettern? Hast du dir weh gethan?«

Die Kleine war noch blaß vor Schrecken, aber sie schrie und weinte nicht, sondern betrachtete nur ihr Aermchen, auf dem eine große dunkelrote Schramme sichtbar war.

»Es thut gar nicht sehr weh,« sagte sie tapfer, zu dem Major aufblickend.

»Braves Mädel!« lobte dieser. »Das heult nicht noch nachträglich, wenn es in Sicherheit ist. Zeig her! Das ist ja eine bloße Schramme, nicht der Rede wert!«

Er zog sein Taschentuch hervor und trocknete ein paar Blutstropfen ab, die sich an dem kleinen Arme zeigten; jetzt kam Treumann auch herbei.

»Das ist ja die kleine Lisbeth von Gernsbach!« rief er überrascht. »Lisbeth, was hast du angefangen?«

»Da bin ich heraufgeklettert,« sagte die Kleine, auf den steilen Abhang zeigend. »Und da fielen die Steine – und ich auch.«

.

»Ja, und da hing sie an dem Fliederstrauch, den sie glücklich noch erwischt hatte,« ergänzte Hartmut, »aber der gab schon nach, und wenn sie losließ oder ich zwei Minuten später kam, dann lag sie unten im Steinbruch, und dann war's aus!«

Er beschäftigte sich noch mit dem Kinde, als dies ihm entwischte und mit dem Rufe »Mama! Mama!« einer Dame entgegenlief, die jetzt atemlos auf der Höhe erschien. Sie brach fast in die Kniee, als sie der Kleinen die Arme entgegenstreckte und sie an ihre Brust zog.

»Beruhigen Sie sich, gnädige Frau, es ist ja nichts geschehen,« tröstete der Notar, und eine andere Dame, die unmittelbar folgte, mahnte halblaut: »Fasse dich, Wilma. Wir sahen es ja schon von unten, wie Lisbeth aufgefangen und emporgetragen wurde von diesem Herrn – « »Major Hartmut,« stellte Treumann vor. »Er war zum Glück in der Nähe, als die Kleine stürzte.«

Die junge Frau war noch totenbleich und völlig unfähig zu sprechen, sie reichte nur dem Retter ihres Kindes die Hand, während ihr die Thränen aus den Augen stürzten.

»Bitte, gnädige Frau, es war ja kaum der Rede wert,« lehnte Hartmut den stummen Dank ab. »Wir Soldaten sind gewohnt, rasch zuzugreifen, und das Allerbeste hat das tapfere kleine Fräulein selbst gethan. Jede andere hätte, als der Fliederstrauch zu brechen anfing, mit lautem Jammergeschrei losgelassen, sie that keinen Muck und hielt fest auf meinen Zuruf, bis ich herankam.«

Lisbeth war offenbar sehr stolz auf dies Lob, und Frau von Maiendorf faßte sich denn auch so weit, die beiden Herren ihrer Cousine, Fräulein Edith Marlow, vorzustellen, der sie den Burgberg hatte zeigen wollen. Der Major horchte auf bei dem Namen, und auch Treumann schien gewisse Andeutungen von seinem Neffen erhalten zu haben, denn er machte der jungen Dame eine ungemein respektvolle Verbeugung und war hochbeglückt, als sie den Wunsch zu erkennen gab, etwas Näheres über die alte Grafenburg zu hören. Er stürzte sich schleunigst wieder in das Mittelalter, und als Edith, die sich in der That für solche Dinge interessierte, seine Führung durch die Ruine annahm, war der Vorstand des historischen Vereins auf seiner vollen Höhe.

Major Hartmut zog es vor, der jungen Frau Gesellschaft zu leisten, in der noch der Schrecken von vorhin nachzitterte, und die draußen auf der Steinbank zurückgeblieben war. Dabei neckte er sich mit Lisbeth, die den Sturz und die Schramme bereits vergessen hatte und lustig umhertollte. Die beiden waren schon die allerbesten Freunde, als Edith mit ihrem Führer zurückkehrte. Die Damen machten nun Anstalt, aufzubrechen; nach dem Vorgefallenen war es eigentlich selbstverständlich, daß der Major eine Einladung nach Gernsbach erhielt, und Herr Notar Treumann wurde als alter Freund des Hauses auch gebeten, mitzukommen.

»Komm aber recht bald,« sagte die kleine Lisbeth, ihrem Retter zutraulich das Händchen bietend. »Es ist sehr schön bei uns.«

»Zu Befehl, gnädiges Fräulein!« versetzte Hartmut mit militärischem Gruße. »Ich werde nicht verfehlen, mich nach Hochdero Befinden nach der unfreiwilligen Bergfahrt zu erkundigen.«

Die Kleine lachte fröhlich auf bei dem Scherz und lief zur Mutter, die sie diesmal fest an der Hand nahm. Dann trennte man sich, die Damen schlugen einen Fußweg ein, der in den Wald hineinführte, wo sie ihren Wagen gelassen hatten, und die beiden Herren kehrten auf dem eigentlichen Burgwege nach der nahen Stadt zurück.

»Das war also die junge Millionärin!« sagte Treumann, hoch befriedigt von der Begegnung. »Dieser Marlow hat nämlich auch eine Million, aber der steht auf soliderer Grundlage als der Hexenmeister Ronald. Altes Bankhaus, schon vom Großvater gegründet, Maxl kennt die Verhältnisse genau. Wie finden Sie Fräulein Marlow? Eine Schönheit, nicht wahr?«

»Gewiß, ein schönes Mädchen!« stimmte der Major ziemlich kühl bei. »Aber für meinen Geschmack etwas zu großartig und selbstbewußt. Frau von Maiendorf kann sich ja in der äußeren Erscheinung nicht mit ihrer Cousine messen, aber sie ist viel anmutiger.«

»Jawohl, ein liebes, sanftes Frauchen!« bestätigte Treumann, »und die kleine Lisbeth ist allerliebst. Aber mit dem Ernst ist ja nichts anzufangen, Sie sollten ihm doch einmal ins Gewissen reden.«

»Ich? Weshalb denn?« fragte Hartmut, der sich diesen plötzlichen Gedankensprung nicht erklären konnte.

Der Notar hatte sich längst schon vorgenommen, dem Freunde seines Neffen einmal sein Herz auszuschütten, und ergriff nun eifrig diese Gelegenheit. Er begann in empfindlichem Tone: »Ich habe damals doch gewiß das möglichste gethan, als ich das Notariat mit der ganzen Praxis an Ernst abtrat, aber dankbar ist er mir nie dafür gewesen. Das war ihm alles viel zu unbedeutend und kleinlich. O, ich habe das gemerkt, wenn er auch nie darüber sprach. Ja, als Verteidiger Reden halten, von denen dann alle Welt spricht, sich als Berühmtheit in den Reichstag wählen lassen, und dann zum Schluß womöglich den Ministersessel – das hat er im Kopf gehabt! Das möchte wohl mancher, aber nicht jeder hat das Zeug dazu.«

»Ernst hatte es!« sagte der Major kurz und herb. »Es war ein Unglück, daß er damals aus seiner Laufbahn gerissen wurde, um hier –« Frondienste zu leisten, wollte er sagen, unterdrückte es aber, mit Rücksicht auf den alten Herrn, der doch aus reiner Herzensgüte gehandelt hatte. Dieser glaubte, er meine nur den Bankrott des Raimarschen Hauses und stimmte bei.

»Ja, das war allerdings ein Unglück, aber dagegen ließ sich doch nun einmal nicht aufkommen. Das Notariat, das Ernst übernahm, war doch der einzige Rettungsanker für die Familie. Es ist ihm zuwider, ich weiß es längst, nun er kann sich ja davon losmachen und den großen Herren spielen, wenn er will. Das Glück liegt ihm ja gerade vor der Nase, er braucht nur zuzugreifen.«

»Ach so, Sie meinen –?« sagte Hartmut, der jetzt anfing zu begreifen.

»Natürlich meine ich! Sehen Sie das hohe Dach da drüben, zwischen den Bäumen? Das ist Gernsbach! Ein schönes, einträgliches Gut, vornehmes altes Herrenhaus, prächtiger Park. – Ernst ist Rechtsvertreter der jungen Witwe, kennt die Verhältnisse ganz genau und wird, glaube ich, gar nicht ungern gesehen. Ein anderer hätte da längst einen Antrag riskiert, aber ihm fällt das natürlich nicht ein. Ich habe ihn mir einmal vorgenommen deswegen, aber da bin ich schön angekommen! ›Ich verkaufe mich nicht, Onkel! Ich will nicht von dem Gelde meiner reichen Frau leben! Das ist unwürdig‹ – Punktum! Und als wir das nächste Mal zusammen in Gernsbach waren, benahm er sich wie der steinerne Gast und öffnete kaum den Mund.«

»Da hat er recht!« erklärte der Major. Treumann sah ihn überrascht an.

»Was? Würden Sie es Ihrer Frau vielleicht zum Vorwurf machen, wenn sie reich wäre?«

»Zum Vorwurf – nein! Denn erstens ist Reichtum etwas, wofür der Mensch nicht kann, und zweitens ist er eigentlich auch kein Unglück. Aber ihm den Beruf opfern, um sich von einer reichen Frau füttern zu lassen, und in der Ehe eine Nebenperson zu sein, das ist erbärmlich, und das würde weder Ernst noch ich fertig bekommen, höchstens der Maxl.«

»Oho!« rief der Notar, beleidigt durch diese Mißachtung seines Lieblings. »Maxl ist ein Talent, ein großes! Der bringt seiner künftigen Frau das Genie als Morgengabe, den Künstlerruhm, den er sich erwerben wird, das ist etwas anderes. Er verkehrt übrigens viel im Marlowschen Hause und hat mir bereits anvertraut, daß die junge Millionärin ihm gar nicht abgeneigt ist – der Teufelsjunge! Da werden wir noch etwas erleben, der Maxl ist ja bildhübsch und hat fabelhaftes Glück bei den Frauen.«

»Möglich,« sagte Hartmut trocken, »aber die Millionärin bekommt er nicht.«

»So? Und warum denn nicht?«

»Weil er ihr zu dumm ist.«

»Aber, Herr Major!«

»Viel zu dumm!« bekräftigte der Major, ohne den Empörungsruf zu beachten. »Die verlangt mehr von ihrem Manne, als daß er ein paar Bilder malt und im Kunstverein ausstellt, sie sieht ganz danach aus, und mit einem Wechsel auf die Zukunft gibt sie sich schwerlich zufrieden. Was übrigens das Zukunftsgenie, den Maxl, betrifft, so sage ich dasselbe, wie Sie bei Ihrem Nabob! Warten wir erst ab, wie die Geschichte endigt! und im übrigen gebe ich Ihnen mein Wort darauf, Ernst hat im kleinen Finger mehr Genie als der Maxl in seinem ganzen hübschen, dummen Kopfe! – Aber da sind wir am Stadtthor, ich gehe über den Wallgraben. Ich empfehle mich Ihnen, Herr Notar.«

Damit schlug sich Hartmut seitwärts und ließ den ganz verblüfften alten Herrn stehen. Dieser war bisher mit dem Freunde seines Neffen recht gut ausgekommen, jetzt aber neigte er sich doch der Ansicht Maxls zu, der ihm gleich bei dem ersten Besuche erklärt hatte, Major Hartmut sei einfach unerträglich geworden.

Auf der Terrasse des Herrenhauses von Gernsbach befand sich Bankier Marlow mit seiner Tochter. Er war erst vor einigen Stunden von Steinfeld eingetroffen und hatte zugleich eine kurze Gastfreundschaft für Herrn Felix Ronald erbeten, der ihm heut noch folgen und erst morgen abend wieder abreisen wollte. Frau von Maiendorf sagte mit Vergnügen zu. So fern sie auch persönlich den Finanzkreisen stand, war sie doch nicht unempfindlich gegen die Auszeichnung, den Vielgenannten, Vielbeneideten, dessen Name in aller Munde war, als Gast in ihrem Hause zu beherbergen, zumal bei solchem Anlaß, denn sie wußte sich diesen Besuch zu deuten. Sie traf in aller Eile noch einige Anordnungen; wenn ein Ronald erwartet wurde, machte man natürlich mehr Umstände als bei anderen, gewöhnlichen Menschenkindern.

Marlow war ein Mann in den Fünfzigern, mit schon ergrauten Haaren, kühl, zurückhaltend und etwas förmlich, ganz der vornehme Bankier, der, ohne mit seinem Reichtum zu prahlen, sich doch dessen und seiner Stellung vollkommen bewußt ist. Er hatte erst jetzt nach Tische Gelegenheit zu einem Alleinsein mit seiner Tochter gefunden und war in angelegentlichem Gespräche mit ihr. »Ronald wollte mich natürlich begleiten,« sagte er soeben, »aber gerade im letzten Augenblick trafen noch einige Depeschen ein, die sofortige Verfügungen erforderten und ihn zurückhielten. Er kommt aber jedenfalls noch heute, und es ist dir wohl kein Geheimnis mehr, Edith, was er dir zu sagen hat.«

»Nein, Papa,« erwiderte Edith ruhig, »Ich bin längst auf diesen Antrag vorbereitet. Er hat sich dir bereits erklärt?«

»Erst gestern, und ich habe meine Einwilligung gegeben, unter Vorbehalt der deinigen, die du ja wohl nicht versagen wirst, du weißt, was Ronald dir bieten kann.«

»Ja, ich weiß es, und hatte bereits vor der Abreise meinen Entschluß gefaßt. Ich werde seine Hand annehmen.«

Der Ton dieser Worte zeigte hinreichend, daß die junge Dame gewohnt war, selbst zu entscheiden, und daß der Vater weder den Willen noch die Macht hatte, ihr darin Vorschriften zu machen. Jedenfalls kam sie in diesem Punkte seinen Wünschen entgegen, und auf seinen Zügen lag der Ausdruck höchster Befriedigung, als er antwortete: »Daran habe ich nie gezweifelt, du bist ja stets mein kluges, mein verständiges Kind gewesen, und eine glänzendere Partie findest du überhaupt nicht. Aber du kommst auch nicht mit leeren Händen zu deinem künftigen Gatten, und wenn das Unternehmen, das ich jetzt mit Ronald im Auge habe, in das Leben tritt, wird sich mein Vermögen – dereinst das deinige – nahezu verdoppeln.«

»Du meinst die Umwandlung der Steinfelder Werke in eine Aktiengesellschaft?« fragte die junge Dame sehr verständnisvoll.

»Ganz recht, wir haben den Plan dazu bereits in seinen Hauptzügen festgestellt und denken im Herbste die Sache in Angriff zu nehmen. Dann soll auch eure Verlobung veröffentlicht werden.«

»Erst im Herbst? Weshalb?« fragte Edith etwas befremdet.

Marlow lächelte: »Das möchte dir Ronald selbst sagen. Ich will ihm darin nicht vorgreifen, glaube aber, du wirst mit seinem Wunsche einverstanden sein, wie ich, wenn du den Grund erfährst. Wir überlassen dir natürlich die Entscheidung, und jedenfalls feiern wir heut abend die Verlobung im engsten Familienkreise.«

Damit küßte der Bankier sein »kluges, verständiges Kind«, und damit war die Sache erledigt. Gefühlsscenen waren nicht üblich zwischen ihnen, auch nicht bei solchem Anlaß. Wer den Verkehr zwischen Vater und Tochter sah, der begriff vollkommen, daß Edith Marlow so kühl und verstandesklar geworden war, wie sie sich eben zeigte. Er liebte ja zweifellos sein einziges Kind und war stolz darauf, aber Wärme und Herzlichkeit lagen nun einmal nicht in seinem Charakter, Edith war für die Welt erzogen und vollkommen befähigt, dort die glänzende Rolle zu spielen, die ihr jetzt geboten wurde, das genügte, Herzensbedürfnisse gab es da nicht.

Das Rollen eines Wagens machte die beiden aufmerksam. Sollte das schon Ronald sein? Nein, es saßen mehrere Herren in einem offenen Wagen, der dort an dem Parkgitter entlang fuhr und dann in den Hof einbog. Der Bankier runzelte die Stirn.

»Besuch? Und das gerade heut! Wie lästig, hier kann man sich ja nicht einmal verleugnen lassen. Nun, hoffentlich bleiben sie nicht lange, und Ronald trifft vermutlich erst gegen Abend ein. Noch eins, Edith, wir müssen natürlich Wilma in das Vertrauen ziehen, aber wir werden ihr Schweigen auferlegen gegen jeden Fremden, und jetzt werde ich mich einstweilen zurückziehen. Ich habe gar keine Eile, diese Herrschaften – wahrscheinlich doch Heilsberger – kennen zu lernen.«

Er ging nach seinem Zimmer. Edith fand es auch sehr lästig und unbequem, sich heut zu einer Unterhaltung mit den Heilsberger Bekannten ihrer Cousine herablassen zu müssen, und beschloß gleichfalls, ihnen ihre Gegenwart vorläufig zu entziehen. Nicht, daß sie besonders aufgeregt war, weil heut ihr künftiger Gatte kommen wollte, um sich das Jawort von ihr zu holen, darauf war sie ja längst vorbereitet, der Besuch störte und langweilte sie nur. Edith Marlow wußte nichts von all dem Träumen, Sehnen und Hoffen, das sich sonst an eine solche Stunde knüpft, obgleich diese Verlobung ganz nach ihrem Wunsche war und ihren Stolz und Ehrgeiz vollkommen befriedigte. Es war doch wahrlich keine Kleinigkeit, einen Ronald zu fesseln, dessen genialer Unternehmungsgeist jeden zur Bewunderung zwang, dessen ungemessener Reichtum ihm eine fast unbegrenzte Macht gab, vor dem sich alle beugten!

Alle? Nein! Einen gab es, der beugte sich nicht, der bekannte sich offen und rückhaltlos als Feind des fast allmächtigen Mannes, der wagte es sogar, ihm zu drohen, denn es war eine Drohung gewesen, die in den Augen, in der ganzen Haltung jenes Fremden lag, wenn er sie auch nicht ausgesprochen hatte.

Seltsam! Edith konnte die Erinnerung nicht los werden, und sie war doch nichts weniger als angenehm, denn jene Begegnung endigte mit einer Zurechtweisung, die das stolze Mädchen als Beleidigung empfand. Es war eine quälende Erinnerung, die oft genug unwillig fortgewiesen wurde, aber sie kam immer wieder. Auch jetzt kam sie herangeschlichen, leise, unmerklich und spann ihre unsichtbaren Fäden und legte auf das schöne kalte Antlitz der jungen Dame einen Ausdruck von Träumerei, der ihr sonst ganz fremd war.

Da tauchte wieder der kleine Friedhof auf, der so einsam und vergessen tief im Walde lag, wo der Sonnenschein hinflutete über halbversunkene Hügel und zerfallene Mauern, wo Tod und Leben sich so seltsam einten in dem Blühen und Duften, das über Gräbern erwuchs. Da tönte wieder das Summen der wilden Bienen, das wie ferne Musik klang, und der Gesang der Amsel, das jauchzende Maienlied. Und da stand auch die Gestalt des Mannes mit den düsteren Augen, die doch Blitze sprühen konnten, mit dem Aufflammen der Empörung, als man es wagte, ihn zu beleidigen. Das alles war erst vor ein paar Tagen geschehen und lag doch so fern wie ein Märchen, das man irgendwo gehört oder geträumt hat und das nichts zu thun hat mit der hellen, nüchternen Wirklichkeit.

Da tönten Stimmen im Gartensaal, und Edith erwachte. Sie hatte diesen störenden Besuch ganz vergessen und wandte sich nun halb unwillig um, zuckte aber plötzlich zusammen, denn sie erblickte dieselbe Gestalt, die eben noch so deutlich vor ihrem inneren Auge gestanden hatte. Dort aus der Glasthür, die auf die Terrasse führte, trat Frau von Maiendorf mit mehreren Herren, Major Hartmut, Max Raimar und – der Fremde vom Waldfriedhofe!

Max eilte schleunigst zu der jungen Dame, um sie zu begrüßen, und pries dabei sehr wortreich den »Zufall«, der ihn gerade jetzt nach Heilsberg geführt habe. Der Major erneuerte die Bekanntschaft vom Burgberge, und jetzt näherte sich auch Wilma mit dem Fremden und sagte unbefangen: »Sie kennen meine Cousine ja noch nicht. Liebe Edith, erlaube – Herr Notar Raimar aus Heilsberg – Fräulein Marlow.«

Ernst Raimar war wohl der einzige, der es sah, daß die junge Dame für einen Moment die Fassung verlor, als sein Name genannt wurde. Er verneigte sich artig, aber völlig fremd.

»Mein gnädiges Fräulein, gestatten Sie mir, den Dank auszusprechen für die gütige Aufnahme, die mein Bruder in Ihrem Hause gefunden hat. Er hat mir viel davon erzählt.«

»Ja, sehr viel!« bestätigte Max eifrig. »Ernst weiß, wie hoch ich das Glück schätze, Ihrem Kreise angehören zu dürfen, gnädiges Fräulein,«

Edith hatte sich bereits wieder gefaßt und erwiderte einige gleichgültige Worte, aber dabei traf ein Zornesblick den Mann, der es gewagt hatte, so mit ihr zu spielen. Er lächelte fast unmerklich, er wußte ja so genau wie sie jedes Wort, das über den »verknöcherten Hagestolz« gefallen war.

Das Gespräch wurde jetzt allgemein. Herr Notar Treumann war nicht mitgekommen und ließ sich bedauernd entschuldigen. Es wurde irgendwo in der Nähe irgend etwas ausgegraben, und da mußte er natürlich dabei sein. Der Major neckte sich wieder mit der kleinen Lisbeth, die ihm jubelnd entgegengelaufen war und ihm kaum von der Seite ging. Das Kind zeigte, ganz im Gegensatz zu der Scheu, die es noch immer vor der schönen Tante Edith hegte, seinem Retter die vollste Zutraulichkeit. Max, der jetzt ganz in seinem Elemente war, spielte den Liebenswürdigen, und auch sein Bruder zeigte sich lebhafter als sonst, aber kein Wort, kein Blick erinnerte daran, daß er Edith Marlow bereits früher gesehen hatte, er bewahrte ihr gegenüber die völlige Fremdheit.

Inzwischen war im Gartensaal der Theetisch gedeckt worden, und Frau von Maiendorf bat ihre Gäste, einzutreten. Hartmut und Max folgten ihr, und Ernst war im Begriff, das gleiche zu thun, als ein halblauter Ruf ihn zurückhielt.

»Herr Raimar!« Er wandte sich um. »Sie befehlen, gnädiges Fräulein?«

»Auf einen Augenblick – ich bitte!«

Raimar blieb stehen und blickte fragend auf die junge Dame, deren Züge einen Ausdruck unverkennbarer Gereiztheit trugen, und dieselbe Gereiztheit verriet sich in ihrem Tone, obgleich sie gedämpft sprach.

»Sie scheinen vergessen zu haben, daß wir uns nicht ganz fremd sind.«

Ernst verneigte sich leicht. »Ich glaubte damit Ihren Wünschen entgegenzukommen, und ich wußte ja auch nicht, ob Sie sich jener Begegnung überhaupt noch erinnerten.«

Das Spottlächeln, das dabei um seine Lippen spielte, ärgerte die junge Dame unbeschreiblich. Als ob sich eine derartige Zurechtweisung vergessen oder verzeihen ließe! Und mitten in ihrem Aerger sah sie es doch, wie sehr das Gesicht dieses Mannes gewann, wenn er lächelte.

»Sie ließen mich damals absichtlich im Irrtum über Ihre Persönlichkeit,« sagte sie mit voller Schärfe, »obgleich Sie wußten, daß dies Inkognito sich schon in den nächsten Tagen lüften würde. Ich weiß in der That nicht, wie ich ein derartiges Spiel nennen soll –«

»Bitte, mein Fräulein,« unterbrach sie Raimar ruhig, aber mit Nachdruck. »Ich habe mir sicher nie erlaubt, mit Ihnen zu spielen, denn ich hatte weder jenes Gespräch angeregt, noch konnte ich voraussehen, welche Wendung es nehmen würde. Daß ich mich nicht noch nachträglich vorstellte, als Sie die Güte hatten, meiner Persönlichkeit zu erwähnen, ist wohl verzeihlich. Ich wollte uns beiden eine gewisse – Verlegenheit ersparen.«

»Uns beiden!« Edith biß sich auf die Lippen, sie wußte es, auf wessen Seite hier die Verlegenheit war, aber sie bemeisterte rasch die ungewohnte Empfindung und parierte den Hieb. »Ich sprach von einem Unbekannten!«

»Den Ihnen mein Bruder so liebevoll geschildert hatte! Ich weiß, aber ich bin nicht so kühn, zu glauben, daß die persönliche Bekanntschaft Ihr Urteil geändert hat. Ich beuge mich ganz Ihrem damaligen Spruche und – der Menschenkenntnis meines Bruders.«

Der schonungslose Spott raubte der jungen Dame völlig die vornehme kühle Haltung, die sie auch diesmal angenommen hatte. Dieser Notar von Heilsberg ließ sich nun einmal nicht von oben herab behandeln, sondern verkehrte mit ihr auf dem Fuße völliger Gleichheit, und dabei benahm er sich bei dem Wortgefecht, als komme er direkt aus den Berliner Salons. Dieser Kleinstädter behandelte sie, die Weltdame, mit einer ironischen Ueberlegenheit, die geradezu unerträglich war, und sie war auch nicht gesonnen, das zu ertragen. Sie griff jetzt auch ihrerseits zum Spott.

»Ihr Bruder scheint Sie allerdings sehr wenig zu kennen,« bemerkte sie, »Vielleicht beurteile ich Sie richtiger, Herr Raimar, und jedenfalls bewundere ich Ihr Heimatsgefühl, das Sie an einen so idyllischen Ort wie dies Heilsberg kettet.«

»Heilsberg ist nicht meine Heimat. Ich sagte Ihnen ja bereits, daß ich aus Berlin stamme.«

»Um so mehr! Es gehört ein sehr – beschaulicher Charakter dazu, einen solchen Aufenthalt für die Lebenszeit zu wählen, denn Ihre Stellung hier ist doch wohl eine dauernde?«

Das Lächeln in dem Antlitz Raimars erlosch, und die alte Düsterheit legte sich wieder darüber, als er mit aufquellender Bitterkeit fragte: »Glauben Sie, daß man freiwillig in die Verbannung geht? Doch ich fürchte, gnädiges Fräulein, da kommen wir wieder auf den Streitpunkt, der uns schon einmal entzweit hat. Ich denke, wir lassen ihn ruhen.«

Er brach ab, zum großen Mißvergnügen Ediths, für die das Gespräch jetzt wieder etwas von dem seltsamen Reiz gewann, der sie damals im Walde so gefesselt hatte, wenn sie es sich auch nicht eingestand. Der Mann war ihr jetzt, wo sie seinen Namen und seine Lebensstellung kannte, fast noch rätselhafter als früher. Da erschien Marlow, der sich in den Gartensaal zu der Gesellschaft begeben wollte, auf der Terrasse. Er stutzte beim Anblick des Herrn, der dort im Gespräch mit seiner Tochter stand, und kam dann langsam näher.

Ernst Raimar hatte sich umgewandt. Er wußte doch zweifellos, daß er den Onkel der Frau von Maiendorf diesmal in Gernsbach treffen werde, trotzdem schien ihm dies Zusammentreffen peinlich zu sein. Marlow streifte ihn mit einem langen, erstaunten Blick und schien seiner Sache nicht ganz sicher zu sein, denn es lag eine Frage in seiner Anrede: »Wenn ich nicht irre – Herr Notar Raimar?« Dieser verneigte sich zustimmend. Der Bankier schien einen Augenblick zu zögern, dann reichte er ihm die Hand.

»Ich wußte bereits durch Ihren Bruder, daß Sie sich in Heilsberg niedergelassen haben. Wir haben uns lange nicht gesehen, Sie kommen ja nie nach Berlin.«

.

In dem Antlitz Raimars stieg eine jähe Glut auf, die ebenso schnell wieder verschwand, und sein Auge suchte den Boden, als er antwortete: »Mein Amt läßt mir wenig Zeit übrig, ich muß mir das Reisen größtenteils versagen.«

»Du kennst Herrn Raimar, Papa?« fragte Edith, aufs höchste erstaunt.

»Jawohl, mein Kind, aber unsere Bekanntschaft liegt ziemlich weit zurück. – Sie haben einen sehr begabten Bruder, Herr Raimar, er wird Ihnen noch Freude machen mit seinem Talent. Der junge Mann ist ja oft ein Gast unseres Hauses,« und damit ging der Bankier gänzlich auf Max über und sprach so ausführlich über ihn und sein Talent, wie er es noch nie gethan hatte.

Edith hörte mit steigendem Befremden zu. Sie fühlte deutlich, daß ihr Vater, der sonst wenig Notiz von dem jungen Maler nahm, mit diesem Lob über irgend etwas anderes hinwegkommen wollte, und sie bemerkte auch die eigentümliche Unsicherheit Raimars. Wo war die überlegene Haltung geblieben, mit der er ihr noch vor wenigen Minuten gegenüberstand? Er schien förmlich aufzuatmen, als jetzt die kleine Lisbeth gelaufen kam, um die Säumigen zu holen.

Drinnen am Theetisch entspann sich eine sehr lebhafte und anregende Unterhaltung, bei der Major Hartmut die Hauptrolle spielte. Max machte zwar, seinem Programm getreu, einige krampfhafte Versuche, »sich in den Vordergrund zu stellen«, aber der Major drängte ihn völlig in den Hintergrund. Hartmut hatte stets in großen Garnisonen gestanden und auch sonst viel gesehen und erlebt. Er wußte sehr lebendig und anschaulich zu schildern, und obgleich er sich vorzugsweise an Frau von Maiendorf wandte, fesselte er doch die ganze Gesellschaft mit seinen Erzählungen. Auch Marlow hörte mit Interesse zu und fand offenbar Vergnügen an der neuen Bekanntschaft.

Als man endlich aufstand, schlug Wilma einen Spaziergang durch den Park vor. Sie trat aber vorher noch mit den Herren in das Gewächshaus, um ihnen eine besonders schöne Orchidee zu zeigen, von der eben die Rede gewesen war, während Marlow und seine Tochter, die das Prachtexemplar schon kannten, langsam vorausgingen.

»Der Besuch wird uns nicht weiter stören,« sagte der Bankier, der in sehr behaglicher Stimmung war. »Sie wollen ja schon um sechs Uhr abfahren, und bis dahin kann Ronald kaum hier sein. – Ein gescheiter, interessanter Mann, dieser Major Hartmut! Da hat man sich auf die Heilsberger Kleinstädterei gefaßt gemacht und verlebt nun ein paar recht angenehme Nachmittagstunden.«

»Papa – was ist es mit diesem Raimar?« fragte Edith, ohne die Worte zu beachten, ganz unvermittelt.

»Wen meinst du? Den älteren Bruder, den Notar?«

»Ja, es liegt irgend etwas zwischen dir und ihm, ich sah es. Woher kennst du ihn? Er hat früher in Berlin gelebt?«

»Allerdings, bis vor etwa zehn Jahren, aber ich hätte ihn kaum wieder erkannt. Was ist aus dem Manne geworden, der damals nur so sprühte von Leben und Heiterkeit! Freilich solch eine Katastrophe – doch davon weißt du nichts, du warst ja damals noch ein Kind, und es kann dich auch nicht interessieren.«

»Doch, es interessiert mich,« sagte die junge Dame rasch. »Du sprichst von einer Katastrophe? Du hast mir doch damals, als der junge Raimar bei uns eingeführt wurde, nicht die leiseste Andeutung gemacht.« »Nein, denn ich wollte eine alte, längst abgethane Geschichte nicht wieder auferwecken und dem jungen Manne seine Stellung in der Gesellschaft nicht unnötig erschweren. Die Sache ist in unseren Kreisen noch nicht vergessen, und es hat sich ihm daraufhin manche Thür verschlossen. Ich halte es für ein Unrecht, man soll die Kinder nicht eine Schuld des Vaters büßen lassen, an der sie keinen Anteil haben. Dem ältesten Sohne hat es ohnehin die Carriere gekostet. Er konnte doch nicht vor den Schranken das Recht vertreten und verteidigen, wenn der Vater ein offenkundiger Betrüger war.«

»Ein Betrüger?« wiederholte Edith betroffen, fast bestürzt. Marlow zuckte die Achseln.

»Leider! Die Sache hat damals viel Aufsehen gemacht, denn das Haus Raimar galt für solid und ehrenwert. Es soll da eine große Spekulation mißglückt sein, das kommt ja öfter vor, und ein solides Haus überwindet solche Krisen. Raimar stürzte und – nahm sich das Leben. Er ersparte seiner Familie wenigstens die Schande, ihn im Gefängnis zu wissen, denn als der Bankrott ausbrach, fanden sich die ziemlich bedeutenden Depots nicht mehr vor. Sie waren vermutlich längst angegriffen und veruntreut, die Deponenten haben nie einen Pfennig zurückerhalten.«

Der Bankier berichtete das alles in seiner kühlen, gelassenen Art, ohne besonderes Gewicht darauf zu legen. Edith erwiderte keine Silbe, aber ihre Augen hingen in atemloser Spannung an den Lippen des Vaters, der jetzt fortfuhr: »Ich habe mich stets über die Unbefangenheit gewundert, mit der dieser Max Raimar in unseren Kreisen verkehrt. Er war ja damals noch sehr jung, etwa sechzehn oder siebzehn Jahr, aber später ist ihm doch die volle Tragweite der Sache klar geworden. Uebrigens hat er recht, solchen Dingen muß man die Stirn bieten, sonst hängen sie sich wie ein Bleigewicht an das ganze Leben, aber es gehört doch eine gewisse Keckheit dazu. Der ältere Bruder scheint anders geartet zu sein, der hat Berlin seitdem nicht wieder betreten und empfindet selbst die Berührung mit seinen früheren Lebenskreisen peinlich, ich sah es bei unserer Begegnung. Er hat den Schlag noch heut nicht überwunden.«

»Warum blieb er denn überhaupt in Deutschland?« fragte die junge Dame mit einer beinahe gereizten Aufwallung, so daß sie der Vater erstaunt anblickte. »Er konnte ja nach Amerika gehen und dort die ganze Vergangenheit hinter sich werfen.«

»Nein, das konnte er nicht,« entgegnete Marlow ruhig. »Er hatte für die Existenz seiner Familie zu sorgen, der selbstverständlich nichts geblieben war. Die Stellung in Heilsberg gab ihm die Möglichkeit dazu, und als Notar hatte er ja auch nur das rein Geschäftliche der Rechtspraxis zu vertreten. Da entfielen die idealen Gesichtspunkte, die es ihm unmöglich machten, Verteidiger zu bleiben. In Heilsberg wird man wohl auch die näheren Umstände des Bankrotts nicht so genau gekannt haben. Schade um den Mann! Er war talentvoll, seine erste Rede vor den Schranken hatte einen geradezu sensationellen Erfolg – und nun muß er hier in einer untergeordneten Stellung verkümmern!«

Mit diesem kühlen Bedauern und einem Achselzucken war die Sache abgethan für den Bankier. Seine Tochter schien eine Erwiderung auf den Lippen zu haben, aber in diesem Augenblick kam Wilma mit den anderen Gästen und schloß sich ihnen an.

Der Spaziergang in dem großen Park mit seinen prächtigen alten Bäumen und schattigen Wegen wurde ziemlich lange ausgedehnt. Marlow ging mit seiner Nichte und dem Major Hartmut voraus, die anderen folgten, aber Max Raimar, der es noch nicht verwunden hatte, daß der Major ihn vorhin mit seiner Unterhaltungsgabe so vollständig in den Schatten gestellt, wußte es so einzurichten, daß sie scheinbar zufällig zurückblieben. Er machte die junge Dame auf einen schönen Durchblick aufmerksam, wo sich gerade der Burgberg mit dem alten Schlosse zeigte, und hielt sie dort einige Minuten lang fest, bis die anderen ziemlich weit voraus waren. Nun behauptete er allein das Feld, denn Ernst hatte sich wieder in seine alte Schweigsamkeit gehüllt und sprach nur so viel, als die unumgängliche Höflichkeit erforderte.

Der junge Maler redete desto eifriger. Jetzt endlich stand er im Vordergrunde und nützte das gehörig aus, dabei entging es ihm nur leider, daß die Dame seines Herzens gar nicht zuhörte. Edith hatte in der That ganz andere Gedanken im Kopfe, und während ihr Ohr mechanisch hin und wieder ein paar Worte von dem Redeschwall auffing, und sie ebenso mechanisch antwortete, streifte ihr Auge bisweilen mit einem fragenden, halbscheuen Blick den schweigsamen Begleiter zu ihrer Rechten.

Der Widerspruch zwischen seiner Persönlichkeit und seinem jetzigen Lebenskreise war ihr nun freilich gelöst, sie hatte es ja vorhin gesehen, wie ihm die Scham dunkelrot in die Stirn stieg bei dem Zusammentreffen mit ihrem Vater, der um jenen Makel wußte. Der jüngere Bruder, den die Sache doch ebenso nahe anging, schien sie allerdings viel leichter zu nehmen und ließ sich den Lebensgenuß nicht dadurch verkümmern.

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Max bemühte sich in der That aus allen Kräften, interessant zu sein. Das war sonst eigentlich nicht sein Fall, aber er wußte, daß die junge Dame es verlangte, wenn sie jemand der Ehre ihrer Gesellschaft würdigte, also war er interessant. Sein gutes Gedächtnis kam ihm dabei zu Hilfe, er hatte wirklich all die modernen Schlagworte im Kopfe und wußte sie geschickt anzubringen, verwendete auch gelegentlich die Aussprüche von Berühmtheiten, die er in den Salons gehört hatte, als eigenes Erzeugnis. Da man nun gerade auf dem Lande war, fing er auch an poetisch zu werden und von Rosen und Nachtigallen zu sprechen, obgleich die Rosen noch gar nicht blühten und die Nachtigallen jetzt im hellen Sonnenscheine nicht schlugen. Ihn störte das nicht weiter, aber Edith schien jetzt zu finden, daß der junge Herr unbequem werde, und schüttelte ihn ohne weiteres ab. Sie entdeckte auf einmal, daß es hier in dem schattigen Parke recht kühl sei, und bedauerte, ihr Tuch auf der Terrasse gelassen zu haben. Max stürzte natürlich schleunigst davon, um es zu holen und ließ die beiden allein.

»Eine Frage, Herr Raimar! Haben Sie sich wirklich der künstlerischen Richtung Ihres Bruders widersetzt?« begann Edith.

»Nein,« sagte Raimar kalt.

»Er ließ mich glauben, daß er sich seine Laufbahn erst habe erkämpfen müssen, daß er sich bei seinen Studien, seiner ganzen Existenz auf die eigene Kraft gestellt habe. Er scheint sehr behaglich in Berlin zu leben und hat doch bis jetzt nur einige Studien ausgestellt. Woher stammen denn seine Mittel – von Ihnen vielleicht?«

Ernst streifte mit einem langen düsteren Blick die Fragende, aber er schwieg.

»Nun?« wiederholte sie ungeduldig.

»Ich bitte – erlassen Sie mir die Antwort.« »Sie wollen Ihren Bruder nicht herabsetzen in meinen Augen? Aber er scheute sich nicht, Sie vor mir herabzusetzen.«

»Um sich bei Ihnen interessant zu machen, allerdings auf meine Kosten! Das war ja nicht sehr brüderlich, aber doch gerade keine Todsünde.«

»Nein – aber eine Erbärmlichkeit!« sagte Edith mit unverschleierter Verachtung.

Raimar war im Grunde genau derselben Meinung. Er hatte es schon nach der ersten Begegnung gewußt, daß Maxls verwegene Hoffnungen nur Luftschlösser gewesen waren, die seine Eitelkeit baute, aber es war ihm peinlich, daß die junge Dame seinen Bruder jetzt ebenso klar durchschaute wie er selbst, und er versuchte abzulenken.

»Sie dürfen mit ihm nicht so streng ins Gericht gehen,« versetzte er. »Max ist noch jung, ein leichtsinniges Künstlerblut, ohne viel Gedanken und Ueberlegung. Die Sache war wohl nicht so schlimm gemeint.«

»Die Verleumdung eines Bruders, dem er alles verdankt? Sie opferten Ihre ganze Zukunft für ihn und Ihre Familie, und er –«

»Woher wissen Sie denn das, gnädiges Fräulein?« unterbrach Ernst, sie groß und erstaunt ansehend. Edith zuckte leicht zusammen, aber die unvorsichtigen Worte waren nun einmal gesprochen und konnten nicht zurückgenommen werden.

»Ich begreife,« sagte er mit tief aufquellender Bitterkeit. »Ihr Herr Vater hat Sie inzwischen aufgeklärt. Ich hätte das vorhersehen können.«

»Mein Vater spricht mit der höchsten Achtung von Ihnen,« fiel Edith ein. »Er sagte mir –«

»Daß ich Mitleid und Schonung verdiene – nicht wahr? Herr Marlow war in der That sehr gütig und rücksichtsvoll, ich bin nur leider eine so unglücklich angelegte Natur, daß ich nicht dankbar sein kann für solche Schonung und Großmut. Sie begreifen vielleicht nicht, daß es Menschen gibt, die von Fremden eher eine Beleidigung ertragen können als Mitleid. Ich bin damals geflohen vor diesem Mitleid, mit dem man sehr freigebig war – ich kann es noch heut nicht ertragen!«

Die Worte verrieten, wie der Mann gelitten hatte bei jener Begegnung, wenn er dabei auch äußerlich ruhig erschien. Es lag ein wilder, mühsam beherrschter Groll darin, ein verzweifeltes Aufbäumen gegen jenes wohlfeile, herablassende Mitleid, das eine stolze, leidenschaftliche Natur als Entehrung empfindet. Edith verstand das nur zu gut, sie hätte genau ebenso empfunden.

Sie schwiegen beide, die anderen mußten weit voraus sein, denn man hörte nicht einmal mehr ihre Stimmen. Es war still, ganz still in dem großen Park, der im lichten Maiengrün stand. Auch hier regte sich überall das Frühlingsleben, in den Gebüschen ringsum flüsterte, summte und zwitscherte es, und durch die Luft kam ein leises Wehen und Duften, das die beiden schmeichelnd umfing, als wolle es sie mahnen, die Schatten und das Weh des Menschenlebens doch nicht hineinzutragen in diese sonnige Lenzespracht.

Das schöne Mädchen freilich, das im vollen Sonnenglanze des Lebens stand, wußte noch nichts von jenen Schatten, die so schwer und düster auf der Stirn des Mannes dort lagerten, aber sie wußte jetzt, was auf ihm lastete. Der Sohn eines Betrügers! Das also hatte ihn fortgetrieben aus der Welt, wie ein todwundes Wild hatte er sich in diese Abgeschiedenheit und Dunkelheit geflüchtet und barg sich dort scheu vor fremden Augen. Ja, er hatte recht, es gibt Schicksale, die den Menschen wehrlos machen, gegen die er nicht kämpfen kann – und er stand unter einem solchen Verhängnis!

Das Schweigen hatte minutenlang gedauert, jetzt hob Edith langsam das Auge empor, aber der Ausdruck, der darin lag, war dem stolzen, kalten Mädchen bisher so fremd gewesen, wie die weichen, bebenden Laute, die jetzt von ihren Lippen kamen.

»Ich habe Ihnen damals wehe gethan, Herr Raimar. Ich weiß es jetzt, aber ich ahnte ja nicht, wem meine Worte galten und welche Wunde sie berührten. Wir sind an jenem Tage so herb und feindlich geschieden. Wollen wir das vergessen? Beide vergessen? Ich – ich bitte Sie darum!«

Sie bot ihm die Hand, da flammte es wieder auf in den Augen des Mannes, aber diesmal nicht in Zorn und Empörung. Ein heißer, leidenschaftlicher Strahl des Glückes brach daraus hervor, und wie ein sonniges Leuchten ging es über seine düsteren Züge. Er schloß die dargebotene Hand so fest in die seinige, als wolle er sie nie wieder loslassen und rief mit stürmisch aufwogender Empfindung: »Ich danke Ihnen, Edith!«

Edith! das sprach ein Mann, den sie zum zweitenmal sah in ihrem Leben, aber sie hatte kein Zeichen der Entrüstung, der Abwehr dafür. Sie war völlig im Bann eines bisher nie gekannten, nie geahnten Gefühls, das sie halb süß, halb beängstigend durchschauerte und das sie noch nicht einmal verstand.

Da ließen sich Schritte vernehmen, Raimar fuhr auf und trat rasch zurück, in der nächsten Minute bog auch schon Marlow um das Gebüsch.

»Ich suchte dich, Edith,« sagte er hastig. »Soeben ist Herr Ronald angekommen. Ich werde ihn einstweilen empfangen, du kommst wohl mit Wilma nach. Entschuldigen Sie, Herr Raimar, ein Freund, den wir heute erwarteten – bitte, lassen Sie sich nicht stören!«

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Er ging in ungewohnter Eile, und die beiden waren wieder allein, aber jetzt waren sie erwacht. Der Traum, der sie eben noch umfing, zerrann vor dem grellen Strahl der Wirklichkeit, der da so plötzlich hereinbrach, Ernst hatte mit keinem Laut, keiner Bewegung seine Ueberraschung verraten, aber er war bleich geworden, und es schien wie ein Eishauch über seine Züge hingegangen zu sein, so starr und kalt waren sie, als er jetzt das Wort nahm, »Sie erwarteten Herrn Ronald – hier in Gernsbach?«

»Ja, er wollte uns hier aufsuchen. Er hat meine Cousine in unserem Hause kennen gelernt und versprach schon damals den Besuch, wenn er nach Steinfeld käme.« Edith wußte selbst nicht, weshalb sie sich bemühte, diesen Besuch, der ja ein zufälliger sein konnte, so ausführlich zu erklären oder vielmehr zu verschleiern, aber sie sah, daß Ernst sich dadurch nicht täuschen ließ, obgleich er höflich zustimmend das Haupt neigte.

»Dann wollen wir nicht länger stören. Wir wollen ja ohnehin bald aufbrechen. Sie gestatten wohl, gnädiges Fräulein, daß ich mich empfehle, ich möchte den Wagen bestellen.«

»Sie stören durchaus nicht,« sagte Edith, gereizt durch die jähe Veränderung in seinem Wesen.

»Der Besuch des Herrn Ronald – gilt Ihnen!« ergänzte er mit herbem Nachdruck. »Frau von Maiendorf sagte mir schon früher, daß ihre Bekanntschaft mit dem Herrn eine sehr flüchtige sei, und Ihr Herr Vater kommt ja eben von Steinfeld – es bedarf da wirklich keiner Erklärung.«

»Ich wüßte auch nicht, wem ich sie zu geben hätte,« sagte die junge Dame, sich stolz emporrichtend. »Ihnen doch wohl nicht, Herr Raimar, mir sind uns ja völlig fremd.«

Das klang in herber Zurechtweisung und erinnerte ihn nachdrücklich daran, daß er sich vergessen hatte mit jener Andeutung. Aber Ernst Raimar war jetzt nicht in der Stimmung, eine solche Zurechtweisung hinzunehmen, jetzt richtete auch er sich empor und gab Blick und Ton genau ebenso zurück.

»Gewiß, gnädiges Fräulein, und als ein Fremder habe ich mich auch damals zu einer Erklärung hinreißen lassen, die nie ausgesprochen worden wäre, hätte ich geahnt, daß Sie in näheren Beziehungen zu Herrn Ronald stehen. Ich habe mich offen als sein Feind bekannt und kann und will das nicht zurücknehmen, aber ich begreife vollkommen, daß ich damit das Recht verwirkt habe, Ihnen wieder nahen zu dürfen. Wir sind nun einmal vom Schicksal bestimmt, uns feindlich gegenüber zu stehen – also bleiben wir dabei!«

Er verneigte sich tief und fremd und ging. Edith stand regungslos und sah ihm nach.

Er erriet oder ahnte doch zweifellos die Bedeutung dieses Besuches, den sie während der letzten halben Stunde – vergessen hatte. Ja, sie hatte es in der That vergessen, daß der Mann, dem sie durch den Vater ihre Hand bereits zugesagt hatte, auf dem Wege nach Gernsbach war. Er kam nun, um auch von ihr das Jawort zu fordern, und sie dachte ja auch nicht daran, es zu versagen – aber warum mußte er denn gerade in dieser Stunde kommen! Felix Ronald war inzwischen von seinem künftigen Schwiegervater empfangen und in den Salon geleitet worden, wo sie die Damen erwarteten. Marlow hatte ihm bereits mitgeteilt, daß Besuch aus Heilsberg da sei, den man habe annehmen müssen, hier in Gernsbach könne man sich ja leider nicht verleugnen lassen.

»Warum denn nicht?« fragte Ronald, der die Gegenwart Fremder sehr unliebsam zu empfinden schien. »Wer wird denn Umstände machen mit diesen Heilsberger Kleinstädtern, wenn sie stören, wie gerade heut! Man schickt sie einfach fort.«

»Meine Nichte hat aber manche Beziehung in der Stadt,« warf der Bankier ein. »Da war doch einige Rücksicht geboten. Uebrigens wollen die Herren in einer Stunde wieder abfahren, und dann sind wir ganz unter uns.«

Die Beschwichtigung nützte nicht viel und wurde nur mit einem ungeduldigen Achselzucken aufgenommen, der neue Gast war es offenbar nicht gewöhnt, auf andere Rücksicht zu nehmen, während er für sich selbst die höchste Rücksicht forderte.

Felix Ronald war nicht mehr jung, etwa vierzig Jahre und konnte nicht einmal für stattlich gelten, denn seine Gestalt erreichte kaum die Mittelgröße. Trotzdem war seine äußere Erscheinung interessant, ja bedeutend, denn die Energie, welche die ganze Laufbahn dieses Mannes kennzeichnete, prägte sich unverkennbar darin aus. Ein scharfgezeichnetes Gesicht, mit hoher Stirn, stahlgraue, durchdringende Augen, die alles sahen, alles erfaßten, eine Haltung voll hochmütigen Selbstbewußtseins und doch nichts von der prahlerischen Art des gewöhnlichen Emporkömmlings. Eine gewöhnliche Natur war dieser Ronald nicht, das sah man auf den ersten Blick, aber es lag ein Zug nervöser Ueberreizung in seinem ganzen Wesen. Es verriet die fieberhafte Rastlosigkeit eines Menschen, der die Ruhe überhaupt nicht kennt, dessen Geist unaufhörlich arbeitet an neuen Plänen und Entwürfen.

»Edith und meine Nichte werden sogleich hier sein,« hob Marlow wieder an. »Was übrigens den Besuch aus Heilsberg betrifft, so ist er Ihnen nicht ganz fremd. Sie haben ja wohl den jungen Maler Max Raimar in meinen Salons gesehen?«

Ronald war an die Glasthür getreten und blickte zerstreut auf die Terrasse hinaus.

»Ich glaube ja,« sagte er nachlässig. »Ein hübscher, unbedeutender Junge, soviel ich mich erinnere. Eine Art Schützling von Fräulein Edith, die ja überhaupt die Kunst protegiert.«

»Ganz recht, aber auch Ernst Raimar ist hier.«

»Wer?«

»Der ältere Bruder, der jetzt als Notar in Heilsberg lebt. Sie haben ihn ja doch auch gekannt.«

Ronald hatte sich jäh umgewandt, als der Name genannt wurde, und eine sichtlich unangenehme Empfindung malte sich in seinen Zügen, als er entgegnete: »O ja! Der junge Herr hat mir damals genug zu schaffen gemacht, als die Katastrophe im Hause seines Vaters eintrat. Er wollte die Sache durchaus ›aufklären‹, wie er es nannte – als ob sie nicht klar genug gewesen wäre – und als ich auf seine tollen Hirngespinste von Diebstahl der Depots und dergleichen nicht einging, gerieten wir ernstlich aneinander. Er verstieg sich einmal sogar bis zur Beleidigung gegen mich – ich habe ihm das heute noch nicht vergessen!«

Die Worte klangen in voller Gereiztheit, aber Marlow schüttelte ernst den Kopf.

»Nun, einem Sohn muß man es schon verzeihen, wenn er an die Schuld des Vaters nicht glauben will; ihm kam der Schlag ja ganz unerwartet. Jedenfalls werden Sie es nicht vermeiden können, ihm heut zu begegnen.«

»Meinetwegen, wenn er es nicht vermeidet!« sagte Ronald hochmütig, aber in diesem Augenblick traten die Damen ein, denen Major Hartmut und Max folgten, das machte dem Gespräch ein Ende.

Die Begrüßung konnte selbstverständlich noch keine vertrauliche sein, das entscheidende Wort sollte ja erst gesprochen werden, man blieb also in den Schranken des gewohnten Verkehrs, Hartmut berührte mit keiner Silbe die einstige Bekanntschaft im Raimarschen Hause und ließ sich als Fremder vorstellen, und Ronald wollte sich offenbar jener früheren Begegnung nicht mehr erinnern, aber er war immerhin artig und verbindlich dem Offizier gegenüber. Dagegen machte er mit Max nicht die geringsten Umstände, dieser wurde mit einem kurzen Kopfnicken und einem sehr herablassenden: »Ah, Herr Raimar, wie geht es Ihnen?« abgefertigt und die Antwort wurde gar nicht abgewartet. Ernst schien sich draußen im Parke verspätet zu haben, das Gespräch war schon im vollen Gange, als er endlich eintrat.

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Ediths Augen richteten sich gespannt auf die beiden Männer, deren Begegnung ihr ein Rätsel lösen sollte, es wurde auch teilweise gelöst, denn schon in der nächsten Minute wußte sie, daß die Feindschaft eine gegenseitige war.

Wilma stellte Herrn Notar Raimar vor, und Ronald, der dessen Eintritt kaum zu bemerken schien, mußte nun notgedrungen Notiz von ihm nehmen. Er wandte sich um, mit einer sehr nachlässigen Bewegung und zweifellos in der Absicht, den älteren Bruder mit derselben beleidigenden Nichtachtung zu behandeln, wie vorhin den jüngeren, aber hier scheiterte der Versuch völlig.

Ernst Raimar stand ihm gegenüber in einer so eisigen Haltung, mit einem so unnahbaren Stolze, daß er sich wenigstens zur äußeren Form der Höflichkeit herbeiließ. Er grüßte kalt und gemessen, und der Gruß wurde ebenso förmlich erwidert, aber dabei begegneten sich die Blicke der beiden Männer mit einem Ausdruck, daß Edith unwillkürlich an zwei sich kreuzende Schwerter denken mußte. Sprühender Haß auf der einen Seite, drohendes Aufflammen auf der anderen! Das war keine Gegnerschaft, wie zwei Todfeinde standen sich die beiden gegenüber, Auge in Auge und maßen einander, wortlos, aber als gelte es einen Kampf auf Leben und Tod.

Das dauerte freilich nur Sekunden, und zu Worten kam es überhaupt nicht, denn Raimar wandte sich sofort an die Frau vom Hause.

»Wir möchten uns Ihnen empfehlen, gnädige Frau, wir müssen aufbrechen. – Arnold, der Wagen ist bereits vorgefahren.«

Der Major sah etwas überrascht aus bei dieser Ankündigung, man hatte ja erst in einer Stunde fahren wollen, aber er stimmte sofort zu. Marlow dagegen atmete erleichtert auf; nach dieser Begegnung hätte sich ein längeres Zusammensein allerdings sehr unerquicklich gestaltet.

Der Abschied war ziemlich kurz, man bedauerte den schnellen Aufbruch der Gäste, der im Grunde allen erwünscht war, machte aber keinen Versuch, sie zurückzuhalten. Nur Klein-Lisbeth war sehr betrübt, daß ihr Freund schon fort wolle und hing sich schmeichelnd an ihn mit der Bitte, doch noch zu bleiben. Er versicherte lachend, die Aufmerksamkeit der jungen Dame sei ihm unendlich schmeichelhaft, aber fünf Minuten später saß er bereits mit den anderen im Wagen.

Anfangs herrschte ein unbehagliches Schweigen. Hartmut lehnte verstimmt in der einen Ecke des Wagens, Ernst stumm und düster in der anderen, während Max mit einem sehr langen Gesichte dasaß. Erst als man das Haus und den Park hinter sich hatte, fing der Major an.

»Das war ja eine nette Ueberraschung! Was zum Kuckuck hat dieser Ronald in Gernsbach zu suchen? Wir waren gerade mitten in der vollsten Gemütlichkeit. Frau von Maiendorf lachte mit ihrer Lisbeth um die Wette – sie hat etwas so kindlich Frohes, wenn sie lacht – und sogar der steifleinene Bankier wurde ganz menschlich vergnügt bei einigen lustigen Kriegsgeschichten, die ich zum besten gab. Da wird der ›Nabob‹ gemeldet und sprengt wie ein böser Geist uns alle auseinander! – Was soll denn das alles bedeuten?«

»Daß ich kein längeres Zusammensein mit dem Herrn Felix Ronald wünschte!« sagte Ernst kurz, aber mit vollster Schärfe.

Hartmut zuckte die Achseln.

»Nun ja, ich begreife, daß dies Zusammentreffen mit eurem ehemaligen Prokuristen und jetzigen Milliardenbesitzer dir nicht gerade angenehm war, aber deshalb brauchten wir doch nicht so über Hals und Kopf davonzugehen. Was soll Frau von Maiendorf denn davon denken! – Maxl, du bist ja so merkwürdig still geworden, was sagst du eigentlich zu der Geschichte?«

Max war nicht bloß verstimmt, sondern tief beleidigt. Anstatt im Vordergrunde zu stehen, wie er sich geschmeichelt, war er heut überall beiseite geschoben worden und hatte das natürlich sehr übel genommen.

»Ich sage, daß dieser Besuch sehr eigentümlich ist! Herr Ronald läßt sonst nur wenigen Auserwählten die Gnade seines Erscheinens zu teil werden, für gewöhnlich empfängt er, und wenn ihm das gerade nicht paßt, läßt er die Ersten und Vornehmsten abweisen. Bei den Marlows war er freilich oft, und jetzt fährt er vier Stunden von Steinfeld hierher und scheint tagelang zu bleiben, denn ich hörte, wie Frau von Maiendorf dem Diener befahl, den Koffer des Herrn nach dem Fremdenzimmer zu tragen. Ihr gilt das natürlich nicht, Ronald kennt sie ja kaum – man kommt dabei wirklich auf ganz eigene Gedanken!«

»Oho, bist du eifersüchtig?« rief Hartmut lachend. »Übrigens könntest du recht haben, mir kam die Begrüßung auch etwas verdächtig vor. Da heißt es tapfer sein, Maxl! Vorwärts! Schlag die Milliarde aus dem Felde und sichere dir die Million. Dir ist das ja eine Kleinigkeit.«

»Die Sache ist durchaus nicht scherzhaft, Herr Major,« versetzte Max in gereiztem Tone. »Wenn ein Ronald als ernstlicher Bewerber auftritt, hat ein anderer kaum noch Hoffnung neben ihm, denn da entscheidet natürlich nicht die Persönlichkeit oder das Talent. Da triumphiert einzig das schnöde Geld – erbärmlich!«

»Ja, das Geld ist immer erbärmlich, wenn man es nicht haben kann,« bemerkte der Major philosophisch. »Bei dir ist übrigens diese Verachtung des schnöden Reichtums ganz neuen Datums, früher dachtest du sehr hochachtungsvoll darüber. – Was meinst du, Ernst, glaubst du an derartige Pläne? Marlow ist ja selbst reich, da wird seine Tochter sich doch nicht verkaufen um des Geldes willen.«

»Warum denn nicht?« sagte Ernst mit schneidender Bitterkeit. »Vielleicht reizt sie weniger das Gold als die Macht, die es verleiht. Es beugt sich ja alles vor diesem Ronald, diesem Götzenbilde des Mammon! Warum sollte es da ein Mädchen nicht reizen, sich an seine Seite zu stellen und sich auch anbeten zu lassen!«

»Nun, ihr seid ja heut beide in einer liebenswürdigen Stimmung!« brach Hartmut ärgerlich aus. »Was hast du denn eigentlich, Ernst? Du hast doch nicht auf die Millionärin spekuliert und benimmst dich gerade so wütend wie der Maxl. Mir ist es höchst gleichgültig, wen dieser Nabob mit seiner Hand und seinem Mammon beglückt, aber ich habe mich tagelang auf diese Fahrt nach Gernsbach gefreut, und nun –« er brach plötzlich ab und biß sich auf die Lippen, als habe er sich übereilt, aber weder Raimar noch Max achteten darauf. Sie hingen schweigend ihren eigenen Gedanken nach, und so lehnte sich denn der Major zurück und schwieg als der Dritte im Bunde.

In Gernsbach war mit der Abfahrt der Gäste der Zwang gefallen, den man sich vor ihnen auferlegen mußte, und Marlow stellte die Geduld seines künftigen Schwiegersohnes auf keine harte Probe. Nachdem man noch eine Viertelstunde geplaudert hatte, nahm er die kleine Lisbeth an der Hand, um mit ihr draußen auf der Terrasse die Tauben zu füttern. Wilma folgte ihnen, und damit war die gewünschte Gelegenheit zur Erklärung gegeben.

Edith und Ronald waren im Salon zurückgeblieben, aber ein Fremder hätte schwerlich erraten, daß es hier eine Brautwerbung galt. Da gab es kein plötzliches Verstummen auf der einen Seite, kein Erröten und keine Verwirrung auf der anderen, wie wohl sonst bei einem ersten Alleinsein, aber hier handelte es sich ja auch um keine romantische Scene. Die junge Dame, die in ihrer gewohnten kühlen Haltung auf dem Sofa saß, sollte einen Antrag entgegennehmen, den der Vater in ihrem Namen bereits angenommen hatte, und der Mann ihr gegenüber wußte es ja, daß er ein Jawort erhalten würde. Die Sache vollzog sich so durchaus korrekt und nüchtern, wie gewöhnlich solche Verbindungen in der großen Welt.

Noch vor wenigen Stunden hatte Edith dieser Unterredung so ruhig, so sicher und hochbefriedigt entgegengesehen; äußerlich schien sie das ja auch jetzt zu sein, und doch lag es auf ihr wie ein beklemmender Druck, wie eine rätselhafte Angst vor dieser doch lang erwarteten Entscheidung. Für den Augenblick freilich sprachen sie noch von gleichgültigen Dingen.

»Sie wollen im Sommer nach der Schweiz?« fragte Ronald. »Herr Marlow sagte mir schon, daß er einen längeren Aufenthalt in den Berner Alpen beabsichtige. Wer sich doch auch so losreißen könnte von den Sorgen und Arbeiten des Tages!«

»Werden Sie sich denn im Sommer gar keine Erholung gönnen?« fragte Edith.

»Ich kann nicht. Wer im Mittelpunkte so vieler Unternehmungen steht wie ich, der wird schließlich ein Sklave seiner eigenen Schöpfungen. Man muß immer auf dem Platze sein, wenn man Herr bleiben will über all dies Getriebe. Ich habe keine Zeit zur Erholung.«

»Nein, Sie haben nur Zeit für die Arbeit, wie es scheint.«

»Bis jetzt, ja,« sagte Ronald langsam. »Aber nun möchte ich endlich auch Zeit für – etwas anderes haben.«

Er hielt inne, als erwarte er eine Antwort; als diese aber nicht kam, erhob er sich und trat an die Seite der jungen Dame.

»Sie haben mir erlaubt, nach Gernsbach zu kommen, und nun komme ich mit einer Frage, einer Bitte zu Ihnen, die Sie vielleicht schon erraten haben. Ihr Vater hat mir eine Hoffnung gegeben, deren Erfüllung bei Ihnen allein steht, und ich möchte nun mein Urteil von Ihren Lippen hören. Ich biete Ihnen meine Hand, Edith – darf ich hoffen?«

Es war ein Antrag in aller Form, in klaren, kühlen Worten, aber in dem Ton lag eine mühsam verhaltene Erregung, und die Augen des Bewerbers hingen mit verzehrender Unruhe an dem schönen Mädchen, das mit der Antwort zögerte.

Da war sie wieder, die rätselhafte Angst, die sich vorhin so dunkel und beklemmend regte. Jetzt im Augenblick der Entscheidung flammte sie auf mit jäher Gewalt und schloß die Lippen, die das bindende Wort sprechen sollten, sie blieben stumm.

»Edith, ich warte – ich bitte!« mahnte Ronald. Das kam aus dem Munde eines Mannes, der jetzt nur noch zu befehlen gewohnt war. Hier lag wirklich eine Bitte in seiner Stimme, und hier gab es ja überhaupt keine Wahl mehr. Mit ihrer ganzen Willenskraft entriß sich Edith jenem beklemmenden Druck und warf all die widerspruchsvollen Empfindungen hinter sich.

»Wenn mein Vater Ihnen bereits Hoffnung gegeben hat, so werde ich sie wohl bestätigen müssen,« sagte sie mit einem Lächeln. »Nun denn ja – hier ist meine Hand!«

.

Sie wollte ihm die Hand reichen, aber da fühlte sie sich plötzlich von seinen Armen umschlungen, an seine Brust gerissen, fühlte heiße, wilde Küsse auf ihrem Antlitz, auf ihren Lippen. Es war, als breche aus dem Innern des Mannes urplötzlich eine Flamme hervor, die über sie hinwehte und sie versengte mit ihrem glühenden Atem. Bestürzt, halb betäubt duldete sie das einige Sekunden lang, aber schon in der nächsten Minute riß sie sich los und stieß ihn von sich.

»Herr Ronald!«

Das klang nicht angstvoll, sondern entrüstet: als gelte es eine Beleidigung abzuwehren. Ronald zuckte zusammen und trat einen Schritt zurück.

»Was soll das, Edith?« fragte er mit drohender Heftigkeit. »Ich dächte, Sie hätten sich soeben zu meiner Braut erklärt!«

Edith stand bleich mit bebenden Lippen da. Sie war einer unwillkürlichen, halb unbewußten Regung gefolgt, ohne zu wissen, was sie damit verriet. Ronald sah sie noch immer unverwandt an, und ein seltsamer Blick schoß aus seinen Augen.

»Ist das Ihre Antwort auf die erste Umarmung des Bräutigams? Ich meine doch, ich hätte jetzt ein Recht dazu. Aber das sah ja aus wie – wie Widerwille!«

»Sie haben mich erschreckt mit diesem stürmischen Aufflammen,« sagte Edith leise.

»Erschreckt? Sie sind doch sonst nicht schreckhaft! Welche Zeremonien erwarteten Sie denn bei unserer Verlobung? Sollte ich Ihnen nach allen Regeln der Etikette die Hand küssen und für die gütige Zusage danken? Darf ich meine Braut nicht in die Arme schließen?«

Er hatte recht mit seinem Vorwurf, Edith fühlte es und machte den Versuch, den Eindruck zu verwischen.

»Sie tragen selbst die Schuld an meiner Ueberraschung,« entgegnete sie. »Ich glaubte nicht, daß Sie überhaupt leidenschaftlich empfinden könnten, Sie zeigten sich mir bisher von einer ganz anderen Seite.«

»Bisher! Da trafen wir uns nur im Salon, vor Fremden, da zeigt man nicht sein wahres Gesicht. Die Welt hält mich freilich für eine Art Rechenmaschine, die nur Zahlen kennt – haben Sie das auch gethan?«

Es klang wie bitterer Hohn in seinen Worten, und doch bebten sie in unterdrückter Leidenschaft, als er fortfuhr: »Da sind Sie doch im Irrtum gewesen. Der kluge, kühle Geschäftsmann, der nur rechnet und abwägt, das ist Ihr Vater, Edith. Ich bin es nicht, bin es nie gewesen, und damit erzwingt man auch nicht eine Laufbahn wie die meinige, die Erfolge eines ganzen Menschenlebens in wenigen Jahren! Sie kennen ihn freilich nicht, den dunklen, dämonischen Drang, der in manchen Naturen liegt und sie rastlos vorwärts treibt, durch alle Hindernisse, über alle Schranken hinweg. Ich habe diesen Dämon schon gekannt, als ich noch arm und unbekannt war, und er allein hat mich emporgetragen. Ich wollte ihm nicht folgen, ich mußte. Ihr Vater hat mir oft gesagt: ›Sie rechnen zu kühn! Das sind keine Rechnungen, Wagnisse sind es!‹ Aber sie glücken immer, wenn man nur den Mut hat, sich ganz und voll dafür einzusetzen, und die Energie, sie durchzuführen bis ans Ende. Schreckt Sie das, Edith? Ich glaubte, Sie würden es begreifen!«

»Ja, ich begreife es,« sagte Edith, deren Augen jetzt an seinen Lippen hingen. Das war in der That eine Sprache, die sie verstand, die sie mächtig fesselte, die Sprache des stolzen Selbstbewußtseins, des rücksichtslosen Wagemutes.

Ronald sah das, und sein beleidigter Stolz hielt nicht mehr stand, die Leidenschaft für das schöne Mädchen siegte. Er trat langsam wieder an ihre Seite, und jetzt sank seine Stimme zu einem heißen Flüstern herab. »Die Welt nennt das unerhörtes Glück, Ich bin nicht glücklich dabei gewesen und habe auch nicht viel danach gefragt, denn bei mir hieß die Losung immer nur: Vorwärts! Aufwärts! Da lernte ich Sie kennen, Edith, und da wurde es anders. Sie wollen ja die Meine werden, aber ich verlange mehr als dies kühle, förmliche Ja, mit dem Sie sich vorhin zu meiner Braut erklärten, weit mehr. In der ruhelosen Hetzjagd meines Lebens habe ich nie Zeit gehabt für das Glück, aber jetzt fordert es sein Recht, gewaltsam, unwiderstehlich. Willst du es mir geben? Du kannst es, du allein!«

Das war der volle, echte Ton der Leidenschaft, und Edith hätte kein Weib sein müssen, wäre sie gleichgültig dabei geblieben. Sie war geblendet, hingerissen, und all die warnenden, widerstreitenden Empfindungen, mit denen sie vorhin gekämpft, gingen unter darin. Mit einem tiefen Atemzuge richtete sie sich empor.

»Ich habe Sie bisher noch gar nicht gekannt, Ronald –«

»Felix!« unterbrach er sie. »Laß mich doch endlich meinen Namen hören von deinen Lippen!«

»Felix,« wiederholte sie leise. »Wir müssen es ja erst lernen, einander zu verstehen!«

Er schloß sie in die Arme, nicht so wild und stürmisch wie vorhin, er fürchtete offenbar, sie wieder zu verletzen. Aber diesmal entzog sich Edith nicht seiner Umarmung. Marlow war inzwischen draußen auf der Terrasse allein geblieben. Wilma hatte sich mit ihren Hausfrauenpflichten entschuldigt. Sie wollte noch einige Anordnungen für den Abend treffen und nahm ihre Kleine mit sich. Der Bankier wandelte langsam auf und nieder und schien sich nur dem behaglichen Genuß seiner Zigarre hinzugeben. Aber sein Blick streifte im Vorüberschreiten öfters die offen gebliebene Glasthür, und jetzt mochte er wohl bemerkt haben, daß da drinnen alles in erwünschter Ordnung war. Er warf die Zigarre weg und trat in den Salon.

Ronald führte ihm seine Braut entgegen, und nun folgten die üblichen Umarmungen, die Glückwünsche und das erste vertraute Zusammensein mit dem neuen Schwiegersohn. Aber hier fehlte das erste süße Geplauder eines Brautpaares mit der nun offen hervorbrechenden Zärtlichkeit des Mannes und der noch halb scheuen Hingebung des Mädchens. Ronald konnte wohl leidenschaftlich, aber nicht zärtlich sein und Edith war überhaupt nicht angelegt für weiche Hingebung. Auch Marlow bewahrte seine kühle Gelassenheit, die ihm zur zweiten Natur geworden war, obgleich er mit dieser Verlobung seinen höchsten Wunsch erfüllt sah. Nach fünf Minuten sprachen die drei bereits von sehr realen Dingen.

»Verzeih, daß ich so spät kam,« sagte Felix. »Ich wollte natürlich mit deinem Vater kommen, wurde aber im letzten Augenblick noch zurückgehalten.«

»Edith kennt den Grund bereits,« warf der Bankier ein. »Ich sagte ihr schon von der Depesche des Ministers, der sofortige Antwort verlangte.«

»Ja, und eine sehr ausführliche,« bestätigte Ronald. »Ich habe erst Berichte diktieren, Ergänzungen hinzufügen müssen, und das hat ein paar Stunden gedauert. Aber du wirst die Verspätung entschuldigen, Edith, sie ging zum Teil auch dich an.« »Mich?« fragte Edith, die noch immer mit einem gewissen Zögern sein Du erwiderte. »Ich verstehe dich nicht.« –

»Nun, du wirst doch künftig meinen Namen tragen, und der spielt auch eine Rolle dabei. Hast du etwas dagegen, wenn dieser lautet: Felix Freiherr von Ronald?«

Die junge Dame fuhr in lebhafter Ueberraschung auf und blickte erst ihren Verlobten, dann den Vater an, dessen Lächeln zeigte, daß er bereits unterrichtet war.

»Man will dir den Adel erteilen?« rief sie.

»Man will das nun gerade nicht,« sagte Ronald mit einem spöttischen Auflachen. »Vermutlich verursacht der Entschluß einige Beklemmung an maßgebender Stelle, trotzdem wird man sich dazu bequemen müssen. Es handelt sich um gewisse finanzielle Schwierigkeiten bei der neuen Anleihe, die man möglichst schnell heben möchte. Ich habe die Fäden zum Teil in der Hand und kann nötigenfalls einen Druck auf die großen Banken und die Berliner Finanzwelt ausüben. Wenn ich mit meinem ganzen Einfluß eintrete, geben sie voraussichtlich ihre Zurückhaltung auf und folgen.«

»Sie werden zweifellos folgen,« stimmte Marlow bei. »Wir haben hinreichend vorgearbeitet, und das wissen die Herren da oben sehr genau.«

Edith hörte mit lebhafter Spannung zu. Als Tochter ihres Vaters war sie vertraut genug mit diesen Dingen, um sie zu verstehen; jetzt fragte sie: »Du hast den Adel gefordert?«

»Nicht direkt, so etwas wird überhaupt nicht gefordert und ausgesprochen, aber man versteht sich trotzdem. Ich habe meine Wünsche hinreichend angedeutet und ebenso diskret die Zusage erhalten. Die Sache ist abgemacht, muß aber einstweilen noch Geheimnis bleiben. Und nun begreifst du vielleicht meinen Wunsch, daß auch unsere Verlobung geheim bleibt bis zum Herbst – dann bringe ich meiner Braut die Freiherrnkrone als Morgengabe mit!«

Die Augen der jungen Braut blitzten in stolzer Genugthuung. Das war der erste glanzvolle Gruß der Zukunft, die ihrer wartete, und sie war viel zu sehr ein Kind der großen Welt, um ihn nicht als einen Triumph zu empfinden.

»Wie du willst, Felix,« entgegnete sie lächelnd. »Ich füge mich ganz deinen Wünschen, aber weshalb hast du denn heut schon gesprochen?« »Weil du den ganzen Sommer fern sein wirst, und wer weiß, was dir da alles naht und dich umschwärmt. Ich hatte Furcht davor, Edith, ich wollte mir deine Hand sichern vor unserer Trennung. In drei bis vier Monaten wird jene Angelegenheit erledigt sein und damit auch die meine. Ich will erst als Felix von Ronald öffentlich um dich werben!«

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»Du kannst immerhin darauf stolz sein, mein Kind,« mischte sich der Bankier ein, dem man selbst den geschmeichelten Stolz und die hohe Befriedigung ansah. »Solch eine Standeserhöhung ist selten genug bei uns.«

»In unserem schwerfälligen, pedantischen Deutschland allerdings,« sagte Ronald mit herbem Spott. »Da gilt ja nicht der Mann und seine Erfolge, da fordert man erst noch alle möglichen ›Garantien‹ für die Zukunft. Wenn man mich nicht so notwendig brauchte! Ich weiß, wie hoch ich diese ›Anerkennung‹ anzuschlagen habe.« –

»Gleichviel, der Welt gegenüber behält sie ihre volle Geltung,« erklärte Marlow gelassen. »Aber nun werde ich Wilma holen, sie will dir doch auch Glück wünschen, Edith. Sie wird freilich nicht sehr überrascht sein, denn sie kennt den Grund Ihres Besuches, Felix.« Er stand auf und verließ den Salon, Edith wandte sich zu ihrem Verlobten.

»Du scheinst gar keinen so großen Wert auf diese Standeserhöhung zu legen,« bemerkte sie.

»Doch, den allergrößten, aber Freude habe ich nur um deinetwillen daran. Mich soll es nur decken gegen all die feindseligen Einflüsse – doch das geht mich allein an. Laß mir die Arbeit und die Sorge, dich soll nur der Glanz umgeben!«

»Das heißt, ich soll nur ein glänzendes Schmuckstück deines Hauses sein, und der Ernst deines Lebens soll mir ferne bleiben? Felix, du kennst mich nicht, wenn du mir eine solche Rolle zumutest.«

Das klang vorwurfsvoll, aber es war nicht der zärtliche Vorwurf einer Braut, die ihren Anteil fordert an den Sorgen des künftigen Gatten, und der Strahl, der eben wieder heiß aufflammte in den Augen des Mannes, erlosch vor den kühlen, ernsten Worten.

»Ich weiß, daß du mir mehr sein kannst,« sagte er, sich zur Ruhe zwingend. »Aber es ist im Grunde nichts Neues, was du hören wirst. Die alte Geschichte von Neid und Mißgunst, von Haß gegen den ›Emporkömmling‹, der sie alle überflügelt hat. Ich habe nie viel danach gefragt, aber jetzt regt es sich an allen Ecken und Enden, jetzt wird überall gewühlt und gehetzt gegen mich, im geheimen natürlich. Offen wagt es keiner, gegen mich aufzutreten, und ich wollte es auch keinem raten, aber diese Maulwurfsarbeit ist gefährlicher als ein offener Kampf. Es mußte irgend etwas geschehen, um dem Gesindel da unten Respekt beizubringen. Das Adelsdiplom gilt in unseren Kreisen noch immer für die höchste Auszeichnung, das gibt man nicht irgend einem glücklichen Spekulanten, der heut der Held des Tages ist und morgen verschwindet, und das gibt mir auch den nötigen Rückhalt nach oben hin. Felix Ronald konnte man fallen lassen, wenn der Wind einmal aus anderer Richtung weht – den Freiherrn von Ronald nicht! Den hat man in die eigenen Kreise aufgenommen und muß diese Wahl vertreten.«

Edith folgte mit steigender Betroffenheit seinen Worten. Sie hatte auch nur den Glanz gesehen in dieser meteorartigen Laufbahn, und nun blickte sie in eine dunkle Tiefe, wo sich allerlei feindselige Gewalten regten. »Ich habe nicht gewußt, daß du auf so schwankendem Boden stehst,« sagte sie leise.

»Pah! Ein Schiff auf der hohen See schwankt immer. Das kümmert den Kapitän nicht, aber er sichert es gegen den Sturm. Ich wußte, was ich that, als ich nicht den einfachen Adel, sondern den Freiherrn forderte. Ob widerwillig zugestanden oder nicht, es ist eine Thatsache, und sie setzt Beziehungen und Verbindungen voraus, die meine Gegner zum Schweigen bringen werden. Jetzt wagen sie sich nicht mehr an mich!«

Er sprach mit hochmütigem Siegesbewußtsein, aber die junge Braut schwieg. Ihre anfängliche freudige Genugthuung war vorbei, seit sie wußte, wie jene »Auszeichnung« errungen war und welchem Zweck sie dienen sollte. Es war überhaupt ein so seltsames Gespräch in der ersten Stunde der Verlobung. Da war nur von Haß und Feindschaft die Rede, von Kämpfen, die man bestehen, Stürmen, gegen die man sich sichern müsse. Edith dachte an die flammenden, drohenden Augen, die sie vorhin gesehen hatte, und fast unwillkürlich kam ihr die Frage auf die Lippen: »Felix, was liegt zwischen dir und diesem Raimar?«

Ein schnelles, blitzähnliches Aufzucken ging über die Züge Ronalds bei dieser jähen, unvermittelten Frage, aber schon in der nächsten Minute zeigten sie nur noch einen kalt verächtlichen Ausdruck.

»Raimar?« wiederholte er, als müsse er sich erst besinnen. »Ah so, du meinst den Notar von Heilsberg! Und was zwischen uns liegt, willst du wissen? Das weiß ich doch nicht, ich gebe mich nicht ab mit solchen untergeordneten Persönlichkeiten. Aber du scheinst ihn ja fast auf eine Stufe mit mir zu stellen – recht schmeichelhaft in der That!«

»Du kanntest ihn aber doch,« beharrte Edith, ohne sich durch den wegwerfenden Ton beirren zu lassen. »Er benahm sich eigentümlich feindselig bei der Begegnung.«

»Natürlich kenne ich ihn.« Ronald zuckte nachlässig die Achseln, »Ich habe ja meine kaufmännische Laufbahn im Bankhause seines Vaters begonnen. Das wußtest du nicht? Es ist auch nicht der Mühe wert! Er hat damals Vermögen und Lebensstellung eingebüßt und es überhaupt zu nichts gebracht in der Welt, sonst würde er nicht in Heilsberg sitzen. Ich bin emporgekommen – Grund genug für solche Menschen zum ohnmächtigen Groll und Haß gegen den einstigen Untergebenen, der jetzt so hoch über ihnen steht. Ich finde das im Grunde natürlich, aber man nimmt doch nicht weiter Notiz von solchen Erbärmlichkeiten.«

»Scheint dir dieser Raimar so verachtungswert?« fragte Edith langsam. »Vielleicht unterschätzest du ihn doch. Furchtsam wenigstens ist er nicht, es lag ja fast eine Herausforderung in seiner Haltung, und du – ließest das hingehen.«

Ronald streifte mit einem raschen, funkelnden Blick seine Braut, dann lachte er laut auf, aber es war ein grelles, nervöses Lachen.

»Du hast ja eine unheimlich scharfe Beobachtungsgabe! Hast du das alles herausgefunden in den paar Minuten, wo der Herr Notar uns hier mit seiner Gegenwart beehrte?«

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»Sie bestätigten mir nur, was ich bereits wußte, daß er dein Feind ist. Ich habe es aus seinem eigenen Munde gehört.«

Die Wirkung dieser unvorsichtigen Worte war eine ganz ungeahnte. Ronald fuhr auf, als habe er einen Schlag in das Gesicht erhalten. Er faßte plötzlich die Hand seiner Braut und preßte sie mit so wildem Druck, daß es schmerzte.

»Das hat er gewagt, dir zu sagen?« stieß er hervor. »Und du hast das angehört? Was hat er dir gesagt; antworte, Edith! Was hat er angedeutet?«

Mit einer energischen Bewegung machte Edith ihre Hand frei und trat zurück. »Du bist außer dir, Felix!« rief sie, mehr entrüstet als erschrocken über diesen wilden Ausbruch.

Die scharfe Mahnung brachte ihn zur Besinnung.

»Du hast recht, ich bin überreizt. Das kommt von der Überarbeitung, ich habe in der letzten Zeit ja immer die Nacht zum Tage machen müssen und kaum ein paar Stunden Schlaf gehabt, das rächt sich jetzt. Aber ich muß wissen, was da gesprochen worden ist. Wie kamst du überhaupt zu einem solchen Gespräch mit Raimar? Du sahst ihn ja zum erstenmal?«

Die Worte klangen ruhiger, aber in seinem Blick lag noch immer die fieberhafte Unruhe. Es vergingen einige Sekunden, bevor Edith antwortete, es warnte sie etwas in ihrem Innern, jener ersten Begegnung im Walde zu erwähnen, so umging sie denn die Antwort.

»Er wäre wohl nicht nach Gernsbach gekommen, wenn er geglaubt hätte, dich hier zu finden,« erwiderte sie. »Wir sprachen von Steinfeld, natürlich auch von dem Herrn der Steinfelder Werke, und da verriet er seine Feindschaft gegen dich. Er hatte ja keine Ahnung, in welchen Beziehungen wir stehen.«

Ronald stützte die Hand auf die Lehne des Sessels, an dem er stand, aber seine Augen hafteten unverwandt auf dem Gesichte seiner Braut, als wollte er darin lesen.

»So? Also nur ein gleichgültiges, zufälliges Gespräch?« fragte er endlich. »Gleichviel, ich bitte dich, dafür zu sorgen, daß sich das nicht wiederholt. Ihr wollt zwar in der nächsten Woche abreisen, aber Heilsberg ist nahe. Du wirst einsehen, daß ein Mann, der sich offen als meinen Feind bekennt, meiner Braut nicht wieder nahen darf.«

»Ich sehe nur, daß du diesen Mann fürchtest!« sagte Edith kalt.

Das grelle, höhnische Auflachen kam wieder von den Lippen Ronalds, aber er gab es auf, die Sache noch ferner als gleichgültig zu behandeln.

»Fürchten?« wiederholte er. »Er soll mich fürchten! Ich pflege nicht viel Umstände zu machen mit meinen Feinden, und mit diesem Ernst Raimar habe ich noch abzurechnen von früher her. Er verschwand damals völlig aus der Welt, ich wußte gar nicht, wo er überhaupt vegetierte; wenn er aber jetzt versucht, meinen Weg zu kreuzen – er soll sich hüten! – Ich zertrete ihn!« Die letzten Worte klangen halb erstickt, fast wie ein Zischen, und dabei sprühte es auf in seinen Augen – Edith war nicht furchtsam, aber es durchschauerte sie eisig unter diesem Blick. Sie sah den Dämon, von dem er vorhin gesprochen, sich jetzt aufbäumen in dem Manne, dem sie eben ihre Hand zugesagt hatte, jenen Dämon, der ihn emporgetragen, weil er erbarmungslos alles zertrat, was sich ihm in den Weg stellte, sie wußte es jetzt!

Das völlige Verstummen seiner Braut mochte Ronald daran erinnern, wie weit er sich hatte fortreißen lassen. Er nahm seine gewohnte Haltung wieder an und trat zu ihr.

»Das erschreckt dich, Kind?« fragte er halblaut. »Du hast freilich noch keinen Blick gethan in die Tiefen des Lebens, du kennst ihn nicht, den wilden, erbitterten Kampf, wo einer den anderen fortzustoßen sucht von seinem Platze, wo man unterliegen oder selbst niederwerfen muß, ich kenne ihn zur Genüge. Aber du siehst, es ist nicht so leicht, meine Gefährtin und Vertraute zu sein, wie du es forderst.«

»Ja, ich sehe es!« sagte Edith tonlos.

»Und nun fort mit all diesen unerquicklichen Dingen!« rief Ronald, sich emporrichtend mit einer Bewegung, als werfe er alles weit hinter sich. »Wie kommen wir denn gerade heut darauf? Sieh nicht so ernsthaft aus, Edith, steh nicht so eisig da! Du hast mir dein Wort, deine Hand gegeben, nun laß mich auch endlich, endlich einmal glücklich sein!«

Es war ein heißes, stürmisches Flehen, wie ein Aufschrei nach Glück klang es in den Worten, die ganze Leidenschaft des Mannes brach wieder hervor, als er seine Braut umfing.

Edith duldete das schweigend, aber sie erwiderte seine Liebkosungen nicht, und sie atmete tief und erleichtert auf, als in diesem Augenblick ihr Vater mit Wilma eintrat. –

Es war Abend geworden; die Verlobung wurde freilich im allerengsten Familienkreise gefeiert, aber sie sollte doch einen festlichen Anstrich haben. Im Eßzimmer überblickte Frau von Maiendorf noch einmal den Abendtisch und hatte dabei Mühe, den neugierigen Fragen ihres Töchterchens stand zu halten, das durchaus wissen wollte, warum die Mama heut, wo doch keine große Gesellschaft war, all das Silberzeug und die schönen Blumen aufstellte. Draußen auf der Terrasse plauderte Marlow in der behaglichsten Stimmung mit seinem Schwiegersohn, und Edith hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen, um noch etwas an ihrem Anzug zu ändern, wie sie erklärte.

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An dem offenen Fenster, das nach dem Park hinausging, stand die junge Braut, aber sie schien nicht an ihre Toilette zu denken, sondern blickte wie traumverloren hinaus in den dämmernden Maiabend. Der Himmel war noch licht und hell, aber im Park lagerten schon graue Schatten, und von den Wiesen her kamen die Nebel gezogen und woben leichte, duftige Schleier um Bäume und Gesträuch. All das Flattern, Zwitschern und Summen da drüben war verstummt, ringsum herrschte tiefe Abendstille.

Nun war das Los gefallen, das bindende Wort gesprochen, aber es lag nichts von bräutlichem Glück auf dem Antlitz des schönen Mädchens, das da so regungslos am Fenster lehnte und dem sich die Zukunft doch jetzt so weit und glanzvoll öffnete. Marlow war ja reich nach gewöhnlichen Begriffen, er nahm eine hochgeachtete Stellung ein, aber es war doch etwas anderes, die Gemahlin des künftigen Freiherrn von Ronald zu sein, den ein märchenhafter Reichtum umgab, und der es eben wieder zeigte, daß seine Macht bis in die höchsten Kreise hinaufreichte. Seine Gattin brauchte sich keinen Wunsch zu versagen, sie konnte, wenn sie wollte, Fürsten verdunkeln mit der Pracht ihres Hauses.

Der Traum des Ehrgeizes, den Edith Marlow seit Monaten geträumt, war erfüllt, übertroffen! Und sie wurde geliebt von dem Manne, dessen Braut sie heut geworden war, so glühend und leidenschaftlich geliebt, wie sie es nie geahnt hatte. Auch dies Höchste wurde ihr gegeben – was wollte sie denn noch?

Da klang drüben in dem dämmernden, nebelduftigen Park noch eine einzelne Vogelstimme. Eine Amsel sang dort ihr spätes, einsames Lied, fern und leise kamen die Töne herüber, halb verweht im Abendwind, und dann verstummten sie. Der kleine Sänger ging zur Ruhe mit dem Maientage – und am Fenster lag die junge Braut auf den Knieen und weinte, wie sie seit ihren Kindertagen nicht geweint hatte. In diesen heißen, verzweifelten Thränen, da kam es – das Erwachen! Monate waren vergangen, der Sommer war vorüber, und mit dem September hatte der Herbst bereits seinen Einzug gehalten, Heilsberg führte das gewohnte Dasein als halbverschollene, historische Merkwürdigkeit, und Neustadt-Steinfeld stand mehr als je im Vordergründe, denn der längst entworfene Plan, die Steinfelder Werke, deren Besitzer Felix Ronald war, in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln, wurde jetzt in Angriff genommen.

Bei dem riesigen Umfange der großen Industriestätten gestaltete sich das zu einem Ereignis für die Finanzwelt und vor allem für die betreffende Provinz. Man wollte die Aktien in möglichst geringen Beträgen ausgeben, weil dabei hauptsächlich auf den Mittelstand und die »kleinen Leute« gerechnet wurde. Die Agenten Ronalds und die Blätter, die er beeinflußte, arbeiteten mit Hochdruck, um dem Publikum die Vorzüglichkeit und den unberechenbaren Gewinn dieser Kapitalanlage klar zu machen. Sie hatten auch die öffentliche Meinung bereits gewonnen, und in Berlin that man jetzt eben die nötigen Schritte, um dem bereits gesicherten Unternehmen die gesetzliche Form und Anerkennung zu geben.

In Heilsberg war Max Raimar wieder aufgetaucht, nachdem er seinen Besuch im Frühjahr ziemlich kurz abgebrochen hatte, aber jetzt beglückte er die so lange vernachlässigte Heimat schon wieder mit seiner Gegenwart. Die Empfindlichkeit gehörte nicht zu den Fehlern des jungen Künstlers, er nahm nur da etwas übel, wo es ihm keinen Nachteil brachte. Trotzdem Ernst ihm damals so gründlich den Text gelesen hatte und ihn seit jener Zeit überhaupt sehr kühl behandelte, kam er ganz unbefangen wieder und befleißigte sich sogar einer besonderen Liebenswürdigkeit, denn er war leider noch immer abhängig von dem Bruder.

Maxls Hoffnung auf die Million mit dazugehöriger Heirat hatte sich als trügerisch erwiesen, er war ganz plötzlich bei seiner Dame in Ungnade gefallen. Als er das nächste Mal nach Gernsbach kam, nahm ihn Fräulein Marlow gar nicht an, und als er sie in Berlin wiedersah, ließ sie ihm keinen Zweifel über diese Ungnade. Der junge Maler, der von jener Unterredung mit seinem Bruder nichts wußte und nicht ahnte, daß Edith jetzt über das »ringende, kämpfende Genie« im klaren war, fand aber eine andere Erklärung dafür – der Nabob, dieser Ronald, war an allem schuld!

Mit der Stunde seines Eintreffens in Gernsbach hatte die junge Dame ihr Benehmen geändert. Zwar verlautete noch nichts von den vorausgesetzten näheren Beziehungen, Marlow war den größten Teil des Sommers mit seiner Tochter in der Schweiz gewesen, Ronald war in Berlin geblieben, aber Max ließ sich seinen Argwohn nicht nehmen und warf seinen ganzen Haß auf diesen »Zerstörer seines Glückes«, wie er ihn nannte.

»Wenn Millionen winken, dann freilich wird ein armes, verratenes Künstlerherz in den Staub getreten!« sagte er tragisch, als er dem Onkel Treumann sein Herz ausschüttete, und der alte Herr gab seinem lieben Maxl vollkommen recht, um so mehr, als er nun einen Bundesgenossen gegen den verhaßten Ronald hatte. Er tröstete das verratene Künstlerherz nach Kräften mit einem reichlichen Zuschuß aus seiner Tasche und einigen Privatsitzungen im Goldenen Löwen, der bekanntlich einen sehr guten Tropfen schenkte. Da schimpften sie denn gemeinsam auf den »Nabob, den Pascha, den Schwindelkönig von Neustadt und Steinfeld« und wühlten in ganz Heilsberg gegen ihn und das Aktienunternehmen, das ihn wieder einmal bereichern sollte.

Herr Notar Treumann erklärte es öffentlich für eine patriotische Pflicht, dagegen Front zu machen. In Heilsberg dürfe keine einzige Aktie gekauft werden, man müsse dem vor Hochmut völlig übergeschnappten Neustadt zeigen, daß es noch Manneswürde gebe. Die Neustädter prahlten in der That sehr mit dem neuen Unternehmen, von dem sie sich noch größere Vorteile versprachen, und ärgerten ihre liebe Nachbarstadt bis aufs Blut. Zwischen dem Neustädter »Tageblatt« und der Heilsberger »Burgwarte« brach eine wütende litterarische Fehde aus, in der sie sich gegenseitig die ärgsten Grobheiten an den Kopf warfen, und der Herr Notar, der natürlich Mitarbeiter der »Burgwarte« war, verstieg sich in einem Leitartikel bis zu der gewagten Behauptung, es werde nächstens ein Schwefelregen auf diese moderne Schwindelstadt herabgehen, wie einst auf Sodom und Gomorrha.

Im Garten des Notars Raimar blühten statt des Flieders nun die Spätrosen, sonst hatte sich nichts geändert seit dem Frühjahr; hier in Heilsberg änderte sich ja überhaupt nichts. Rechts und links die hohen Giebel, die dem Gärtchen etwas so Beengtes, Gedrücktes gaben, an der Rückseite das Haus mit seiner Steintreppe und nach vorn ein Blick auf den alten Wallgraben mit seinen Mauern und Türmen. Und wie damals saß auch heute Major Hartmut seinem Freunde gegenüber, stattlich und kraftvoll wie immer, nur noch etwas mehr gebräunt von der Sonne.

»Ja, diesmal habe ich es gemacht wie der Maxl und bin dir auch wie eine Bombe in das Haus gefallen!« sagte er lachend. »Nun, wenigstens zeigte mir dein Gesicht bei der Ueberraschung, daß ich willkommen bin.«

»Und wie!« rief Ernst, dem in der That die helle Freude aus den Augen leuchtete. »Ich glaubte gar nicht, daß du schon vom Manöver zurück seiest.«

»Ich komme auch geradeswegs daher. Vorgestern sind wir wieder eingerückt, einen Urlaub hatte ich zur Verfügung, da dachte ich mir, Ernst wird dich nicht gerade hinauswerfen, wenn du ihm über den Hals kommst – und da bin ich!«

»Ein höchst gescheiter Einfall! Hoffentlich hast du diesmal die Uniform mitgebracht, denn wir stehen hier vor einer großartigen Festlichkeit. Der historische Verein feiert sein Jubiläum, und Onkel Treumann hat es sich in den Kopf gesetzt, Heilsberg müsse nun auch einen historischen Festzug haben wie andere Städte. Das ganze alte Waffengerümpel aus dem Rathause soll da paradieren, vielleicht schleppen sie auch die berühmte Folterkammer mit.«

Hartmut sah ganz verwundert seinen Freund an. Er war es gar nicht gewohnt, einen Scherz von ihm zu hören, aber er ging fröhlich darauf ein.

»Da werde ich das moderne Kriegsheer vertreten! Uebrigens habe ich die Uniform wirklich eingepackt, weil – nun man kann ja nicht wissen, wie man sie einmal braucht, um Effekt zu machen.«

»Hier in Heilsberg? Was fällt dir ein?« »Nun oder irgendwo in der Umgegend! Aber wie siehst du denn eigentlich aus, Ernst? Du bist ja ganz menschlich geworden.«

»Sehr artig von dir! War ich das vielleicht früher nicht?«

»Nein, du warst in deiner hochwohllöblichen Kanzlei schon halb zur Mumie geworden. Jetzt scheint der Mumienprozeß zum Stillstand gekommen zu sein – Gott sei Dank!«

Der Major hatte recht, mit Raimar war eine Veränderung vorgegangen, nicht gerade auffallend, aber dem Freundesauge doch erkennbar. Die Müdigkeit war verschwunden aus seinen Zügen und seiner Haltung, die Augen hatten Leben gewonnen, und in seinem ganzen Wesen lag ein neuer, fremder Zug, der sich nicht enträtseln ließ, aber er hatte nichts mehr gemein mit der früheren düsteren Gleichgültigkeit.

»Du siehst ja ordentlich verjüngt aus,« fuhr Hartmut fort. »Was ist denn passiert? Bist du vielleicht Vizepräsident des historischen Vereins geworden?«

»Hier in Heilsberg passiert nichts, das weißt du doch,« versetzte Ernst ausweichend. »Aber jetzt erzähle du. Wie war's beim Manöver?«

»Nun, wir sind diesmal scharf ins Zeug gegangen, so scharf, daß ich wirklich ein paar Wochen Erholung brauche – und die denke ich mir hier zu holen.«

Um Raimars Lippen spielte ein spöttisches Lächeln, während er den Freund musterte.

»Du siehst wirklich recht erholungsbedürftig aus. Merkwürdig, Heilsberg scheint nachgerade Kurort zu werden. Max ist auch wieder da und behauptet, daß er sich hier ›erholen‹ müsse, aber er wird uns diesmal nicht stören. Er wollte heute zur Stadt kommen, im übrigen aber ist er schon seit acht Tagen in Gernsbach.«

»Was hat der dumme Junge denn in Gernsbach zu suchen?« fuhr der Major heftig auf. »Wie kommt er dahin?«

»Er malt die kleine Lisbeth, und da bei der Lebhaftigkeit des Kindes die Sitzungen nicht immer glücken, hat ihn Frau von Maiendorf eingeladen, damit er das Bild in aller Ruhe vollenden kann. Was hast du denn, Arnold? Die Einladung ist doch nicht auffallend.«

»So? Mir fällt sie sehr auf! Aber ehe wir weiter reden, ein offenes Wort zwischen uns beiden, Ernst. Dein Onkel Treumann erzählte mir im Frühjahr von gewissen Heiratsplänen, auf die du allerdings damals nicht eingehen wolltest. Ich muß jetzt wissen, wie die Sache steht, also gerade heraus – hast du Absichten auf die junge Witwe? Ja oder nein?«

Raimar runzelte die Stirn und machte eine unwillig abwehrende Bewegung.

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»Was fällt dir ein, Arnold! Von einer Neigung meinerseits war nie die Rede, und eine bloße Geldheirat traust du mir hoffentlich nicht zu. Lieber zeitlebens Notar in Heilsberg bleiben, als von der Gnade einer reichen Frau leben.«

»Nun, bei mir trifft das nicht zu,« sagte der Major ruhig. »Ich bin und bleibe Soldat und heirate nicht nach Vermögen, aber wenn meine künftige Frau zufällig mit einem Rittergut behaftet wäre, so würde ich ihr das großmütig verzeihen. Also du hast keine Absichten? Freut mich außerordentlich! Ich habe sie nämlich.«

»Du willst heiraten?« fragte Raimar erstaunt. »Aber du hast ja stets das Junggesellenleben für den einzig menschenwürdigen Zustand erklärt.«

»Hast du denn nie in deinem Leben eine Dummheit gesagt?« rief Hartmut ärgerlich. »Ich bin eben erst im Schwabenalter klug geworden. Kurz und gut, die kleine, blonde Frau mit ihren blauen Kinderaugen hat es mir angethan. Ich bin die Geschichte den ganzen Sommer nicht los geworden, und jetzt hielt ich es überhaupt nicht mehr aus. Als das Manöver vorbei war, packte ich auf und kam hierher, um mein Glück zu versuchen. Jetzt weißt du es!«

Ernst lächelte und streckte ihm herzlich die Hand hin.

»Glückauf, Arnold! Es heißt, die junge Frau hätte schon einige Anträge ausgeschlagen, um ihres Kindes willen, aber wenn du anrückst – du bist ja ein stattlicher Freiersmann!«

»Meinst du?« fragte Hartmut etwas bedenklich. »Nun, die ausgebrannte Kraterseele, den Maxl, werde ich wohl aus dem Felde schlagen, denn daß der Junge da wieder Unfug anrichten will, steht fest. Bei seiner Millionärin scheint er gründlich abgefallen zu sein, jetzt ist er bescheidener und will als Rittergutsbesitzer den Kampf um das Dasein weiter kämpfen.«

»Du könntest recht haben,« sagte Raimar nachdenklich. »Ich habe bisher noch nicht daran gedacht, aber dem Maxl ist das schon zuzutrauen. Ihm ist die Heirat ja überhaupt nur Spekulation.«

»Also ist keine Zeit zu verlieren,« ergänzte der Major. »Wir fahren morgen nach Gernsbach, da sondiere ich vorläufig das Terrain, und wenn euer Familiengenie sich wirklich untersteht, da ›Absichten‹ zu haben, dann werde ich ihm das Handwerk legen. Abgemacht!«

Da wurde die Hausthür geöffnet, und das »Familiengenie«, von dem eben die Rede war, erschien in eigener Person mit dem Onkel Treumann, aber sie traten nicht mit der gewohnten Begrüßung ein, sondern stürzten sich förmlich in den Garten.

»Weißt du es, Ernst?« rief der Notar schon von weitem. »Hast du es schon gehört? Nein, er weiß noch gar nichts, sonst würde er nicht so gemütlich dasitzen. – Ah, Herr Major Hartmut, Sie sind in Heilsberg? Kommen Sie aus Berlin? Dann wissen Sie es natürlich schon, ganz Berlin ist ja voll davon!«

»Was ist denn los?« fragte überrascht der Major, während Raimar nicht das geringste Zeichen von Neugierde oder Teilnahme gab.

»Der Teufel ist los!« erklärte Max, der sich augenscheinlich in höchst vergnügter Stimmung befand und darüber sogar den Aerger vergaß, daß sein ewiger Widersacher so urplötzlich auftauchte. »Drüben in Steinfeld nämlich! Ich wußte auch gar nichts; aber als ich heut von Gernsbach hereinkam und den Onkel besuchte, da erfuhr ich die Geschichte.«

»Ja, ich habe es, ich habe es!« schrie der alte Herr, indem er ein ziemlich umfangreiches, gedrucktes Heft hervorzog und triumphierend schwenkte. »Das ›Hexengold‹ habe ich! Jetzt geht es den Neustädtern und ihrem Pascha an den Kragen, diesem Menschen, der anständige Leute hinauswirft und das Gras wachsen lassen will in den Straßen von Heilsberg. Jetzt wird es in seinem Steinfeld wachsen, fußhoch, und in Neustadt auch, denn Neustadt ist gar nichts ohne die Steinfelder Werke!«

Hartmut sah erst den Onkel, dann den Neffen an, der ebenso aufgeregt war, und schüttelte den Kopf.

»Verehrter Herr Notar, es gibt doch, soviel ich weiß, keine Taranteln in Heilsberg,« bemerkte er, »Sie sind ja ganz außer Rand und Band und der Maxl desgleichen. Wollen Sie uns denn nicht endlich sagen, was eigentlich los ist?«

Treumann stellte sich dicht neben ihn und hielt ihm das Heft vor die Nase.

»Können Sie lesen, Herr Major?«

»Einigermaßen ja,« versetzte dieser, indem er das Heft nahm. »›Hexengold! – Ein Warnungsruf in letzter Stunde!‹ – So viel buchstabiere ich noch zusammen, aber ich kann nicht behaupten, daß mir die Sache klar geworden ist.«

»Den Ronald geht es an!« erläuterte Max eifrig. »In der Broschüre da werden ihm die unerhörtesten Dinge vorgeworfen, die ganze Schwindelwirtschaft in Steinfeld wird aufgedeckt – das geht nieder wie ein Hagelwetter!«

»Nein, wie ein Schwefelregen!« sagte der Notar feierlich, »Ich habe es ja prophezeit in der ›Burgwarte‹, und dies elende ›Tageblatt‹ wollte sich ausschütten vor Lachen und nannte mich ein Fossil aus der prähistorischen Zeit, jetzt wird ihnen das Lachen schon vergehen, den Herren Neustädtern. Jetzt kommt das Gericht!«

Der sonst so gutmütige alte Herr sah so grimmig aus, als wolle er in eigener Person dies Gericht vollziehen. Hartmut aber war ernst geworden.

»Gegen Ronald richtet sich die Flugschrift?« fragte er. »Nein, ich weiß nicht das geringste davon, ich komme direkt aus meiner Garnison. Und du, Ernst?«

»Ich auch nicht – man wird ja wohl Näheres darüber hören,« versetzte Raimar mit einem gleichgültigen Achselzucken und trat zu dem Rosengebüsch in der Mitte des Gartens, wo er den anderen fast den Rücken kehrte. Sein Onkel geriet darüber in helle Entrüstung.

»An dir ist Hopfen und Malz verloren!« eiferte er. »Ein solches Ereignis! Das geht nicht nur uns und die Neustädter, das geht die ganze Welt an, das rettet die Moral – und da stehst du wie ein Stock und sagst: Man wird ja Näheres hören? Ernst, du verknöcherst noch ganz und gar!«

Ernst erwiderte keine Silbe, während Hartmut in dem Hefte blätterte und nochmals den Titel ansah. »Anonym erschienen – nur Veritas unterzeichnet – wer mag dahinterstecken?«

»Das wird man schon erfahren!« rief Treumann wieder ganz begeistert. »Ein mutiger Mann ist's, ein Sankt Georg, der tapfer dem Drachen zu Leibe geht. Recht hat er, wenn er sagt: Es liegt ja alles vor diesem Götzenbilde des Mammon auf den Knieen –«

Der Major stutzte bei den Worten und schickte einen raschen, funkelnden Blick zu seinem Freunde hinüber, der bemüht war, die welken Blätter aus dem Rosengesträuch zu entfernen, während der alte Herr fortfuhr: »Ja, eine Sprache hat das Ding, einen Schwung, ein Feuer! Ich habe dem Maxl die schönsten Stellen vorgelesen, er war ganz weg davon – gelt, Maxl?«

»Großartig!« bestätigte Max, der ebenfalls hochbefriedigt war von diesem Angriff auf den ›Zerstörer seines Glücks‹. »Einfach großartig!«

»Herr Notar,« sagte Hartmut in einem eigentümlich erregten Tone, »lassen Sie mir die Flugschrift auf einige Stunden, ich interessiere mich mehr dafür als Ernst – bitte!«

»Mit Vergnügen, Herr Major. Der Doktor hat noch ein zweites Exemplar, das macht die Runde durch Heilsberg, und ich habe gleich in Berlin ein Dutzend bestellt. So etwas muß in das Volk gebracht werden, ja in das Volk! – Komm, Maxl, jetzt gehen wir in den Goldenen Löwen und trinken eine Flasche vom Allerbesten! Wir wollen ihn leben lassen, den mutigen Mann, den Sankt Georg! Hoch soll er leben! Dreimal hoch!«

Der Herr Notar sang im Übermaß seiner Freude die letzten Worte ganz laut, dann nahm er den ebenso vergnügten Maxl unter den Arm, und sie zogen beide ab nach dem Goldenen Löwen.

Im Garten herrschte einige Minuten lang völliges Schweigen. Ernst stand noch immer bei seinen Rosen, und der Major verharrte auf seinem Platze und blickte schweigend zu dem Freunde hinüber, endlich aber trat er zu ihm und sagte halblaut: »So bedanke dich doch!«

»Wofür?« fragte Raimar befremdet.

»Für den Toast, den sie dir ausbringen wollen, und für den Sankt Georg.«

»Aber Arnold, ich bitte dich! Was soll –«

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»Duckmäuser!« brach der Major los. »Willst du auch mir eine Komödie vorspielen? Götzenbild des Mammon, vor dem

alles auf den Knieen liegt – deine eigenen Worte auf der Rückfahrt von Gernsbach! Darum also stecktest du fortwährend in Neustadt und in Steinfeld, Studien für dein ›Hexengold‹ hast du da gemacht. Und von mir läßt du dich ausschelten und bedauern als angehende Mumie, während du schon mitten drin stehst im Leben, im Kampfe des Tages – schäme dich!« Trotz all der Vorwürfe klang es wie Jubel in den Worten, aber Raimars Antlitz blieb ernst und düster, als er antwortete: »Du hättest es noch heute abend von mir erfahren, aber die Sache ist ernster als du glaubst. Es handelt sich hier um keinen gewöhnlichen Angriff und um keinen Gegner gewöhnlicher Art, Ich bin mir vollkommen bewußt, daß ich meine ganze Existenz dabei auf das Spiel setze. Noch ist Ronald allmächtig in den Kreisen, auf die es hier ankommt, und er wird diese Macht bis aufs äußerste brauchen gegen mich, muß sie brauchen, denn wenn er mich und meine Anklagen nicht vernichtet, dann stürzt er selbst. Es wird ein Kampf auf Leben und Tod!«

»Den du doch nicht unternommen hättest ohne die Ueberzeugung des vollen Rechtes?« fiel Hartmut ein.

»Gewiß nicht; aber wenn ich allein bleibe mit dieser Überzeugung, wenn die öffentliche Meinung mich im Stiche läßt, dann bin ich es, der unterliegt. Ronald hat zu viele Interessen an sich gefesselt, um nicht einen mächtigen Anhang zu haben, der mit ihm steht und fällt. Du ahnst nicht, mit welchen Mitteln da gearbeitet wird. Was nur irgendwie gefährlich werden kann, das ist entweder erkauft oder geknebelt. Sonst wären auch Verhältnisse, wie die drüben in Steinfeld, nicht möglich. Ich kenne sie, ich habe dies Steinfeld ja wachsen sehen und habe mich nie blenden lassen.«

»Es gehen da freilich allerlei Gerüchte um, schon seit Jahr und Tag,« warf der Major ein. »Aber es sind eben Gerüchte geblieben.«

»Weil keiner den Mut hatte, zu reden! Sie brachten ja alles zum Schweigen, und bisher ging es doch in erster Linie Ronald an. Wenn er va banque spielte, so that er es auf seine Gefahr. Jetzt aber sollen die Aktien tausendweise hinausgeworfen werden in unsere ohnehin schon arme Bevölkerung, jetzt sollen die kleinen Leute, die vielleicht ihr ganzes Leben lang gespart und gedarbt haben, das bißchen Habe hingeben für den erlogenen Gewinn, um dann alles zu verlieren – jetzt wäre es ein Verbrechen, noch zu schweigen. Schon im Frühjahr, als jener Plan auftauchte, faßte ich den Entschluß, die Schrift da ist die Arbeit der letzten drei Monate.«

Sie waren an den früheren Platz zurückgekehrt, und Hartmut nahm das Heft wieder auf.

»Hexengold! In dem Titel allein liegt schon die schwerste Anklage, aber du selbst hast dich nicht genannt? Das wirst du doch früher oder später thun müssen. Täusche dich nicht, Ernst, in solchem Kampfe streitet man nicht mit geschlossenem Visier.«

»Das ist auch nie meine Absicht gewesen,« lautete die feste Antwort. »Denkst du, ich treffe einen Feind aus dem Hinterhalt und bleibe selbst im Dunkel? Für den Augenblick mußte ich es, wenn ich meiner Flugschrift die Wirkung sichern wollte.«

»Du mußtest? Warum?«

»Weil ich der Sohn meines Vaters bin! Diese Schrift, mit meinem Namen unterzeichnet und hinausgeschickt, wäre von vornherein verurteilt. – Ernst Raimar – wer ist das? Ah so, der Sohn des Bankrotteurs, der sich an fremden Geldern vergriff und sich dann mit einer Pistolenkugel der Rechenschaft entzog. Und der will sich zum Moralprediger aufwerfen in solchen Dingen, der will die Stellung eines Ronald erschüttern? Der Mann trägt selbst einen Makel auf seinem Namen und versucht es, die Ehre anderer anzugreifen! – So hätte es gelautet, und damit wäre mein Werk gerichtet und abgethan gewesen.«

Die Worte klangen wieder in herber Bitterkeit, aber sie waren nur allzu wahr, und der Freund stimmte, wenn auch widerstrebend, bei.

»Ich fürchte, du hast recht, so ungefähr hätte die Welt geurteilt. Jetzt ist das Geheimnis streng gewahrt?«

»Unbedingt, und deshalb ist die Wirkung eine ungeheure, wie mir mein Verleger aus Berlin schreibt. In den Finanzkreisen ist man außer sich, die sämtlichen Zeitungen besprechen die Schrift, das ganze Publikum liest sie, jetzt ist es nicht mehr möglich, diese Anklagen zu unterdrücken oder totzuschweigen. Ronald muß Rede stehen, und sobald er öffentlich antwortet, nenne ich mich – das ist beschlossene Sache.«

»Und dann werden sie dich wieder bis aufs Blut peinigen mit der alten, unseligen Geschichte!« rief der Major mit unterdrückter Heftigkeit. »Wirst du da standhalten? Man erspart dir das nicht, verlaß dich darauf.«

»Ich weiß es,« sagte Ernst fest und ruhig, »Ronald wird seine ganze Presse wie eine Meute gegen mich hetzen, und gerade an dem Punkte werden sie einsetzen, denn es ist der einzige, wo ich angreifbar bin; aber fürchte nichts, Arnold! Das habe ich durchgekämpft und überwunden, ehe ich meine Schrift in die Welt hinaussandte. Jetzt ist der Würfel gefallen, jetzt stehe ich auf dem Kampfplatze, und nun mögen sie herankommen.«

Er hatte sich hoch aufgerichtet. Da war auch nicht eine Spur mehr von der einstigen düsteren Ergebung, nur noch energischer Wille, der das ganze Wesen des Mannes zu durchdringen schien.

»Bist du endlich wieder der alte!« brach Hartmut triumphierend aus, »Nun, dann will ich den Kampf segnen, wenn er dich dir selbst zurückgibt! Aber nun her mit deiner Flugschrift: Wir haben lange genug darüber geredet, jetzt will ich sie endlich lesen.«

»Hier ist sie.« Ernst reichte ihm das Heft. »Ich lasse dich jetzt allein. Ich war eben im Begriff, nach Berlin zu schreiben, als du ankamst, und der Brief muß noch heute fort. In einer Stunde komme ich und hole mir dein Urteil.« –

Eine volle Stunde war vergangen, und Major Hartmut saß noch immer wie gebannt an seinem Platze und las. Jetzt schlug er die letzte Seite um, las die Schlußworte und schloß dann das Heft. Aber seine Kritik bestand nur in einem einzigen Worte: »Donnerwetter!«

Er zog sein Taschentuch hervor und fuhr sich damit über die Stirn, erst nach einem minutenlangen Schweigen sagte er mit einer gewissen Wehmut: »Da hat dieser Mensch, der Ernst, nun zehn Jahre lang in Heilsberg gesessen, mitten unter den Philistern, und ich habe ihm vorgehalten, daß er auch einer geworden ist, und jetzt geht er so ins Zeug und schlägt unter die ganze edle Raubrittergesellschaft, daß die Funken nur so fliegen! Das sind ja fürchterliche Dinge, die er diesem Ronald da in das Gesicht schleudert! Und die geehrten Herren von der Hochfinanz bekommen auch bittere Wahrheiten zu hören!«

Er sprang plötzlich auf und jetzt schlug seine Stimmung in hellen Jubel um.

»Das ist er wieder, wie er leibt und lebt, mein alter Jugendgenosse! So stand er damals vor den Schranken, als er die armen Teufel verteidigte, die in den Streik hineingehetzt waren und nun wegen Landfriedensbruch verurteilt werden sollten. So riß er einst mit seinen flammenden Worten alles hin und berief sich auf die Menschenrechte gegen den starren Buchstaben des Gesetzes. – Ja, ja, Onkel Treumann, dir und deinen braven Heilsbergern werden die Augen übergehen, wenn ihr ihn erst zu Gesicht bekommt, euren Sankt Georg, aber behalten werdet ihr ihn nicht lange mehr in eurem historischen Neste. Jetzt ist er los von dem Bann, jetzt ist er aufgewacht! Der geht euch durch, so wahr ich Arnold Hartmut heiße! Hurra!«

Er schwenkte das Heft ebenso triumphierend wie vorhin der Herr Notar, aber es kam ein ganz merkwürdiges Echo zurück.

»Hurra, Onkel Hartmut!« tönte eine helle Kinderstimme. Droben auf der Steintreppe stand die kleine Lisbeth von Maiendorf und schwenkte mit beiden Händen ihr Strohhütchen, dann sprang sie die Stufen herab und eilte dem Major jubelnd entgegen.

»Kleiner Wildfang, weißt du es schon, daß man einstimmen muß, wenn Hurra gerufen wird?« fragte er lachend, indem er sie auffing. »Wo kommst du her, Lisbeth? Ist die Mama auch hier?«

»Die Mama ist bei dem Onkel Notar in der Kanz–lei,« berichtete Lisbeth, der das Wort noch einige Mühe machte. »Und da hat der Onkel gesagt, ich sollte in den Garten laufen zu dir, er käme nach mit der Mama. O da bin ich gelaufen! Ich bin so froh, daß du wieder da bist!«

»Ich auch,« sagte Hartmut sehr aufrichtig und hochbefriedigt von der Mitteilung. Er nahm die Kleine auf seine Kniee; sie fing sofort an, mit der größten Zutraulichkeit zu plaudern und mit sichtbarem Stolze zu erzählen, daß sie jetzt gemalt werde.

»Ein so großes, schönes Bild! Und ein weißes Kleidchen hab' ich an und einen Strauß in der Hand –«

»Und der Max Raimar malt dich,« ergänzte Arnold. »Ja, ich weiß es schon. Magst du ihn denn leiden, das angehende Genie – den Maxl meine ich?«

Lisbeth verzog schmollend das Gesicht und schüttelte sehr entschieden das Köpfchen.

»Nein, ich mag ihn gar nicht. Er will immer nur bei der Mama sein und mit ihr reden. Mit mir will er nie spielen. Er ist so dumm!«

»Was das Kind schon für eine Menschenkenntnis hat!« sagte der Major bewundernd. »Also er spricht immer mit der Mama, auch wenn er dich malt?«

»Ja immer, und dann macht er solche Augen,« und Klein-Lisbeth verdrehte ihre hellen Äuglein in einer ganz beängstigenden Weise, um den schwärmerischen Aufblick des jungen Künstlers wiederzugeben.

»Dachte ich es doch! Ich drehe dem dummen Jungen noch nächstens den Hals um!« rief Hartmut wütend, ohne daran zu denken, daß die Kleine zuhörte; diese aber sagte ganz ernsthaft: »Das darfst du nicht thun, dann wird ja das schöne Bild nicht fertig.«

»Das male ich fertig,« behauptete der Major mit unfehlbarer Sicherheit, »und den Maxl brauchen wir dann nicht mehr, der fliegt hinaus!«

Lisbeth guckte ihn von der Seite an, sie schien doch einiges Mißtrauen in seine malerische Begabung zu setzen, plötzlich aber lachte sie hell auf. Sie fand es äußerst belustigend, daß der Maxl aus Gernsbach hinausfliegen sollte.

Nach zehn Minuten war bereits ein Spiel im Gange. Das kleine Fräulein von Maiendorf lernte, mit einem Stock bewaffnet, die militärischen Griffe und den Parademarsch, und Herr Major Hartmut war so entzückt von ihren Fortschritten, daß er einmal über das andere versicherte: »Lisbeth, du verdientest wahrhaftig ein Soldatenkind zu sein!«

Sie waren beide so vertieft, daß sie es gar nicht bemerkten, wie Raimar mit Frau von Maiendorf in den Garten trat, bis der erstere lachend rief: »Aber Arnold – übst du hier Rekruten ein?«

»Ach, gnädige Frau – ich bitte um Verzeihung!« fuhr Arnold auf, Wilma lächelte nur. Als ob es bei einer Mutter der Entschuldigung bedürfte, wenn man ihrem Kinde eine Freundlichkeit erweist! Aber sie erwiderte seinen Gruß mit einer gewissen Befangenheit, und nun stellte sich auch noch Lisbeth vor sie hin und sagte in einem sehr vorwurfsvollen Tone: »Mama, Onkel Hartmut sagt, ich verdiente ein Soldatenkind zu sein – warum bin ich denn kein Soldatenkind?«

Die junge Frau wurde purpurrot, und ein Blick des Majors, den sie auffing, steigerte noch ihre Verwirrung; glücklicherweise kam ihr Ernst zu Hilfe.

»Komm, Lisbeth, da drüben im Gartenhause sind die jungen Kätzchen mit ihrer Mutter, mit denen sollst du spielen. – Es bleibt dabei, gnädige Frau, ich lasse sofort den neuen Pachtvertrag aufsetzen und bringe ihn dann selbst nach Gernsbach. Arnold, du mußt mich einstweilen hier vertreten, ich habe noch Geschäftliches zu erledigen.«

Damit nahm er die Kleine an die Hand und führte sie nach dem Gartenhäuschen, wo die Katzenfamilie sofort ihre ganze Aufmerksamkeit fesselte. Arnold sandte seinem Freunde einen dankbaren Blick nach und widmete sich dann mit vollem Eifer der »Vertretung«. Er schien auch Glück damit zu haben.

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Ernst Raimar stand inzwischen am Fenster seines Wohnzimmers, das im oberen Stock lag, und blickte mit verschränkten Armen hinab in den Garten. Er hörte das Lachen des Kindes das sich mit den Kätzchen herumjagte, hinter dem Rosengebüsch schimmerte das helle Kleid der jungen Frau, und daneben war die Gestalt Hartmuts sichtbar.

Ernst wandte sich jetzt plötzlich mit einer jähen Bewegung ab. Er nahm den Brief nach Berlin, der zum Abgehen fertig lag, von seinem Schreibtisch, um ihn fortzusenden, aber um seine Lippen zuckte es dabei wie mühsam verhaltene Qual. Er hatte ja auch geträumt, einen kurzen Frühlingstraum von wenigen Tagen, dann war ein bitteres Erwachen gekommen. Freilich ein Erwachen zum Kampf, zum Leben, aber das Glück – das ging doch in Trümmer dabei!

Hexengold! Ein seltsamer Titel! Man hatte die Flugschrift mit Kopfschütteln zur Hand genommen, aber schon auf der ersten Seite wurde die Aufmerksamkeit gefesselt, denn da war ein Name genannt, den jeder kannte. Felix Ronald, dessen Glück fast sprichwörtlich geworden war, der alles, was er berührte, in Gold zu verwandeln schien. Wie ein Meteor war er aus dem Dunkel emporgestiegen und von Erfolg zu Erfolg geschritten, hatte alles, was ihm anfangs noch feindlich oder mißtrauisch gegenüberstand, in seinen Bannkreis gezogen und übte jetzt eine unbestrittene Herrschaft in diesem Kreise aus.

Die Steinfelder Industriewerke, sein erstes großes Unternehmen, das jetzt in die Hände der Aktiengesellschaft übergehen sollte, galt für eines der glänzendsten und gewinnreichsten, und das rechtfertigte die riesigen Summen, die dafür gefordert und bewilligt wurden. Die Ausgabe der Aktien deckte ja das alles und war mehr als gesichert.

Man fand es begreiflich, daß Ronald von der Leitung zurücktrat. Der Mann erlag ja fast unter der Last all seiner Unternehmungen, er mußte sich wenigstens zum Teil davon frei machen, wenn er sich, wie es den Anschein hatte, jetzt den Aufgaben der hohen Finanz zuwenden wollte. Man wußte, daß er beim Abschluß der neuen Anleihe eine hervorragende Rolle gespielt hatte, und munkelte von einer besonderen Auszeichnung, die ihm zugedacht sei.

Und nun kam auf einmal diese Flugschrift mit ihren Enthüllungen, die wie ein Blitz niederfuhren in das ahnungslose Publikum. Nun wurden auf den Steinfelder Werken Verhältnisse aufgedeckt und Dinge an das Licht gezogen, die ganz unglaublich schienen. Die glänzenden Jahresabschlüsse sollten Trug und Schwindel sein und die Werke schon seit Jahren mit Verlust arbeiten. Das Schweigen aller, die durch ihre Stellungen einen Einblick in die Sache haben mußten, sei erkauft, die anderen seien mit unlauteren Mitteln eingeschüchtert, und gegen die Arbeiter werde ein Ausbeutungs- und Bedrückungssystem ohnegleichen geübt. In einem Gebäude, das so sicher und festgegründet zu stehen schien, wurden jetzt Thüren und Fenster aufgerissen, und nun sah man die klaffenden Risse und Spalten in den Mauern, die wankenden Pfeiler – das brach ja rettungslos zusammen!

Wer aber war dieser Warner, der da so urplötzlich aufstand und den gefürchteten Ronald so kühn angriff? Er nannte sich nicht, aber er wies auf die Thatsachen in Steinfeld selbst hin. Man solle sich dort die Beweise holen, man solle die Beamten, die Arbeiter, die bisher nicht zu sprechen wagten, zum Reden bringen, und in dem Schlußworte wurde dem Publikum zugerufen: Das ist eine der Schöpfungen des unheilvollen Mannes! Seht euch die anderen an, sie tragen alle den Zusammenbruch in sich!

Dies »Hexengold« war in einem geradezu glänzenden Stile geschrieben und es wirkte beim Lesen wie eine flammende, hinreißende Rede von der Tribüne aus. Man riet bald auf einen Journalisten, bald auf einen Abgeordneten, bekannte und berühmte Namen wurden genannt und die Betreffenden direkt und indirekt ausgeforscht. Sie lehnten alle mit der größten Entschiedenheit die Autorschaft ab, und das steigerte noch das allgemeine fieberhafte Interesse.

Ronald antwortete später, als man erwartete, er ließ eine volle Woche verstreichen, dann aber kam die Antwort mit gewohnter Energie. Er erklärte, ohne sich auf Einzelheiten einzulassen, alles für Verleumdung, für eine erbärmliche Intrigue, um die in der Bildung begriffene Aktiengesellschaft unmöglich zu machen, und dann wandte er sich gegen den »feigen Verleumder«, der die Ehre und die Stellung anderer zu untergraben suche und nicht einmal den Mut habe, sich zu nennen. Mit einem Namenlosen lasse er sich überhaupt nicht ein, der Angriff sei dadurch allein schon gerichtet.

Der Sturm, der da eben in Berlin losbrach, hatte auch das stille Gernsbach in Mitleidenschaft gezogen. Frau von Maiendorf wußte ja von der Verlobung, die in ihrem Hause geschlossen, im übrigen aber ein Geheimnis geblieben war. In einigen Wochen, im Laufe des Oktober, sollte die Standeserhöhung Ronalds und zugleich die öffentliche Ankündigung der Verlobung erfolgen, und nun kam dieser Schlag.

Wilma, die durch die Zeitungen von der Sache erfuhr, hatte sofort an Edith geschrieben, die noch in Interlaken weilte, während ihr Vater sich schon seit einigen Wochen in Berlin befand. Statt der Antwort kam ein Telegramm, in dem Edith sich zu einem kurzen Besuch in Gernsbach anmeldete, sie werde auf ihrer Rückreise den Umweg machen.

Der jungen Frau kam das zwar überraschend, aber sie fand es erklärlich, Ronald war nach Steinfeld geeilt, wahrscheinlich um dort seine Maßregeln gegen jeden Angriff zu treffen, und Steinfeld lag nur einige Stunden entfernt. Da wollten die Verlobten natürlich hier zusammentreffen, sie hatten sich ja seit Monaten nicht gesehen.

Die beiden Damen saßen wieder auf der Terrasse des Herrenhauses, aber nicht im ruhigen, behaglichen Geplauder wie damals im Frühjahr. Zwar zeigte Edith äußerlich die gewohnte Selbstbeherrschung, sie fragte nach allerlei gleichgültigen Dingen und erzählte von ihrer Reise, aber das war nicht mehr die kühle, vornehme Weltdame, die zu einem Besuche auf dem Lande war und die Menschen hier so unglaublich spießbürgerlich und unbedeutend fand. Sie sah bleich und überwacht aus, als liege eine schlaflose Nacht hinter ihr, und so lebhaft sie auch sprach, man sah es, daß sie mit ihren Gedanken ganz anderswo war. Die junge Frau saß befangen und beklommen neben ihr. Sie hatte den Zweck des Besuches noch mit keiner Silbe berührt, jetzt aber brachte ihn Edith selbst zur Sprache.

»Du hast mich noch gar nicht gefragt, Wilma, weshalb ich dich so unvermutet überfalle,« sagte sie. »Vermutlich hast du es schon erraten.«

»Ich glaube ja,« entgegnete Wilma etwas unsicher. »Ich wollte dich aber gestern abend bei deiner Ankunft nicht gleich mit Fragen quälen. Ronald ist ja in Steinfeld, und da habt ihr hier eine Zusammenkunft verabredet, nicht wahr?«

»Verabredet – nein! Ronald weiß es natürlich, daß ich hier bin. Ich habe ihm Nachricht gesandt, und er wird wohl herüberkommen, sobald er sich frei machen kann.«

Die junge Frau sah sie betroffen an. Keine Verabredung? Und Ronald wurde nicht einmal bestimmt erwartet – was aber führte dann ihre Cousine her? Diese ließ ihr jedoch nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, sondern fuhr hastig fort: »Zunächst handelt es sich um etwas anderes: Herr Raimar wird heute vormittag nach Gernsbach kommen. Du entschuldigst es wohl, wenn ich ihn allein empfange.«

»Unser Notar?« Wilma fiel von einem Erstaunen in das andere. »Er wollte mir allerdings den neuen Pachtkontrakt selbst bringen, aber –«

»Sein heutiger Besuch gilt mir,« unterbrach sie Edith. »Ich habe ihn darum ersucht; bitte, sorge dafür, daß ich ihn ungestört sprechen kann.«

»Du willst seinen Rat hören, wegen jener – jener peinlichen Angelegenheit?« fragte die junge Frau, die sich diese seltsame Einladung nicht anders zu erklären wußte. »Raimar ist allerdings Jurist und ziemlich bekannt in Steinfeld, aber du selbst kennst ihn ja kaum.«

»Ich bitte dich, überlaß das mir,« sagte Edith, offenbar gepeinigt durch diese Fragen. »Ich wünsche nur eine Auskunft, die mir Herr Raimar am besten geben kann und wohl auch geben wird – unsere Unterredung wird nicht lange dauern.«

Sie stand auf, trat an die steinerne Brüstung und begann die roten und gelben Blätter der dort rankenden Weinreben zu zerpflücken. Es lag eine nervöse Hast in dieser Bewegung, eine mühsam verhaltene, aber fieberhafte Unruhe in ihrem ganzen Wesen. Wilma war ihr gefolgt und wagte es jetzt endlich, den Hauptpunkt zu berühren.

»Du hast natürlich die Flugschrift gelesen, das ›Hexengold‹?«

»Ja, mein Vater sandte es mir – du kennst es auch?«

»Ich erhielt es durch den Notar Treumann, – Edith, um Gottes willen, das sind ja furchtbare Dinge, die Ronald da vorgeworfen werden! Was wird er thun?«

»Was er thun wird?« Es blitzte drohend auf in den Augen des schönen Mädchens. »Den Kampf aufnehmen. Das ist doch selbstverständlich. Er wird die Antwort darauf nicht schuldig bleiben.«

»Er hat ja bereits geantwortet, aber er erklärt, sich mit einem solchen Gegner nicht einlassen zu wollen.«

»Mit dem Namenlosen!« Es klang wie bitterer Hohn in den Worten. »Nun, vielleicht zwingt man ihn doch noch, sich zu nennen. – Ah, da kommt ein Wagen! Herr Notar Raimar scheint pünktlich zu sein.«

Sie deutete auf die Allee, die zum Herrenhause führte, und in die jetzt ein offener Wagen einbog. Wilma blickte gleichfalls hinüber.

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»Ja, er ist es,« bestätigte sie. »Aber ich glaube – ich glaube, Major Hartmut sitzt neben ihm.« Die junge Frau war dunkelrot geworden und wandte sich ab, um ihre Verwirrung zu verbergen, aber Edith bemerkte das nicht.

Sie hatte sich emporgerichtet und blickte mit fest zusammengepreßten Lippen und finsteren Augen dem Wagen entgegen, als erwarte sie einen Feind.

»Major Hartmut?« wiederholte sie. »Gleichviel, es wird sich ja wohl irgend ein Vorwand finden, Raimar allein zu sprechen.«

Als die Herren zehn Minuten später in den Salon traten, fanden sie beide Damen dort. Die Begrüßung zwischen Edith und Raimar entsprach der Kürze ihrer Bekanntschaft, sie war zurückhaltend und fremd. Hartmut wunderte sich allerdings, als er Fräulein Marlow erblickte; aber die Erklärung, daß sie auf der Rückreise von der Schweiz ihrer Cousine einen Besuch mache, klang sehr wahrscheinlich, er zweifelte nicht daran. Diese Reise und seine Ankunft gaben hinreichenden Stoff zu dem kurzen Gespräch, mit dem man der äußeren Form Rechnung trug, dann bat Frau von Maiendorf den Major, die neuen Wagenpferde zu besichtigen, die sie kürzlich gekauft hatte, sie wünschte ein sachverständiges Urteil darüber.

Er ging mit vollem Eifer darauf ein und bemerkte es kaum, daß sein Freund zurückblieb. Der gute Arnold hatte viel zu sehr seine eigenen Angelegenheiten im Kopfe, um ein scharfer Beobachter zu sein.

Edith und Raimar waren allein. Er hatte die anderen beiden bis zur Thür begleitet und kehrte nun zurück, aber ohne seinen Platz wieder einzunehmen. Er blieb stehen, der jungen Dame gegenüber, deren Augen wie mit einer finsteren Frage auf seinen Zügen ruhten.

Sie sah es freilich, daß er ein anderer geworden war in den letzten Monaten. Was sich bei der Ankunft Hartmuts nur erst andeutungsweise verriet, das prägte sich heute scharf und unverkennbar aus – das Freiwerden einer lang gefesselten Natur. Jetzt waren die Fesseln abgeworfen, Ernst wußte es freilich, daß er auch hier in einen Kampf ging, und hatte sich gewaffnet. Er war nicht im Zweifel über das, was zur Sprache kommen sollte bei dieser seltsamen Einladung.

»Sie haben befohlen, gnädiges Fräulein,« begann er. »Ich erhielt Ihren Brief und beeilte mich, Ihrem Wunsche nachzukommen.«

»Ich möchte eine Frage an Sie richten,« sagte Edith, die jede Einleitung für überflüssig zu halten schien. »Vielleicht können Sie mir die Antwort geben, vielleicht auch nicht. In jedem Falle bitte ich um ein offenes Ja oder Nein.«

Er verneigte sich schweigend.

»Sie kennen vermutlich die Flugschrift, die vor etwa acht Tagen erschienen ist und jetzt das Tagesgespräch bildet – ›Hexengold‹?«

»Ja, gnädiges Fräulein.«

»Und Sie kennen auch den Verfasser?«

»Ja!«

Edith fuhr auf, ein so unumwundenes Zugeständnis hatte sie doch nicht erwartet. »Nun, ich kenne ihn auch! In der Stunde, wo ich die Schrift las, erriet ich auch den Verfasser – er heißt Ernst Raimar!«

»Ganz recht,« erwiderte Raimar kalt. »Ich bekenne mich dazu; aber nun gestatten auch Sie mir eine Frage. Meine Schrift richtet sich gegen Herrn Ronald, gegen ihn allein, und Sie stellen mich zur Rede darüber?«

Edith zögerte, nur eine Sekunde lang, es war, als raube ihr etwas den Atem, dann aber kam die Antwort klar und fest von ihren Lippen: »Ich bin die Braut Felix Ronalds.«

Ernst gab kein Zeichen von Ueberraschung, er hatte ja das auch längst erraten, in der Stunde erraten, wo Ronald hier in Gernsbach erschien; nur etwas bleicher wurde er, als er die Bestätigung hörte.

»Dann bin ich also auch in Ihren Augen gerichtet,« sagte er mit völlig beherrschter Stimme. »Ich sprach es Ihnen ja bereits aus, gnädiges Fräulein, wir sind nun einmal vom Schicksal dazu bestimmt, uns feindlich zu begegnen, und ich hätte es mit dieser Ueberzeugung sicher nicht gewagt, Ihnen wieder zu nahen. Sie waren es, die mich herrief.«

»Ich wollte Gewißheit,« erklärte Edith, die sich jetzt auch erhob. »Für mich gab es freilich kaum noch einen Zweifel. Sie haben Wort gehalten, Herr Raimar. Sie wußten den Mann zu treffen, als dessen Feind Sie sich vor mir bekannten, und Sie führen Ihre Waffen meisterhaft.«

»Im Kampfe braucht man eben die Waffen,« versetzte Ernst, ohne den verächtlichen Ton merken zu wollen, den sie auf jenes Wort legte. »Und Herr Ronald wird den Kampf wohl aufnehmen.«

»Gegen wen?« rief Edith mit flammenden Augen. »Gegen einen namenlosen Feind, der sich feig im Dunkel birgt und von dort aus seine Angriffe, seine Beschimpfungen auf einen Mann schleudert, der allen sichtbar dasteht? So kämpft kein ehrlicher Gegner! Ronald hat recht, der Angriff ist durch sich selbst gerichtet!«

Sie schienen die Rollen getauscht zu haben, heut war sie es, die sich von ihrer Erregung fortreißen ließ, während er ihr völlig unbewegt gegenüber stand, selbst die Beleidigung glitt ab an dieser eisigen Ruhe.

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»Sie sind im Irrtum, gnädiges Fräulein,« antwortete er, »Ich habe mich bereits genannt! Ich hatte schwerwiegende Gründe, die Schrift ohne meinen Namen hinauszusenden; anonym zu bleiben, war nie meine Absicht. Ich wollte nur die öffentliche Antwort abwarten. Diese ist gestern erfolgt, und die heutigen Abendzeitungen in Berlin bringen bereits meine Erklärung, in der ich mich zu der Autorschaft bekenne. Herr Ronald hat ja seine eigenen Quellen und erfährt das jedenfalls früher als das Publikum. Er weiß vermutlich schon in dieser Stunde, wer sein Gegner ist.«

Der Angriff war abgeschlagen, Edith stand wortlos da, aber sie atmete tief und erleichtert auf, als er sich von jenem Vorwurf der Feigheit reinigte, als sei ihr damit eine Last von der Brust genommen.

»Das konnte ich in der That nicht ahnen,« entgegnete sie endlich. »Dann allerdings war diese Unterredung überflüssig – ich bedaure, Sie bemüht zu haben.«

Raimar neigte nur leicht das Haupt. »Vielleicht lassen Sie mir nun persönlich Gerechtigkeit widerfahren, mehr darf ich ja nicht fordern – leben Sie wohl!«

Er ging, wollte wenigstens gehen, aber da begegneten sich ihre Augen, und wie gebannt von diesem Blick blieb er stehen. Der eisige Ton war verschwunden aus seiner Stimme, sie hatte wieder den alten, verschleierten Klang, als er sagte: »Mein Fräulein – ein Wort noch!«

Mit einer abwehrenden Bewegung trat Edith zurück.

»Ich glaube, Herr Raimar, wir haben uns nichts mehr zu sagen.«

»Doch, eine Warnung habe ich Ihnen noch zu sagen! Sie haben den Mann nicht gekannt, dem Sie sich verlobten. Er hat Sie geblendet mit seinen mächtigen Erfolgen, wie er Ihren Vater, wie er alle Welt blendete. Sehen Sie sich das Bild an, das ich von ihm gezeichnet habe, es ist das wahre. Wollen Sie wirklich diesem Manne Ihre Zukunft, Ihr Glück anvertrauen?«

»Sie sind sein Feind!« erklärte Edith herb und bitter, »Sie haben alles in das Schlimmste gedeutet. Es mag sein, daß er über manches hinausgegangen, daß er sich über vieles hinweggesetzt hat – er ist eben Felix Ronald! Den darf man nicht mit dem gewöhnlichen Maße messen, der kann es fordern, daß man ihm und seinen Schöpfungen andere Gesetze zugesteht. Sie sehen in ihm nur den Spekulanten –«

»Das thue ich nicht!« fiel Ernst mit vollem Nachdruck ein. »Ich habe es nicht versucht, meinen Gegner zu verkleinern, ich habe offen und rückhaltlos den großen, genialen Zug anerkannt, der in dem Manne wie in seinen Unternehmungen liegt; aber es liegt auch ein Dämon in ihm, der anderen und vielleicht ihm selbst noch einmal zum Verderben wird. Hüten Sie sich davor!«

Ein leichtes Beben ging durch die Gestalt des Mädchens. Das waren ja fast Ronalds eigene Worte, er hatte ja selbst von dem Dämon gesprochen, der ihn emporgetragen und dem er folgen mußte. Edith dachte an seinen Ton und Blick, als er drohte, den Feind zu zertreten, wenn dieser seinen Weg kreuze. Da hatte sich jene dunkle Macht geregt, und es hatte ihr gegraut davor, aber gleichviel, jetzt war es zu spät zur Warnung und zur Reue.

»Sie sprechen von meinem Verlobten, Herr Raimar! Er hat mein Wort!«

»Und auch Ihr Herz?«

Edith schwieg, sie hatte ja sagen wollen, nur um diesem Gespräch ein Ende zu machen, um diesen Augen nicht länger Rede stehen zu müssen, aber die Lüge wollte nicht über ihre Lippen. Jetzt trat Ernst näher.

»Edith! – Nein, weichen Sie nicht so zurück vor mir! Ich spreche ja nicht für mich. Ich habe abgeschlossen mit dem Hoffen, als ich jenen Schritt that, denn ich ahnte längst, wie es stand, und wußte, Sie würden mir das nie verzeihen. Vielleicht siegt Ronald in dem Kampfe, vielleicht bringt er meine Anklagen zum Schweigen. Er hat mächtige Bundesgenossen, ihm steht das Gold schrankenlos zu Gebote, und ich stehe allein. Aber wenn er auch droben bleibt, ich habe ihn der Welt gezeigt in seiner wahren Gestalt, und das löscht er nicht aus, auch bei Ihnen nicht, das tötet jedes Vertrauen. Edith, um Ihrer selbst willen, machen Sie sich los von dem unheilvollen Manne, fordern Sie Ihr Wort zurück! Machen Sie sich frei, um jeden Preis!«

»Nein!« sprach Edith, ohne ihn anzusehen, aber mit unbeugsamer Festigkeit.

»Edith!«

»Nein!« wiederholte sie. »Ich gab ihm mein Wort, die Zusage meiner Hand, als er noch sicher auf seiner Höhe stand. Er liebt mich, er legte mir alles zu Füßen, was er erreicht und errungen hatte, und ich habe das hingenommen als ein Recht, das mir gebührte. Und jetzt, wo ein Sturm heranzieht, der ihn bedroht, jetzt soll ich dies Wort brechen, soll die erste sein, die ihn in der Gefahr verläßt? Muten Sie mir das im Ernste zu? Sie wußten es ja doch im voraus, wie meine Antwort lauten würde.« »Ich habe es gefürchtet!« sagte Raimar leise.

»Und nun kein Wort weiter! Wir dürfen uns nichts mehr sagen – gehen Sie!«

Ernst gehorchte, sein Blick streifte noch einmal düster das schöne Antlitz, dann ging er, ohne Lebewohl, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. Edith war allein, sie stand unbeweglich und blickte mit heißen, starren Augen auf die Thür, die sich geschlossen hatte hinter ihm – und ihrem Glücke.

 

Dort gingen zwei Menschen voneinander in derselben Stunde, wo sich zwei andere fanden. Am Ende des Parkes lag eine kleine Laube, halb versteckt im lauschigen Grün, ein Lieblingsplatz Wilmas, und dort saß Major Hartmut neben seiner Braut.

Er hatte sich heute noch gar nicht erklären wollen, die kurze Bekanntschaft gab ihm ja eigentlich noch kein Recht dazu. Er wollte nur das Terrain sondieren, dann in hergebrachter Weise werben und, wenn er seiner Sache sicher war, mit dem Antrage herausrücken. Eigens zu diesem Zwecke hatte er ja die Uniform eingepackt, aber es war nichts mit dem Hergebrachten und dem ganzen weisen Plane. Als er da neben der jungen Frau saß und ihr in die Augen blickte, da war ihm das Herz mit dem Kopfe durchgegangen, und das Geständnis war urplötzlich über seine Lippen gekommen.

Wilma hatte gar nichts gesagt, sondern ihm nur beide Hände hingestreckt, und da hatte er dann natürlich nicht die Hände, sondern die ganze kleine, blonde Frau in seine Arme und an sein Herz genommen, und jetzt sahen sie beide aus, als säßen sie mitten im Paradiese.

Da kam jemand durch den Park gestürmt. Lisbeth war drüben im Pachthofe gewesen, um ihre Spielgefährtin, die kleine Tochter des Pächters, zu besuchen, die im gleichen Alter stand, und hatte erst bei der Rückkehr gehört, daß die Herren aus Heilsberg da seien. Zwar aus dem ernsten, schweigsamen Raimar machte sie sich nicht viel, aber Onkel Hartmut war auch mitgekommen und befand sich mit ihrer Mama im Parke. Nun rannte sie atemlos und mit fliegenden Locken durch die Gänge, um die beiden zu suchen, hörte Stimmen in der Laube und stürzte eiligst dorthin. Aber das kleine Fräulein blieb wie angewachsen am Eingange stehen und sperrte das rosige Mündchen weit auf vor Erstaunen.

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Da saß Onkel Hartmut, der ihre Mama in den Armen hielt und sie küßte, und die Mama ließ sich das ganz ruhig gefallen.

»O!« kam es endlich von Lisbeths Lippen, und nun fuhren die beiden auf.

»Da ist sie – unser Mädel!« rief Hartmut. »Was meinst du, Wilma, wir werden Fräulein von Maiendorf wohl um ihre Sanktion zu unserer Verlobung ersuchen müssen?«

Wilma streckte der Kleinen die Arme entgegen und zog sie an sich.

»Um Lisbeths willen wollte ich ja allein bleiben,« flüsterte sie. »Aber als ich dich das erste Mal sah, Arnold, da hattest du mein Kind in den Armen und bewahrtest es vor dem tödlichen Sturze. Du wirst es lieb haben, ich weiß es!«

»Und wie!« bekräftigte Arnold. »Komm her, Lisbeth! Du wolltest ja gern ein Soldatenkind sein. Ich werde deine Mama heiraten – willst du mich zum Papa? Dann bist du ein Soldatenkind.«

Die kurze und bündige Auseinandersetzung fand volles Verständnis bei Lisbeth und erregte ihre höchste Zufriedenheit. Die Hurrascene von neulich hatte ihr aber sehr gefallen, und sie fand diese Gelegenheit zur Wiederholung äußerst passend. Sie schwenkte daher wieder ihr Hütchen und rief jubelnd: »Hurra Papa und Mama!«

»Das ist ein Mädel!« sagte Hartmut in höchster Bewunderung. »Solch ein Mädel gibt es überhaupt gar nicht zum zweitenmal. Hurra, mein Fräulein Tochter!«

Damit faßte er die Kleine und hob sie hoch empor, während Wilma mit feuchten Augen und glückseligem Lächeln dabei stand.

Die Meldung, daß Herr Notar Treumann soeben angelangt sei, unterbrach das Beisammensein und verursachte dem Major einen gelinden Aerger.

»Der hat gewiß wieder irgendwo etwas ausgegraben,« sagte er mißvergnügt, »und nun rückt er mit den verschiedenen Jahrhunderten vor. Ich bin aber heut gar nicht historisch angelegt; können wir ihn nicht los werden, Wilma?«

»Aber ich habe ihn ja selbst eingeladen, er kommt zu Tische,« erklärte die junge Frau; »damals wußte ich freilich noch nichts von Ediths Besuch und« – sie blickte mit einem schelmischen Lächeln zu ihrem Bräutigam hinüber – »von einem gewissen anderen Ereignis. Ich muß ihn doch begrüßen – nein, Arnold, laß mich mit Lisbeth vorausgehen und komme erst in einer Viertelstunde nach. Du verrätst dich, und wir können doch unsere Verlobung nicht so Hals über Kopf proklamieren.«

Arnold sah das zwar durchaus nicht ein, aber er blieb gehorsam zurück und zog die Uhr heraus, um die Viertelstunde gewissenhaft einzuhalten. Da tauchte urplötzlich Max Raimar auf, der von einem Spaziergange zu kommen schien, denn er trat durch die kleine Hinterpforte in den Park.

Der junge Maler war heut einigermaßen verstimmt und nicht ohne Grund, Edith Marlow hatte gestern abend fast gar keine Notiz von ihm genommen und ihm deutlich gezeigt, daß er bei ihr noch immer in Ungnade war. Max wurde freilich jetzt nicht mehr gekränkt durch diese »Herzlosigkeit« der einst Angebeteten, denn er steuerte bereits einen anderen Kurs; aber der Besuch störte ihm die Gernsbacher Idylle, und es war auch nicht leicht, sich vor den beiden Damen in seiner Doppelrolle zu behaupten.

In den Marlowschen Salons war er nämlich der moderne Mensch gewesen, der mit allen Illusionen abgeschlossen hatte, und nebenbei das ringende Genie, das sich mit seinen – erst zukünftigen – Thaten nur auf den Boden der Wirklichkeit stellte. Hier auf dem Lande, der jungen, etwas schwärmerisch angelegten Frau gegenüber, war der Idealismus bei ihm ausgebrochen. Er sprach von Unsterblichkeit, schwelgte in hohen Gefühlen und machte »solche Augen«, wie Lisbeth sich ausdrückte. Der Maxl war eben eine vielseitige Natur. Der Anblick Major Hartmuts überraschte ihn nicht, er wußte ja, daß die Herren heut oder morgen nach Gernsbach kommen wollten.

»Sieh da, Maxl!« empfing ihn Hartmut, »Wo hast du denn den ganzen Vormittag gesteckt? Man bekommt dich ja erst jetzt zu Gesicht.«

»Ich war im Walde,« versetzte der junge Mann. »Ich bin heut morgen mit den entsetzlichsten Kopfschmerzen aufgewacht und mußte mich beim Frühstück entschuldigen. Das geht leider bei mir nicht so schnell vorüber. Ich glaube, Herr Major, es ist das beste, ich fahre mit Ihnen und Ernst nach Heilsberg zurück, nur auf zwei Tage. In diesem Zustande kann ich ja doch nicht malen.« »Du Armer!« sagte der Major bedauernd. »Da kommst du ja ganz um den interessanten Besuch, Fräulein Marlow wird auch nur zwei Tage hier bleiben, wie ich hörte, und da willst du in Heilsberg sein? Sag einmal, wie stehst du denn eigentlich mit deiner Millionärin? Du sprichst ja gar nicht mehr davon.«

Max war innerlich wütend über die Frage, aber er wollte um keinen Preis seine Niederlage eingestehen und zuckte daher nur die Achseln.

»Erinnern Sie mich nicht daran – das ist vorbei! Wer ist nicht einmal einem gleißenden Irrlicht gefolgt, das ihn verlockte! Ich bin noch rechtzeitig zur Besinnung gekommen und habe mich losgerissen. Ich folge jetzt einem anderen, milderen Sterne!«

»Maxl, du wirst poetisch!« bemerkte Arnold kopfschüttelnd. »Freilich, du machst ja jetzt in Idealismus, ich habe es schon gemerkt, und der milde Stern ist dir wohl hier in Gernsbach aufgegangen? Schönes Rittergut, was? Ist auch nicht zu verachten, wenn es auch nicht gerade eine Million ist. Bist du schon wieder auf der Jagd – beichte einmal!«

Der junge Maler sah ihn mißtrauisch von der Seite an. Dieser rücksichtslose Spötter war im stande, der Frau von Maiendorf von jenen früheren Plänen zu erzählen; da galt es vorzubeugen.

»Daran habe ich nicht gedacht,« erklärte er. »Ich frage diesmal nicht nach Geld und Gut. Ich weiß nur, daß ich liebe, daß ich erwacht bin aus jenem wüsten Traum. Ich scheue mich nicht, einen Irrtum, eine Verirrung offen einzugestehen. Ja, ich liebe die junge Herrin von Gernsbach, ich bete sie an!«

Um die Lippen des Majors zuckte es ganz eigentümlich, aber sein Gesicht blieb vollkommen ernst, während er dem jungen Manne anerkennend und ziemlich derb auf die Schulter schlug.

»Brav von dir, Maxl! Sehr brav! In dem ausgebrannten Krater deiner Seele sproßt ja jetzt der reine Blumengarten. Also die junge Herrin von Gernsbach hat dir den Idealismus beigebracht? Sehr schön – aber zur Frau bekommst du sie nicht.«

»Und warum nicht?« fragte Max gereizt, indem er sich die Schulter rieb.

»Weil sie meine Frau wird!«

Der junge Maler fuhr zusammen und starrte den Redenden ganz fassungslos an. »Herr Major, ist das Scherz oder –?« »Bitte, das ist vollkommener Ernst. Vor einer Stunde habe ich mich mit Wilma von Maiendorf verlobt, und wir werden baldigst heiraten. Du bist freundlichst eingeladen zur Hochzeit, kannst uns die Tischkarten zeichnen.«

Arnold hatte im Uebermut seines Glückes gar keine Schonung für den armen Max, der noch immer wie vernichtet dastand, aber jetzt doch begriff, daß die Sache ernst war, und nun brach seine ganze Wut und Enttäuschung aus.

»Sie sind verlobt mit Frau von Maiendorf? Deshalb also kamen Sie wieder nach Heilsberg, deshalb haben Sie sich hier eingeschlichen, um mir –«

»Oho, Maxl, nimm dich in acht!« unterbrach ihn der Major, der sich plötzlich hoch und drohend aufrichtete. »Du bist der Bruder meines liebsten Freundes, und ich möchte es dem Ernst ersparen, daß wir beide uns mit der Pistole gegenüberstehen, aber wenn du mir so kommst!« –

Er rückte sehr energisch dem jungen Maler auf den Leib, der ebenso energisch zurückwich, dabei aber in hochgradiger Empörung rief: »Ich werde gehen! Ich bleibe nicht länger in einem Hause, wo man meine Gefühle so schonungslos verhöhnt.«

»Erst nimmst du das schändliche Wort zurück!« fiel ihm Hartmut in die Rede. »Eingeschlichen! Denkst du, ein Offizier läßt sich dergleichen sagen? Zurücknahme auf der Stelle – oder wir sprechen uns morgen früh!«

Max Raimar schien eine gewisse Abneigung gegen Pistolen zu hegen, und die Augen, die so drohend dicht vor den seinigen blitzten, waren ihm offenbar sehr ungemütlich, aber er zog sich sehr gut aus der Sache. Er legte die Hand über die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Wollen Sie mit einem Verzweifelnden rechten, Herr Major? Sie sehen es ja doch, wie mich Ihre Nachricht getroffen hat, und da – nun ja, da habe ich mich übereilt mit jenem Worte. Ich nehme es zurück.«

»So – nun, das genügt allenfalls!« sagte Arnold, aber dabei streifte ein unendlich verächtlicher Blick den tapferen Maxl. »Deine Verzweiflung kannst du behalten, dies Geseufze aber, das meiner Braut gilt, verbitte ich mir. In dem Punkte verstehe ich keinen Spaß, da bin ich sogar sehr empfindlich – merke dir das!«

Er wollte gehen, aber gerade in dem Augenblick kam Herr Notar Treumann den Gang herauf, augenscheinlich in sehr vergnügter Stimmung, denn er winkte und rief schon von weitem: »Aber Herr Major, was hört man da für Geschichten! Sie wollen uns unsere kleine Gutsherrin entführen? Offiziell ist mir das freilich nicht mitgeteilt worden, aber Lisbeth hat geplaudert, sie hat mir bereits von ihrem neuen Papa vorgeschwärmt, und da mußte Frau Wilma beichten. Das nennt man ja im Sturme siegen. Nun, ich gratuliere von ganzem Herzen!«

Damit streckte der alte Herr, der, sobald Neustadt nicht in das Spiel kam, aller Welt das Beste gönnte und sich mit aller Welt freute, ihm die Hand hin. Diesmal war er nicht im Vertrauen und hatte keine Ahnung davon, daß sein lieber Maxl wieder einmal abgefallen war. Der Major, dessen gute Laune sofort zurückkehrte, schlug kräftig ein.

»Ich danke, Herr Notar! Finden Sie nicht, daß ich mich als Bräutigam vorzüglich ausnehme? Aber wo ist denn Ernst? Er weiß vermutlich noch nichts, ich muß ihm doch die große Neuigkeit mitteilen.«

Treumann, der inzwischen seinen Neffen begrüßt hatte, wendete sich um und zeigte eine höchst ärgerliche Miene.

»Ernst ist gar nicht mehr in Gernsbach,« berichtete er. »Er ist wieder einmal unbegreiflich! Denken Sie nur, eine Viertelstunde von hier begegne ich ihm, allein und zu Fuße. Ich lasse natürlich anhalten und frage ihn – was bekomme ich zur Antwort? Er sei auf dem Rückwege nach Heilsberg und habe den Wagen für Sie zurückgelassen. Er selbst könne nicht bleiben, müsse schleunigst nach Hause, dringende Geschäfte – und damit läuft er im Sturmschritt davon. Was soll Frau von Maiendorf davon denken, und Sie hat er auch im Stich gelassen. Mein Herr Neffe leistet jetzt wirklich das Möglichste in der Rücksichtslosigkeit!«

Hartmut blickte mit einem etwas boshaften Lächeln auf den ganz ergrimmten alten Herrn. Ernst hatte ihm heut morgen erklärt, daß mit dem heutigen Tage das Geheimnis seiner Autorschaft zu Ende sei auch für Heilsberg, und nun beschloß der Herr Major, sich ein Extravergnügen zu machen.

»Das müssen Sie ihm diesmal schon verzeihen,« bemerkte er. »Ernst ist jetzt wirklich sehr in Anspruch genommen, vermutlich hat er Depeschen aus Berlin erhalten.«

»Depeschen aus Berlin?« wiederholte Treumann erstaunt. »Ja, was hat denn Ernst mit Berlin zu thun?« »Das werden Sie schon erfahren. Die Berliner Abendzeitungen kommen ja wohl morgen früh nach Heilsberg, da wird Ihnen die Geschichte zum Frühstück serviert. Aber eigentlich kann es Ernst nicht verantworten, daß Sie, der leibliche Onkel, es erst nachträglich und durch die Zeitung erfahren.«

Jetzt wurde Max auch aufmerksam, der Notar aber schüttelte ratlos den Kopf. »Ich verstehe Sie nicht, Herr Major,« gestand er. »Was ist denn los mit Ernst?«

»Das sollten Sie doch wissen,« spottete Arnold. »Sie sind ja eigens mit Maxl nach dem Goldenen Löwen gegangen, um ihn zu feiern. Das hätten Sie freilich näher haben können, denn er stand gerade vor Ihnen im Garten. Aber Sie kanzelten ihn ab und erklärten, an ihm sei Hopfen und Malz verloren, und gleich darauf ließen Sie ihn unlogischerweise hochleben, den Ritter Sankt Georg, wie Sie sich so schön ausdrückten, den Verfasser von ›Hexengold‹.«

.

»Das ist doch nicht etwa E–Ernst?« Der junge Maler stotterte vor Aufregung bei der Frage.

»Freilich E– E– Ernst!« stotterte ihm der Major nach. »Das greift dich wohl an, Maxl? Ja, du bist jetzt nicht mehr die einzige Berühmtheit in der Familie. – Herr Notar, ich sehe, daß Sie mir noch immer nicht glauben. Nun denn, ich gebe Ihnen mein Wort darauf, der Verfasser von ›Hexengold‹ heißt Ernst Raimar und bekennt sich heut öffentlich dazu. Und nun entschuldigen Sie mich, meine Herren, ich muß zu meiner Braut!«

Er weidete sich noch einige Sekunden an der völligen Fassungslosigkeit der beiden, machte dann kehrt und ging davon.

Onkel und Neffe standen sich noch immer wie zwei Salzsäulen gegenüber, endlich fragte der erstere halblaut, mit fast versagender Stimme: »Maxl – Maxl, was sagst du dazu?«

»Es ist nicht wahr! Es ist wieder eine von den Possen des Majors,« behauptete Maxl, der sich an diese Möglichkeit förmlich zu klammern schien.

»Er hat sein Wort darauf gegeben – es ist wahr!« brach der alte Herr aus, der jetzt zum vollen Begreifen kam. »Und das ist mein Neffe! Maxl, du mußt heut mit zur Stadt, heut abend ist Sitzung im historischen Verein, und da werde ich eine Rede halten. Meine Herren, werde ich sagen, ich bringe Ihnen eine große Neuigkeit! Wir haben diesen Verfasser von ›Hexengold‹ gesucht in Berlin, in Steinfeld, überall, alle Welt hat ihn gesucht, und nun ist er da! Hier aus Heilsberg ist das Gericht ergangen über diese Neustädter und ihren Pascha, mitten unter uns ist er auferstanden, dieser Sankt Georg – und ich bin sein Onkel!«

Es blieb unentschieden, ob der Herr Notar diese letzten Worte als Schlußeffekt seiner Rede leisten wollte, oder ob sie nur seinem augenblicklichen Hochgefühl entstammten, aber er schleuderte sie triumphierend heraus, Max dagegen sprach kein Wort, er war wütend, denn es dämmerte ihm doch das Bewußtsein auf, daß er nun abgesetzt sei als Familiengenie.

 

Ernst Raimar war in der That nach Heilsberg zurückgekehrt und hatte nur eine kurze Nachricht für Arnold zurückgelassen. Er wollte ihn nicht stören in seiner Werbung, aber er konnte es nicht mit ansehen, dies Glück des Freundes, das in derselben Stunde aufkeimte, wo er Abschied nahm von dem seinigen. Er saß jetzt in seinem Arbeitszimmer am Schreibtische, den Kopf in die Hand gestützt. Heute abend war sein Name in aller Mund, da trat er persönlich ein in den heißen Streit des Tages und stellte sich dem Sturme, den er selbst entfesselt hatte; aber der helle, frohe Kampfesmut, der aus seinen Augen blitzte damals, als er sich dem Freunde entdeckte, war verschwunden. Die alte Düsterheit lag wieder auf seinen Zügen, er wußte jetzt erst ganz und voll, was ihn dieser Kampf kostete. Die Abschiedsstunde hatte es ihn gelehrt.

Da trat einer seiner Schreiber ein und meldete: »Herr Notar, es ist ein Herr aus Steinfeld da, der Sie zu sprechen wünscht. Er will sich nicht nennen, es sei eine Privatsache –«

Er kam nicht weiter in seinem Berichte, denn der Fremde, der ihm gefolgt war, trat jetzt aus dem anstoßenden Zimmer und sagte befehlend: »Genug, es bedarf keiner weiteren Anmeldung. Ich und der Herr Notar kennen uns.«

Raimar saß in sprachloser Ueberraschung da, als er Felix Ronald erkannte, aber schon in der nächsten Minute erhob er sich mit anscheinender Ruhe.

»Jawohl, ich kenne den Herrn. Gehen Sie!«

Ein Wink verabschiedete den Schreiber, der den Gebieter von Steinfeld nicht persönlich kannte und sich nur über die kurze, herrische Art des Fremden wunderte. Er gehorchte und entfernte sich.

»Sie haben wohl nicht erwartet, mich hier zu sehen?« begann Ronald.

»Nein!« sagte Ernst kalt. »Aber Sie erraten vielleicht, was mich herführt?«

»Allerdings. Meine Erklärung ist heute morgen in Berlin eingetroffen, zum Abdruck für die Abendzeitungen, und Sie haben die Nachricht jetzt schon erhalten, man hat sie Ihnen vermutlich telegraphisch zugesandt. Auf Ihr persönliches Erscheinen war ich allerdings nicht gefaßt, aber da Sie hier sind –«

Er deutete auf einen Stuhl. Ronald machte eine hochmütig ablehnende Bewegung.

»Ich danke, wir verhandeln besser stehend miteinander. Ich gestehe, daß es mich überrascht hat, Ihren Namen als den des Verfassers von ›Hexengold‹ zu hören. Bisweilen ist mir wohl der Gedanke gekommen, aber ich verwarf ihn immer wieder, ich hielt Sie – offen gesagt – nicht für bedeutend genug zu einem solchen, nach jeder Richtung hin meisterhaft geführten Angriff. Ich mache Ihnen mein Kompliment darüber.«

Er sprach mit kaltem Hohne, und in seiner Haltung lag die ganze hochmütige Ueberlegenheit eines Mannes, der seines Sieges vollkommen sicher ist, nur seine Augen redeten eine andere Sprache, es brannte eine unheimliche Glut darin.

»Sind Sie nur gekommen, um mir das zu sagen?« fragte Raimar, der seine Gelassenheit bewahrte.

»Nein, aber ich hielt es für nützlich, wenn wir beide uns einmal unter vier Augen sprechen, ehe wir uns da draußen treffen vor aller Welt. Sie gestehen mir hoffentlich dies Recht zu. Wir sind ja – alte Feinde!«

»Das sind wir!«

»Also zur Sache! Was bezwecken Sie eigentlich mit diesem Angriff? Wollen Sie mich vielleicht stürzen? Das wäre doch ein etwas kühnes Unterfangen. Ich rate Ihnen nicht dazu.«

Ernst lehnte mit verschränkten Armen an seinem Schreibtische, das Auge fest auf seinen Gegner gerichtet, und seine Antwort klang in vernichtender Ruhe.

»Ich will ein System stürzen, dessen Führer und Vertreter Sie sind, das schon so vielen zum Unglück geworden ist, wenn sie es auch noch nicht wissen, denn die Augen werden ihnen zu spät aufgehen. Ihre anscheinend so mächtigen und riesenhaften Unternehmungen, die Ihren Namen in alle Welt hinausgetragen haben, sind auf Flugsand gebaut. Die stützt und hält nur der blinde Glaube der Menge an Sie und Ihre Macht, Steine in Gold zu verwandeln, dieser Glaube, der Ihnen immer wieder neue Quellen zuführt, wenn die alten längst versiegt sind. Wankt er einmal, dann stürzt das ganze Gebäude zusammen, muß zusammenstürzen – das wissen Sie am besten!«

»Wirklich?« fragte Ronald mit einem höhnischen Auflachen. »Wollen Sie mich belehren in Finanzangelegenheiten, Herr Notar von Heilsberg? Wo haben Sie denn Ihre Studien darüber gemacht?«

»In Steinfeld habe ich sie gemacht, es liegt uns ja nahe genug,« sagte Raimar, ohne sich durch den herben Spott beirren zu lassen. »Es war die erste Ihrer großen Schöpfungen, und sie wird auch zuerst dem Verhängnis verfallen. Sie wollten das freilich nicht abwarten und sich mit der Aktiengesellschaft decken – das dürfte jetzt nicht mehr möglich sein.«

»Sie meinen durch Ihr Pamphlet!« rief Ronald. »Sie haben allerdings mein Steinfeld als eine Art Mördergrube geschildert, wo die größten Schandthaten verübt werden und der Bankrott vor der Thür steht; den Beweis sind Sie natürlich schuldig geblieben. Herr Notar, Sie machen sich lächerlich mit solchen haltlosen Behauptungen! Die Steinfelder Werke sind jedem zugänglich, dort sind Tausende von Arbeitern, Hunderte von Beamten. Sie werfen mir freilich vor, ich hätte sie blind und fühllos gemacht mit meinem ›Bann‹. Wir leben doch nicht mehr in einer Märchenwelt!«

»Nein, wir leben in einer höchst realen Welt; aber die Bannworte sind geblieben, sie heißen jetzt nur: Furcht und Mitschuld. Ich glaube es wohl, daß Ihre Oberbeamten schweigen, sie werden sich nicht selbst an das Messer liefern, aber all die anderen hält nur die Furcht, und jetzt ist der Bann gebrochen, jetzt werden sie reden.«

»Da sie einen so vorzüglichen Anwalt finden, der ihnen die Worte in den Mund legt – vielleicht! Solche Menschen lassen sich nur zu gern hetzen gegen den, der ihnen jahrelang Arbeit und Brot gegeben hat. Und Sie machen sich ja mit Vorliebe zum Anwalt der ›Unterdrückten‹. Sie haben schon damals Sensation damit gemacht, bei Ihrem ersten Auftreten in dem großen Streikprozeß, nun, jetzt können Sie Ihre Rednergaben in eigener Sache verwenden. Ich werde natürlich die Klage auf Verleumdung stellen, das haben Sie doch wohl erwartet?«

»Gewiß, das habe ich sogar bezweckt. Ein Streit wie der unsere kann nur in vollster Oeffentlichkeit ausgefochten werden.« Ronald trat plötzlich dicht vor ihn hin und maß ihn verächtlich vom Kopf bis zu den Füßen.

»Glauben Sie etwa, daß ich Sie fürchte?«

»Ja, Sie fürchten mich – sonst wären Sie nicht hier!« sagte Raimar, den Blick ebenso zurückgebend. »Sie wollen wissen, wie weit meine Kenntnis reicht, und was ich etwa noch verschweige. Geben Sie sich keine Mühe, bei einem Gegner wie Sie ist man auf seiner Hut.«

»Daran thut man recht. Mit mir ist nicht leicht zu kämpfen, – ich heiße Felix Ronald!«

Er richtete sich hoch und drohend auf, aber in den Worten lag mehr als der gemeine Hochmut des Emporkömmlings. Das ganze mächtige Selbstbewußtsein, die eiserne Energie, die den Mann emporgetragen und groß gemacht hatte, sprach daraus. Er stand da, als habe er in der That die Macht, alles, was sich gegen ihn erhob, in den Staub zu treten.

Aber hier traf er auf einen ebenbürtigen Gegner, der ihm nicht einen Fuß breit wich, auch der richtete sich jetzt empor, und auch in dessen Augen flammte es drohend und vernichtend, als er kalt und fest antwortete: »Und ich heiße Ernst Raimar!«

Ronald biß sich auf die Lippen. Er schien denn doch nicht gefaßt zu sein auf eine solche Kühnheit, mit der der »Notar von Heilsberg« sich auf gleiche Stufe mit ihm stellte, dann aber flog ein unheimliches Lächeln über seine Züge, und er wiederholte langsam, mit scharfer Betonung: »Raimar – jawohl! Der Name wird Ihnen doch hinderlich sein in der Oeffentlichkeit. Sie persönlich sind ja einwandfrei, aber ich fürchte, man wird Ihnen trotzdem nicht das Recht zugestehen, in solchen Dingen den idealen Standpunkt zu vertreten und sich zum Sittenrichter aufzuwerfen.«

Der Hieb glitt wirkungslos ab, Ernst zuckte nicht einmal dabei, er blieb ruhig.

»Das heißt, Sie wollen Ihren Anhang und die Presse, die Sie beeinflussen, gegen mich hetzen und ihnen das Losungswort geben, mich gerade an der Stelle schonungslos anzugreifen? Sie wollen mir die Waffen aus der Hand winden, indem Sie der Welt klarmachen, daß ich überhaupt kein Recht mehr habe, eine Waffe zu führen?«

»Was ich thun werde, ist meine Sache!«

»Ganz recht, aber was ich dann thue – Felix Ronald, es ist nicht das erste Mal, daß wir beide uns so treffen. So standen wir uns schon einmal vor zehn Jahren gegenüber, und die Worte, die damals fielen, haben Sie so wenig vergessen wie ich.«

»Nein, aber Sie thäten gut, mich nicht daran zu erinnern,« sagte Ronald eisig, er schien auf einmal seine ganze Ruhe wiedergefunden zu haben, »Sie waren damals völlig unzurechnungsfähig in Ihrer Verzweiflung, und mit einem Tollen rechtet man nicht – sonst hätten Sie mir jene Stunde büßen müssen.«

»Nun, ich habe es doch schon damals gewußt, daß man der Welt nicht mit Behauptungen, nur mit Beweisen kommen darf.« Ernst sprach nur halblaut, aber der Klang seiner Stimme, sein ganzes Aussehen verriet, daß es etwas Furchtbares war, was er da berührte. »Was ich in meiner Schrift behaupte und vertrete, dafür wird Steinfeld selbst den Beweis liefern, aber ich wiederhole es Ihnen, zügeln Sie Ihre Presse! Wenn sie die angebliche Schuld meines Vaters gegen mich ins Feld führt, wenn man diese Wunde schonungslos wieder aufreißt, dann reißt man auch mich fort über die Grenzen der Besonnenheit. Dann, beim ewigen Gott, schleudere ich das, was bisher nur einmal über meine Lippen gekommen ist, in die Welt hinaus, ohne Beweise! Jetzt glaubt man mir vielleicht doch!«

Es war das letzte Aufbäumen einer lang getragenen Qual, Ronald erwiderte kein Wort auf diesen stürmischen Ausbruch, und in seinem Gesicht zuckte keine Muskel, nur die Augen loderten in wildem dämonischem Haß, und seine Rechte machte sich wie zufällig an der Brusttasche des Rockes zu schaffen. Raimar sah das und trat einen Schritt zurück.

»Was soll das?« fragte er scharf und laut.

Ronald schien sich zu besinnen, er ließ langsam die Hand wieder sinken.

»Sie haben recht, es thut nicht gut, wenn wir beide uns unter vier Augen sprechen, das könnte noch einmal ein Unglück geben. Das weitere wird sich ja finden. Also – auf Wiedersehen!«

Damit ging er, mit hoch erhobenem Haupte und festem Schritt, stieg in seinen draußen harrenden Wagen und rief dem Kutscher zu: »Nach Gernsbach!«

Ernst Raimar blieb allein, aber die Düsterheit, die Träumerei von vorhin waren verschwunden. Diese Begegnung hatte ihm gezeigt, daß jetzt keine Zeit war, um verlorenes Glück zu trauern. Er atmete tief auf, aber es war etwas wie Erlösung in diesem Aufatmen, und laut und fest sprach er: »Nun denn hinein in den Kampf – in das Leben!«

 

Major Hartmut war als glücklicher Bräutigam nach der Stadt zurückgefahren, und Notar Treumann war gleichzeitig aufgebrochen, nicht minder glücklich im Besitz der »großen« Neuigkeit, die er zuerst nach Heilsberg brachte. Max hatte sich dem Onkel angeschlossen, begreiflicherweise in sehr gedrückter Stimmung, denn auch diese Landidylle endete für ihn mit einer Niederlage. Keiner von ihnen ahnte, daß in dem geschlossenen Wagen, der vorüberfuhr, Felix Ronald saß. Es dämmerte bereits, als dieser in Gernsbach eintraf.

Die Begrüßung in Wilmas Gegenwart war vorüber, die beiden Verlobten traten soeben in Ediths Zimmer, und jetzt, wo sie allein waren, zog Ronald die Braut leidenschaftlich an seine Brust.

»Ich danke dir!« sagte er. »Ich wollte dich nicht um diese Zusammenkunft in Gernsbach bitten, aber ohne deinen Entschluß hätten wir unser Wiedersehen noch länger hinausschieben müssen. Ich kann jetzt nicht fort von Steinfeld und gehe voraussichtlich erst in vierzehn Tagen nach Berlin. Ich danke dir, daß du gekommen bist, meine Edith!«

Es klang eine stürmisch aufwogende Freude in seiner Stimme, Edith hatte die Umarmung hingenommen, ohne sie zu erwidern, jetzt machte sie sich los, fast mit einer Bewegung der Ungeduld, und sagte hastig: »Ich mußte dich auch sprechen, Felix, wir haben uns brieflich ja nur ganz flüchtig verständigen können. Du hast jetzt mehr als je zu thun, ich weiß es, und wollte dich nicht quälen mit Fragen und Drängen. Nun aber sage mir – was hast du beschlossen?«

Sie wollte ihn neben sich auf das Sofa niederziehen, aber Felix blieb stehen. Er schien doch etwas anderes erwartet zu haben, in der ersten Stunde des Wiedersehens, nach mondenlanger Trennung, als diese hastigen, ungeduldigen Fragen. Seine eben noch so leidenschaftlich erregte Stimme hatte auf einmal einen kühlen, scharfen Ton, als er fragte: »Wovon redest du denn eigentlich? Ich verstehe dich nicht.«

Edith sah ihn mit der äußersten Betroffenheit an.

»Wovon ich rede? Aber ich bitte dich, Felix, gibt es denn jetzt für uns ein anderes Interesse als den Angriff, womit jene Flugschrift dich bedroht?«

»Bedroht? Mich?« wiederholte er in dem gleichen Tone. »Du scheinst der Sache eine ganz unverdiente Wichtigkeit beizulegen. Es ist eine geschäftliche Intrigue, in erster Linie gegen die Aktiengesellschaft gerichtet, deren Bildung man verhindern will. Natürlich werden dabei auch ich und mein Steinfeld angegriffen, das gehört eben dazu, aber es ist doch nicht weiter bedrohlich. Ich habe meine Maßregeln bereits genommen und werde die Antwort nicht schuldig bleiben.«

Ediths Augen hafteten noch immer befremdet und fragend auf seinen Zügen, als wolle sie darin lesen, ob diese kühle Ruhe natürlich oder erzwungen sei, endlich sagte sie halblaut: »Papa nimmt die Angelegenheit sehr ernst, das weißt du vermutlich.«

»Ja, ich weiß,« Ronald zuckte verächtlich die Achseln. »Wir haben sie ja ausführlich erörtert, ehe ich nach Steinfeld ging. Er war ganz außer sich darüber. Dein Vater ist eben ein Geschäftsmann alten Schlages, der solche Zwischenfälle gar nicht kennt und überhaupt keinen persönlichen Feind hat. Ich habe von jeher mit dem Haß meiner Gegner rechnen müssen und bin noch immer mit ihnen fertig geworden. Ich werde es auch diesmal – verlaß dich darauf!«

»Hier handelt es sich aber um mehr als bloße Feindseligkeit,« fiel Edith erregt ein. »Man greift nicht nur deine Schöpfungen, man greift dich und deine Ehre an, das kann und darf dir nicht gleichgültig sein. Du mußt diese Anklagen vernichten, ohne Zögern vernichten, wenn du ihnen nicht erliegen willst.«

Ronald stand finster mit zusammengezogenen Brauen da, die Mahnung aus dem Munde seiner Braut schien ihn zu verletzen, aber in seiner Antwort lag eine furchtbare Bestimmtheit.

»Sei ruhig! Ich werde sie vernichten und meinen Feind mit ihnen! Aber ich sehe, daß du dich hier ganz von deinem Vater beeinflussen laßt, der die Tragweite der Sache völlig überschätzt. Ihr habt euch brieflich bereits verständigt, wie es scheint, da wird er dir wohl auch mitgeteilt haben, daß ich mit seinem Vorschlag durchaus einverstanden bin.« »Mit welchem Vorschlage?« fragte Edith erstaunt. »Was meinst du damit?«

»Nun, hinsichtlich unserer Verlobung. Sie sollte ja in allernächster Zeit veröffentlicht werden, und dein Vater wünscht das natürlich jetzt nicht, er verlangt im Gegenteil, daß sie unbedingt Geheimnis bleibe. Er ist eben immer und überall der kluge, vorsichtige Geschäftsmann und wird es auch dir wohl hinreichend klar gemacht haben, daß man – erst abwarten müsse.«

»Felix, du bist im Irrtum,« unterbrach ihn Edith, aber er fuhr, ohne das zu beachten, fort: »Ich finde das ja ganz natürlich, aber es wäre rücksichtsvoller gewesen, wenn ihr mir den Vorschlag überlassen hättet, ihr konntet darin wirklich meinem Takte vertrauen.«

Er sprach mit anscheinender Ruhe, aber um seine Lippen zuckte eine grenzenlose Bitterkeit. Edith begriff erst jetzt, um was es sich handelte, mit einer raschen Bewegung erhob sie sich und sagte fest und bestimmt: »Mein Vater hat mir nichts Derartiges geschrieben, und ich würde auch nicht zugestimmt haben. Ich sehe keinen Grund, die ursprüngliche Bestimmung zu ändern, und ich denke, wir bleiben dabei. Sobald du in Berlin eintriffst, erklären wir öffentlich unsere Verlobung und versenden die Anzeigen.«

Felix fuhr auf, ein Strahl heißen, wilden Glückes flammte in seinen Augen, und mit stürmisch hervorbrechender Leidenschaft rief er: »Edith, das wolltest du? Gerade jetzt!«

»Hast du daran gezweifelt?« fragte sie stolz und ruhig. »Mein Platz ist jetzt an deiner Seite, ich kenne meine Pflicht.«

Ronald hatte eine Bewegung gemacht, als wolle er seine Braut an sich reißen, jetzt ließ er die Arme wieder sinken, und der Strahl in seinem Auge erlosch so jäh, wie er aufgeflammt war.

»Deine Pflicht?« wiederholte er, in ganz verändertem Tone. »Ja so –«

»Mein Vater wird vielleicht widerstreben,« fuhr Edith fort, ohne den Ton bemerken zu wollen, »aber er muß nachgeben, denn hier haben nur wir beide zu entscheiden. Ich gehe übermorgen nach Berlin, soll ich jetzt schon Andeutungen machen oder wollen wir warten bis zu deiner Ankunft? Ich bin zu allem bereit.«

»Das sehe ich!« sagte Ronald herb. »Zu allem, nur zu dem einen nicht, worauf ich warte, seit wir allein sind, auf ein einziges warmes und inniges Wort aus deinem Munde! Hättest du mir gesagt: mein Vater hat recht, laß uns schweigen, bis der Sturm vorüber ist, aber ich bleibe dein, Felix, ich habe dich lieb! – Ich hätte dir gedankt, gedankt, wie ein Verschmachtender, dem man den frischen Trunk reicht. Und nun stehst du vor mir, so fremd, so eisig, als läge eine endlose Kluft zwischen uns, und bietest mir ein kaltes Opfer der Pflicht, das ich nicht will! Ich nehme kein Almosen der Großmut, das mir so geboten wird!«

Edith stand halb verletzt, halb beschämt da, während er sich mit vollster Heftigkeit abwendete und an das Fenster trat. Er hatte ja recht mit seinen Vorwürfen, es lag kein Hauch von Liebe oder auch nur von Wärme in ihrer Erklärung, das eine Wort, das er forderte, wollte nicht über ihre Lippen, sie konnte es nicht aussprechen. Es lag wie eine Eiskluft zwischen ihr und dem Manne, dem doch ihr ganzes Leben gehörte. »Du thust mir unrecht,« sagte sie endlich leise. »Ich wollte dich nicht kränken, aber ich – – Du kannst nicht anders!« ergänzte Ronald, sich langsam wieder umwendend, »Du hast ja recht, ich sollte es doch nun endlich wissen! Aber ich habe geglaubt, ich könnte es erzwingen mit meiner Leidenschaft, habe es immer wieder versucht, und immer wieder trafen Eis und Feuer zusammen. Du kannst nun einmal nicht lieben, nicht heiß und voll empfinden! Es ist nicht deine Schuld, aber mein Verhängnis ist es, daß ich dich, gerade dich lieben muß!«

Es klang fast wie Groll und Haß aus den Worten, und doch lag der Mann völlig im Banne der so spät erwachten Leidenschaft, die jetzt sein ganzes Sein und Wesen beherrschte. Selbst der Sturm, der so drohend gegen ihn heranzog, blieb machtlos diesem Banne gegenüber. Die junge Braut bebte leise zusammen. »Du kannst nicht lieben!« Sie wußte es besser, und vielleicht war es ein geheimes Schuldbewußtsein, was ihrer Stimme diesen weichen Klang gab, als sie erwiderte: »Laß uns doch nicht um Worte rechten! Ich zeige es dir ja, daß ich die Deine bin und bleiben will. Wozu denn diese Bitterkeit und diese Vorwürfe, du thust mir weh damit.«

Der Ton, so neu und ungewohnt in dem Munde seiner Braut, verfehlte nicht den Eindruck auf Ronald. Sein Antlitz hellte sich auf, er trat wieder zu ihr und preßte, ohne ein Wort zu sprechen, in heißer, stummer Abbitte seine Lippen auf ihre Hand. Diesmal ließ er es auch geschehen, daß sie ihn an ihre Seite niederzog, während sie fortfuhr: »Du bist furchtbar gereizt, Felix, und ich finde das nur zu begreiflich. Es handelt sich hier doch um kein Opfer. Wir hatten ja stets den Anfang des Oktober für die Erklärung unserer Verlobung bestimmt.«

»Nein, wir hatten den Zeitpunkt meiner Standeserhöhung dazu bestimmt,« sagte Ronald finster, »Das ist einstweilen verschoben worden! Also verschieben wir auch jene Erklärung.«

»Man hält dir nicht Wort?« fragte Edith betroffen. »Du hieltest die Sache doch für vollkommen gesichert.«

»Sie war beschlossen und genehmigt und sollte in diesen Tagen vollzogen werden, ich weiß das mit Bestimmtheit. Da kam jener Angriff, und da wuchs plötzlich ein ganzes Heer von Ausflüchten und Vorwänden aus dem Boden hervor. Mir lag aber gerade jetzt alles an diesem Beweis des Vertrauens von oben, ich wollte es erzwingen und stieß endlich auf ein unverhülltes Nein. Die Angelegenheit müsse ruhen, bis auf weiteres, ich müsse mich erst rechtfertigen gegen jene Anklagen.«

Er sprach mit rücksichtsloser Offenheit, aber man sah doch, wie schwer es dem stolzen Manne wurde, das seiner Braut zu bekennen, der er die Freiherrnkrone als Morgengabe hatte bringen wollen. Er bekannte damit doch auch die Tragweite jenes Angriffs, die er bis jetzt geleugnet hatte. Edith erbleichte, sie ahnte, was diese Zurücknahme des gegebenen Wortes bedeutete. Zum erstenmal scheiterte die bisher so schrankenlose Macht ihres Verlobten, zum erstenmal wankte das Gebäude seines Glückes. Vielleicht fühlte er das selbst, denn die tiefste Gereiztheit verriet sich in jedem seiner Worte.

»Rechtfertigen!« wiederholte er mit einem bitteren Auflachen. »Gegen eine anonyme Schmähschrift, die da aus irgend einem dunklen Winkel auftaucht! In jedem andern Lande würde man die Achseln darüber zucken und es mir überlassen, solches Gewürm zu zertreten, aber hier in unserem biederen, spießbürgerlichen Deutschland nimmt man solche Dinge ernst. Da fordert man mich vor das Forum der öffentlichen Meinung, da verlangt man, daß ich mit all meinen Schöpfungen einer Krämermoral Rede stehen soll. Ich, der ich gewohnt bin, mit Millionen zu rechnen! Auf meine Erfolge werde ich sie verweisen. Das bin ich geworden! Das habe ich geschaffen! – Da habt ihr meine Rechtfertigung!«

Es war wieder das Aufflammen seines ganzen mächtigen Selbstbewußtseins, jener Zug von Größe, der auch Edith geblendet und gefesselt hatte, aber seltsam, jetzt versagte dieser Eindruck.

»Man thut dir unrecht mit jenen Anklagen, ich weiß es,« sagte sie, aber es lag weit mehr geheime Angst als Ueberzeugung in ihrer Stimme. »Du hast vielleicht manche Grenzen überschritten, überschreiten müssen – ich begreife das, dir stand das Recht des Ungewöhnlichen zur Seite. Aber Felix, in jener Schrift werden dir Dinge vorgeworfen, denen du Rede stehen mußt. Man ruft ja Steinfeld selbst zum Beweise gegen dich auf, deine eigene Schöpfung.«

»Wer thut das?« fragte Ronald verächtlich. »Erkaufte Federn, denen jedes Mittel recht ist. Die Hetzjagd gegen mich und Steinfeld wird wohl gut bezahlt werden – wütend genug ist sie dazu.« »Das ist nicht wahr!« brach Edith unvorsichtig aus. »Raimar läßt sich nicht erkaufen!«

»Raimar?« Felix zuckte zusammen wie von einer Natter gestochen. »Du kennst den Namen? Wer verriet ihn dir?«

Es war zu spät, die Uebereilung wieder zurückzunehmen, und Edith dachte auch nicht daran, zu leugnen, aber Ronald war aufgesprungen und wiederholte mit vollster Heftigkeit: »Woher kennst du den Namen? Er war Geheimnis, ich selbst erfuhr ihn erst heute morgen, und du weißt ihn? Woher? Durch wen?«

»Durch Raimar selbst – er war heute in Gernsbach.«

»So! Du scheinst ja merkwürdige Gespräche mit diesem Herrn zu führen. Das erste Mal, als du ihn sahst, bekannte er sich vor dir als meinen Feind, heute bekennt er sich als Verfasser der Schmähschrift. Hat er wirklich die Stirn gehabt, dir das zu sagen, und du hast es angehört?«

Er sprach mit herbem Vorwurf, aber er hielt den Besuch Raimars, dessen Verkehr in Gernsbach er ja kannte, offenbar für zufällig, und eine geheime Stimme mahnte Edith, ihn dabei zu lassen. Doch das stolze, furchtlose Mädchen empfand die Aufrichtigkeit jetzt als eine unabweisbare Pflicht.

»Du irrst, Felix,« antwortete sie, »Raimar kam nicht zufällig, ich selbst habe ihn hergerufen. Ich wollte ihn zwingen, das geschlossene Visier zu öffnen, das Geheimnis zu lösen – ich mußte Gewißheit haben, wenn ich auch kaum mehr zweifelte!«

»Du hattest den Namen erraten, den ich nicht einmal erriet! Du kanntest bereits die Wahrheit?«

Der dumpfe, heisere Ton, der Blick hätte Edith warnen sollen, aber sie ließ sich unvorsichtig fortreißen, freilich ohne zu ahnen, wie sie in diesem Augenblick aussah, wie ihr ganzes Wesen aufzuflammen schien, als sie rief: »Ich wußte sie, als ich die Schrift las! Mit so unerhörter Kühnheit vorgehen gegen einen Mann von deiner Macht und Stellung, sich so rücksichtslos einsetzen für das, was ihm Recht heißt, konnte nur einer, das konnte nur –«

»Edith!« Das Wort brach wie ein wilder, halberstickter Aufschrei von Ronalds Lippen. Er war leichenblaß, und seine Augen bohrten sich förmlich in das Antlitz seiner Braut, als suche er etwas darin. Noch verstand sie ihn nicht, diesen starren, glühenden Blick, aber sie fühlte, daß etwas Furchtbares darin lag.

»Nun?« fragte Felix nach einer Pause. »Warum sprichst du nicht weiter? Das konnte nur einer, dieser Held des Rechtes! Denn das scheint er ja zu sein in deinen Augen, und ich – was bin ich dir dann?«

»Felix, ich bitte dich,« hob Edith beklommen an, aber er ließ sie nicht ausreden, seine Hand schloß sich wie eine Eisenklammer um ihren Arm, und er beugte sich zu ihr nieder, so nahe, daß sein heißer Atem ihre Wange streifte.

»Ich that dir unrecht vorhin,« sagte er mit bitterem Hohne. »Du kannst empfinden, ich sehe es ja! Nur mir starrt immer und ewig das Eis entgegen, mir, dem du deine Hand zugesagt hast! Oder hast du das vielleicht vergessen?«

Es lag eine kaum verhüllte Drohung in der Frage, aber Drohungen war Edith nicht zugänglich, sie gab den Blick fest und kalt zurück, und ebenso klang ihre Antwort: »Nein! Ich gab dir mein Wort und werde es halten – aber laß meinen Arm los, Felix, du thust mir weh mit diesem harten Druck!«

Ronalds Finger lösten sich langsam, er gab ihren Arm frei, aber sein Blick hing noch immer mit jenem wilden Forschen an ihren Zügen.

»Du mußt verzeihen, daß ich so spät kam,« begann er von neuem. »Ich hatte noch etwas abzumachen vorher – drüben in Heilsberg!«

»Doch nicht etwa – mit Raimar?« fragte Edith mit stockendem Atem.«

»Mit dem Herrn Notar, jawohl! Wir haben uns nun auch mündlich die Fehde angesagt. Ich glaube, du erschrickst darüber? Sei ruhig, ich stehe ja heil und gesund vor dir, und auch ›er‹ ist noch am Leben. Einen Augenblick freilich, als ich ihm so gegenüberstand, hatte ich einen Gedanken – eine bare Tollheit wäre es gewesen, die ich hätte büßen müssen! Ich wußte das ganz genau, aber es gibt Momente, wo man trotzdem fähig ist zu solchen Tollheiten. Ich kam noch rechtzeitig zur Besinnung, zum Glück für uns beide, aber wäre ich vorher in Gernsbach gewesen, vielleicht –«

Er vollendete nicht, aber sein Blick ergänzte die Worte. Edith erhob sich plötzlich und trat an den Schreibtisch, der seitwärts stand, ihr war, als müsse sie flüchten vor dem Manne, der in diesem Augenblick etwas Tigerartiges hatte.

Ronald folgte ihr nicht, er blieb am Tische stehen, und der volle Schein der Lampe fiel auf sein Gesicht, das noch immer jene fahle Blässe zeigte. Das Stillschweigen dauerte minutenlang, auch Edith war bleich geworden, aber es kam keine Silbe über ihre Lippen, bis endlich Felix wieder das Wort nahm.

»Du botest mir vorhin die öffentliche Erklärung unserer Verlobung an, und ich wiederhole dir: Ich will dies Opfer nicht, die Sache bleibt Geheimnis! Das Wort aber, das du mir gabst, behalte ich, auch wenn du dich – anders besinnen solltest. Ich lasse nicht mit mir spielen! Was mein ist, das bleibt mein, das halte ich fest, solange noch Leben in mir ist. Ich sagte es dir ja am Tage unserer Verlobung, ich bin nicht der kühle, berechnende Mann der Zahlen, für den mich die Welt hält, weil die Zahlen mich groß gemacht haben. Wenn der Dämon in mir geweckt wird – hüte dich vor ihm!«

Er sprach mit einer unheimlichen Ruhe, die schlimmer war als sein drohendes Aufflammen vorhin, dann wandte er sich zum Gehen, blieb aber an der Thür noch einmal stehen.

»Ich muß fort – lebe wohl!«

»Jetzt willst du fort?« fragte Edith leise, »die Nacht bricht an.«

»Gleichviel, ich muß nach Steinfeld zurück. In vierzehn Tagen bin ich in Berlin, bis dahin – leb wohl!«

Er ging, und wenige Minuten später hörte Edith seinen Wagen davonrollen. Sie war in den Sessel vor dem Schreibtische niedergesunken und verbarg das Gesicht in den Händen. Sie fühlte nur noch eins, eisiges Grauen vor dem Manne, der sich ihr heute erst in seiner wahren Gestalt zeigte – und dieses Mannes Weib sollte sie werden!

Indessen fuhr Felix Ronald nach Steinfeld zurück, wo er in der That notwendig war. Dort hatte man ihn zuerst angegriffen, dort mußte er sich auch verteidigen.

Aber das schreckte den Mann nicht, der da, im finsteren Brüten in die Ecke seines Wagens gelehnt, durch die dunkle Herbstnacht dahinfuhr. Er hatte ja so oft schon va banque gespielt in seinem Leben, eigentlich immer. Wie oft schon hatte das Glück gedroht, ihn zu verlassen, er hatte es immer wieder zurückgezwungen an seine Seite, als stehe es bei ihm in Dienst und Pflicht. Noch hielt er die Macht in den Händen, noch gebot er über einen zahlreichen Anhang, der mit ihm gehen mußte, weil er mit ihm fiel – damit ließ sich dem heranziehenden Sturme die Stirn bieten. Es war etwas anderes, was jetzt in seinem Innern stürmte, die wild auflodernde Eifersucht, und der Instinkt dieser Eifersucht ließ ihn die Wahrheit ahnen. Er mit all seiner heißen Leidenschaft, seinem stürmischen Werben hatte immer nur kühle Duldung gefunden bei der schönen, eisigen Braut, aber er kam nicht los von dieser Leidenschaft. Sie war ihm in der ruhelosen Jagd nach Gold und Macht, die sein ganzes Leben ausfüllte, eine Verheißung von Frieden und Glück gewesen, hatte seine ganze Natur in Fesseln geschlagen, und jetzt? Er dachte an Ediths Aufflammen, als sie von Raimar sprach, und es lag eine grausame Entschlossenheit in den Worten, die er jetzt halblaut hervorstieß: »Nehmt euch in acht, ihr beide! Ich kann vernichten, was mein ist – lassen werde ich es nicht!«

 

Das Haus des Bankiers Mailow lag im älteren Teile Berlins und war eines jener alten, vornehmen Gebäude, die, vor mehr als einem halben Jahrhundert entstanden, sich noch ihre ganze Eigenart bewahrt haben. Die Geschäftsräume lagen im Erdgeschoß, die Wohnung der Familie im ersten Stock und im zweiten die Gesellschaftszimmer. Die innere Einrichtung des Hauses entsprach seinem Aeußeren, überall vornehme Behaglichkeit, gediegener Reichtum, aber nirgends ein Prahlen mit diesem Reichtum, nirgends eine aufdringliche Pracht. Man sah und fühlte es, daß man sich hier nicht bei einem der modernen Börsenfürsten befand, die solche Schaustellungen lieben. Etwas von dem ernsten, strengen Geiste des alten Handelsherrn, der einst das Haus Marlow gegründet hatte, wehte noch immer in den Räumen, die jetzt sein Enkel bewohnte.

Es war in den ersten Tagen des Dezember. Marlow befand sich bei seiner Tochter, die er in ihren eigenen Zimmern nur selten aufsuchte, und man sah es auch an seinem Gesichte, daß von ernsten Dingen die Rede war. Er ging in offenbarer Erregung auf und nieder, während Edith am Erkerfenster saß.

»Kurz, die Sache wird immer ernster und bedrohlicher!« schloß er soeben eine längere Rede. »Ronald leugnet das zwar noch immer, er will es eben nicht zugeben. Du sprachst ihn ja allein, was sagte er dir?«

Edith, die halb abgewendet dasaß, schien dem Vater nicht gern Rede zu stehen, sie antwortete ausweichend.

»Felix ist jetzt meist in einer Stimmung, mit der sich nicht rechten läßt. Ich begreife das und schone ihn so viel als möglich, du scheinst das nicht gethan zu haben, Papa, er war tief gereizt, als er von dir kam.«

»Wir haben Geschäftliches besprochen, da kann man keine Schonung üben,« erklärte Marlow. »Ich habe es ihm offen herausgesagt, daß er nicht so rücksichtslos vorgehen, nicht so alle Brücken hinter sich abbrechen darf. Er hat nicht mehr die Zügel in Händen, wie noch vor drei Monaten, Was da inzwischen in Steinfeld laut geworden ist, läßt sich nicht so ohne weiteres niederzwingen. Jetzt, wo die Unterbeamten, die Arbeiter nicht mehr für ihre Existenz fürchten, wo sie sich im Schutze der Öffentlichkeit wissen, jetzt redet alles. Aber er will ja nicht hören und kümmert sich nicht um meine Warnungen. Meinetwegen! Steinfeld ist sein Eigentum – ich habe nichts mehr damit zu schaffen.«

»Nichts mehr?« Edith wandte sich überrascht, fast erschrocken um.

»Nein, der Plan ist ja gescheitert und die Aktiengesellschaft unmöglich geworden. Glaubst du, daß sich jetzt noch jemand findet, der sein Geld an Steinfeld wagt, oder dafür eintritt?«

»Du bist doch einst dafür eingetreten, Papa, und mußt als Finanzmann doch ein Urteil darüber gehabt haben. Du stimmtest damals sofort dem Plane zu,«

Der Vorwurf wurde gefühlt und verstanden, der Bankier blieb stehen, und in seiner Stimme verriet sich eine gewisse Unsicherheit, als er hastig sagte: »Da lagen die Dinge anders. Ich habe manches nicht gewußt, manches vielleicht zu milde beurteilt. An ein Riesenunternehmen wie Steinfeld durfte man nicht den gewöhnlichen Maßstab legen, da ist vieles erlaubt, ja notwendig, was in kleineren Verhältnissen zu verwerfen wäre. Es läßt sich da unendlich schwer eine Grenze ziehen. Nach dem Einblick, den ich jetzt habe, würde ich mich unbedingt zurückziehen, selbst wenn die Bildung der Gesellschaft noch möglich wäre. Diese Unmöglichkeit erspart mir die immerhin peinliche Absage an Ronald.«

Edith schwieg, aber sie begriff vollkommen. Marlow hatte ja vielleicht manches nicht gewußt und vieles nicht wissen wollen, um nicht einem Unternehmen fern bleiben zu müssen, das ihm ungemessenen Vorteil versprach. Sobald die öffentliche Meinung sich dagegen erklärte, erwachte sein kaufmännisches Gewissen, da zog er sich vorsichtig und rechtzeitig zurück. »Der kühle, kluge Geschäftsmann« wußte immer, was er that, er hatte sich auch bei diesem Rückzuge keine Blöße gegeben, aber seine Tochter fühlte doch jetzt zum erstenmal, daß zwischen ihr und dem Vater eine Kluft lag. Freilich, er war derselbe geblieben, und sie war eine andere geworden – seit dem Frühjahr!

»In der nächsten Woche beginnt der Prozeß,« hob Marlow wieder an. »Da hatte Ronald ja allerdings keine Wahl; zu den Anklagen jener unseligen Schrift schweigen hieß sie zugeben. Er mußte die Klage wegen Verleumdung stellen, auf alle Gefahr hin. – Bestehst du denn noch immer darauf, den Verhandlungen beizuwohnen?«

»Ja,« sagte Edith mit voller Entschiedenheit. »Ich kann und will nicht fern bleiben, wo so viel für uns auf dem Spiele steht.«

»Für uns – ja so!« wiederholte der Bankier gedehnt, und dabei streifte ein eigentümlich forschender Blick die Tochter. »Nun, gerade deshalb möchte ich dich noch einmal bitten, gib den Gedanken auf! In solchen gerichtlichen Verhandlungen werden oft die peinlichsten Dinge erörtert. Bist du deiner Selbstbeherrschung so völlig sicher, um nur als fremde Zuhörerin zu erscheinen? Oder wäre es dir gleichgültig, wenn man gerade jetzt deine Beziehungen zu Ronald erriete?«

»Das Erraten wäre überflüssig gewesen. Ich habe Felix schon bei unserem letzten Zusammentreffen in Gernsbach vorgeschlagen, unsere Verlobung öffentlich zu erklären.«

»Edith!« Es war ein Ausruf des Schreckens, aber sie fuhr unbeirrt fort! »Er wollte das damals nicht annehmen, ich war bereit dazu,«

»Um Gottes willen, welch ein Gedanke!« brach Marlow aus. »Jetzt, wo Ronald von allen Seiten angegriffen wird, willst du dich öffentlich als seine Braut erklären? Ein Glück, daß er wenigstens vernünftig war. Er kann jetzt doch unmöglich verlangen – «

»Was er später unbedingt verlangen wird!« ergänzte Edith. »Und da fordert er nur sein Recht,«

Marlow schien einen Widerspruch auf den Lippen zu haben, unterdrückte ihn aber und nahm neben seiner Tochter Platz.

»Kind, du ahnst nicht, wie die Sache steht,« sagte er in gedämpftem Tone, »Ich habe dich nicht ängstigen wollen, jetzt aber muß ich dir doch die Wahrheit sagen, Ronald ist grenzenlos – unvorsichtig gewesen in seiner Geschäftsführung, er hat sich Dinge erlaubt, die man ihm nicht verzeihen wird und auch nicht verzeihen kann. Es handelt sich nicht mehr um Steinfeld allein, aber Steinfeld wird sein Verhängnis werden. Die teilweisen Enthüllungen dort haben bereits verraten, daß er die Werke nicht mehr halten konnte, daß er die Aktiengesellschaft nur zur Deckung für seine Verluste benutzen wollte. Damit hat er verspielt bei dem Publikum, damit hat er das Vertrauen verloren, das ihn und all seine Unternehmungen trägt. Stürzt da eins, so wankt alles andere. Und nun noch einen Gegner wie dieser Raimar – du weißt nicht, was das bedeutet!«

»Doch, ich weiß es!« sagte Edith leise.

»Ich habe den Angriff von Anfang an ernst genommen,« fuhr Marlow fort. »Daß er eine so furchtbare Tragweite annehmen, einen solchen Wiederhall im ganzen Lande finden würde, das habe ich nicht vorausgesehen. Alle Zeitungen sind ja voll von der Sache, in jedem Gespräch hört man die Namen Ronald und Raimar, und seit Raimar nun vollends hier ist, scheint es gar kein anderes Interesse mehr zu geben. Es werden ja förmliche Parteiversammlungen abgehalten für und gegen Ronald – es ist eine heillose Aufregung!«

»Raimar hat gestern gesprochen – ich las heute morgen den Bericht.« Die Worte kamen scheu und zögernd von Ediths Lippen, sie wußte es ja, daß der Vater dort gewesen war, aber es schien, als wage sie es nicht, eine Frage zu stellen.

Seine finstere Stirn furchte sich noch tiefer, als er entgegnete: »Der Bericht gibt nur einen Auszug. Man muß den Mann selbst gesehen und gehört haben, wie er dastand, wie er sprach, um die ungeheure Wirkung zu begreifen. Dieser Raimar hat eine fast unheimliche Gewalt der Rede, er bezwingt Feind und Freund damit. Gestern schon wurde er bejubelt und förmlich auf den Schild gehoben, und das war doch nur ein Vorspiel. Er will sich natürlich selbst verteidigen, und wenn er so vor den Schranken spricht, so alles mit sich fortreißt, wie gestern – dann ist das Schlimmste zu fürchten!«

»Das Schlimmste? Was heißt das, Papa?«

»Daß Raimar nur rein formell zu irgend einer Geldstrafe verurteilt oder gar – freigesprochen wird. Dann hat er gesiegt, dann gibt man ihm recht mit seiner Anklage, und der Verurteilte ist Ronald!«

Edith erwiderte nichts, aber sie war erschreckend bleich, und ihre Lippen preßten sich wie im Krampfe zusammen. Der Vater schloß ihre Hand fest in die seinige, und jetzt bebte auch seine Stimme.

»Mein armes Kind! Ich bin schonungslos gegen dich, ich weiß es, aber hier hilft kein Verbergen. Du mußt auf alles gefaßt sein,«

»Das bin ich längst. Felix will ja nichts zugeben, aber sein ganzes Wesen verrät mir, daß es sich hier für ihn um Sein oder Nichtsein handelt. An unserer Verlobung ändert das freilich nichts.«

»Eine Verlobung ist noch keine Ehe!« Marlow sprach die Worte langsam und bedeutsam, »Und wenn du ernstlich willst –«

»Ich will aber nicht!« erklärte Edith, indem sie sich erhob und ihre Hand aus der des Vaters zog.

»Liebst du Ronald?«

»Das hättest du mich fragen sollen, Papa, als du mir seinen Antrag überbrachtest. Du unterließest damals die Frage – jetzt erlaß mir die Antwort!«

Ein schwerer Seufzer rang sich aus der Brust Marlows. Er stand gleichfalls auf und sagte: »Wir können jetzt überhaupt nichts beschließen, bis der Prozeß entschieden ist. – Wilma ist bereits angekommen?« »Gestern abend, ich erhielt heute morgen einige Zeilen von ihr und werde später zu ihr fahren. Du weißt ja, weshalb sie nicht unser Gast sein wollte.«

»Weil ihr Bräutigam der nächste Freund Raimars ist?« Der Bankier zuckte die Achseln. »Eine ganz übertriebene Rücksicht! Wilma hat ihn allerdings mit unserer Zustimmung ins Vertrauen gezogen, das ließ sich nicht umgehen, aber sonst weiß niemand davon. Der Major konnte ruhig bei uns verkehren.«

»Aber Felix hätte das erfahren und wäre außer sich geraten.«

»Wenn ich den Verlobten meiner Nichte in meinem Hause empfange, ist das lediglich meine Sache,« bemerkte Marlow scharf. »Major Hartmut ist mir eine sehr sympathische Persönlichkeit, Wilma hätte gar keine bessere Wahl treffen können. Ich wäre mit ihrem Besuche ganz einverstanden gewesen, gleichviel ob Ronald das übelgenommen hätte oder nicht.«

Er vermied es offenbar absichtlich, seinen künftigen Schwiegersohn beim Vornamen zu nennen, und es war wohl auch Absicht, daß er, der sonst sehr viel auf Rücksichten gab, diesmal die Rücksichtslosigkeit vertrat. Das wäre es in der That gewesen, wenn der nächste Freund Raimars täglich im Marlowschen Hause verkehrt hätte; aber eine heftige Scene wäre dem Bankier vielleicht nicht unerwünscht gewesen. Das konnte einen Vorwand zum Bruch geben, und er wollte jetzt los um jeden Preis von der Verbindung, die er einst so sehr erstrebt hatte. Daß die Verlobung seiner Tochter gelöst werden müsse, stand bereits bei ihm fest, das war nur eine Frage der Zeit, und als er Edith jetzt verließ, um in sein Arbeitszimmer zurückzukehren, war er überzeugt, sie werde, nun sie die Sachlage kannte, auch diesmal fein »kluges, verständiges Kind« sein, wie immer.

Frau von Maiendorf war mit ihrem Töchterchen nach Berlin gekommen, denn ihre Hochzeit, die in sechs Wochen stattfinden sollte, und die Uebersiedlung nach der neuen Heimat machten noch mancherlei Einkäufe und Besorgungen notwendig. Major Hartmut wollte natürlich den Prozeßverhandlungen beiwohnen, in denen sein Freund eine Hauptrolle spielte, und hatte seine Braut bestimmt, die gleiche Zeit für ihre Reife zu wählen. Sie hatten sich seit der Verlobung nicht wiedergesehen, und sein Urlaub zählte diesmal nur nach Tagen.

Ernst Raimar, der in der That beabsichtigte, seine Verteidigung persönlich zu führen, war seit vierzehn Tagen hier, und ihm hatte sich Herr Notar Treumann angeschlossen, der natürlich auch mit dabei sein wollte. Er ging als freiwilliger Berichterstatter der »Burgwarte« nach Berlin und schickte Triumphartikel nach Heilsberg. Jeden Morgen beim Kaffee hatten die Heilsberger ihren großen Moment, da kam die »Burgwarte«, und da lasen sie es schwarz auf weiß, daß »ihr Notar« jetzt in Berlin der Mann des Tages war.

Die historische Stadt war denn auch vollständig auf der Höhe der Situation. Die Damen veranstalteten Kaffeekränzchen, wo der besagte Notar, an dem sie früher, seiner Ungeselligkeit wegen, kein gutes Haar gelassen hatten, als Sankt Georg gefeiert wurde. Die Herren hielten Extrasitzungen im historischen Verein, wo der Bürgermeister als Vizepräsident den abwesenden Präsidenten vertrat, und am besten befand sich dabei der Goldene Löwe, das Vereinslokal, denn in der allgemeinen Begeisterung fühlte man fortwährend das Bedürfnis, Toaste auszubringen und Gesundheiten zu trinken.

Frau von Maiendorf hatte es aus dem schon erwähnten Grunde abgelehnt, die Gastfreundschaft ihrer Verwandten auch für diesmal anzunehmen, sie war im Hotel abgestiegen, während Hartmut bei seinem Freunde wohnte. Er hatte den ganzen Vormittag bei seiner Braut zugebracht und kam eben nach Hause, wo er Herrn Notar Treumann vorfand. Dieser fühlte wieder einmal die dringende Notwendigkeit, sich auszusprechen, und packte deshalb schleunigst den Major und begann die gestrige Rede seines Neffen zu erörtern, so ausführlich und unermüdlich, daß Arnold, der ja auch dabei gewesen war, endlich die Geduld verlor.

»Nun ja, es war ein großer Erfolg, aber das alles sind doch im Grunde nur Vorpostengefechte, die eigentliche Schlacht soll erst in der nächsten Woche stattfinden. Am Montag beginnen die Verhandlungen, haben Sie sich denn schon einen Platz auf der Tribüne gesichert? Der Andrang wird sehr groß werden.«

»Auf der Tribüne?« wiederholte Treumann mit überlegener Miene. »Ja, dort sitzen die Zuhörer, dort sitzen Sie, Herr Major – mein Platz ist natürlich bei der Presse.«

»Was der Tausend! Hat man der ›Burgwarte‹ das zugestanden?« rief Hartmut lachend. »Man hat schon Mühe und Not, die Vertreter der großen Blätter unterzubringen.« »Ich habe es auch erst durchsetzen müssen!« erklärte der Notar. »Man war anfangs sehr wenig entgegenkommend, einer von den Herren wurde sogar ausfallend. Er fragte sehr von oben herab: Heilsberg? Was ist das für ein Ding? Und Burgwarte? Das klingt ja ganz mittelalterlich – bedaure sehr! Aber ich bin die Antwort nicht schuldig geblieben. Meine Herren – habe ich gesagt – Heilsberg ist eine historische Stadt, Heilsberg ist die Heimat und der Wohnort eines gewissen Ernst Raimar, dessen Name Ihnen vielleicht nicht ganz unbekannt ist, und ich bin sein Onkel! Ich hoffe, Sie werden meinem Neffen die Rücksicht erweisen und dem Organ seiner Vaterstadt, vertreten durch seinen nächsten Anverwandten, einen Platz gewähren.«

»Eine ausgezeichnete Rede!« sagte der Major anerkennend, »Das mit der Vaterstadt stimmt zwar nicht, denn Ernst ist Berliner, aber das macht nichts, wenn es nur hilft.«

»Natürlich half es!« triumphierte der alte Herr. »Man wurde ungemein höflich und verbindlich, man sagte mir sofort den gewünschten Platz zu, und gleich an Ort und Stelle hatte ich noch ein Interview.«

Hartmut schüttelte etwas bedenklich den Kopf.

»Herr Notar, Sie lassen sich aber jetzt von aller Welt interviewen. Sie wissen, Ernst liebt das gar nicht, er selbst ist sehr zurückhaltend, er steht niemand Rede, und Sie lassen sich von dem ersten besten ausfragen!«

»Von dem ersten besten? Oho! Es war der Berichterstatter der ›Times‹!«

»Nun, dann hätte er Ernst selbst fragen können.«

»Das hat er ja versucht, aber Ernst war völlig unzugänglich wie immer, und nun hörte er die Verhandlung wegen des Platzes und stellte sich mir vor als Vertreter des Weltblattes. Er bat sehr artig um einige persönliche Notizen, die er seinem Berichte beizufügen wünsche. Mit Vergnügen, Herr Kollege – sagte ich – mit dem allergrößten Vergnügen! Ernst Raimar ist, wie schon erwähnt, mein Neffe, ich habe ihn aus der Taufe gehoben, ich kenne ihn von Kindesbeinen an. Sie finden in mir die allerbeste Quelle. Heute morgen habe ich nach Heilsberg telegraphiert: Interview des Berichterstatters der ›Burgwarte‹ durch den Berichterstatter der ›Times‹! Ich werde unserem Organ das ganze Interview mitteilen!«

Das Entzücken des alten Herrn über seine Wichtigkeit als Onkel seines Neffen war so naiv und harmlos, daß der Major es nicht über das Herz brachte, ihn auszulachen, er bemerkte nur: »Herr Notar, Ihr Enthusiasmus für Ernst wird nachgerade beängstigend. Ihr Liebling, der Maxl, wird das übelnehmen, er ist ja doch das patentierte Genie in der Familie. Wo treibt er sich denn eigentlich herum? Bei uns ist er erst ein einziges Mal aufgetaucht, und da brauchte er Geld. Sonst glänzt er durch Abwesenheit, was wir mit Fassung ertragen.«

In dem Gesicht Treumanns zeigte sich eine gewisse Verlegenheit, er zögerte mit der Antwort. »Das geschieht Ihretwegen,« gestand er endlich, »Maxl sagt, Sie hätten ihn beleidigt, und seine Selbstachtung verbiete ihm, die Schwelle zu überschreiten, wo Sie weilen.«

»Nun, das Geld hat er sich doch geholt von der besagten Schwelle,« spottete Hartmut, »das gilt vermutlich als Ausnahme. Was übrigens die Selbstachtung des Maxl betrifft, so heißt die, ins Deutsche übersetzt: Neid! Ganz gemeiner Neid! Er kann es nicht ertragen, daß Ernst jetzt immer und überall die Hauptperson ist, während sich um ihn kein Mensch kümmert.«

»Glauben Sie?« Die Frage klang etwas kleinlaut. »Mir ist es auch schon so vorgekommen. Er will nie von seinem Bruder und dessen Erfolgen hören, neulich sagte er mir sogar sehr unartig: ›So höre doch endlich auf mit deinem Ernst, das wird ja langweilig!‹«

Maxl war offenbar nicht mehr Alleinherrscher bei seinem Onkel, man sah es, aber für jetzt machte der Eintritt Ernst Raimars dem Gespräch ein Ende. Der alte Herr eilte ihm entgegen.

»Da bist du ja endlich, Ernst! Ich sitze seit einer Stunde hier und warte auf dich – habe unendlich viel zu thun, aber ich muß dir nochmals gratulieren zu deiner gestrigen Rede. Ich habe das zwar schon gethan –«

»Ja, Onkel, schon zweimal,« unterbrach ihn Ernst abwehrend, aber das half ihm nichts. Der begeisterte Onkel gratulierte zum drittenmal, zog eine höchst schmeichelhafte Parallele zwischen seinem Neffen und Cicero und berichtete dann ausführlich über das »Interview«. Das befreite denn auch die beiden Herren von seiner Gegenwart, er wollte es schleunigst niederschreiben für die »Burgwarte« und verabschiedete sich, strahlend vor Glück.

»Da hast du einen Erfolg errungen, größer als all die anderen,« sagte der Major lachend, als sie allein waren. »Onkel Treumann ist ganz außer Rand und Band. Uebrigens bin ich nur auf eine halbe Stunde nach Hause gekommen, um zu fragen, ob du dich heute abend frei machen kannst? Wilma möchte dich natürlich sehen, dürfen wir auf dich rechnen?«

»Für einige Stunden gewiß,« versetzte Ernst, »Ich werde freilich erst spät kommen können, du weißt es ja, wie ich in Anspruch genommen bin.«

»Ja, sie lassen dich kaum zu Atem kommen, alle Welt reißt sich ja um dich! Uebrigens bekommt dir das ausgezeichnet, es scheint, du brauchst Kampf und Streit, um dich völlig zu entwickeln, je ärger es dabei zugeht, desto mehr wächst deine Kraft.«

Hartmut hatte recht mit seiner Bemerkung. Der Mann, der da mit hoch erhobener Stirn und feurig blitzenden Augen vor ihm stand, war ein völlig anderer als der frühere Ernst Raimar. Er zuckte leicht die Achseln.

»Ich habe hier keine Wahl, ich muß kämpfen. Ronald hat seinen ganzen Heerbann aufgeboten; seine Presse, seine gesamte Anhängerschaft toben förmlich gegen mich. Glaubst du, ich hätte mich herbeigelassen, schon vor den Gerichtsverhandlungen zu sprechen, wenn ich nicht gezwungen war, mich zu wehren?«

»Das hast du aber gründlich gethan! Das ging ja gestern wie mit Keulenschlägen nieder! Hast recht, sie machen dir das Leben schwer genug. Da muß man um sich schlagen. Eins freilich, was ich am meisten für dich fürchtete, weil du das am schwersten ertrügst, das ist völlig ausgeblieben. Ich glaubte, man würde die alten unseligen Erinnerungen beim Sturze deines Vaters gegen dich ins Feld führen, um dir den festen Boden zu untergraben, auf dem du stehst.«

Ernst schwieg, er schien auf dies Thema nicht eingehen zu wollen, aber der Major hielt es fest.

»Dem Ronald ist doch wahrhaftig jedes Mittel recht,« fuhr er fort. »Der kennt doch keine Rücksichten, und hier, wo er dich verwunden kann, schweigt er völlig. Es ist, als ob er das Losungswort ausgegeben hätte, an den Punkt nicht zu rühren.«

»Das hat er auch gethan,« sagte Raimar kalt. »Ich warnte ihn damals bei unserer Unterredung in Heilsberg, den Stachel nicht einzusetzen, wenn er mich nicht zum Aeußersten treiben wolle, und er hat sich das gesagt sein lassen. Ronald weiß, was er thut!« »Hast du wirklich die Macht, ihn zu zwingen?« fragte der Major stutzend.

»In dem einen Punkte – ja!«

Hartmut schüttelte den Kopf und sah seinen Freund forschend an. »Ernst, da liegt noch etwas, was du mir verschweigst.«

»Was ich verschweigen muß! Frage nicht, Arnold, hier handelt es sich nicht um Thatsachen, sondern um Empfindungen, und das bleibt mein Geheimnis.«

»Meinetwegen, wenn es dir nur hilft, endlich die Vergangenheit zu überwinden! Du hast ihn so gefürchtet, den alten Schatten, Du siehst es ja, er zerrinnt, sobald du ihm klar und fest ins Auge blickst. Die paar Stimmen, die sich im Anfange regten, sind völlig untergegangen in der Woge, die dich emportrug.«

»Solange der Kampf währt!« sagte Raimar mit einem Anflug seiner alten Schwermut. »Was später geschieht, gleichviel! Ich weiß es ja, daß ich nicht rechts noch links blicken darf, daß ich nur geradeaus auf das Ziel schauen muß, aber es wird mir nicht immer leicht.«

»Komm mir um Gottes willen nicht wieder mit der Heilsberger Stimmung!« schalt der Major. »Die können wir hier am wenigsten brauchen, komm lieber heute abend eine Stunde früher zu uns und sieh dir ein echtes, rechtes Menschenglück an. Wir werden die Ehre haben, es mit unseren ganz bescheidenen Persönlichkeiten dem großen Cicero vorzuführen, zu dem dich Onkel Treumann proklamiert hat, das wird dir die Grillen vertreiben.«

Ernst lächelte. »Ich komme bestimmt, und ich gönne dir dein Glück von Herzen, Arnold.«

»Mach es mir lieber nach!« rief Arnold lachend. »Aber ich muß fort, Wilma erwartet mich zu Tische. Auf Wiedersehen!«

Er ging und traf auf dem Wege zu seiner Braut wieder mit Treumann zusammen, der in dem gleichen Hotel wohnte. Aber der alte Herr hatte das frühere strahlende Aussehen völlig verloren, er ging mit düsterer Miene, den Blick auf den Boden geheftet, und wäre beinahe gegen den Major geprallt.

»Was ist denn los?« rief dieser. »Sie sehen ja so gekränkt aus!«

»Ich bin auch gekränkt,« entgegnete der Notar. »Eben bin ich dem Maxl begegnet, aber wie! Er ging mit einem Menschen – einem Menschen –« »Nun ja, ein Mensch wird es wohl gewesen sein,« meinte Hartmut. »Das ist doch weiter nichts Verfängliches.«

»Der Redakteur des Neustädter Tageblattes war es!« brach Treumann grimmig aus. »Dieser Leibsklave des Pascha von Steinfeld, der mit seinem Herrn durch dick und dünn geht, der in jeder Nummer auf Heilsberg und auf Ernst schimpft – der mich damals verhöhnt hat wegen meiner Prophezeiung –«

»Der Ihnen die fossile Beleidigung an den Kopf geworfen hat?«

»Derselbe! Und mit dem geht mein Neffe Arm in Arm auf offener Straße. Ich habe den Maxl natürlich zur Rede gestellt – was gibt er mir zur Antwort? Der Herr wäre auch als Berichterstatter hier, es wäre ein ganz netter Junge, und wenn man sich öffentlich befehde, so hindere das nicht, daß man privatim gemütlich miteinander kneipe. Sie hatten allerdings sehr gekneipt, sie waren beide nicht mehr nüchtern. Da habe ich ihm freilich derb den Text gelesen, und er schien sein Unrecht auch einzusehen, aber ich fürchte –« Der Notar brach ab und starrte düster vor sich hin.

»Daß er trotzdem weiter kneipt mit diesem schändlichen Redakteur,« ergänzte Hartmut. »Ja, das fürchte ich auch, denn wenn der Maxl vor einer Weinflasche sitzt, ist er im stande, mit dem Ronald selbst Brüderschaft zu trinken, das gehört auch zu seiner Selbstachtung.«

Sie hatten inzwischen das Hotel erreicht, und während sie die Treppe hinaufstiegen, hob der alte Herr in unsicherem Tone wieder an: »Herr Major, mir sind da in der letzten Zeit doch Bedenken aufgestiegen wegen meines Testamentes, das ich schon vor Jahren gemacht habe. Der Maxl ist nämlich mein Universalerbe, Ernst bekommt nur ein kleines Legat. Er war ja hinreichend versorgt durch seine Stellung und auch ganz einverstanden mit der Bestimmung, denn Maxi hatte gar nichts und sollte seine Künstlerlaufbahn erst beginnen, aber wenn er solchen Umgang hat! Das ist der Weg zum Verderben.«

»Ja und dann verjubelt er die ganze Erbschaft mit dem Neustädter Redakteur,« sagte der Major, »Dann gehen sie von einem Wirtshaus in das andere und bringen alles durch.«

»Im Grabe würde ich mich umdrehen!« rief Treumann heftig. Da wurde im ersten Stock eine Thür geöffnet, Klein-Lisbeth guckte heraus, und hinter ihr wurde das rosige, glückliche Gesicht Wilmas sichtbar. »Da ist der Papa!« rief die Kleine jubelnd.

»Natürlich ist er da!« bekräftigte Arnold und verschwand urplötzlich von der Seite seines Gefährten. Dieser sah nur noch, wie er seine Braut umfaßte und Lisbeth sich an ihn hing, dann schloß sich die Thür.

Dem alten Junggesellen wurde es ganz wehmütig um das Herz. Er gönnte ja der jungen Frau ihr Glück, sie hatte nicht viel davon gehabt in ihrer ersten Ehe. Diesmal hatte sie es besser getroffen, Major Hartmut war ein prächtiger Mensch, und Ernst war ein großer Mensch – aber der Maxl, der Maxl!

Der Berliner Aufenthalt hatte dem Onkel die Augen geöffnet über vieles, wovon er bisher nichts geahnt. Jetzt wollte das düstere Bild, das Hartmut heraufbeschworen hatte, nicht wieder weichen. Er sah den Maxl als seinen Erben, wie er, Arm in Arm mit seinem Todfeinde, dem Neustädter Redakteur, die ganze Erbschaft verjubelte, und sah sich selbst empfindlich dadurch gestört in seiner Grabesruhe. Ganz niedergebeugt ging er weiter, richtete sich aber plötzlich mit einem förmlichen Ruck empor.

»Aber ich bin ja noch gar nicht tot!« sagte er ganz laut. »Vorläufig hast du noch nichts zu verjubeln, Maxl, vorläufig bin ich noch am Leben – sehr bin ich das!« Und mit dieser tröstlichen Gewißheit stieg er die Treppe vollends hinauf. – –

Die Gerichtsverhandlungen hatten begonnen, und die fieberhafte Teilnahme, die sich nicht nur in der Hauptstadt, sondern im ganzen Lande kundgab, zeigte am besten die Tragweite der Interessen, die hier auf dem Spiele standen. Dem Wortlaute nach handelte es sich ja nur um eine Klage wegen Verleumdung und Beleidigung, in Wahrheit galt es einen Kampf zwischen der Macht des Geldes und dem öffentlichen Rechtsbewußtsein, das sich auch hatte blenden und einschläfern lassen, jahrelang, bis ein Mann auftrat, der es wach rüttelte mit seinem Mahnworte.

Die meisten hatten es gemacht wie Bankier Marlow, sie hatten nicht sehen wollen, bis ihnen gezeigt wurde, daß der erträumte Gewinn trügerisch war und sich in Verlust verwandelte, und nun waren sie die ersten, die sich gegen den Mann wandten, den sie früher umschmeichelt hatten. Als Ernst Raimar seine Schrift in die Welt hinaussandte, stand er allein und wußte nicht, ob ihm auch nur ein einziger folgen würde, jetzt stand er inmitten einer immer wachsenden Partei, die nur auf den Führer gewartet zu haben schien. Jetzt wurde er gefeiert als der Mutige, der allein zu reden gewagt hatte, wo alles schwieg.

Zwei Tage schon hatten die Verhandlungen gewährt, und immer drohender zog sich das Ungewitter zusammen über dem Haupte des Mannes, der hier als Kläger auftrat und nun zum Angeklagten wurde, denn Steinfeld selbst zeugte wider seinen Herrn. Zwar die Oberbeamten, die Vertreter jener Presse, die er beeinflußte, standen zu ihm oder schützten zum mindesten Unkenntnis vor. Sie durften ja nicht reden, wenn sie nicht eingestehen wollten, daß ihr Schweigen jahrelang erkauft worden war. Aber ihre Untergebenen, denen man den Einblick doch nicht ganz hatte verwehren können, redeten jetzt, und da wurden Dinge enthüllt über den Betrieb der Werke, über das Lohn- und Bedrückungssystem den Arbeitern gegenüber, daß man sich fragte, wie dergleichen möglich gewesen war auf großen Industriestätten, die doch aller Welt offen standen. Die Macht des Geldes, die alles geknebelt hatte, zeigte sich hier in wahrhaft unheimlicher Weise.

Daß Steinfeld, diese große, vielbewunderte Schöpfung Ronalds, vor dem Ruin stand, galt bereits als öffentliches Geheimnis. Der Meister der Spekulation hatte mit der Aktiengesellschaft wieder einen meisterhaften Zug versucht, nur daß er diesmal damit scheiterte. Was kümmerte es ihn, was hinter ihm zusammenstürzte! Ein Mahnruf in letzter Stunde! hatte Raimar seine Schrift genannt, sie war in der That in der zwölften Stunde gekommen.

Der heutige Tag brachte die Schlußverhandlung, wo die Entscheidung fallen sollte, brachte die große Verteidigungsrede Raimars. Er sprach seit länger als einer Stunde, und in atemloser Spannung hing die gesamte Zuhörerschaft an seinen Lippen. Dergleichen freilich hatte man kaum jemals gehört vor den Schranken, wo man sonst nur mehr oder weniger geistvolle Auseinandersetzungen, kühle Beweisführung vernahm.

Ernst Raimar stand an dem Platze, der ihm so lange verschlossen geblieben war und sprach – der geborene Redner in jedem Worte, in jeder Bewegung! Hoch aufgerichtet, mit flammenden Augen stand er da, die einst so müde, verschleierte Stimme füllte jetzt mit vollem, mächtigem Klange den ganzen weiten Raum, und wie ein Sturm brauste es dahin und riß alles mit sich fort. Die Verteidigung wurde zu einer Anklage, jedes Wort wurde eine Waffe, und Streich auf Streich fiel nieder auf jenen anderen, der nie nach den Rechten und dem Schicksal der Menschen gefragt hatte, die er niederwarf. Jetzt fühlte er selbst, was es heißt, niedergeworfen zu werden. Und nun schloß Raimar seine Rede: »Ich halte jedes Wort aufrecht, das ich in meiner Schrift ausgesprochen habe, ich habe nichts zurückzunehmen, nichts zu mildern. Hexengold ist es, was man euch gezeigt hat, mit seinem gleißenden Schimmer! Hexengold, das den verdirbt, der es sich zu eigen macht, das in seinen Händen zu Staub und Asche wird. Ich habe das als Mahnwort laut in die Welt hinausgerufen, ehe es nochmals Tausenden zum Verderben wird. Ich habe gethan, was mir Recht und Pflicht hieß – ich erwarte den Spruch!«

Er trat zurück, und eine mächtige Bewegung ging wie eine mühsam zurückgehaltene Woge der Zustimmung und Bewunderung durch die gesamte Zuhörerschaft. Er hatte gesiegt, noch ehe der Spruch des Gerichts gefallen war, das fühlte man, und jetzt, wo er nicht mehr alles mit dem Banne seiner Rede gefesselt hielt, jetzt wandten sich aller Blicke auf den Mann, der mit eherner Stirn, als ginge ihn die ganze Rede nichts an, ihr standgehalten hatte. Felix Ronald bewahrte seine Selbstbeherrschung, regungslos, mit gekreuzten Armen saß er da, und nicht eine Muskel zuckte in seinem Gesichte. Nur in den Augen brannte ein unheimliches Feuer, und bisweilen wandten sich diese Augen von dem Gegner hinüber zu den Tribünen, wo sie stets nur an einem Punkte hafteten. Für Ronald gab es nur zwei Menschen unter dieser ganzen Menge, den Mann, den er haßte bis zum Tode, und das Weib, das er liebte, und jener glühende, drohende Blick galt ihnen beiden.

Edith Marlow saß neben ihrem Vater, auch sie hielt äußerlich stand, in der Schule der großen Welt lernt man die Selbstbeherrschung. Das schöne, anscheinend so kalte Antlitz verriet nichts von dem, was im Innern wogte, aber Marlow, der ihre Hand in der seinen hielt, als wolle er sie schützen, fühlte das krampfhafte Beben dieser Hand. Als Raimar zurücktrat, neigte er sich zu seiner Tochter nieder.

»Edith, komm, laß uns gehen!«

Sie schüttelte mit Entschiedenheit das Haupt.

»Nein, ich bleibe bis zum Ende!« Der Vater sah es, daß er hier machtlos war, und fügte sich.

Die Beratung der Richter dauerte nur kurze Zeit, dann wurde unter atemlosem Schweigen der Zuhörer der Spruch verkündet: Ernst Raimar war freigesprochen! Das Gericht erkannte an, daß er nur als Anwalt des öffentlichen Rechtsbewußtseins gehandelt hatte, und erkannte damit auch die Wahrheit seiner Anklagen an.

Das Urteil wurde mit einem wahren Sturm der Begeisterung begrüßt. Auf den Tribünen gab es einen förmlichen Aufstand, und im Saale drängte sich alles um Raimar, um ihn zu beglückwünschen. Man jubelte ihm zu wie einem Helden nach gewonnener Schlacht und bemerkte es kaum, daß sein Gegner und dessen Anhänger sich entfernten – Felix Ronald war gerichtet! Es war am Tage nach der Gerichtsverhandlung, in den Nachmittagsstunden, als Ernst Raimar in das Hotel trat, wo Frau von Maiendorf wohnte. Er hatte eine Verabredung mit seinem Freunde getroffen, den er hier abholen wollte, und hatte sich eine halbe Stunde früher frei machen können. Der Portier berichtete, der Herr Major sei mit der gnädigen Frau und der Kleinen ausgefahren, habe aber eine Karte mit einigen Worten für Herrn Raimar zurückgelassen. Arnold bat ihn darin, zu warten, falls er früher kommen sollte, er selbst werde zur verabredeten Zeit wieder dasein.

Wilma, die einige Wochen zu bleiben beabsichtigte, bewohnte im ersten Stock mehrere Räume, einen hübschen Salon mit angrenzendem Schlafzimmer und einem kleinen Vorgemach, die ziemlich abgeschlossen von den übrigen Hotelzimmern lagen und die Behaglichkeit einer eigenen Wohnung gewährten. Da man Raimar kannte, wurde er äußerst dienstbeflissen nach dem Salon geleitet, und ihm war ein kurzes Alleinsein gerade erwünscht, er brauchte wirklich Erholung.

Seit gestern mittag war er in der That nicht mehr zu Atem gekommen. Jetzt half kein Abwehren und kein Zurückziehen mehr, er hatte der allgemeinen Bewunderung standhalten müssen, und jetzt, wo die Aufregung des Kampfes vorbei war, kam naturgemäß auch die Abspannung. Aber es lag nichts von Siegesfreude in den Zügen des Mannes, der sich da in einen Sessel geworfen hatte und düster vor sich hin blickte. Der Sieg war ja erfochten, aber er hatte das Lebensglück gekostet!

Da wurde die Thür des Vorzimmers geöffnet, Ernst richtete sich empor in der Meinung, daß die Erwarteten zurückkehrten, doch er hörte eine fremde Stimme.

»Bitte nur einzutreten! Die gnädige Frau muß bald kommen, sie wollte um vier Uhr zurück sein.«

Dann schloß sich die Thür wieder und eine Dame im Pelz und dunklen Seidenkleide trat in den Salon. Raimar war aufgesprungen, er erkannte Edith Marlow.

Auch sie sah ihn beim Eintritt und wich jäh zurück, um dann wie angefesselt stehen zu bleiben. Ernst verneigte sich stumm, er hatte jene fluchtartige Bewegung gesehen, und das nahm ihm den Mut zur Anrede. Einige Sekunden lang herrschte völliges Schweigen.

»Ich wollte Wilma aufsuchen,« begann die junge Dame endlich. »Ich hatte keine Ahnung –«

»Von meinem Hiersein!« ergänzte Ernst, als sie innehielt, »Ich bin unschuldig an diesem Zusammentreffen, gnädiges Fräulein, ich erwarte meinen Freund, Major Hartmut.«

Edith stand noch immer an der Schwelle, ungewiß, ob sie gehen oder bleiben solle, schien sich aber doch für das letztere zu entscheiden. Sie trat langsam näher und schlug den Schleier zurück. Raimar sah erst jetzt, wie bleich sie war, aber ihre ganze Haltung zeigte jetzt wieder die stolze, eisige Abwehr, die er von den ersten Begegnungen her kannte.

»Sie erwarten wohl von mir keinen Glückwunsch, Herr Raimar,« sagte sie in herbstem Tone. »Aber Sie haben glänzend gesiegt.«

»Glauben Sie, daß ich Freude habe an diesem Siege?« fragte er ernst und vorwurfsvoll.

»Gleichviel, er trägt Sie doch empor und öffnet Ihnen die Zukunft.«

»Nein!« das Wort kam schwer und düster von Ernsts Lippen.

»Nein? Nach diesem Erfolge? Ihr Name ist ja jetzt in aller Munde!«

»Sie vergessen, was an diesem Namen hängt – Sie wissen es ja längst von Ihrem Vater.«

»Das ist ausgelöscht, seit gestern.«

»Das ist nicht ausgelöscht, nur vertagt. Jetzt hat man es vergessen, weil man vergessen wollte, weil ich die gesamte öffentliche Meinung vertrat. All die Feinde meines Gegners scharten sich um mich und deckten mich, der ganze Kampf stand ja überhaupt im Zeichen des Ungewöhnlichen. Wenn ich wieder dem Alltagsleben und der nüchternen Kritik gegenüberstehe, dann erinnert man sich auch wieder an das Vergangene, und dann muß ich büßen, was man mir jetzt verzeiht, weil man mich brauchte.« Betroffen, fast bestürzt blickte ihn Edith an, der Gedanke war ihr noch nicht gekommen.

»Sie thun der Welt unrecht,« sagte sie leise, aber es klang nicht mehr überzeugungsvoll. »Wenn Sie es überwinden können –«

.

»Das eben kann ich nicht!« fiel Raimar finster ein. »Was mich jetzt stählte und trug, das war der Kampf, den ich nun einmal begonnen hatte, und den ich durchführen mußte. Es galt ja meine eigene Verteidigung.

Aber wenn dieser Sporn fehlt, dann stehe ich wieder unter dem alten Verhängnis. Ich muß mit freier Stirn hintreten können vor die Welt, wenn ich zu ihr reden will, und ich weiß es doch, daß der Haß oder die Bosheit jedes Buben mir zurufen darf: Du sprichst von Recht und Ehre? Denke an den Namen, den du selber trägst! Ich habe schon diesmal schwer genug gekämpft mit diesem Bewußtsein, und da schwieg doch jeder Vorwurf. Das hängt wie ein Bleigewicht an mir und zieht mich immer wieder zu Boden, das verschließt mir auch jetzt die große Laufbahn, von der ich einst geträumt – Sie sehen, es bedarf keines Glückwunsches!«

Edith stand wortlos da, sie hatte stolzes Siegesbewußtsein, einen nur mühsam verhehlten Triumph erwartet und begegnete nun dieser düsteren Hoffnungslosigkeit, diesem völligen Verzicht auf die Zukunft. Ihr eigenes Urteil sagte ihr, daß Raimar recht hatte mit seinen Befürchtungen, sie kannte ja auch die Welt. Aber sobald sie ihn leiden sah, gingen Herbheit und Bitterkeit unter, ihre Stimme bebte hörbar, als sie erwiderte: »Ich habe Sie nicht anklagen wollen mit jenen Worten. Sie sprachen es ja gestern aus, daß Sie nur thaten, was Ihnen Recht und Pflicht hieß – es war wohl auch Verhängnis, daß Sie damit so unheilvoll in unser Leben eingriffen.«

»In unser Leben?« fuhr Ernst auf. »Denken Sie wirklich noch an eine Verbindung, an eine gemeinsame Zukunft mit diesem Manne –«

»Der noch derselbe ist wie damals, als ich seine Braut ward!« fiel Edith ein. »Man kannte längst ihn und sein Schaffen, man wußte, daß er immer über die Grenzen hinausging, die da gezogen sind, und niemand wagte, ihm das vorzuwerfen, niemand erhob sich gegen ihn. Da kamen Sie und hoben den ersten Stein, und nun rufen sie alle: Steinigt ihn!«

Raimar stand vor ihr und sah sie unverwandt an, als wolle er in ihren Zügen lesen.

»Sie betrachten sich noch immer als gebunden?«

»Gewiß! Sobald Ronald es fordert, werde ich sein Weib, und er wird es fordern!«

»Das werden Sie nicht!« sagte Ernst in einem beinahe drohenden Tone.

»Herr Raimar!«

»Nein, Edith, Sie werden nicht Felix Ronalds Weib! Ich lasse Sie nicht in das Verderben gehen, eher greife ich zum äußersten Mittel. Sie wissen nicht, wem Sie die Hand reichen wollen.«

»Ich weiß es!« erklärte Edith mit neu aufwallender Bitterkeit, »Sie haben uns ja keinen Zug erspart in dem Bilde, das Sie aller Welt hinstellten, Ronald ist eine groß angelegte Natur, die zügellos geworden ist im schrankenlosen Besitz der Macht und des Goldes. Er hat sich allmächtig gedünkt, weil alles vor ihm und seinem Reichtum auf den Knieen lag, und da hat er die Menschen verachtet und geknechtet. Er mag ja viel verschuldet haben, aber es ist nichts Gemeines und Niedriges darin, nichts, was mich frei macht von jenem Bande. Stände er noch mitten im Glück und Glanz, ich würde mein Wort zurückfordern, jetzt ist er im Unglück, jetzt verlasse ich ihn nicht!«

Sie sprach mit der Energie eines unbeugsamen Willens. Edith Marlow hatte sich ja auch blenden lassen von dem »Hexengolde«, und auch in ihren Händen wurde es jetzt Staub und Asche, aber die Seele hatte es ihr nicht verdorben. Was sie einst in Eitelkeit und Ehrgeiz verschuldet, als sie sich dem ungeliebten Manne zusagte, das sühnte sie nun mit dem Entschluß, dem ungeliebten Manne zu folgen, von dem Glück und Glanz gewichen war. In Raimars Innerem flammte ein heißes Weh auf, er fühlte erst jetzt ganz, was dies Mädchen ihm hätte sein und werden können.

»Und Steinfeld?« fragte er. »Ronald wußte, daß der Zusammensturz unvermeidlich war, und wir wissen alle, was er that. Wollen Sie das auch die Verirrung einer ›großen‹ Natur nennen?«

»Nein, es war der Verzweiflungsschritt eines Mannes, der nach jedem Mittel griff, um sich und seine Stellung im Leben zu behaupten. Das dürfen Sie nicht verurteilen, denn das, was Sie Ihr Verhängnis nennen, das war doch auch nur eine Schuld der Verzweiflung.«

»Mein Vater war nicht schuldig,« sagte Ernst langsam, aber mit schwerer Betonung, Edith trat in äußerstem Erstaunen einen Schritt zurück.

»Nicht schuldig? Er galt doch allgemein dafür!«

»Er gilt noch heute dafür in seinem Grabe! Hören Sie mich an, Edith, die Sache geht auch Sie an!«

Edith antwortete nicht, aber ihre Augen hefteten sich mit unruhiger Spannung auf sein Gesicht. Sie hatte keine Ahnung, wo das hinaus wollte, aber sie hatte das Gefühl, als tauche da etwas Dunkles, Furchtbares auf, das langsam näher kam. Raimar stand ihr gegenüber, in scheinbar ruhiger Haltung, aber in seiner Stimme verriet sich die mühsam zurückgehaltene Erregung.

»Es war vor zehn Jahren, mein Vater hatte sich durch einen seiner – Beamten, dem er volles Vertrauen schenkte, zu gewagten Spekulationen verleiten lassen, was er bisher stets vermieden hatte. Die Sache scheiterte, und infolge der ziemlich bedeutenden Verluste trat eine Geschäftskrisis ein, nur eine Krisis, kein Ruin, denn es war Deckung vorhanden für alle Forderungen, und der Name und Ruf des Hauses Raimar gaben ihm Anspruch auf die Stützen, deren es in der augenblicklichen Verlegenheit bedurfte. Da wurden, vielleicht veranlaßt durch ein Gerücht über jenen Verlust, zwei der größeren Depots plötzlich zurückgefordert, und da brach das Unheil herein. Ich war damals nicht in Berlin, ein Rechtsfall, bei dem ich die Verteidigung übernehmen sollte, hatte mich in die Provinz geführt. Eine Depesche rief mich nach Hause, und dort trat mir unser Prokurist entgegen mit Nachrichten, die mich völlig niederschmetterten: die sämtlichen Depots nicht mehr vorhanden – die Ehre unseres Namens rettungslos verloren, und mein Vater – in den Tod gegangen!« »Furchtbar!« sagte Edith leise, als er schwieg, überwältigt von der Erinnerung.

»Das steuerlose Schiff scheiterte natürlich,« fuhr Ernst fort. »Die Nachricht verbreitete sich sofort, und von Hilfe und Stütze war nun selbstverständlich keine Rede mehr. Alle Forderungen wurden auf einmal geltend gemacht, es stürzte von allen Seiten über uns herein, und ehe wir noch überhaupt zur Besinnung kamen, war der Ruin da. Es galt für ausgemacht, daß mein Vater sich an den anvertrauten Geldern vergriffen und bei der Entdeckung sich aus Scham und Verzweiflung den Tod gegeben hatte, selbst meine Mutter hat das geglaubt.«

»Und Sie – Sie glaubten das nicht?«

»Ich wußte es, daß er schuldlos war. Ich fand in seinem Schreibtische einen Brief, nur wenige Zeilen, in seiner Todesstunde geschrieben und an mich, seinen Aeltesten, gerichtet, er wollte wenigstens vor seinem Sohne rein dastehen. Glauben Sie, Edith, daß ein Mann, dessen ganzes Leben rein und ehrenvoll gewesen ist, lügen kann, wenn er vor der Pforte der Ewigkeit steht, wenn er im Begriff steht, diese Pforte mit eigener Hand zu öffnen?«

»Nein!« sagte Edith mit einem tiefen Atemzuge, »Also der Schuldige war ein anderer?«

»Ja, ein anderer!« Raimar hielt einen Augenblick inne, dann sprach er halblaut, aber mit furchtbarer Bedeutsamkeit: »Die Depots waren nur einem zugänglich, außer dem Chef, seinem Prokuristen, und der hieß – Felix Ronald!«

Ein Ausruf des Entsetzens entrang sich Ediths Lippen. »Allmächtiger Gott! Was wagen Sie da anzudeuten?«

»Was ich nicht beweisen kann,« entgegnete Ernst mit herber Aufrichtigkeit, »was wohl überhaupt nicht zu beweisen ist. Mein Vater scheint keinen Verdacht gehegt zu haben, wenigstens machte er keine Andeutungen in jenem Briefe, aber in mir erwachte der Argwohn in der ersten Stunde, wo ich wieder klar denken und urteilen konnte, und ließ mich nicht wieder los. Ich habe nach den Beweisen wochenlang, monatelang gesucht mit dem ganzen Scharfsinn eines Juristen, mit der fieberhaften Angst eines Menschen, der seine und seines toten Vaters Ehre retten will – es fand sich nichts, jede Spur war vernichtet. Ich war ja fern gewesen bei der Katastrophe, Ronald behauptete, er habe sofort nach dem Selbstmord seines Chefs das Fehlen der Depots entdeckt, er warf alle Schuld und Verantwortung auf den Toten.«

.

Edith war totenbleich geworden, sie umklammerte mit beiden Händen die Lehne des vor ihr stehenden Sessels, endlich stieß sie abgebrochen hervor: »Das ist nur ein Argwohn – die Beweise fehlen – Sie sagen es ja selbst!« »Ja, aber ich habe mir die Gewißheit verschafft, auf anderem Wege. – Es war zu Ende, der Sturz unseres Hauses entschieden, ich hatte mit Ronald geordnet, was noch zu ordnen möglich war, und er kam nun, um sich von mir zu verabschieden. Bis dahin hatte ich mit keinem Worte, keinem Blicke meinen Verdacht verraten, jetzt waren wir beide allein im Arbeitszimmer meines Vaters, da überstürzte ich ihn plötzlich mit der Anklage und schleuderte es ihm in das Gesicht: der Schuldige sind Sie!«

»Und da?« Die Frage klang halb erstickt.

»Nun, da sah ich es – das jähe Erbleichen, das Zusammenzucken, sah in seinen Augen die Angst vor der Entdeckung. Das dauerte freilich nur eine Minute, dann hatte er seine volle Fassung wieder und trat mir mit eherner Stirn entgegen. Er wies meine Anklage mit kaltem Hohne zurück, forderte die Beweise für meine ›wahnsinnige Einbildung‹ und fragte achselzuckend, ob ich es denn durchaus der Welt zeigen wolle, daß die Verzweiflung mich unzurechnungsfähig gemacht habe.«

Er hielt inne und schien eine Antwort zu erwarten, als sie nicht erfolgte, schloß er ruhiger, aber mit tiefer Bitterkeit: »Ich habe das in der That nicht versucht. Der Tod meines Vaters galt als Schuldbekenntnis, und wäre ich mit einer Anklage aufgetreten, der auch nicht der Schatten eines Beweises zur Seite stand, man hätte mich wirklich für unzurechnungsfähig gehalten. Meine Ueberzeugung stand fest seit jener Stunde – und seit jener Stunde ist Ronald mein Todfeind gewesen!«

Edith stand noch immer regungslos da, aber ihre Augen hatten einen Ausdruck, als blicke sie in einen Abgrund. Das erste Zusammentreffen ihres Verlobten mit Raimar, dessen Zeuge sie gewesen war, sein wildes Auffahren, als er wissen wollte, was jener mit seiner Braut gesprochen, sein glühender Haß gegen den Mann, den er »zertreten« wollte, und den er doch offenbar fürchtete – das alles erhob sich jetzt in ihrer Erinnerung und zeugte wider Ronald. Es ging ein krampfhaftes Beben durch ihren Körper, als sie fragte: »Und das sagen Sie mir – jetzt!«

»Weil ich muß!« erwiderte er tiefernst. »Sie trauen mir doch wohl keine niedrige Rache zu? Sie wissen es, Edith, ich habe auch damals in Gernsbach noch geschwiegen, als ich aus Ihrem eigenen Munde vernahm, daß Sie Ronalds Braut seien. Ich glaubte, die Enthüllungen meiner Schrift, der Prozeß, der ja vorherzusehen war, würden Sie frei machen von dem unheilvollen Manne. Ich rechnete auf das Eingreifen Ihres Vaters, der jenes Band zerreißen würde. Ich hielt es für längst zerrissen und höre nun von Ihnen, daß es noch besteht, daß Sie sich einer vermeinten Pflicht opfern wollen – nun denn, so sollen Sie wissen, wem dies Opfer gilt!«

Edith richtete sich empor, das lähmende Entsetzen wich jetzt einem plötzlichen Entschlusse.

»Ich werde es erfahren!« sagte sie fest. »Er soll mir Rede stehen.«

»Ihnen, die er liebt? Glauben Sie, daß er sich selbst vernichten wird in Ihren Augen?« »Ich glaube, daß ich allein die Macht habe, ihn zu zwingen, vielleicht ich allein auf der ganzen Welt. Er wird ja nichts bekennen, aber was sein Mund verschweigt, das wird mir sein Auge sagen.«

Raimar blickte sie mit unverhehlter Besorgnis an.

»Sie haben recht, ich kann nicht erwarten, daß Sie mir blindlings glauben, aber – das wird eine furchtbare Stunde für Sie!«

»Ja,« sagte Edith mit zuckenden Lippen. »Leben Sie wohl!«

Sie ging, und Ernst versuchte nicht, sie zurückzuhalten. Er trat nur an das Fenster und sah, wie sie in ihren draußen harrenden Wagen stieg und fortfuhr. Da schlug es vier Uhr vom Turme der gegenüberliegenden Kirche. Arnold mußte gleich zurückkommen, aber Raimar fühlte, daß er in seiner jetzigen Stimmung dem Uebermut des glücklichen Bräutigams, dem frohen Lachen Wilmas nicht werde standhalten können. Nur jetzt allein sein! Er ging hinunter, ließ dem Portier eine Bestellung zurück und verließ das Hotel.

Fünf Minuten später kam der Major mit Frau von Maiendorf angefahren und hörte zu seinem Aerger, daß sein Freund allerdings dagewesen, aber wieder fortgegangen sei. Der etwas unklare Bericht des Portiers ließ ihn an ein Mißverständnis glauben, aber vielleicht war Ernst bei seinem Onkel gewesen und hatte dort eine Nachricht zurückgelassen.

Hartmut stieg die Treppe zum zweiten Stock hinauf, wo der Notar wohnte. Auf sein Anklopfen ertönte ein merkwürdig düster klingendes Herein. Treumann saß am Tische und schrieb so eifrig, daß er sich kaum Zeit nahm, den Gruß zu erwidern.

»Ich wollte nur fragen, ob Ernst bei Ihnen gewesen ist,« sagte der Major. »Bitte um Entschuldigung, wenn ich störe.«

»Nein, Ernst war nicht hier,« versetzte der Notar aufblickend. »Sie stören mich durchaus nicht, ich bin sogleich fertig, nur noch zwei Minuten.«

»Vermutlich der gestrige Bericht für die ›Burgwarte‹,« bemerkte Arnold, aber der alte Herr schüttelte den Kopf und antwortete in einem wahren Grabestone: »Nein – mein Testament!«

»Was? Ich denke, das ist längst gemacht, und wenn Sie wirklich ein Kodizill beabsichtigen, so hat das doch Zeit, bis Sie wieder in Heilsberg sind.«

»Nein, das hat nicht Zeit. Ich kann heut oder morgen sterben, ich habe gestern abend schon geglaubt, daß mich der Schlag treffen wird, und ich will wenigstens meine Ruhe im Grabe haben!«

Treumann schaute den Major dabei so grimmig an, daß dieser das Bedürfnis fühlte, sich zu verteidigen.

»Nun, ich störe Sie doch gewiß nicht darin,« sagte er. »Aber was ist denn eigentlich passiert? Gestern waren Sie in einem fortwährenden Zustande der Verklärung über Ernsts Sieg und seine Erfolge, und heut haben Sie Todesgedanken und machen ein Testament!«

»Franz Philipp Treumann – Punktum!« Der Notar setzte einen dicken Punkt hinter die eben vollzogene Unterschrift und betrachtete dann mit höchster Befriedigung sein Werk. »Warum ich testiere, wollen Sie wissen? Weil ich einen anständigen Erben haben will, und das ist der Maxl nicht. Der Maxl ist ein Lump! Ein ausgemachter Lump!«

»Das stimmt,« versetzte Hartmut mit Seelenruhe. »Ernst und ich haben diese betrübende Entdeckung schon längst gemacht, aber wie sind Sie denn dahinter gekommen?«

Der alte Herr schluckte ein paarmal heftig, wie das seine Gewohnheit war, wenn er sich in äußerster Erregung befand, dann aber brach er los.

»Ich bin schon hinter manches gekommen, denn ich habe Maxls Wirtin ausgefragt, und da bekam ich erbauliche Dinge zu hören. Aber ich glaubte, er sei nur leichtsinnig geworden hier in der großen Stadt, und wenn er auf einige Zeit nach Hause käme, würde er wieder solid und vernünftig werden. Ich wollte ihn mitnehmen in die historische Rumpelkammer, wo die Menschen verschimmeln – das ist nämlich Heilsberg! Und zu dem alten Fossil – das bin ich!«

Jetzt wurde dem Major doch bange um den Verstand des Testators, er wollte ihm eben nach dem Puls greifen, als ihn die nächsten Worte glücklicherweise beruhigten.

»So sagt nämlich der Maxl! So spricht er von seiner Heimat und seinem Onkel! Ich wollte ihn gestern abend noch sprechen und traf ihn nicht zu Hause; aber ich kenne das Lokal, wo er gewöhnlich verkehrt, und da fand ich ihn denn auch mit seinem Busenfreunde, dem Neustädter Redakteur. In einem Separatzimmer saßen sie, und Champagner tranken sie.«

»Dieser Redakteur scheint doch ein sehr leichtsinniger Mensch zu sein,« meinte Hartmut. »Gestern, am Tage der schmählichen Niederlage seines Chefs, durfte er doch höchstens Selterwasser trinken, und nun feiert er das mit Champagner!«

»Der Maxi bezahlt ja alles – von meinem Gelde!« rief Treumann mit einem krampfhaften Auflachen. »›Trinke nur, mein Junge!‹ sagte er. ›Das geht schon auf die Erbschaft vom alten Fossil, darauf habe ich mir einen Wechsel verschafft, hoffentlich fährt er bald ab, der Alte‹ – und darauf haben sie angestoßen!«

»Schändlich!« fuhr Arnold diesmal mit wirklicher Entrüstung auf, während der alte Herr weiter berichtete: »Sie waren beide schon so bekneipt, daß sie es gar nicht merkten, wie ich an der Thür stand und zuhörte. Maxl wußte überhaupt nicht mehr, was er sprach, aber im Wein ist Wahrheit! Das alte Sprichwort bewährte sich wieder einmal. ›Dann ziehst du am Ende ganz nach Heilsberg?‹ sagte der Busenfreund. Das sollte ein Witz sein, und Maxl wollte sich darüber ausschütten vor Lachen. ›Denkst du, ich werde verschimmeln in der historischen Rumpelkammer?‹ rief er. ›Der Alte wohnt natürlich auch in solch einem windschiefen, mittelalterlichen Bau, wie der Fuchs im Loche, aber ein Gutes hat er darin, einen ganz erträglichen Weinkeller. Den trinken wir erst zusammen aus, Bruderherz, und dann wird der ganze historische Kram verkauft, ich bin ja Universalerbe! Kannst dich immer unter der Hand in Neustadt umsehen, ob du einen Käufer findest.‹ – Ein Neustädter in meinem Hause! Da hielt ich nicht mehr an mich – nun kam ich!«

»Wie ein Racheengel, ich kann es mir denken!« warf Hartmut ein, der mit dem größten Behagen zuhörte.

»O nein, ich war ganz ruhig, aber vernichtend. Den Maxl habe ich überhaupt keines Wortes gewürdigt, ich wandte mich an den Redakteur und sagte: ›Mein Herr! Dieser Mensch da war bisher mein Neffe – er ist es fortan nicht mehr! Um einen Käufer für den ›historischen Kram‹ brauchen Sie sich nicht zu bemühen, denn ich mache morgen ein neues Testament und setze meinen nunmehr alleinigen Neffen Ernst auch zum alleinigen Erben ein. Und um meinen Weinkeller brauchen Sie sich auch nicht zu bemühen, den wird Ernst in Gemeinschaft mit seinem Freunde Major Hartmut austrinken, ich werde ihnen das testamentarisch zur Pflicht machen. – Und nun bringen Sie diesen Menschen da nach Hause, er hat zuviel getrunken!‹«

»Bravo!« rief der Major, »Das war großartig! Es ist wirklich rührend, daß Sie dabei auch meiner gedacht und mir testamentarisch eine so höchst angenehme Pflicht auferlegt haben. Der Maxl wird allerdings de- und wehmütig Abbitte leisten, wenn er wieder nüchterner geworden ist.«

»Das soll er sich unterstehen!« Treumann richtete sich kampflustig auf. »Ich werfe ihn zur Thür hinaus! Heute habe ich das Testament niedergeschrieben für alle Fälle, und in Heilsberg werde ich es feierlich niederlegen, vor zeugen. Niet- und nagelfest soll werden, damit dieser Mensch nicht daran rütteln kann. Wofür bin ich denn Jurist!«

Er faltete das Testament zusammen und verschloß es, dann aber schlug seine Stimmung plötzlich in das Elegische um. »Und ich habe den Jungen so lieb gehabt!« sagte er wehmütig. »Von Kindheit an habe ich ihn verwöhnt und verzogen und die größten Hoffnungen auf ihn und sein Talent gesetzt. Ich hatte immer eine offene Hand für ihn, und nun lohnt er es mir so!«

Ein paar Thränen rollten langsam über die Wangen des alten Mannes, aber der Major legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter.

»Lassen Sie den dummen Jungen laufen,« sagte er. »Gut, daß Sie ihn jetzt kennen in seiner ganzen Erbärmlichkeit! Eigentlich hat das Familiengenie doch nur gewechselt, jetzt ist es auf Ernst übergegangen, und der bringt auch seinen Onkel zu Ehren. Sie waren ja gestern der eigentliche Mittelpunkt auf der Journalistentribüne. Was an Ernst nicht herankommen konnte, das drängte sich um Sie und gratulierte Ihnen.«

Er hatte das rechte Trostmittel ergriffen, die Augen Treumanns strahlten auf bei der Erinnerung.

»Ja, sie haben mir alle gratuliert!« rief er. »Der Vertreter der ›Times‹ hat mir die Hand geschüttelt und gesagt: ›Mr. Treumann, Sie werden einmal einen großen Neffen haben! Er ist ja ein Rednergenie ersten Ranges!‹ Ich lehnte natürlich bescheiden ab und antwortete: ›O, das liegt bei uns so in der Familie!‹ Es war der schönste Tag meines Lebens!«

»Ja, das liegt in der Familie!« stimmte Hartmut bei, »Aber nun kommen Sie mit hinunter zu meiner Wilma und unserem kleinen Wildfang, der Lisbeth. Kommen Sie, Onkel Treumann, Sie müssen schon erlauben, daß ich Sie in Zukunft auch so nenne, Sie haben mich ja doch zum Miterben eingesetzt, bei dem Weinkeller« – damit ergriff er den Arm des alten Herrn, dem diese neue Onkelschaft höchst schmeichelhaft war. Nun hatte er vollen Ersatz für »diesen Menschen« da, der nicht mehr sein Neffe war, und den er nunmehr in aller Form enterbt hatte.

In seinem Arbeitszimmer saß Bankier Marlow mit finsterer Stirn und sorgenvoller Miene. Der gestrige Tag hatte seine schlimmsten Befürchtungen noch übertroffen. Das hatte er nicht erwartet! Diese unbedingte Freisprechung seines, Gegners war die moralische Vernichtung Ronalds. Freilich verdankte Raimar den Sieg nur seiner glänzenden Selbstverteidigung, und Marlow gehörte auch zu den widerwillig Gezwungenen. Auch ihm war gestern ein Spiegel vorgehalten worden, wie so manchem seiner Kollegen von der hohen Finanz, die jahrelang gewußt und geduldet hatten, was sie, zur Ehre ihres Standes bekämpfen mußten. Auf den Namen und Ruf des Hauses Marlow fiel allerdings kein Schatten. Der Bankier hatte schon damals, als Raimars Schrift erschien, die Gefahr erkannt und seine Maßregeln getroffen. Er konnte sich darauf berufen, daß er sich sofort zurückgezogen hatte, als ihm das Unlautere jenes Unternehmens klar wurde, aber sein Kind, seine Tochter!

Bis jetzt war das Geheimnis der Verlobung ja gewahrt worden, aber wenn es nun zum Bruche kam und Ronald sich rächte mit der öffentlichen Erklärung, daß Edith Marlow seine Braut gewesen war, und daß man ihn jetzt, wo sein Sturz drohte, schmählich im Stiche ließ? Das wäre mehr als peinlich gewesen der Welt gegenüber, und Marlow war gewohnt, deren Urteil in die erste Reihe zu stellen. Das schlimmste war, daß Edith selbst widerstrebte, daß sie mit voller Entschiedenheit erklärte, sie halte sich noch für gebunden, nur Felix selbst könne sie freigeben. Ihr Vater kannte den Charakter Ronalds doch hinreichend, um zu wissen, daß dieser einer solchen Großmut nicht fähig war, aber zu jedem Gewaltschritt, wenn man ihn reizte.

Eine heiße Angst wallte plötzlich in Marlow auf, denn hier empfand er doch nur als Vater, alles andere trat davor zurück. Er wollte seine Tochter wieder haben, wollte sie frei machen von der Gewalt des Mannes, dem er sie selbst ausgeliefert. Einmal hatte er sich verleiten lassen, den alten Grundsätzen seines Hauses untreu zu werden, er hatte auch die Hand ausgestreckt nach dem »Hexengolde«, – das rächte sich jetzt an seinem einzigen Kinde!

Edith war heute nachmittag bei ihrer Rückkehr von Wilma so seltsam verstört und aufgeregt gewesen, hatte aber dem Vater nicht Rede gestanden, sondern nur verlangt, er solle sie mit Ronald, der heute abend kommen wollte, allein lassen und die Unterredung unter keiner Bedingung stören. Widerstrebend hatte er nachgegeben, Gott weiß, was zwischen den beiden da entschieden wurde!

Edith befand sich allein in ihrem Zimmer, die Dunkelheit war längst eingebrochen, aber hier in dem großen, reich und behaglich ausgestatteten Gemach herrschte blendende Helle. Das elektrische Licht, das aus gläsernen Blumenkelchen sprühte, wurde sonst durch einen rosigen Schleier gedämpft, heute war er entfernt worden. Grell und scharf floß das Licht nieder und beleuchtete jeden Gegenstand im Zimmer, jeden Zug in dem Gesicht des Mädchens, das bleich, aber in entschlossener Haltung am Kamin stand. Die »furchtbare Stunde« war da!

Ronald war gestern fern geblieben, erst heute morgen, hatte er einige Zeilen gesandt, um sich für den Abend anzumelden. Jetzt trat er ein, die Thür schloß sich hinter ihm, die beiden waren allein.

Edith ging ihm anscheinend ruhig entgegen, aber als er sich zu ihr niederbeugte, um sie nach gewohnter Art in die Arme zu schließen, zuckte sie leicht zusammen, und das entging ihm nicht. Er streifte sie mit einem raschen, funkelnden Blick, dann berührten seine Lippen nur ihre Stirn und er richtete sich wieder empor.

»Hast du mich gestern erwartet?« fragte er. »Meine Stimmung war begreiflicherweise nicht die beste. Ich taugte schlecht zur Gesellschaft, deshalb blieb ich dir fern.«

»Zur Unterhaltung habe ich dich auch nicht erwartet,« entgegnete Edith leise.

»Vielleicht zur Aussprache? Ich gehöre nicht zu den Menschen, die Trost brauchen, ich pflege das mit mir allein abzumachen.«

Er stand ungebeugt vor ihr und sprach in einem völlig beherrschten Tone, nur die fahle Blässe in seinem Gesichte und das nervöse Zucken darin verrieten, wie ihn die gestrige Niederlage getroffen hatte, Edith war an den Kamin getreten, wo zwei niedrige Sessel standen, ihr gewöhnlicher Platz bei den Besuchen Ronalds. Sie ließ sich auch jetzt dort nieder, er folgte ihrem Beispiel.

»Ich fürchte dich auch heute noch mit jedem Worte zu verletzen,« entgegnete sie, »Ich war ja gestern bei der Verhandlung, da brauchen wir es uns nicht erst zu sagen, wie der Ausgang uns beide getroffen hat.«

»Uns beide?« wiederholte er. »Rechnest du dich wirklich noch, zu mir? Dein Vater thut das nicht mehr!«

»Du kommst von Papa?« fragte Edith rasch.

»Nein, ich kam direkt zu dir, aber es ist mir längst kein Geheimnis mehr, daß er dringend eine – Aenderung unseres Verhältnisses wünscht. Ich nehme ihm das nicht besonders übel, denn wir beide haben uns von jeher auf den geschäftlichen Standpunkt gestellt. Seine etwaige Abneigung kümmert mich sehr wenig. Ich habe mit dir zu thun, Edith, mit dir allein!«

Seine brennenden Augen ruhten in fieberhafter Unruhe auf ihren Zügen, aber es vergingen einige Sekunden, ehe Edith antwortete. Die entscheidende Frage drängte sich auf ihre Lippen und wurde doch nicht ausgesprochen. Das wilde, stürmische Klopfen ihres Herzens erstickte ihr fast die Stimme.

»Ich lasse mich nicht von äußeren Ereignissen beeinflussen, das weißt du, Felix,« erwiderte sie endlich. »Und eben deshalb verlange ich Offenheit von dir. Mein Vater hält deine Stellung für schwer erschüttert, er meint, der gestrige Tag –«

»Sei der Anfang vom Ende!« unterbrach er sie mit bitterem Hohne. »Das glauben sie so ziemlich alle, man denkt sehr schnell mit mir fertig zu werden. Das ›Götzenbild des Mammons‹ wie mein genialer Gegner es nannte, ist ja nun gestürzt! Ich glaube, er hat nicht übel Lust, sich selbst an diese Stelle zu setzen, und Aussicht hat er auch dazu. Man warf sich ihm ja gestern schon beinahe zu Füßen, dem großen Redner! dem Anwalt des Rechtes! Hat er dich nicht auch hingerissen mit seinen flammenden Tiraden? Du bist ja sehr empfänglich dafür!«

In den Worten verriet sich seine ganze furchtbare Gereiztheit, die er nicht länger zurückhalten konnte. Edith schwieg, sie wußte, daß sie an diesen Punkt nicht rühren durfte, ohne seine volle Leidenschaftlichkeit zu entfesseln, und hier galt es doch, ruhig zu sein. Felix fuhr mit steigender Heftigkeit fort.

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»Sie könnten sich doch irren, all die weisen Propheten. Noch bin ich Felix Ronald, das sollen sie erfahren! Steinfeld werde ich ja aufgeben müssen, und auch um meine anderen Schöpfungen werde ich kämpfen müssen. Wenn dies liebe Publikum einmal aufgerüttelt ist, dann läßt es sich gar nicht mehr regieren, und man braucht sie doch nun einmal, diese blinde, urteilslose Herde, die nur einen Gott kennt, den Erfolg! Wenn ich den behaupte, dann bin ich auch wieder gerechtfertigt in ihren Augen, und die ganze Moralkomödie, die sich da gestern abspielte, verpufft unschädlich in die Luft. Ich habe schon einmal am Abgrunde gestanden und habe das Unheil bezwungen – ich will nicht unterliegen!«

Es war ein Ausbruch der herbsten Menschenverachtung, doch die wilde Energie dieses Mannes schien nur zu wachsen mit der Gefahr; wo andere sich verloren gegeben hätten, da bäumte er sich auf mit der alten Kraft. Aber jetzt schlug sein Ton plötzlich in volle, heiße Empfindung um.

»Ich scheue den Kampf nicht, aber eine Gewißheit muß ich haben – daß du mir bleibst, Edith, daß ich dich nicht verliere! Ich verlange ja jetzt kein Opfer, kein Zugeständnis, du sollst nur warten, bis ich wieder Herr der Verhältnisse geworden bin. Sage es mir, daß du mein bleiben willst, und ich zwinge es zurück, das fliehende Glück, ich zwinge alles, um deinetwillen!«

Er war aufgesprungen, all die Bitterkeit, der Haß, die eben noch so drohend aufflammten, gingen unter in der stürmischen Bitte. Edith hatte sich gleichfalls erhoben und trat jetzt an den Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand. Sie rang nach Atem, aber die Stimme gehorchte ihr doch wieder.

»Ich habe noch eine Frage an dich, Felix, die du mir beantworten mußt. Ich bitte dich darum.«

Felix war ihr gefolgt und stand ihr jetzt gegenüber, im vollen grellen Lichte, das jeden Zug seines Gesichtes deutlich hervortreten ließ. Er legte offenbar gar kein besonderes Gewicht auf die letzten Worte, sondern versetzte nur mit verhaltener Ungeduld: »Nun, so frage doch!«

Noch ein sekundenlanges Zögern, dann sagte Edith, den Blick fest und unverwandt auf ihn, gerichtet: »Wer war es, der damals die Depots nahm im Raimarschen Hause?«

Ronald zuckte zusammen, wie von einer Kugel getroffen, ein dumpfer, halb erstickter Laut rang sich von seinen Lippen, und in seinen Augen flammte wieder jener entsetzliche, dämonische Blick. Die Frage aus diesem Munde wirkte mit der Gewalt eines jäh niederfahrenden Blitzes, und der Blitz hatte getroffen.

Das dauerte freilich nur einen Moment, dann war er wieder Herr seiner selbst und stand da in der gewohnten Haltung, nur die Stimme klang rauh und heiser, als er erwiderte: »Seltsame Frage! Was soll das?«

»Ich frage nichts mehr – ich habe die Antwort!« sagte Edith tonlos.

Es folgte ein langes, furchtbares Schweigen, das keiner zu brechen wagte. Ronald fühlte es, daß er den Selbstverrat nicht ungeschehen machen konnte, und machte auch nicht den Versuch dazu. Als er wieder sprach nach Minuten, lag ein fremder Klang in seiner Stimme.

»Wer hat dir das eingegeben?«

Edith gab keine Antwort, sie kämpfte noch mit ihrem Entsetzen, ihrem Grauen vor dem Manne, dessen Weib sie hatte werden sollen und der sich ihr nun so enthüllte. Er lachte bitter auf.

»Was frage ich denn noch? Das hast du von ihm gelernt, das ist seine Taktik, ich kenne sie ja. Den Gegner sicher machen, mit der scheinbaren Arglosigkeit und dann plötzlich auf ihn niederstürzen, wie der Falk auf die Beute. Du bist eine gelehrige Schülerin!«

Er wollte sich ihr nähern, aber sie wich mit dem Ausdruck des Abscheues zurück.

»Komm mir nicht nahe! Rühre mich nicht an – du hast kein Recht mehr dazu!«

»Warum nicht?« fragte er eisig. »Weil ich mich fangen ließ in der Schlinge, die du mir legtest? Ich habe nichts zugestanden, werde nichts zugestehen. Er hat es trotz alledem nicht gewagt, mich anzuklagen. Wenn du es versuchen wolltest – hüte dich!«

»Ja, du hast aller Welt gelogen,« sagte Edith mit herber Verachtung, »willst du auch mir lügen? Sieh mir ins Auge und wage es zu sagen: Ich bin schuldlos!«

»Wozu? Du würdest mir ja doch nicht glauben!«

»Nein!«

»Also ersparen wir uns die Auseinandersetzungen. Was ich that oder nicht that, das kannst du nicht begreifen, das begreift überhaupt keiner, der nicht selbst einmal gescheitert ist, und nun die rettende Planke erreicht, die schon einen trägt. Zwei trägt sie nicht, da heißt es: Er oder ich! Es ist Notwehr in dem Kampfe um das Dasein.«

Edith begriff ihn in der That nicht. »Notwehr?« wiederholte sie völlig verständnislos.

»Nun ja! Ich stand damals auch vor dem Revolver, und wenn sich nicht jene Rettung fand, dann hätte ich losgedrückt. Er, mein Chef, hatte eine gewagte Börsenspekulation unternommen, auf mein Drängen, denn ich war selbst beteiligt daran, und einem Prokuristen mit ein paar tausend Mark Gehalt gestattet man kein Geschäft mit Hunderttausenden, ohne ihn zu beargwöhnen. Ich brauchte Raimars Namen und Eintreten, um das meinige zu decken; wenn die Sache glückte, dann hatte ich ein Vermögen, und das seinige verdoppelte sich,«

»Aber sie schlug fehl – ich weiß es!«

»Sie schien wenigstens fehl zu schlagen. Ich sah es freilich voraus, daß ein Umschlag kommen werde, kommen mußte, denn der Krieg, der ihn brachte, lag schon in der Luft, aber Raimar warf vorzeitig die Flinte ins Korn und zog sich zurück. Er war überhaupt nicht angelegt für Wagnisse, und er mit seinem Vermögen konnte den Verlust auch überwinden. Ich war verloren, wenn ich die Differenzen nicht zahlen konnte, und es galt doch nur, über die nächsten Wochen wegzukommen. Ich war kaum dreißig Jahre, ich hatte große Zukunftspläne und fühlte die Kraft in mir – und da warf ich den Revolver fort und nahm die Rettung, wo ich sie fand.«

»Und dann?« fragte Edith, so leise, als fürchte sie sich vor dem Laut ihrer eigenen Stimme.

»Dann kam die Entdeckung und damit die Katastrophe. Raimar, schon aufs äußerste erregt durch seine Verluste, durch die letzten Vorgänge, verlor den Kopf und that jenen Verzweiflungsschritt. Unmittelbar darauf trat der Umschlag ein, auf den ich gerechnet hatte, da wurde der Verlust zum Gewinn. Nur drei Wochen später, und man hätte alles in Ordnung gefunden, alles wäre ersetzt gewesen – es war ein Verhängnis!«

Er sprach in einem seltsam ausdruckslosen Tone, fast ohne Erregung, als erzähle er die Geschichte eines Fremden, und doch klang etwas darin, wie der Nachhall einer Verzweiflungsstunde, etwas, das verriet, der Mann war nicht ohne Kampf gefallen. Jetzt aber richtete er sich jäh empor, als sei es nun genug mit der Selbstfolter.

»Und nun geh hin und denunziere mich! Aber sage es ihnen auch, daß du meine Braut gewesen bist, daß du in meinen Armen gelegen, meine Küsse gefühlt hast – vergiß das nicht!«

Edith schauerte zusammen unter dem Hohne. »Ich werde nicht sprechen, das weißt du,« entgegnete sie. »Ich nicht – das ist deine Sache.«

»Ich?« fuhr Ronald auf. »Bist du von Sinnen?«

»Du hast einen schuldlosen Mann in den Tod gejagt, du hast seinem Sohne die Zukunft vernichtet, und jetzt stürzt dich dieser Sohn herab von deiner Höhe. Fühlst du denn nicht das Walten der Nemesis?«

»Nemesis?« Er zuckte verächtlich die Achseln. »Ja so, du glaubst noch an dergleichen, ich bin längst darüber hinaus. Raimar hat eben einen Haupttrumpf ausgespielt, als er dich zur Vertrauten machte, und ich bin matt gesetzt von euch beiden. Aber sucht nicht etwa nach Beweisen, es existieren keine.«

»Ich weiß – nur dein Geständnis kann es beweisen.«

Ronald streifte sie mit einem langen, seltsamen Blick.

»Traust du mir im Ernste eine solche romantische Tollheit zu? Man kann zum Selbstmord greifen, wenn alles verloren ist, das kann man nicht. Und ich gebe mich noch nicht verloren! Sturz – pah! – Ich werde kämpfen bis aufs Blut, um das, was noch mein ist; ein Verzweifelter wagt alles.«

Er machte eine Bewegung, als wollte er gehen, hielt aber plötzlich inne.

»Lebe wohl!«

Edith regte sich nicht.

»Hörst du nicht, Edith? Ich will noch ein Lebewohl von dir – und müßte ich es erzwingen!«

Sie verharrte in ihrem Schweigen, aber sie wich langsam noch weiter zurück. Ronald biß die Zähne zusammen, mit ein paar Schritten war er an ihrer Seite und faßte ihren Arm.

»Ein Wort will ich hören! Reize mich nicht oder –«

Edith riß sich nicht los, aber ein Wort fiel von ihren Lippen, nur ein einziges.

»Dieb!«

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Ronald taumelte zurück, sein Gesicht wurde leichenfahl, es kam kein Laut mehr über seine Lippen, aber in dem letzten Blick, der auf seine einstige Braut siel, lag doch etwas, was sie erbeben machte. Das war nicht mehr Drohung, das war Todesqual!

Er war gegangen, ohne sich noch einmal umzuwenden, und jetzt, wo sie sich allein wußte, brach Edith zusammen mit einem Aufschrei, in dem sich die Verzweiflung einte mit dem Aufatmen der Erlösung: »Frei! Frei! Aber, o mein Gott, um welchen Preis!«

Der Anfang vom Ende! So hatte Marlow die Gerichtsverhandlung genannt, aber das Ende kam viel schneller, als er und alle vermuteten. Zwar wurde das Aeußerste versucht, um zu retten, was noch zu retten war, Ronald hielt Wort, er kämpfte wie ein Verzweifelter gegen das nun von allen Seiten hereinbrechende Unheil. Alle Hilfsquellen, über die er verfügte, wurden aufgeboten, was er noch an Macht und Einfluß besaß, das wurde eingesetzt, und hätten die großen Werke der Industrie, die er in das Leben gerufen, eine Stütze in sich selbst gehabt, er hätte sie trotz alledem gerettet. Aber Raimar hatte nicht umsonst der Welt zugerufen: »Seht euch die anderen Schöpfungen des unheilvollen Mannes an, sie tragen alle den Zerfall in sich!«

Jetzt sah und urteilte man. Jene Unternehmen arbeiteten mit Hunderttausenden, mit Millionen, weil man ihnen ein unbeschränktes Vertrauen entgegenbrachte, weil ihnen immer neue Mittel zuströmten, sobald der Name Ronald an der Spitze stand. Jetzt, wo das Vertrauen vernichtet war, wo die Mittel versagten, zeigte es sich, daß jene riesigen Schöpfungen sämtlich auf thönernen Füßen standen, sie wankten alle.

Steinfeld fiel zuerst, und nun gab es keinen Halt mehr. Eins riß das andere mit sich, und das Publikum sah mit einer Art von Grauen zu, wie das scheinbar so glänzende Gebäude dieses vielbewunderten und vielbeneideten Reichtums in sich selbst zerfiel. Noch war kein Jahr vergangen, da war das Ende da – über das Vermögen Felix Ronalds wurde der Konkurs eröffnet.

Es war ein finsterer, stürmischer Abend im Spätherbste, mit dicht verschleiertem Himmel und kalten Regenschauern. Im Ronaldschen Hause war alles still und dunkel, nur im Erkerfenster im ersten Stock schimmerte noch Licht hinter dem herabgelassenen Vorhange. Ronald war allein in seinem Arbeitszimmer, morgen sollte er das Haus verlassen, dessen Herr er nicht mehr war, sollte als Bettler von den Trümmern seines einst so unermeßlichen Besitzes gehen.

Er konnte ja freilich Europa verlassen und in einem anderen Weltteil wieder von vorn anfangen. Das hatte mancher gethan, der hier gescheitert war, und mancher war wieder emporgestiegen. Dort drüben, in Amerika oder Australien, brauchte man die Leute von rücksichtsloser Thatkraft, da stürzte man sie nicht mit einer »Krämermoral«. Aber es war etwas zerbrochen in dem Manne, der da so düster in dem Sessel vor seinem Schreibtische lehnte, schon damals als er das Marlowsche Haus verließ, um es nicht wieder zu betreten. Bisher hatte ihn das Fieber des Kampfes aufrecht erhalten, jetzt versagten Wille und Kraft. Er hatte Unmögliches versucht, um das Unmögliche zu erzwingen – umsonst!

Edith Marlow war gleich nach der Vermählung ihrer Cousine nach Italien gereist mit einer älteren Verwandten. Sie war noch nicht zurückgekehrt, auch hier wurde erst »das Ende« abgewartet. Ein bitteres Lächeln zuckte um Ronalds Lippen, sie hatte ja recht. Das konnte nicht verziehen und vergessen werden, das konnte nicht einmal ein liebendes Weib verzeihen, und sie hatte ihn ja nie geliebt. Jetzt stand er allein, er hatte Schmeichler und Anhänger besessen in Menge – Freunde nicht. Und sie hatten ihn alle verlassen, die einen mit brutaler Rücksichtslosigkeit, die anderen mit heuchlerischem Bedauern, gegangen waren sie alle.

»Hexengold!« Das unheilvolle Wort war an ihm zur Wahrheit geworden. Er hatte seine Seele dafür verkauft, und es war ihm ja auch zugeströmt in unerschöpflicher Fülle. Da wurde der Bann gebrochen, und da wurde es auch in seiner Hand zu Staub und Asche, er selbst war ihm verfallen, er wußte es. Und nun trat auch eine Gestalt heran, die er kannte, sein einstiger Chef, den er in den Tod gejagt hatte.

Raimar hatte seinen ersten Beamten nicht beargwöhnt, er war wohl überhaupt nicht mehr fähig, klar zu urteilen und nachzuforschen, nachdem er jene furchtbare Entdeckung gemacht hatte: Er fühlte nur, daß seine Ehre rettungslos verloren war in den Augen der Welt, und das ertrug er nicht. Ronald sah ihn noch deutlich vor sich, wie er in sein Arbeitszimmer ging und sich auf der Schwelle noch einmal umwandte. »Gute Nacht, Ronald!« dann schloß sich die Thür, und man hörte das leise Klirren des Schlüssels, der umgedreht wurde, und Felix Ronald stand draußen und wußte, was da drinnen geschah: Wohl trieb es ihn gewaltsam, sich gegen die Thüre zu stürzen, zu rufen und den Einlaß zu erzwingen, ehe das Entsetzliche geschah, aber da schoß es ihm durch den Kopf, daß dies Entsetzliche ja seine Rettung war. Wenn es geschah, dann hatte ein Schuldiger sich selbst gerichtet, denn es gab nur eine Erklärung, und man fragte und forschte nicht weiter. Dann war die Spur verwischt, die man sonst wohl entdeckt hätte. »Er oder ich!« Das grausame Wort entschied – und dann fiel der Schuß da drinnen!

Jetzt stand sie wieder da, die Gestalt mit dem stillen bleichen Gesichte, und der finstere, einsame Mann wußte, was sie von ihm wollte, die geraubte Ehre und den reinen Namen für den Sohn, der den Vater jetzt gerächt hatte. Der Tote war oft wiedergekommen in den vergangenen Monaten, sehr oft. Heute kam er zum letztenmal, denn wenn er heute ging – dann ging er nicht allein!

Ronald sprang auf und begann ruhelos im Zimmer auf und ab zu wandern. Er hatte die »romantische Tollheit« der Selbstanklage verhöhnt, wie er den Gedanken an die Nemesis verhöhnt hatte, aber mitten im Kampf und Sturm des Lebens denkt man anders darüber als in der Todesstunde. Jetzt fühlte er, daß er unter einer dunklen, rächenden Gewalt stand. Freilich, was kümmerte es ihn, wenn man hinter ihm her zeterte, er war ohnehin beladen mit dem Fluch aller, die sich nicht rechtzeitig zurückgezogen und nun durch ihn ihre Habe verloren hatten. Er hatte die Menschen und ihr Urteil stets verachtet, und ein Jenseits gab es für ihn nicht. Wenn der dunkle Vorhang fiel, dann war es zu Ende.

Langsam trat Ronald wieder zum Schreibtische und nahm aus einem der Fächer ein Bild, das dort monatelang verschlossen gewesen war. Er blickte lange nieder auf das schöne Antlitz, das immer so kalt gewesen war für ihn und doch in Glut und Wärme aufstrahlen konnte für einen anderen. Er haßte jetzt diesen anderen nicht mehr, auch das war vorbei, war erstorben, nur jene Leidenschaft starb erst mit ihm, sie war nun einmal sein Verhängnis gewesen.

Als er Edith das letzte Mal sah, da traf ihn jenes furchtbare Wort aus ihrem Munde wie ein Peitschenschlag in das Gesicht, das war ihr Lebewohl gewesen! So stand er in ihrer Erinnerung! Eins freilich würde es auslöschen, in Thränen auslöschen, die sie ja wohl weinen würde, wenn er ihr dies Vermächtnis hinterließ. Warum sollte er sich diese Thränen nicht erkaufen?

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Er setzte sich zum Schreiben nieder, es war bald gethan. Der Brief an Edith Marlow enthielt überhaupt nur drei Worte: »Lebe wohl! – Felix.« – Der zweite, an Ernst Raimar gerichtet, war auch nur kurz, aber inhaltreich, er setzte mit fester Hand die Unterschrift darunter: »Felix Ronald.« Dann schloß er beide Briefe in ein größeres Couvert, versiegelte es und adressierte an Bankier Marlow. Nun war es geschehen, nun hatte er Ruhe – auch vor dem Toten!

Felix Ronald trat an den Kamin, wo noch die Glut leuchtete, und warf das Bild hinein. Die Flamme züngelte auf und erlosch nach einigen Minuten, es war vernichtet. Jetzt verschloß er die Thür – mit leisem Klirren drehte sich der Schlüssel um, wie damals – und dann waltete die Nemesis ihres Amtes!

Erwachen! Das verheißungsvolle Wort auf dem alten, verwitterten Grabdenkmal des kleinen Waldfriedhofes war wieder einmal zur Wahrheit geworden für die Erde. Drei Jahre waren dahingegangen, und über vergessenen Menschenschicksalen erblühte die Welt aufs neue im Frühlingsleben.

Die gute Stadt Heilsberg erfreute sich noch immer ihrer idyllischen Ruhe und Abgeschlossenheit. Hier hatte sich nichts verändert, nur der bisherige Notar war fortgezogen, und die Heilsberger Kanzlei hatte einen neuen Vertreter. Sonst war nichts passiert, aber die Stadt war und blieb »historisch«, und das genügte.

In Steinfeld und Neustadt dagegen hatten sich tiefgreifende Aenderungen vollzogen, allerdings nicht zum Vorteil der beiden Orte. Die Steinfelder Werke, die anfangs für die Ronaldsche Konkursmasse verwaltet wurden, hatten wieder einen Herrn gefunden, der sie für einen verhältnismäßig sehr geringen Preis erstand, aber nicht daran dachte, den großen Betrieb aufrecht zu erhalten. Dieser ganze riesige Bestand von Arbeitermassen, Gebäuden und kostspieligen Einrichtungen war ja nur Blendwerk gewesen, das zeigte sich bei dem Zusammensturze. Ein wirklicher Ertrag war nur möglich, wenn man das alles auf ein ganz bescheidenes Maß zurückführte, und das geschah denn auch. Die Arbeiter wurden zum größten Teil entlassen, die überflüssigen Baulichkeiten verkauft oder an Pächter abgegeben und das Hüttenwerk selbst fortan so betrieben, wie die anderen Unternehmungen zweiten oder dritten Ranges.

Neustadt, das seine Bedeutung ja nur den Steinfelder Werken verdankte, verlor sie naturgemäß mit ihnen. Die Arbeiterquartiere in der Vorstadt standen teilweise leer, der rege Verkehr mit den Kolonien, der der Stadt unberechenbare Vorteile gebracht hatte, wurde sehr eingeschränkt, und die Beziehungen, in denen die Werke durch ihren früheren Chef zu Berlin und zu dem Auslande standen, hörten völlig auf. Wenn auch nicht gerade das Gras in den Straßen Neustadts wuchs, wie die »Burgwarte« es prophezeit hatte, so war doch seine Blütezeit als Industrieort unwiederbringlich dahin.

Ernst Raimar war nach Berlin übergesiedelt, allerdings zum großen Mißbehagen der Heilsberger. Die ganze Stadt sonnte sich in seiner Berühmtheit, und nun ging er auf und davon. Sein »Hexengold«, dieser kühne Angriff auf den damals noch allmächtigen Ronald, und seine glänzende Verteidigungsrede in jenem Prozeß hatten ihn mit einem Schlage dem Dunkel seines bisherigen Lebens entrissen und überall bekannt gemacht.

Die Woge der Zustimmung und Begeisterung, die ihn emportrug, war noch nicht verrauscht, als ein anderes Ereignis ihn aufs neue in den Vordergrund stellte – die Selbstanklage Ronalds, der noch sterbend der Wahrheit die Ehre gegeben und sich als den Schuldigen bekannt hatte beim Diebstahl jener Depots. Es war selbst an der Schwelle des Grabes noch ein Akt der schwersten Selbstüberwindung, aber es nahm den Makel von dem Namen und der Ehre des verstorbenen Raimar und das »Verhängnis« aus dem Leben seines Sohnes.

Jetzt konnte Ernst die so lange gebundenen Flügel regen, und er regte sie so mächtig, daß man nicht begreifen konnte und wollte, wie ein Mann von dieser Begabung so lange unbemerkt geblieben war. In Berlin fand er überall offene Thüren, und es war nur natürlich, daß alle, die den Vater gekannt und ihm unrecht gethan hatten, Bankier Marlow an der Spitze, nun dem Sohne eine Art von Abbitte leisteten, indem sie ihm das äußerste Entgegenkommen zeigten.

Es war eigentlich merkwürdig, daß dabei immer nur von dem älteren Bruder die Rede war. Max erfreute sich doch auch noch des Daseins und galt auch für ein Talent, obgleich man noch immer nichts davon merkte. Er hatte zwar die Popularität seines Namens nach jener Enthüllung nach Kräften ausgenutzt und überall seine Studien ausgestellt, denn bis zu einem großen Bilde war er auch jetzt nicht gekommen. Seine Leistungen wurden auch freundlich bemerkt und besprochen, weil er eben Raimar hieß, aber dauernd war dieser Erfolg nicht in dem bewegten Treiben der Großstadt, wo ein Interesse das andere verdrängte. Ernst blieb im Vordergrunde, weil er eine bedeutende Persönlichkeit war und seinen Platz zu behaupten wußte; Max trat wieder vollständig in den Hintergrund und hatte es trotz krampfhafter Anstrengungen noch immer nicht zu einer reichen Heirat gebracht, die bekanntlich der Zweck seines Lebens war. Er sehnte sich noch immer nach einer Lebensgefährtin mit der nötigen Vergoldung, die ein grausames Geschick ihm hartnäckig vorenthielt.

Gernsbach wurde wie sonst von dem Pächter bewirtschaftet, das Herrenhaus lag meist still und verschlossen da, aber um so lauter und lustiger ging es dort zu, wenn Major Hartmut mit Frau Gemahlin und Fräulein Tochter einrückte. Er brachte stets seine Urlaubszeit auf dem Gute zu, aber während die junge Witwe sehr zurückgezogen gelebt hatte, war Gernsbach jetzt ein gastfreies Haus mit dem angenehmsten Verkehr, und die Heilsberger wußten das zu schätzen.

Auf der Terrasse saßen Frau Major Hartmut und Herr Notar Treumann, der noch immer Vorstand des historischen Vereins und Mitarbeiter der »Burgwarte« war, aber die Polemik mit dem Neustädter Tageblatt hatte aufgehört. »Gegen den besiegten Feind muß man Großmut üben, und Neustadt ist gar nichts mehr!« pflegte Treumann zu sagen. Diese Großmut wurde ihm um so leichter, als jener Redakteur mit der fossilen Beleidigung längst verduftet und das Tageblatt überhaupt sehr zahm geworden war, seit es nicht mehr die Ronaldschen Interessen vertrat.

Der Besuch des alten Herrn war diesmal übrigens kein zufälliger. Man erwartete heute in Gernsbach seinen Neffen Ernst und »seine Nichte Edith, geborene Marlow«, wie er nie versäumte hinzuzusetzen, denn man kannte ja die Bedeutung dieses Namens in der Finanzwelt. Sie kamen von der Hochzeitsreise.

Wilma Hartmut hatte sich nicht verändert, es war noch dieselbe zarte, anmutige Erscheinung, aber man sah es ihr an, daß sie jetzt eine glückliche Frau war. Da erschien drüben in der Allee der Major zu Pferde und neben ihm auf einem Pony Lisbeth. Sie gewahrten die beiden auf der Terrasse und bogen ab, das ging quer durch die Wiesen in vollem Trabe. Das Blondhaar der Kleinen flatterte im Winde, aber sie saß fest im Sattel und zügelte das kleine, lebhafte Tier mit Sicherheit.

»Halt!« kommandierte Hartmut, und der große Fuchs und der kleine Pony standen wie die Mauern. Der Major grüßte militärisch, was Lisbeth mit großer Sachkenntnis wiederholte, dann stiegen sie ab und übergaben die Pferde dem herbeikommenden Diener, und Arnold führte sein Fräulein Tochter im Triumphe dem Gaste vor.

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»Sehen Sie sich dies Mädel an!« sagte er, »die reitet schon besser als ihre Mama. Furcht kennt sie nicht, das geht über Stock und Stein – meine Schule!«

»Ja, so reite ich immer mit dem Papa!« rief die jetzt zwölfjährige Lisbeth, die auf dies Lob offenbar sehr stolz war. »Sah es nicht lustig aus?«

»Etwas halsbrechend sah es aus,« versetzte der Gefragte. Lisbeth lachte und stahl einige Stückchen Zucker vom Theetische, um die Pferde damit zu füttern, aber es fiel ihr nicht ein, die Steintreppe zu benutzen. Sie setzte sich quer auf die Brüstung und turnte dann mit einem kühnen Sprunge hinunter, was ihr ein tadelndes »Aber Lisbeth« der Mutter und ein lautes »Bravo!« von seiten des Vaters eintrug.

»Das hat Kraft und Leben!« rief er, »Rede mir nicht darein, Wilma, Lisbeth ist ein Prachtmädel!«

»Aber viel zu wild für ein Mädchen,« warf Wilma ein. »Das ist deine Schuld, du machst einen vollständigen Jungen aus ihr mit deiner Erziehung.«

»Nein, das ist deine Schuld,« widersprach Arnold. »Warum bist du mir die Jungen schuldig geblieben? Jetzt muß ich mich an der Lisbeth schadlos halten. – Also nun sind wir versammelt zum Empfange! Sehen Sie nicht so feierlich aus, Onkel Treumann, wir sind im Familienkreise. Bei der Hochzeit hatten Sie allerdings noch einen heillosen Respekt vor der Millionärin.«

»Respekt?« wiederholte Treumann halb beleidigt. »Ich konnte meiner Nichte doch nicht näher treten bei dem großen, glänzenden Feste. Ich habe von jeher für sie geschwärmt, das wissen Sie ja von der ersten Begegnung her auf dem Burgberge.«

»Aber damals glaubten Sie im vollen Ernst, der dumme Junge, der Maxl, würde den Preis davontragen!« rief der Major lachend. »Der erholt sich jetzt in Karlsbad von dem Schrecken. Gallenzustände! so schrieb er wenigstens an Ernst, von dem er sich natürlich das Reisegeld geben ließ.«

»Das hat mein Mann auf dem Gewissen,« sagte Wilma vorwurfsvoll zu dem Notar gewandt. »Wir waren ja gerade in Berlin, als Ernst sich verlobte, und begegneten Max auf der Straße. Da erzählte ihm Arnold die Neuigkeit mit einer Schonungslosigkeit –«

»Bitte, mein Kind, das hast du mißverstanden,« unterbrach sie Hartmut. »Ich war im Gegenteil äußerst zart und schonend. – Siehst du, Maxl, so geht es! sagte ich tröstend. Du hattest schon längst abgeschlossen mit der Zukunft deines Bruders damals in Heilsberg, als du um die Millionärin freitest, und nun bekommt er die Million und die schöne Frau! Den Ernst liebt sie nun einmal, und dich konnte sie nicht ausstehen. Aber tröste dich, du bekommst schon noch irgend ein Ehegespons. – Da wurde er erst grün, dann gelb, murmelte von ›Verrat‹ und stürzte davon wie ein Besessener, und jetzt trinkt er Sprudel, um sich dies Farbenspiel wieder abzugewöhnen. Mich soll nun wundern, wie lange der Maxl noch hausieren geht mit seinem hübschen Gesicht und seiner Dummheit. Er wird doch endlich unter die Haube kommen!« Treumann zuckte nur mit verächtlicher Miene die Achseln. Er liebte es nicht, wenn von »diesem Menschen« gesprochen wurde, den er nicht mehr als seinen Neffen betrachtete. Er hatte ihn in Acht und Bann gethan und blieb in diesem Punkte unbeugsam. Da kam Lisbeth die Treppe hinaufgestürmt und rief atemlos: »Sie kommen! Sie kommen! Ich sehe schon den Wagen!«

Man bemerkte allerdings, wenn auch noch in ziemlicher Entfernung, einen Wagen. Das konnten nur die Erwarteten sein, und der Herr Notar schlug sofort wieder in eine verklärte Stimmung um.

»Ja, sie kommen!« wiederholte er. »Unser Sankt Georg! Das Wort habe ich übrigens erfunden, und dann wurde es zum Schlagwort für die ganze Presse in dem Ronaldschen Prozeß. O, er wird noch ganz andere Kämpfe bestehen, unser Ritter Georg, wenn er erst im Reichstage sitzt! Sie wollen ihn ja als Kandidaten aufstellen bei der nächsten Wahl, ja, solche Redner lassen sie sich nicht entgehen im Parlamente! Wenn Ernst gewählt wird, reise ich nach Berlin und wohne allen Sitzungen bei, keine einzige werde ich versäumen!« und der alte Herr wippte vor Wonne auf und nieder auf seinem Stuhle, was Lisbeth zu der naseweisen Bemerkung veranlaßte: »Onkel Treumann, du machst es gerade wie die Maikäfer, wenn sie auffliegen wollen!«

Jetzt bog der Wagen in die Allee ein, schon von weitem mit Winken und Tücherwehen begrüßt, und wenige Minuten später wurden die Heimgekehrten in Empfang genommen.

»Euch sieht man es an, daß ihr von der Hochzeitsreise kommt. Ihr seht beide noch ganz überirdisch aus!« rief der Major lachend, während er seinem Freunde die Hand schüttelte. Edith hatte inzwischen ihre Cousine umarmt und wandte sich nun zu Lisbeth, die sich die Scheu vor der schönen, vornehmen Tante abgewöhnt zu haben schien. Freilich hatte sich die Tante auch ihrerseits die kühle Vornehmheit abgewöhnt, sie schloß herzlich den kleinen Wildfang in die Arme. Dann kam der Herr Notar an die Reihe, der in der That noch schwankte zwischen der Vertraulichkeit des Onkels und dem Respekt vor der Erbin, aber die Liebenswürdigkeit »seiner Nichte« beseitigte bald den Respekt. Sie versprach, morgen nach Heilsberg zu kommen und sich sein Haus anzusehen, Ernst habe ihr von dem interessanten alten Bau erzählt. Dann verlangte sie von dem »Onkel Treumann«, er solle sie Edith nennen, und bot ihm die Wange zum Russe. Das war zu viel für den alten Herrn, er küßte sie allerdings, aber er weinte dabei vor Rührung.

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Die junge Frau mit den strahlenden braunen Augen war freilich eine andere als die verwöhnte Erbin, die man nur für das Gesellschaftsleben erzogen hatte, und die es mit zwanzig Jahren schon so leer und inhaltslos fand. Jetzt hatte sie den Lebensinhalt gefunden, das sah man an dem Aufleuchten dieser Augen, wenn sie denen des Gatten begegneten. Edith Marlow war ein schönes, kaltes Mädchen gewesen, das es gar nicht der Mühe wert hielt, auf irgend jemand Rücksicht zu nehmen, oder jemand näher zu treten. Edith Raimar besaß jene fesselnde Liebenswürdigkeit, die so leicht ist für eine schöne, gefeierte Frau. Sie hatte das ungemein schnell gelernt, seit sie lieben gelernt hatte.

Ernst hatte ja eine ganze Reihe von Jahren voraus vor seiner jungen Gattin, aber das merkte man kaum bei dem Manne, der jetzt in der blühenden Vollkraft des Lebens stand, getragen und gehoben von seinen Erfolgen, von dem Bewußtsein des endlich errungenen Lebensglückes. Die zehnjährige »Verbannung« in Heilsberg war versunken und mit ihr der blasse, ernste Träumer von damals. Jetzt stand er mitten im Leben und Wirken und holte sich täglich neue Kraft daraus.

Wilma geleitete jetzt die junge Frau nach dem Fremdenzimmer und war ihr dort beim Ablegen des Reisemantels behilflich.

»Ich glaube, du bist noch schöner geworden, Edith!« sagte sie mit aufrichtiger Bewunderung. »Arnold hat recht, ihr seht noch immer nicht aus wie gewöhnliche Menschen.«

»Wir haben auch soeben erst ein Stückchen Eden durchwandert, äußerlich und innerlich,« erwiderte Edith heiter. »Es war das erste Mal, daß wir uns ganz allein angehören durften, und wie lange haben wir darauf geharrt!«

»Ja, aber warum denn eigentlich?« fragte die Frau Major. »Wir merkten ja längst schon, wie es mit euch beiden stand, und ich glaube, ihr seid auch längst einig gewesen. Die äußeren Verhältnisse hinderten euch doch nicht, du bist ja reich genug.«

Die junge Frau, die eben ihr Haar vor dem Spiegel geordnet hatte, wandte sich lächelnd um.

»Da kennst du meinen Ernst und seinen Stolz nicht! Er hätte um keinen Preis eine Abhängigkeit von meinem Vater ertragen, auch nicht einmal vorläufig. Er nahm mir das Versprechen ab, zu warten, bis er sich in Berlin eine Stellung geschaffen hatte und mir selbst etwas bieten konnte. Das geschah freilich viel schneller, als wir glaubten. Ich weiß es am besten, wie sehr er in Anspruch genommen wird.«

»Das ist ja gerade dein Geschmack,« neckte Wilma. »Dein Gatte sollte ja durchaus mehr sein als all die anderen, er sollte dich und sich emportragen zu den Höhen des Lebens – nun, dein Ernst nimmt einen ganz hübschen Anlauf dazu. Jetzt wollen sie ihn gar in den Reichstag wählen!«

»Ja, man will ihm ein Mandat anbieten,« sagte Edith, deren Augen in freudigem Stolze leuchteten. »Ernst ist ja längst in das politische Leben eingetreten, ich hoffe, er spielt noch einmal eine Rolle darin.«

»Und wir warten inzwischen ganz bescheiden auf den Oberst,« erklärte Wilma lachend. »Dein Herr Gemahl will höher hinaus, der reserviert sich zweifellos den Ministersessel als Abschluß seiner Laufbahn. Aber nun komm, Edith, wir wollen die Herren nicht länger warten lassen.«

Die Herren waren inzwischen auf der Terrasse zurückgeblieben und nahmen dort eine Neuigkeit in Empfang, die Ernst mitbrachte, und die doch einige Ueberraschung erregte.

»Ich habe vorgestern einen Brief von Max erhalten,« sagte er. »Er teilt mir darin seine Verlobung mit. Die Anzeigen werden in diesen Tagen versandt.«

»Hat er endlich eine erwischt – Gott sei Dank!« rief der Major. »Reich wird sie natürlich sein, unter dem thut es der Maxl nicht, nun, dann bist du ihn wenigstens los mit seinen ewigen Geldforderungen!« »Verlobt oder nicht, ich nehme keine Notiz mehr von ihm,« erklärte Treumann. »Weißt du etwas Näheres, Ernst?«

»Nur was Max selbst darüber schreibt. Er hat seine Braut in Karlsbad kennen gelernt, jung scheint sie nicht mehr zu sein, auch nicht sehr liebreizend, wie gewisse Andeutungen verraten. Reich ist sie allerdings, wie er mir mit großer Genugthuung meldet. Vielleicht kennst du die Dame, Arnold, sie lebt in Hannover und dort hast du ja vor vier Jahren noch gestanden. Es ist eine Frau Altringer.«

»Die Altringer – Gott steh' mir bei!« rief Hartmut mit hellem Entsetzen. »Hat die den Maxl am Kragen? Dann gnade ihm Gott, da muß er all seine Sünden abbüßen!«

»Du kennst sie also? Es ist die Witwe eines früheren Gutsbesitzers.«

»Ganz recht, sie sind durch Landspekulationen reich geworden und zogen dann nach der Stadt, aber man schlug drei Kreuze, wenn sie angefahren kamen. Das heißt er, der brave Altringer, war eigentlich unschädlich, er duckte nur vor seiner Frau Gemahlin. Das Kommando hatte sie, und sie plagte ihren Seligen Tag und Nacht, bis sie ihn glücklich unter die Erde gebracht hatte. Beiläufig ist sie etwa zwanzig Jahre älter als der Maxl. Halte dir die Schwägerin vom Leibe, Ernst, es ist der leibhaftige Satan!«

»Ich denke durchaus nicht daran, mit Max wieder anzuknüpfen,« sagte Ernst ruhig. »Wir sind uns sehr fremd geworden in den letzten Jahren, er kam und schrieb überhaupt nur noch, wenn er ein Anliegen hatte, und das kam allerdings häufig vor.«

»Ja, er brauchte immer Geld,« fiel der Notar ein, »und du ließest dich immer erweichen. Ich, das weißt du, habe ihm nie verziehen, diesem Menschen, der mein Haus einem Neustädter ausliefern wollte und auf meinen baldigen Tod anstieß.«

»Verzeihen Sie ihm, Onkel Treumann!« sagte der Major feierlich. »Jetzt dürfen Sie es, denn wer die Altringer als Ehegemahl hat, der ist besorgt und aufgehoben! Die kriegt auch den Maxl unter, der ist viel zu dumm, um sich zu wehren, und das Wehren hilft auch in diesem Falle nichts, überlassen wir ihn seinem Schicksale – er ruhe in Frieden!« –

Der nächste Morgen, verschleiert und nebelduftig, klärte sich bald zum vollen Sonnentage. Der Besuch in Heilsberg war auf den Nachmittag verschoben worden, weil Ernst und Edith erklärten, sie hatten noch eine kleine »Wallfahrt« in der Umgegend vor. Sie waren allein gegangen und standen nun wieder an dem Orte, wo sie sich vor vier Jahren zum erstenmal gesehen hatten, eine Begegnung, die über ihr Leben entschied.

Der kleine Friedhof lag ebenso einsam und vergessen wie damals in seiner Waldesruhe. Was da draußen auch vorübergerauscht war an Kämpfen und Stürmen, an Glück und Weh, hier war es still geblieben. Die Toten hatten so friedlich geschlummert unter dem fallenden Laub des Herbstes und dem Schnee des Winters, wie sie jetzt schlummerten unter dem lichten Frühlingsgrün. Wieder lag der Sonnenschein auf den eingesunkenen Hügeln, den verwitterten Grabsteinen, und all das Blühen und Duften, das er geweckt hatte ringsum, wehte und webte jetzt um die Stätte der Toten. Aus den verfallenen Mauern des Waldkirchleins, unter den Holunderbüschen, klang der Amselschlag, das alte jubelnde Maienlied – es war alles wie damals.

Nur für die beiden, die jetzt langsam durch das üppig wuchernde Riedgras schritten, war es anders geworden. Sie hatten sich freilich erst durchringen müssen durch schweren Kampf zu ihrem Lebensglück, und der eine, der damals so drohend zwischen ihnen stand, ruhte jetzt aus von Schuld und Leid, in seinem einsamen Grabe. Sie hatten von ihm gesprochen, das sah man an dem tiefen Ernst, der auf ihren Zügen lag, und an den Wimpern der jungen Frau hingen noch zwei Thränen, als sie mit verhaltener Stimme sagte: »Du ahnst nicht, Ernst, welchen furchtbaren Eindruck mir dieser letzte Gruß gemacht hat! Es waren ja nur drei Worte: ›Lebe wohl! Felix.‹ – Keine Erklärung, keine Bitte! Ich hatte ihn ja von mir gejagt mit jenem entsetzlichen Worte. Und in seiner Todesstunde gab er dir das eigentliche Leben zurück mit seinem Geständnis, dir, der ihn gestürzt hatte! Er konnte ja das Geheimnis mit sich in das Grab nehmen, und er belud sein Andenken auch noch mit diesem Vorwurf. Es war trotz alledem doch ein Zug von Größe in diesem Manne.«

Zwischen Ernsts Brauen stand eine Falte, seine Entgegnung klang nicht hart, aber sie hatte auch nicht den Ton der Weichheit. »Ich trage keinen Haß mehr gegen den Toten – vergessen kann ich es nicht, daß er meinen Vater in den Tod jagte und zehn Jahre lang den Makel auf seiner Ehre ließ. Aber was Ronald sterbend that, das galt nicht mir und nicht der Gerechtigkeit, das galt einzig dir, Edith! In deiner Erinnerung wollte er versöhnt dastehen, du solltest um ihn weinen.«

»Und ich habe geweint!« sagte Edith leise.

»Ich weiß, aber nun laß das ruhen! Diese Erinnerung war es doch nicht, die wir hier suchen wollten. Sieh, da steht unser ›Verheißungswort‹ – es hat doch recht behalten!«

Damit zog Ernst seine Gattin noch einige Schritte vorwärts. Sie standen wieder vor der Waldkapelle, wo sich aus dem grauen, zerfallenen Mauerwerk das alte Denkmal hob. Die Epheuranken hatten es noch dichter eingesponnen, aber dazwischen webte leuchtendes Sonnengefunkel auf dem dunklen, bemoosten Stein mit der halbverwischten Inschrift und jenem Verheißungswort, das auch einst leuchtend wie ein Sonnenstrahl in ein dunkles, schon halb aufgegebenes Dasein gefallen war: »Erwachen! Zu Leben und Licht!«

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