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Gesprengte Fesseln.

Der Vorhang sank unter dem Beifallssturme des ganzen Hauses. Logen, Parterre und Galerien verlangten einstimmig das Wiedererscheinen der Sängerin, die in dem Finale des soeben beendigten Aktes alles zur Begeisterung fortgerissen hatte. Das ganze Parkett geriet in Aufruhr, und man ruhte nicht, bis die Gefeierte sich endlich zeigte, um, begrüßt von dem mit neuer Macht hervorbrechenden Beifall, von Blumen, Kränzen und Huldigungen aller Art, dem Publikum zu danken.

»Das ist ja heut' ein echt italienischer Theaterabend,« sagte ein älterer Herr, in eine der Logen des ersten Ranges tretend. »Signora Biancona scheint die Kunst zu verstehen, das sonst so ruhig und gesetzt fließende Patrizierblut unsrer edlen Hansastadt mit dem südlichen Feuer ihrer Heimat zu erfüllen. Die Begeisterung für sie fängt nachgerade an, epidemisch zu werden. Wenn das noch weiter um sich greift, so erleben wir, daß die Börse ihr einen Fackelzug votiert, und der Senat der freien Reichsstadt in corpore bei ihr erscheint, um ihr die Huldigung derselben zu Füßen zu legen. An Ihrer Stelle, Herr Konsul, würde ich beiden hohen Körperschaften diesen Vorschlag unterbreiten. Ich bin überzeugt, daß er eine enthusiastische Aufnahme findet.«

Der Herr, an den diese Worte gerichtet waren, und der an der Seite einer Dame, augenscheinlich seiner Gattin, im Vordergrunde der Loge saß, schien sich der soeben verspotteten allgemeinen Begeisterung gleichfalls nicht entziehen zu können. Er hatte das Klatschen mit einer Ausdauer und Energie betrieben, die einer besseren Sache würdig war, und wandte sich jetzt halb lachend, halb ärgerlich um.

»Dachte ich es doch, daß die Kritik sich wieder in Opposition zu der allgemeinen Stimme setzen würde! Freilich, Doktor, Sie schonen in Ihrem entsetzlichen Morgenblatte ja weder Börse noch Senat; wie sollte da Signora Biancona Gnade finden?«

Der Doktor lächelte ein wenig maliziös und trat an den Sessel der Dame, als ein junger Mann, der hinter demselben seinen Sitz hatte, sich artig erhob, um ihm Platz zu machen.

»Herr Almbach,« sagte die Dame vorstellend, »Herr Doktor Welding, der Redakteur unsres Morgenblattes, dessen Feder –«

»Um Gottes willen, gnädige Frau,« unterbrach sie Welding, »diskreditieren Sie mich nicht gleich von vornherein in den Augen dieses Herrn. Man braucht einem jungen Künstler nur als Kritiker vorgestellt zu werden, um sofort seiner vollsten Antipathie sicher zu sein.«

»Möglich!« lachte der Konsul, »aber diesmal hat Sie Ihr Scharfblick doch getäuscht. Herr Almbach wird, Gott sei Dank! nie in den Fall kommen, vor Ihrem Richterstuhle zu erscheinen. Er ist Kaufmann.«

»Kaufmann?« Ein Blick der Verwunderung streifte die Gestalt des jungen Mannes. »Dann bitte ich allerdings um Verzeihung wegen meines Irrtums. Ich hätte Sie für einen Künstler gehalten.«

»Sehen Sie, lieber Almbach, da spielen Ihnen Ihre Stirn und Augen schon wieder den schlimmen Streich!« scherzte der Konsul. »Was würden die Ihrigen daheim zu dieser Verwechselung sagen? Ich fürchte beinahe, sie nähmen das als eine Art von Beleidigung.«

»Vielleicht! Ich nehme es als keine solche,« sagte Almbach sich leicht gegen Welding verneigend. Die Worte sollten wohl den angeschlagenen Ton des Scherzes fortsetzen, aber es lag in ihnen eine halb verborgene Bitterkeit, die dem Doktor nicht entging. Sein Auge heftete sich forschend auf die Züge des jungen Fremden, aber gerade in diesem Augenblick wandte sich die Dame zu ihm und nahm das vorhin berührte Thema wieder auf.

»Sie werden doch zugeben, Herr Doktor, daß die Biancona heute ganz hinreißend war. Dieses junge, eben erst auftauchende Talent ist in der That ein neuer Stern an unsrem Theaterhimmel –«

»Der einst zur strahlenden Sonne werden wird, wenn er hält, was er uns heute verspricht – gewiß, gnädige Frau, das leugne ich auch keineswegs, wenn diese künftige Sonne auch gegenwärtig noch einige Flecken und Unvollkommenheiten zeigt, die einem so begeisterten Publikum natürlich entgehen.«

»Nun dann rate ich Ihnen, diese Unvollkommenheiten nicht gar zu stark zu betonen,« sagte der Konsul, in das Parkett zeigend. »Dort unten sitzt eine Schar von begeisterten Rittern der Signora. Nehmen Sie sich in acht, Doktor, sonst erhalten Sie mindestens sechs Herausforderungen.«

Das maliziöse Lächeln spielte wieder um Weldings Lippen, während er mit einem ironischen Blicke den jungen Almbach streifte, der schweigend, aber mit finster gerunzelter Stirn dem Gespräche gefolgt war.

»Und vielleicht die siebente noch dazu! Herr Almbach zum Beispiel scheint meine eben geäußerte Ansicht als eine Art von Hochverrat zu betrachten.«

»Ich bedaure, Herr Doktor, im Punkte der Kritik noch sehr weit zurück zu sein,« entgegnete der Angeredete kühl. »Ich,« – hier flammte es fast leidenschaftlich auf in seinem Auge – »ich pflege den Genius unbedingt zu bewundern.«

»Eine höchst poetische Art der Kritik,« spottete Welding. »Wenn Sie das unsrer schönen Signora persönlich und in diesem Tonfalle wiederholen, so kann ich Sie im voraus ihrer vollsten Gnade versichern. Uebrigens bin ich auch diesmal in der angenehmen Lage, ihr in dem morgen erscheinenden Artikel sagen zu können, daß sie in der That ein Talent ersten Ranges ist, daß ihre Fehler und Mängel nur die der Anfängerin sind und daß es allein in ihrer Hand liegt, dereinst eine musikalische Größe zu werden. Für den Augenblick ist sie es noch nicht.«

»Nun, das ist vorläufig genug des Lobes aus Ihrem Munde,« sagte der Konsul. »Aber ich denke, wir brechen jetzt auf. Die Glanzpartie der Biancona ist zu Ende; der letzte Akt bietet ihrer Rolle fast gar nichts, kaum daß sie noch einmal auf der Bühne erscheint, und uns ruft die Pflicht der Wirte an unsrem heutigen Empfangsabende. Darf ich Ihnen einen Platz in unsrem Wagen anbieten, Doktor? Ihre kritische Pflicht ist ja wohl gleichfalls zu Ende, und Sie, lieber Almbach, begleiten Sie uns auch, oder wollen Sie den Schluß abwarten?«

Der junge Mann hatte sich ebenfalls erhoben. »Wenn Sie und die gnädige Frau es gestatten – die Oper ist mir noch fremd, ich würde gern –«

»Nun, dann bleiben Sie ohne Umstände!« unterbrach ihn jener freundlich. »Aber seien Sie pünktlich heute abend! Wir rechnen bestimmt auf Ihr Kommen.«

Er reichte seiner Frau den Arm, um sie hinauszuführen. Doktor Welding begleitete die beiden.

»Wie können Sie nur glauben,« spottete er draußen auf dem Korridore, »Ihr junger Gast würde vom Platze weichen, solange die Biancona noch einen Ton zu singen hat, oder er würde es sich nehmen lassen, mit unsrer übrigen Herrenwelt an ihrem Wagen Spalier zu bilden! Die schönen Augen der Signora haben schon manches Unheil angerichtet – der hat Feuer gefangen, ärger als alle übrigen.«

»Das wollen wir doch nicht hoffen,« sagte die Dame mit einem leisen Anfluge von Besorgnis in ihrer Stimme. »Was würden dazu die Schwiegereltern und vor allem die junge Frau sagen?«

»Ist Herr Almbach bereits verheiratet?« fragte Welding überrascht.

»Schon seit zwei Jahren,« bestätigte der Konsul. »Er ist der Neffe und Schwiegersohn meines Geschäftsfreundes. Die Firma ist Almbach und Compagnie, kein sehr bedeutendes Haus, aber höchst solid und respektabel. Uebrigens thun Sie dem jungen Manne doch wohl unrecht mit Ihrem Verdachte. In solchen Jahren ist man leicht hingerissen, besonders wenn einem der Kunstgenuß so selten zu teil wird, wie es gerade hier der Fall ist. Unter uns gesagt, Almbach hegt in solchen Dingen etwas spießbürgerliche Ansichten und hat seinen Schwiegersohn scharf im Zügel. Er wird schon dafür sorgen, daß das Unheil, das jene Augen etwa anrichten könnten, seinem Hause fernbleibt; darauf kenne ich ihn.«

»Um so besser für ihn!« sagte der Doktor lakonisch, während er neben dem Ehepaare im Wagen Platz nahm, der die Richtung nach dem Hafen einschlug, wo die Paläste der reichen Handelsherren lagen.

Eine Stunde darauf war in den Salons des Kaufmanns eine zahlreiche Gesellschaft versammelt. Konsul Erlau gehörte zu den reichsten und angesehensten Handelsherren der reichen Handelsstadt, und wenn schon dieser Umstand hinreichend war, ihm dort eine unbestrittene Bedeutung zu sichern, so setzte er andrerseits eine Ehre darein, sein glänzendes und gastfreies Haus als das erste in H. genannt zu sehen. Seine Empfangsabende vereinigten gewöhnlich alles, was die Stadt an Kapazitäten überhaupt zu bieten hatte. Es gab nicht leicht eine Berühmtheit, die sich nicht wenigstens einige Male dort zeigte, und auch der Stern der gegenwärtigen Saison, die Primadonna der augenblicklich hier gastierenden italienischen Operngesellschaft, Signora Biancona, hatte der an sie ergangenen Einladung Folge geleistet, und war nach Beendigung der Oper erschienen.

Die junge Künstlerin bildete nach ihrem heutigen Triumphe im Theater natürlich den Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft. Von den Herren mit Huldigungen aller Art bestürmt, von den Damen mit Artigkeiten überhäuft, von dem Wirte und seiner Gattin mit schmeichelhafter Aufmerksamkeit ausgezeichnet, vermochte sie sich kaum zu retten vor dem Strome der Bewunderung, der ihr von allen Seiten entgegenflutete und der vielleicht in ebenso hohem Maße der Schönheit als der Kunst galt.

Hier fand sich freilich beides vereinigt. Auch ohne ihr so hochgefeiertes Talent wäre Signora Biancona schwerlich in den Fall gekommen, irgendwo übersehen zu werden. Sie war eine von jenen Frauen, die überall, wo sie nur erscheinen, Auge und Sinn zu fesseln und in einer oft gefährlichen Weise festzuhalten wissen, deren bestrickender Reiz nicht allein in ihrer Schönheit liegt, sondern weit mehr noch in dem seltsamen, fast dämonischen Zauber, den gewisse Naturen ausüben, ohne daß man sich Rechenschaft zu geben vermag, woher er stammt. Es lag wie ein Hauch des glühenden farbenreichen Südens über dieser Erscheinung, die sich mit ihrem dunklen Haar und Teint, mit den großen tiefschwarzen Augen, aus denen ein so volles heißes Leben strahlte, fremdartig genug ausnahm in dieser nordischen Umgebung. Ihre Art zu sprechen, sich zu bewegen, war vielleicht lebhafter und zwangloser, als es die strengen Formen der Konvenienz verlangten, aber das Feuer eines südlichen Naturells, das bei jeder Regung unwillkürlich hervorbrach, war von hinreißender Grazie. Der leichte, idealistische Anzug schloß sich wenig der herrschenden Mode an, aber er schien wie eigens erfunden, um die Vorzüge der Gestalt in das hellste Licht zu setzen, und behauptete sich siegreich neben der ringsum entfalteten Toilettenpracht der übrigen Damen. Die junge Italienerin war eben ein Wesen, das über all den Schranken und Formen des Alltagslebens zu stehen schien, und es gab wohl keinen in der Gesellschaft, der ihr diese Ausnahme nicht bereitwillig zugestand.

Auch Almbach hatte sich nach dem Schlusse des Theaters eingefunden, aber er war völlig fremd in diesem Kreise und schien es auch zu bleiben, trotz der wohlgemeinten Versuche des Konsuls, ihn mit diesem oder jenem bekannt zu machen. Sie scheiterten teils an der fast düsteren Schweigsamkeit des jungen Mannes, teils an dem Benehmen der Herren, denen er vorgestellt wurde, und die, fast durchweg den höheren Börsen- oder Finanzkreisen angehörig, es nicht der Mühe wert hielten, mit dem Vertreter eines kleinen Geschäftshauses viel Umstände zu machen. Augenblicklich stand er ganz isoliert am unteren Ende des Saales und blickte scheinbar gleichgültig auf das glänzende Gewühl, aber die Augen kehrten immer wieder zu dem einen Punkte zurück, der heute abend der Magnet für die gesamte Herrenwelt zu sein schien.

»Nun, Herr Almbach, Sie machen ja gar keinen Versuch, sich dem eigentlichen Sonnenkreise des Salons zu nähern,« sagte Doktor Welding, an ihn herantretend. »Soll ich Sie dort einführen?«

Eine leichte Röte der Verlegenheit darüber, daß man seinen geheimen Wunsch erriet, färbte das Antlitz des jungen Mannes.

»Signora Biancona wird von allen Seiten so in Anspruch genommen, daß ich es nicht wagte, sie auch noch zu belästigen.«

Welding lachte. »Ja, die Herren scheinen sich sämtlich ihrer kritischen Methode anzuschließen und gleichfalls ›den Genius unbedingt zu bewundern‹. Nun, die Kunst hat ja das Vorrecht, jedem Begeisterung einzuflößen. Kommen Sie! Ich werde Sie der Signora vorstellen.«

Sie schritten nach der andern Seite des Saales, wo sich die junge Italienerin befand, aber es kostete ihnen wirklich einige Mühe, den Kreis der Bewunderer zu durchbrechen, der den gefeierten Gast umgab, und sich diesem zu nähern. Der Doktor übernahm die Vorstellung; er nannte seinen Begleiter, der heute zum erstenmal das Glück gehabt habe, Signora auf der Bühne bewundern zu dürfen, und überließ es ihm dann, sich allein im ›Sonnenkreise‹ zurecht zu finden. Die Bezeichnung war nicht so übel gewählt; es lag wirklich etwas von der sengenden Glut dieses Gestirns auf seiner Mittagshöhe in dem Blicke, der sich jetzt auf Almbach richtete.

»Also auch Sie waren heute abend im Theater?« fragte die Sängerin leicht.

»Ja, Signora.«

Die Antwort klang kurz und düster. Kein Wort weiter, keins von jenen Komplimenten, deren die Künstlerin heute bereits so viele gehört hatte – aber der Blick des jungen Mannes mußte die einsilbige Antwort wohl wieder gut machen. Zwar begegnete er nur einen Moment lang dem der Signora Biancona, aber das Aufleuchten darin war gesehen und verstanden worden; es sagte unendlich mehr als alle die Schmeicheleien.

Die übrigen Herren mochten keinen hohen Begriff von den gesellschaftlichen Talenten des neuen Ankömmlings erhalten, der es nicht einmal verstand, einer schönen Frau irgend eine Artigkeit zu sagen. Sie ignorierten ihn vollständig. Die Unterhaltung, an der sich jetzt auch der Konsul beteiligte, wurde allgemeiner; man sprach von der Musik, von einem bekannten Komponisten und einem gerade epochemachenden Werke desselben, über das Signora Biancona und Doktor Welding in Meinungsdifferenz gerieten. Erstere begeisterte sich dafür, während der letztere ihm gar keinen höheren Wert beimaß. Die Signora verteidigte ihre Ansicht mit südlicher Lebhaftigkeit und wurde dabei von sämtlichen Herren unterstützt, die von vornherein ihre Partei nahmen; der Doktor beharrte kühl auf der seinigen. Der Streit wurde hartnäckiger, bis sich endlich die Sängerin unmutig und etwas gereizt von ihrem Widersacher abwandte.

»Ich bedaure sehr, daß unser Kapellmeister verhindert war, die heutige Einladung anzunehmen. Er spielt gerade diese Komposition meisterhaft und ich fürchte, es bedarf eines Vortrages, um die Gesellschaft zum Richter darüber zu machen, wer von uns beiden recht hat.«

Die Gesellschaft war auch dieser Meinung und vermißte den Herrn Kapellmeister sehr schmerzlich; zum Ersatz erbot sich niemand. Die sehr zur Schau getragene Begeisterung für die Musik schien bei keinem mit der Ausübung derselben gleichen Schritt zu halten, bis auf einmal Almbach hervortrat und ruhig sagte:

»Ich stelle mich Ihnen zur Verfügung, Signora.«

Diese wendete sich rasch und mit sichtlicher Genugthuung zu ihm. »Sie sind musikalisch, Signor?«

»Wenn Sie und die Gesellschaft mit dem Versuche eines Dilettanten vorlieb nehmen wollen –« Er machte eine fragende Bewegung nach dem Herrn des Hauses hin, und als dieser eifrig beistimmte, trat er an den Flügel.

Die in Rede stehende Komposition, ein modernes Paradestück im vollsten Sinne des Wortes, verdankte ihre allgemeine Beliebtheit wohl weniger ihrem innern Gehalte – sie besaß in der That nicht allzuviel davon – als der enormen Schwierigkeit der Ausführung. Schon die bloße Möglichkeit, sie zu spielen, erforderte eine Meisterschaft in der Beherrschung des Flügels. Man war gewöhnt, diesen Vortrag nur von Virtuosen ersten Ranges zu hören, und blickte daher halb überrascht, halb spöttisch auf den jungen Mann, der sich ohne weiteres dazu erbot. Er hatte sich freilich mit seinem Dilettantismus entschuldigt, aber es war doch immerhin eine Keckheit, diesen im Salon des Konsuls Erlau zu probieren, wo man schon das Spiel so mancher Berühmtheit gehört und bewundert hatte.

Um so erstaunter war daher die Gesellschaft, als Almbach sich all diesen Schwierigkeiten vollkommen gewachsen zeigte, als er, ohne auch nur eine Note vor sich zu haben, sie gleichsam spielend überwand, mit einer Leichtigkeit und Sicherheit, die einem Künstler von Fach Ehre gemacht hätte. Zugleich aber wußte er in seinen Vortrag ein Feuer zu legen, das selbst die älteren und anspruchsvolleren Zuhörer mit fortriß. Das Musikstück schien unter seinen Händen eine ganz andre Gestalt anzunehmen; er lieh ihm eine Bedeutung, die bisher noch niemand, vielleicht der Komponist selbst am wenigsten, hineingelegt hatte, und besonders der in etwas stürmischem Tempo vorgetragene Schluß trug ihm von allen Seiten den reichsten Beifall ein.

»Bravo, bravissimo, Herr Almbach!« rief der Konsul, der zuerst hervortrat und ihm herzlich die Hand schüttelte. »Wir müssen wirklich der Signora und dem Doktor dankbar sein, daß ihr musikalischer Streit uns zur Entdeckung eines Talentes verhalf. Da kündigen Sie uns ganz bescheiden einen Versuch an und geben uns eine Leistung, deren sich der vollendetste Künstler nicht zu schämen hätte. Sie haben unsrer Signora zu einem glänzenden Siege verholfen; sie hat recht, unbedingt recht und der Doktor bleibt diesmal mit seinem Angriffe entschieden in der Minorität.«

Die Sängerin war gleichfalls vor den Flügel getreten. »Auch ich bin Ihnen dankbar, daß Sie meinem Wunsche so ritterlich nachkamen,« sagte sie lächelnd; »aber« – hier senkte sie die Stimme – »aber nehmen Sie sich in acht! Ich fürchte, mein kritischer Gegner wird noch mit Ihnen rechten über die Art, wie Sie meiner Ansicht Geltung verschafften. War das Spiel und vor allem der Schluß so ganz korrekt?«

Eine verräterische Glut flog über das Antlitz des jungen Mannes, aber er lächelte gleichfalls. »Er entsprach Ihrer Auffassung und fand Ihren Beifall, Signora – das ist für mich genug.«

»Wir sprechen noch darüber,« flüsterte die Sängerin schnell, denn jetzt trat die Dame des Hauses heran, um ihrem jungen Gaste gleichfalls einige Artigkeit zu sagen, und der größte Teil der Gesellschaft folgte ihrem Beispiel. Ein Strom von Redensarten und Komplimenten rauschte auf Almbach ein; man war entzückt von seinem Spiele, seiner Auffassung; man wollte wissen, wo er seine musikalischen Studien gemacht; je weniger man ihn früher beachtet hatte, je unbekannter er den meisten war, desto mehr überraschte sein plötzliches Hervortreten, und dazu die Bescheidenheit des jungen Mannes, die ihm kaum erlaubte, auf all die an ihn gerichteten Fragen zu antworten; ein jeder aus der Gesellschaft fühlte augenblicklich etwas vom Kunstmäcen in sich und war bereit, diesem jungen Talente seine volle Protektion angedeihen zu lassen.

Ob es wirklich nur Bescheidenheit war, was Almbachs Lippen schloß? Es blitzte bisweilen wie eine Art von Spott in seinem Auge, wenn man immer und immer wieder seine geniale Auffassung hervorhob und behauptete, die Komposition noch nie in dieser Vollendung gehört zu haben. Er benutzte die erste Gelegenheit, sich der auf ihn gerichteten Aufmerksamkeit zu entziehen, und ward bei diesem Versuche von Doktor Welding in Beschlag genommen.

»Kann man endlich auch einmal zu Ihnen gelangen? Man läuft ja förmlich Sturm auf Sie mit Komplimenten. Nur ein Wort, Herr Almbach! Wollen wir hier eintreten?«

Er wies in ein Nebenzimmer, das beide kaum betreten hatten, als der Doktor in ziemlich scharfem Tone fortfuhr:

»Signora Biancona hat recht behalten, das heißt infolge Ihres Vortrages. Mein Angriff richtete sich gegen die Komposition, wie sie im Original existiert. Darf ich fragen, wo Sie diese sehr eigentümliche Bearbeitung aufgefunden haben? Mir war sie bis zu dieser Stunde völlig unbekannt.«

»Wie meinen Sie, Herr Doktor?« fragte der junge Mann kühl. »Ich kenne das Musikstück nur in dieser Gestalt.«

Welding sah ihn von oben bis unten an: in seinem Gesichte stritt ein ärgerlicher Ausdruck mit einem unverhohlenen Interesse, als er entgegnete:

»Sie scheinen die Musikkenntnis der Gesellschaft ganz richtig zu taxieren, da Sie ihr dergleichen zu bieten wagen. Man hört das bekannte Thema heraus und ist zufrieden; aber es gibt doch zuweilen Ausnahmen. Mich zum Beispiel würde es sehr interessieren, zu wissen, von wem gewisse Variationen stammen, die den Charakter des Ganzen total verändern, und was nun vollends den Schluß betrifft – war diese kühne Improvisation vielleicht auch der ›Versuch eines Dilettanten‹?«

Almbach hob ein wenig trotzig den Kopf. »Und wenn sie es nun wäre, was würden Sie dazu sagen?«

»Daß es ein arger Mißgriff der Ihrigen war, Sie zum – Kaufmann zu machen.«

»Herr Doktor, wir sind im Hause eines Kaufmannes.«

»Gewiß,« sagte Welding ruhig, »und ich bin der letzte, diesen Stand gering zu schätzen, zumal wenn er, wie bei unsrem Wirte, mit tüchtiger rastloser Arbeit beginnt und mit dem Ausruhen auf Millionen endigt; aber er paßt eben nicht für jeden. Es gehört vor allen Dingen ein klarer kühler Kopf dazu, und der Ihrige scheint mir gerade nicht dazu geschaffen, sich einzig mit dem nüchternen Soll und Haben abzugeben. Verzeihen Sie, Herr Almbach! Das ist nur so meine unmaßgebliche Meinung; im übrigen tadle ich Sie gar nicht wegen Ihrer Keckheit. Was thut man nicht, um dem Eigensinne einer schönen Frau recht zu geben! In diesem Falle war das Manöver sogar äußerst genial; ein andrer hätte das mit dem besten Willen nicht fertig gebracht. Ich gratuliere Ihnen dazu.«

Er machte eine halb ironische Verbeugung und verließ das Gemach. Es lag zwar dicht neben dem Saale, aber die halbgeschlossenen Portieren schieden es von demselben, und völlig einsam und matt erleuchtet, bot es wenigstens ein minutenlanges Alleinsein dem, der danach verlangte. Der junge Mann hatte sich in einen Sessel geworfen und schaute träumend vor sich hin. Woran er dachte, das wagte er sich vielleicht selbst nicht zu gestehen, und doch verriet es sein jähes Auffahren beim Klange einer Stimme, die im Tone leichter Ueberraschung sagte:

»Ah, Signor Almbach, Sie hier?«

Es war Signora Biancona; ob sie beim Eintritte den bereits Anwesenden wirklich nicht bemerkt hatte, ließ sich nicht entscheiden, denn sie fuhr mit voller Unbefangenheit fort:

»Ich suchte auf einen Augenblick Erholung von der Hitze und dem Gewühle des Salons. Auch Sie haben sich der Gesellschaft so kurz nach Ihrem Triumphe entzogen?«

Almbach hatte sich schnell erhoben. »Wenn von Triumphen die Rede ist, so bleibt wohl kein Zweifel, wer sie heute feiert. Meine improvisierte Leistung vermag sich nicht entfernt mit dem zu messen, was Sie dem Publikum gaben.«

Die Sängerin lächelte. »Ich gab ihm auch nur Töne, wie Sie, aber ich gestehe Ihnen offen, daß es mich überrascht hat, erst heute und hier von einem Künstler zu hören, der gewiß schon längst –«

»Verzeihung, Signora,« unterbrach sie der junge Mann kalt. »Ich habe bereits im Salon erklärt, daß ich nur auf Dilettantismus Anspruch machen darf, ich gehöre dem Kaufmannsstande an.«

Derselbe Blick der Verwunderung, den er bei Welding im Theater gesehen, streifte hier zum zweitenmal das Gesicht Almbachs.

»Unmöglich! Sie scherzen!«

»Weshalb unmöglich, Signora? Weil ich ein schwieriges Bravourstück geläufig vorzutragen vermochte?«

»Weil Sie es so vorzutragen vermochten und weil« – sie sah ihn eine Sekunde lang fest an und setzte dann mit voller Bestimmtheit hinzu: »weil Ihr Antlitz den Stempel zeigt, den, wie man sich immer einbildet, das Genie an der Stirne tragen muß.«

»Sie sehen, wie sehr bisweilen der Schein trügt.«

Signora Biancona schien dieser Ansicht nicht beizustimmen; sie ließ sich auf dem Diwan nieder; das helle Gewand legte sie leicht und luftig wie eine Wolke auf den dunklen Sammet.

»Ich bewundere Sie,« begann sie von neuem, »daß Sie im stande sind, mit solchen künstlerischen Anlagen sich einem Alltagsberufe zu widmen. Mir wäre das unmöglich. Ich bin in der Welt der Klänge und Töne aufgewachsen und vermag nicht zu begreifen, wie sich in ihr noch Raum finden kann für andre Pflichten.«

Es lag eine diesmal unverhohlene Bitterkeit in der Stimme des jungen Mannes, als er entgegnete: »Ihre Heimat ist auch Italien, die meine – eine norddeutsche Handelsstadt. In unsrem Alltagsleben ist die Poesie nur ein seltener, flüchtiger Gast, dem oft genug die Stätte versagt wird. Die Arbeit, das Mühen um den Erwerb steht immer und ewig im Vordergrunde.«

»Auch bei Ihnen, Signor?«

»Es sollte wenigstens dort stehen; daß es nicht immer der Fall ist, hat Ihnen wohl mein musikalischer Versuch gezeigt.«

Die Sängerin schüttelte zweifelnd das Haupt. »Ihr Versuch? Ich möchte daraufhin Ihre Meisterschaft kennen lernen. Aber es kann doch unmöglich Ihre Absicht sein, dieses Talent der Oeffentlichkeit ganz zu entziehen und nur im Kreise der Ihrigen zu üben?«

»Im Kreise der Meinigen?« wiederholte Almbach mit eigentümlicher Betonung. »Ich pflege dort keine Taste anzurühren, am wenigsten in Gegenwart meiner Frau.«

»Sie sind bereits vermählt?« fragte die Italienerin rasch, während eine momentane Blässe ihr Antlitz überflog.

»Ja, Signora.«

Es klang schwer und kalt, dieses Ja, und der halb spöttische Ausdruck, der einen Augenblick lang um die Lippen der Sängerin spielte, als sie den kaum vierundzwanzigjährigen Mann betrachtete, verschwand vor diesem Tone.

»Man vermählt sich, wie es scheint, sehr früh in Deutschland,« bemerkte sie ruhig.

»Bisweilen.«

Die junge Italienerin schien die Pause, welche diesen Worten folgte, etwas peinlich zu finden; sie ging rasch zu einem andern Thema über.

»Ich fürchte, Sie haben bereits das Examen bestehen müssen, vor dem ich Sie vorhin warnte. Die Gesellschaft war nichtsdestoweniger entzückt von Ihrem Vortrage.«

»Vielleicht!« sagte der junge Mann halb verächtlich. »Und doch war er sicher nicht für die Gesellschaft bestimmt.«

»Nicht? Und wem galt er denn?« fragte Signora Biancona, den Blick fest auf ihn richtend.

Auch er sah sie an; es lag etwas Verwandtes in den beiden Augenpaaren, die jetzt einander begegneten, beide groß, dunkel und rätselhaft. Auch in dem Blicke Almbachs leuchtete der gleiche Strahl, wie in dem der Künstlerin; auch dort flammte eine heiße, leidenschaftliche Seele; auch dort schlummerte in der Tiefe der dämonische Funke, der so oft das Erbteil genialer Naturen ist und ihnen zum Fluche wird, wenn keine schützende Hand ihn mehr behütet, wenn er zur Flamme angefacht wird, die dann nicht mehr Licht, sondern nur noch Verderben bringt.

Er trat einen Schritt näher und dämpfte die Stimme; aber die tiefe Erregung darin verriet sie doch.

»Nur der einen, die mir und uns allen vor wenig Stunden die höchste Schönheit und die höchste Poesie verkörperte, getragen von den Tönen eines unsterblichen Meisterwerkes. Man hat Ihnen heute tausendfach gehuldigt, Signora! Was die Begeisterung nur zu erfinden vermochte, das legte man zu Ihren Füßen. Der Fremde, Unbekannte, wollte Ihnen doch auch sagen, wie sehr er Sie bewundert, und da that er es denn in der Sprache, die Ihrer allein würdig ist. Ganz fremd ist sie auch mir nicht geblieben.«

In der Huldigung lag etwas, was sie über jede Schmeichelei erhob, der Ton echter, voller Begeisterung, und Signora Biancona war doch Künstlerin genug, um diesen Ton zu kennen, Weib genug, um zu ahnen, was sich dahinter barg; sie lächelte mit bezaubernder Anmut.

»Nun, ich habe es ja gesehen, wie sehr diese Sprache Ihnen zu Gebot steht. Werde ich sie nicht öfter von Ihnen hören?«

»Schwerlich!« sagte der junge Mann düster. »Sie kehren, wie ich höre, in kurzem nach Italien zurück, ich – bleibe hier im Norden. Wer weiß, ob wir je wieder einander begegnen.«

»Unser Impresario beabsichtigt bis zum Mai hier zu bleiben,« fiel die Sängerin rasch ein. »Da wird unsre heutige Begegnung doch wohl nicht die letzte sein? Gewiß nicht, ich rechne bestimmt darauf, Sie wiederzusehen.«

»Signora!« Das leidenschaftliche Aufflammen Almbachs dauerte nur eine Sekunde. Es schien ihn plötzlich eine Erinnerung oder Warnung zu durchzucken; er trat zurück und verneigte sich tief und fremd. »Ich fürchte, es muß die letzte sein – leben Sie wohl, Signora!«

Er war fort, noch ehe es der Sängerin möglich war, ein Wort der Befremdung über diesen seltsamen Abschied zu äußern, und es schien ihm ernst damit zu sein, denn nicht ein einzigesmal während des ganzen Abends näherte er sich wieder dem verhängnisvollen »Sonnenkreise«.

*

Das ist zu arg. Diese Manie fängt wirklich an, alle Grenzen zu übersteigen. Ich werde dem Reinhold das musikalische Handwerk noch ganz und gar legen müssen, wenn er fortfährt, es in so unsinniger Weise zu betreiben.«

Mit diesen Worten eröffnete der Kaufmann Almbach eine Familiendebatte, die im Wohnzimmer in Gegenwart seiner Frau und Tochter stattfand und der zum Glück der eigentliche Gegenstand derselben nicht beiwohnte. Herr Almbach, ein Mann von fünfzig Jahren etwa, dessen ruhiges, gemessenes und etwas pedantisches Wesen sonst dem ganzen Comptoirpersonale als Muster vorleuchtete, schien durch die oben erwähnte »Manie« völlig aus der Fassung gebracht zu sein, denn er fuhr in vollster Aufregung fort:

»Da kommt der Buchhalter heute morgen gegen vier Uhr von dem Jubiläum zurück, das ich schon gleich nach Mitternacht verlassen hatte. Von der Brücke aus sieht er das Gartenhaus erleuchtet und hört den Reinhold über die Tasten hinrasen, daß ihm Hören und Sehen vergeht. Natürlich konnte er mich zum Feste nicht begleiten; er behauptete krank zu sein, aber in dem eiskalten Gartenzimmer bis an den hellen, lichten Morgen seinen Flügel zu maltraitieren, daran hinderte ihn der ›unerträgliche Kopfschmerz‹ nicht. Ich werde es wohl nächstens wieder von meinen Kollegen zu hören bekommen, daß mein Herr Schwiegersohn wie in der Unbrauchbarkeit, so auch in der Rücksichtslosigkeit das Möglichste leistet. Es ist kaum zu glauben. Der jüngste Commis weiß besser Bescheid in den Büchern und hat mehr Interesse für das Geschäft, als der Compagnon und dereinstige Chef des Hauses Almbach und Compagnie. Mein Leben lang habe ich geschafft und gearbeitet, um meine Firma zu einer festgegründeten, geachteten zu machen – und nun die Aussicht, sie einst in solchen Händen lassen zu müssen!«

»Ich habe es dir stets gesagt, du solltest ihm den Umgang mit dem Musikdirektor Wilkens verbieten,« fiel Frau Almbach ein. »Der allein ist an allem schuld. Mit diesem alten menschenfeindlichen Musiknarren konnte niemand auskommen; jedermann floh und haßte ihn, aber für Reinhold war das nur ein Grund mehr, die intimste Freundschaft mit ihm zu schließen. Tag für Tag war er drüben, und dort allein ist der Grund zu all dem musikalischen Unsinn gelegt worden, den der Herr Lehrer bei seinem Tode auf ihn vererbt zu haben scheint. Es ist kaum mehr zu ertragen, seit wir das Vermächtnis des Alten, den Flügel, im Hause haben. Ella, was sagst du denn eigentlich zu diesem Benehmen deines Mannes?«

Die junge Frau, an welche die letzten Worte gerichtet waren, hatte bisher noch nicht ein Wort gesprochen. Sie saß am Fenster, den Kopf tief auf ihre Näherei herabgebeugt, und blickte erst bei dieser direkt an sie gerichteten Frage empor.

»Ich, liebe Mutter?«

»Ja, du mein Kind, denn dich geht die Sache doch wohl zumeist an. Oder fühlst du es wirklich gar nicht, in welcher unverantwortlichen Weise Reinhold dich und das Kind vernachlässigt?«

»Er liebt die Musik so sehr,« sagte Ella leise.

»Willst du ihn etwa noch entschuldigen?« eiferte die Mutter. »Das ist ja eben das Unglück, daß er sie mehr liebt als Frau und Kind, daß er nach euch beiden nichts fragt, wenn er nur an seinem Flügel sitzen und phantasieren kann. Hast du denn gar keinen Begriff davon, was eine Frau von ihrem Manne fordern darf und fordern muß, und daß sie vor allem die Pflicht hat, ihn zur Vernunft zu bringen? Aber freilich, von dir ist niemals auch nur das Geringste zu erwarten.«

Die junge Frau sah nun allerdings nicht aus, als ob von ihr viel zu erwarten wäre. Sie hatte überhaupt wenig Anziehendes in ihrer Erscheinung, und das einzige, was an dieser vielleicht hübsch zu nennen war, die zarte noch mädchenhaft schlanke Gestalt, verbarg sich völlig unter einem höchst unkleidsamen Hausanzuge, der in seiner grenzenlosen Einfachheit eher auf eine dienende Person, als auf die Tochter des Hauses schließen ließ und ganz dazu gemacht war, jeden etwaigen Vorzug möglichst zu verstecken. Von dem blonden Haare war nur ein einziger, schmaler Streifen sichtbar, der glatt gescheitelt über der Stirn lag; das übrige verschwand gänzlich unter einer Haube, die wohl besser für die Jahre der Mutter gepaßt hätte und einen eigentümlichen Gegensatz zu dem Gesichte der kaum zwanzigjährigen Frau bildete. Dieses blasse Gesicht mit den niedergeschlagenen Augen war nicht geeignet, irgend ein Interesse zu erwecken; es hatte gar keinen Ausdruck; es lag etwas Starres, Leeres darin, etwas, das beinahe an Stumpfheit streifte, und in diesem Augenblick, wo sie die Näherei sinken ließ und ihre Mutter anblickte, zeigte es eine so hilflose Aengstlichkeit und Ratlosigkeit, daß Almbach sich veranlaßt fand, seiner Tochter zu Hilfe zu kommen.

»Laß Ella in Ruhe!« sagte er mit jenem halb ärgerlichen, halb mitleidigen Tone, mit dem man die Einmischung eines Kindes zurückweist. »Du weißt ja, daß mit ihr nichts anzufangen ist, und was sollte sie auch wohl hier ausrichten!« Er zuckte die Achseln und fuhr dann bitter fort: »Das ist der Lohn für die Aufopferung, mit der ich mich der verwaisten Knaben meines Bruders angenommen habe! Hugo schlägt aller Dankbarkeit, aller Vernunft und Erziehung ins Gesicht und geht heimlich auf und davon, und Reinhold, der hier in meinem Hause unter meinen Augen aufgewachsen ist, macht mir die schwersten Sorgen mit seinem unseligen Hange zu allen möglichen Phantastereien. Aber bei ihm wenigstens habe ich den Zügel in Händen behalten und werde ihn jetzt so straff anziehen, daß ihm die Angst vergehen soll, sich noch ferner dagegen zu sträuben.«

»Ja, Hugos Undankbarkeit war wirklich himmelschreiend,« stimmte Frau Almbach ein. »Bei Nacht und Nebel aus unsrem Hause zu entfliehen, zur See zu gehen, um ›sein Glück allein in der Welt zu versuchen‹, wie es in dem kecken Abschiedsbriefe hieß, den er zurückließ! Nun, er scheint es trotzdem draußen gefunden zu haben. Schon vor zwei Jahren kam der erste Brief des ›Herrn Kapitän‹ an Reinhold an, und dieser deutete erst kürzlich ganz offen auf die bevorstehende Rückkehr hin. Ich fürchte, er weiß bereits ganz Bestimmtes darüber.«

»Ueber meine Schwelle darf Hugo nicht kommen,« erklärte der Kaufmann mit einer feierlichen Handbewegung. »Ich weiß nichts von seinem Briefwechsel mit Reinhold, will nichts davon wissen. Mögen sie hinter meinem Rücken korrespondieren; aber wenn der Ungeratene die Frechheit haben sollte, mir vor Augen zu kommen, so wird er den Zorn eines beleidigten Oheims und Vormundes kennen lernen.«

Während die Eltern sich anschickten, dies augenscheinlich sehr oft behandelte Thema mit der gewohnten Ausführlichkeit und Empörung zu erörtern, hatte Ella unbemerkt das Zimmer verlassen und stieg jetzt die Treppe hinunter, die nach dem zu ebener Erde gelegenen Comptoir führte. Die junge Frau wußte, daß jetzt, zur Mittagszeit, das Personal abwesend war, und das gab ihr wohl den Mut, dort einzutreten.

Es war ein großer düsterer Raum, dem die kahlen Wände und die vergitterten Fenster etwas Gefängnisartiges verliehen. Man hatte sich nicht die Mühe genommen, dem Geschäftszimmer irgend einen Komfort oder auch nur ein freundlicheres Ansehen zu geben. Wozu auch! Was zur Arbeit gehörte, war vorhanden; das übrige war Luxus, und einen Luxus pflegte sich das Haus Almbach und Compagnie trotz seines notorisch nicht unbedeutenden Vermögens nie zu gestatten.

Es befand sich augenblicklich niemand im Comptoir außer dem jungen Manne, der an einem der Pulte saß und das große Hauptbuch vor sich aufgeschlagen hatte. Er sah bleich und überwacht aus, und die Augen, die sich mit den Zahlen beschäftigen sollten, hafteten unverwandt auf dem schmalen Sonnenstreif, der schräg in das Zimmer fiel. Es lag in dem Blicke etwas von der Sehnsucht und Bitterkeit des Gefangenen, dem der Sonnenstrahl, der in seine Zelle dringt, Kunde gibt von dem Leben und der Freiheit draußen. Er wandte kaum den Kopf beim Oeffnen der Thür und fragte gleichgültig:

»Was gibt es? Was willst du, Ella?«

Jede andre Frau wäre bei der nun folgenden Frage wohl zu ihrem Manne getreten und hätte den Arm um seine Schulter gelegt. Ella blieb dicht an der Schwelle stehen. Es klang doch gar zu eisig, dieses »Was willst du?« Sie kam ihm offenbar ungelegen.

»Ich wollte fragen, wie es mit deinem Kopfschmerz steht,« begann sie schüchtern.

»Mein Kopfschmerz?« Reinhold besann sich plötzlich. »Ja so. Ich denke, er ist vorüber.«

Die junge Frau schloß die Thür und kam einige Schritt näher.

»Die Eltern sind wieder recht ungehalten, daß du gestern nicht beim Feste warst und statt dessen die ganze Nacht hindurch gespielt hast,« berichtete sie zögernd.

Reinhold runzelte die Stirn. »Wer hat ihnen denn das wieder einmal gesagt? Du vielleicht?«

»Ich?« Es klang ein halber Vorwurf in der Stimme. »Der Buchhalter hat heute morgen bei der Rückkehr das Gartenhaus noch erleuchtet gesehen und dein Spiel gehört.«

Ein Ausdruck verächtlichen Spottes zuckte um die Lippen des jungen Mannes. »Ach so; daran hatte ich allerdings nicht gedacht. Ich glaubte nicht, daß die Herren nach ihrem Jubiläum noch Zeit und Lust zu Beobachtungen übrig hätten. Freilich, zum Spionieren sind sie immer nüchtern genug.«

»Der Vater meint –« begann Ella wieder.

»Was meint er?« fuhr Reinhold gereizt auf. »Ist es ihm vielleicht noch nicht genug, daß ich vom Morgen bis zum Abend hier ans Comptoir gefesselt bin? Mißgönnt er mir sogar die Erholung, die ich nachts in der Musik suche? Ich dächte, ich und mein Flügel wären weit genug verbannt worden; das Gartenzimmer liegt ja so fern und einsam, daß ich nicht in Gefahr komme, den Schlaf eines der Gerechten hier im Hause zu stören. Man kann zum Glück keinen Laut vernehmen.«

»Doch!« sagte die junge Frau leise. »Ich höre jeden Ton, wenn es ringsum so still ist und ich ganz allein wach liege.«

Reinhold wandte sich um und sah seine Frau an. Sie stand mit niedergeschlagenen Augen und völlig ausdruckslosem Gesichte vor ihm. Sein Blick glitt langsam an ihrer Gestalt nieder, als stelle er unbewußt irgend eine Vergleichung an und die Bitterkeit in seinen Zügen trat noch deutlicher hervor.

»Das thut mir leid,« entgegnete er kalt; »aber ich kann es nicht ändern, daß deine Fenster nach dem Garten hinaus gehen. Schließe künftig die Läden! Dann werden dich meine musikalischen ›Extravaganzen‹ hoffentlich nicht mehr im Schlafe stören.«

Er schlug die Seiten des Buches um und schien sich wieder in die Zahlen zu vertiefen. Ella wartete wohl noch eine Minute lang; als sie aber sah, daß von ihrer Gegenwart nicht die geringste Notiz genommen wurde, ging sie so still und lautlos, wie sie gekommen war.

Kaum war sie fort, so schleuderte Reinhold mit einer leidenschaftlichen Bewegung das Hauptbuch zur Seite. Der Blick, der auf den so verächtlich behandelten Gegenstand fiel, und dann durch das ganze Comptoir schweifte, zeugte von bitterstem Hasse; dann legte er schwer atmend den Kopf auf beide Arme und schloß die Augen, als wolle er nichts mehr von der ganzen Umgebung sehen und hören.

»Grüß Gott, Reinhold!« sagte auf einmal eine fremde Stimme dicht neben ihm.

Der Gerufene fuhr empor und blickte verwirrt und fragend den Fremden in Seemannstracht an, der unbemerkt eingetreten war und jetzt vor ihm stand. Auf einmal aber schien ihn eine Erinnerung zu durchblitzen; mit einem Aufschrei der Freude warf er sich an die Brust des Ankömmlings.

»Ist's möglich, Hugo! Du schon hier?«

Zwei kräftige Arme umschlossen ihn fest und ein Paar warme Lippen drückten sich wieder und immer wieder auf die seinigen.

»Kennst du mich wirklich noch? Ich hätte dich unter Hunderten herausgefunden. Freilich etwas anders siehst du aus, als der kleine Reinhold, den ich hier zurückließ. Nun, mit mir mag es wohl auch nicht viel besser sein.«

Die ersten Worte klangen noch in tiefer Bewegung, die letzten hatten schon einen etwas übermütigen Ton. Reinholds Arm lag noch zärtlich um den Hals des Bruders.

»Und du kommst so plötzlich, so ganz unangemeldet? Ich erwartete dich erst in Wochen.«

»Wir haben eine ungewöhnlich schnelle Fahrt gehabt,« sagte der Kapitän heiter. »Und als ich erst einmal im Hafen war, litt es mich auch nicht eine Minute länger an Bord; ich mußte zu dir. Gott sei Dank, daß ich dich allein fand! Ich fürchtete schon, ich müsse das ganze Fegefeuer des heimatlichen Zornes passieren und mich mit der gesamten Verwandtschaft herumschlagen, um zu dir zu gelangen.«

Reinholds Gesicht, das in der ganzen Freude des Wiedersehens strahlte, verdüsterte sich bei dieser Erinnerung und sein Arm sank langsam nieder.

»Es hat dich doch noch niemand gesehen?« fragte er. »Du weißt, wie der Onkel gegen dich gesinnt ist, seit –«

»Seit ich mich seiner hochweisen Bestimmung entzog, die mich durchaus an den Comptoirtisch schrauben wollte, und auf und davon ging?« unterbrach ihn Hugo. »Ja, das weiß ich, und ich hätte den Lärm mit ansehen mögen, der im Hause losbrach, als sie entdeckten, ich sei durchgegangen. Aber die Geschichte ist ja beinahe zehn Jahre her. Der Taugenichts ist nicht gestorben und verdorben, wie es die verwandtschaftliche Liebe ohne Zweifel hundertmal prophezeit und noch öfter gewünscht hat, er kehrt zurück als höchst respektabler Kapitän eines höchst vortrefflichen Schiffes, mit allen nur möglichen Empfehlungen an eure ersten Handelshäuser. Sollten diese maritimen und merkantilischen Vorzüge nicht endlich das Herz des zürnenden Hauses Almbach und Compagnie erweichen?«

Reinhold unterdrückte einen Seufzer. »Spotte nicht, Hugo! Du kennst den Onkel nicht, kennst nicht das Leben in seinem Hause.«

»Nein, ich ging noch zu rechter Zeit durch,« bekräftigte der Kapitän. »Und das ist überhaupt das gescheiteste – so solltest du es auch machen.«

»Was fällt dir ein? Meine Frau, das Kind –«

»Ja so!« sagte Hugo etwas verlegen. »Ich vergesse immer, daß du verheiratet bist. Armer Junge, dich haben sie beizeiten festgekettet. Solch ein Traualtar ist der sicherste Riegel, den man allen etwaigen Freiheitsgelüsten vorschiebt. Nun, fahre nur nicht gleich auf! Ich glaube ja gern, daß man dich zu dem Jawort nicht geradezu gezwungen hat. Wie du aber dazu gekommen bist, das wird wohl der Onkel zu verantworten haben, und die melancholische Stellung, in der ich dich traf, spricht auch nicht gerade sehr für die Glückseligkeit eines jungen Ehemannes. Laß dir doch einmal ins Auge blicken, damit ich sehe, wie es drinnen ausschaut!«

Er ergriff ihn ohne Umstände beim Arme und zog ihn nach dem Fenster hin. Erst hier am hellen Tageslichte sah man, wie unendlich ungleich die beiden Brüder waren, trotz einer unleugbaren Aehnlichkeit in ihren Zügen. Der Kapitän, der ältere von beiden, war von kräftiger und doch eleganter Gestalt, das hübsche, offene Antlitz gebräunt von Luft und Sonne; sein Haar kräuselte sich leicht und die braunen Augen sprühten Lebenslust und Lebensmut. Seine Haltung war leicht und sicher, wie die eines Mannes, der gewohnt ist, sich in den verschiedensten Umgebungen und Verhältnissen zu bewegen, und das ganze Wesen hatte einen Zug kecker, übermütiger Laune, die bei jeder Gelegenheit hervorbrach, aber zugleich eine so frische, offene Liebenswürdigkeit, daß es schwer war, ihm zu widerstehen.

Der um einige Jahre jüngere Reinhold machte einen durchaus verschiedenen Eindruck. Er war schlanker, bleicher als der Bruder; Haar und Augen waren dunkler, und die letzteren blickten ernst, ja düster. Aber es lag etwas auf dieser Stirn und in diesen Augen, das um so mehr anzog, als sich nicht leicht enträtseln ließ, was sich eigentlich dahinter barg. Hugo war vielleicht der hübschere von beiden, und doch entschied eine Vergleichung unbedingt zu Gunsten des jüngeren Bruders, der im vollsten Maße jenen seltenen und gefährlichen Reiz des »Interessantseins« besaß, dem oft genug die vollendete Schönheit weichen muß.

Der junge Mann machte einen hastigen Versuch, sich der angedrohten Beobachtung zu entziehen. »Hier darfst du nicht bleiben,« sagte er bestimmt. »Der Onkel kann jeden Moment eintreten, und dann gibt es eine furchtbare Szene. Ich bringe dich vorläufig nach dem Gartenhause, das ich für mich allein habe einrichten lassen. Du wirst schwerlich der Familie vor die Augen kommen dürfen, aber deine Ankunft muß sie doch erfahren. Ich werde sie ihr mitteilen.«

»Und den ganzen Sturm allein aushalten?« unterbrach ihn der Kapitän. »Bitte, das ist meine Sache! Ich gehe jetzt stehenden Fußes hinauf zu dem Herrn Onkel und der Frau Tante und stelle mich ihnen als gehorsamer Neffe vor.«

»Aber Hugo? Bist du denn ganz von Sinnen? Sie ahnen ja noch gar nichts von deinem Hiersein.«

»Ebendeshalb! Mit Ueberrumpelung nimmt man die stärksten Festungen, und ich habe mich lange darauf gefreut, einmal wie eine Bombe mitten unter die grollende Verwandtschaft zu fahren und zu sehen, was für ein Gesicht sie macht. Aber noch eins, Reinhold, du gibst mir das Versprechen, ruhig hier unten zu bleiben, bis ich zurückkomme. Du sollst nicht in die peinliche Lage geraten, Zeuge davon zu sein, wie die ganze Schale des Familienzornes auf mein sündiges Haupt geleert wird. Du könntest in brüderlicher Aufopferung etwas davon auffangen wollen, und das stört mir den ganzen Feldzugsplan. – Jonas, komm einmal herein!«

Er öffnete die Thür und ließ einen Mann ein, der bisher draußen im Hausflure geharrt hatte. »Das ist mein Bruder. Sieh ihn dir ordentlich an! Du hast dich bei ihm zu melden und dein Kompliment zu machen. Noch einmal, Reinhold, du versprichst mir, während der nächsten halben Stunde das Familienzimmer nicht zu betreten. Ich werde schon allein da oben Ordnung schaffen, und müßte ich die ganze Baracke mit Sturm nehmen.«

Er war zur Thür hinaus, ehe der jüngere Bruder auch nur eine Einwendung machen konnte. Noch halb betäubt von dem schnellen Wechsel der letzten zehn Minuten, blickte er auf die breite vierschrötige Gestalt des neuen Ankömmlings, der jetzt einen eleganten Reisekoffer auf die Dielen niedersetzte und sich dicht daneben aufpflanzte.

»Matrose Wilhelm Jonas von der ›Ellida‹, jetzt zur Dienstleistung bei dem Herrn Kapitän Almbach!« rapportierte er vorschriftsmäßig, und versuchte dabei eine Bewegung, die wahrscheinlich eine Verbeugung ausdrücken sollte, mit dem anbefohlenen Komplimente aber nicht die geringste Aehnlichkeit hatte.

»Es ist gut,« sagte Reinhold zerstreut. »Lassen Sie das Gepäck einstweilen hier! Ich muß erst hören, wie lange mein Bruder zu bleiben gedenkt.«

»Wir bleiben einige Tage hier bei dem Herrn Onkel,« versicherte Jonas in großer Gemütsruhe.

»So? Ist das schon fest bestimmt?«

»Ganz fest.«

»Ich begreife Hugo nicht,« murmelte Reinhold. »Er scheint keine Ahnung von dem zu haben, was ihm hier bevorsteht, und doch müssen meine Briefe ihn darauf vorbereitet haben. Unmöglich kann ich ihn den ganzen Sturm allein aushalten lassen.«

Er machte eine Bewegung nach der Thür hin, aber diese war vollständig blockiert durch die breite Gestalt des Matrosen, die auch auf den unwillig fragenden Blick des jungen Mannes sich nicht vom Platze rührte.

»Der Herr Kapitän hat gesagt, er würde schon allein da oben Ordnung schaffen,« erklärte er lakonisch, »also schafft er sie auch. Der setzt alles durch.«

»Wirklich?« fragte Reinhold, betroffen von der unerschütterlichen Zuversicht dieser Worte. »Sie scheinen meinen Bruder sehr genau zu kennen.«

»Ganz genau.«

Unschlüssig, ob er dem Wunsche Hugos Folge leisten solle oder nicht, trat Reinhold an das nach dem Hofe hinausgehende Fenster und gewahrte dort drei oder vier Gesichter, dem Dienstpersonal angehörig, die mit dem Ausdruck grenzenloser Wißbegierde einen Einblick in das Comptoir zu gewinnen strebten. Der junge Mann ließ einen Ausruf unterdrückten Aergers hören und wandte sich wieder zu dem Matrosen.

»Die Ankunft meines Bruders scheint bereits im Hause bekannt zu sein,« sagte er hastig. »Fremde sind doch sonst nicht eine solche Seltenheit im Comptoir und die Neugierde gilt offenbar Ihnen.«

»Hat nichts zu sagen,« brummte Jonas. »Wenn auch das ganze Nest rebellisch wird und uns angafft. Dergleichen ist uns gar nichts Neues mehr. Die Wilden auf den Südseeinseln machen es gerade ebenso, wenn unsre ›Ellida‹ anlegt.«

Es mag dahingestellt bleiben, ob der eben gezogene Vergleich den Hausbewohnern gerade besonders schmeichelhaft erschienen wäre. Zum Glück vernahm ihn niemand als Reinhold, der es jetzt doch für notwendig hielt, den Gegenstand dieser Neugierde zu entfernen. Er hieß ihn in das Nebenzimmer treten und dort warten; er selbst blieb zurück und horchte unruhig, ob sich nicht etwa streitende Stimmen vernehmen ließen, aber freilich, das Familienzimmer lag im oberen Stockwerk, und auf der andern Seite des Hauses. Der junge Mann kämpfte mit sich selber, ob er dem halb und halb gegebenen Versprechen treu bleiben und Hugo gewähren lassen oder ob er nicht wenigstens versuchen solle, ihm den unvermeidlichen Rückzug zu decken, denn daß ein solcher bevorstand, glaubte er ganz genau zu wissen. Er war zu oft Zeuge des Verdammungsurteils gewesen, das in der Familie über seinen Bruder gefällt wurde, um nicht eine Szene zu fürchten, der selbst dieser nicht standhalten konnte, aber er kannte seine eigene Stellung dem Onkel gegenüber zu genau, um sich nicht zu sagen, daß sein Einschreiten die Sache nur verschlimmern würde.

Mehr als eine halbe Stunde war in dieser peinigenden Besorgnis vergangen, da endlich ließen sich Schritte vernehmen und der Kapitän trat ein.

»Da bin ich. Die Sache ist abgemacht.«

»Was ist abgemacht?« fragte Reinhold hastig.

»Nun, die Begnadigung natürlich. Ich habe als vielgeliebter Neffe soeben abwechselnd in den Armen des Onkels und der Tante gelegen. Komm mit hinauf, Reinhold! Du fehlst noch im Versöhnungstableau, aber auf eine unendliche Rührung mußt du dich gefaßt machen; sie weinen allesamt.«

Der Bruder sah ihn ungewiß an. »Ich weiß nicht, Hugo, soll das Scherz sein oder –«

Der junge Kapitän lachte übermütig. »Du scheinst meinem diplomatischen Talente sehr wenig zu trauen. Glaube übrigens nicht, daß mir die Sache diesmal sehr leicht geworden ist! Auf einen Sturm hatte ich mich allerdings gefaßt gemacht. Hier aber tobte entschieden ein Orkan – pah, wir Seeleute sind an dergleichen gewöhnt – und als ich erst zu Worte kam, was freilich lange dauerte, da war der Sieg auch schon entschieden. Ich setzte die Rückkehr des verlorenen Sohnes meisterhaft in Szene; ich rief Himmel und Erde zum Zeugen meiner Besserung an; ich riskierte einen Fußfall – das schlug durch, bei der Tante wenigstens. Ich versicherte mich nun zuvörderst des wankenden weiblichen Flügels, um dann mit ihm vereint das Zentrum zu stürmen, und der Sieg war glänzend. Begnadigung in aller Form – allgemeine Rührung und Umarmung – Versöhnungsgruppe – mein Himmel, so sieh doch nicht so ungläubig aus! Ich versichere dir, daß ich im vollen Ernste spreche.«

Reinhold schüttelte den Kopf, aber er atmete doch unwillkürlich auf. »Das begreife, wer da kann! Ich hätte es für unmöglich gehalten! Hast du« – die Frage klang doch eigentümlich unsicher – »hast du meine Frau gesehen?«

»Jawohl,« sagte Hugo gedehnt. »Das heißt, viel habe ich eigentlich nicht von ihr gesehen, und noch weniger gehört, denn sie verhielt sich ganz passiv bei der Szene und weinte nicht einmal wie die übrigen. Noch immer die kleine Cousine Eleonore, die stets so still und scheu in ihrem Winkelchen saß, aus dem sie selbst unsre wildesten Knabenneckereien nicht hervorscheuchten – und das ist deine Frau geworden! Aber jetzt muß ich vor allen Dingen den Stammhalter des Hauses Almbach bewundern. Wo habt ihr ihn?«

Reinhold sah auf, und ein helles Aufleuchten verdrängte für einen Augenblick alle Düsterheit in seinem Antlitze. »Meinen Knaben? Ich will ihn dir zeigen. Komm, wir wollen zu ihm.«

»Gott sei Dank, doch endlich einmal ein Zug von Glück in deinem Gesichte!« sagte der Kapitän mit einem Ernste, den man seinem Uebermute kaum zugetraut hätte, und mit sinkender Stimme setzte er hinzu: »Ich habe ihn bis jetzt vergebens darin gesucht.«

*

Das Haus Almbach und Compagnie gehörte zu denen, deren Name an der Börse wie in der Handelswelt überhaupt einen guten Klang hat, ohne gleichwohl irgendwie von hervorragender Bedeutung zu sein. Die Beziehungen seines Chefs zu dem Konsul Erlau waren nicht bloß geschäftlicher Natur; sie datierten noch aus früheren Zeiten, wo beide, gleich jung und mittellos, bei einem und demselben Handlungshause in die Lehre traten, der eine, um sich zum reichen Kaufherrn aufzuschwingen, dessen Schiffe auf allen Meeren schwammen und dessen Verbindungen in alle Weltteile hinüberreichten, der andre, um ein bescheidenes Geschäft zu gründen, dessen Umfang sich nie über gewisse Grenzen hinaus erstreckte. Almbach scheute jede gewagte Spekulation, jede größere Unternehmung, und war auch keineswegs der Mann, dergleichen zu überblicken und zu leiten; er zog einen mäßigen, aber sicheren Gewinn vor, der ihm auch im vollsten Maße zu teil ward. Seine gesellschaftliche Stellung war von der Erlaus freilich so verschieden, wie das altertümliche, düstere Haus in der Kanalstraße mit seinem hohen Giebel und vergitterten Comptoirfenstern von dem fürstlich eingerichteten Palais am Hafenbassin. Die Freundschaft zwischen den ehemaligen Jugendgefährten hatte sich allmählich mehr und mehr gelockert, aber es war wohl hauptsächlich Almbach, der die Schuld daran trug. Er konnte sich nicht darein finden, daß der Konsul, nachdem er zum Millionär geworden, auch auf einem Fuße lebte, der dieser Stellung entsprach. Vielleicht verzieh er es ihm auch nicht, daß jener den ersten Platz einnahm, wo er selbst erst in dritter oder vierter Reihe stand, und so sehr er in geschäftlicher Hinsicht die Vorteile zu benutzen wußte, die eine nähere Bekanntschaft mit der großen Erlauschen Firma ihm eröffnete, so sehr hielt er seinen streng bürgerlichen und etwas altfränkischen Haushalt außer aller Berührung mit dem des Konsuls. Die Einladungen desselben hatten aufgehört, als er sah, daß sie nicht gern angenommen wurden; jetzt beschränkte sich die beiderseitige Begegnung schon seit Jahren auf ein gelegentliches Zusammentreffen an der Börse oder am dritten Orte, und kürzlich hatte sich Almbach sogar, als eine Geschäftssache persönliche Rücksprache verlangte, durch seinen Schwiegersohn vertreten lassen. Es war ihm durchaus nicht lieb, daß dem jungen Manne bei dieser Gelegenheit die Einladung zur Oper und zu der darauffolgenden Soiree zuteil wurde, und sowenig sich diese Artigkeit ablehnen ließ, so wenig verhehlte der Kaufmann seiner Familie gegenüber seinen Unmut über die Einführung Reinholds in das »Nabobleben«, eine Bezeichnung, mit der er gewöhnlich den Haushalt seines alten Freundes beehrte.

Trotz alledem war Almbach ein wohlhabender, ja, wie von vielen Seiten behauptet wurde, sogar ein sehr vermögender Mann geworden und in dieser Eigenschaft der Mittelpunkt und die Stütze einer zahlreichen, nicht gerade sehr mit Glücksgütern gesegneten Verwandtschaft. So fiel ihm denn auch die Sorge für die Erziehung seiner beiden Neffen anheim, die ihr Vater, ein Schiffskapitän, gänzlich mittellos zurückgelassen hatte.

Almbach besaß nur ein einziges Kind, dessen Existenz er freilich nie eine besondere Wichtigkeit beigelegt hatte, da es ein Mädchen war. Der Konsul und dessen Gattin waren die Paten der Kleinen gewesen, und es konnte immerhin als ein Akt der Selbstüberwindung gelten, daß Almbach seiner Tochter den Namen der Frau Erlau beilegte, denn er haßte das vornehme und romantisch klingende »Eleonore« ganz außerordentlich und beeilte sich sehr bald, es in das weit einfachere »Ella« umzugestalten. Diese Bezeichnung war wohl auch die passendere, denn Ella Almbach galt überall für ein nicht bloß einfaches, sondern sogar für ein äußerst beschränktes Wesen, dessen Horizont sich nie über die kleinen Vorkommnisse der Häuslichkeit und der Wirtschaft hinaus erstreckte. Das Kind war in früheren Zeiten sehr kränklich gewesen, und das mochte auch auf die Entwickelung seiner geistigen Fähigkeiten lähmend gewirkt haben. Sie waren in der That sehr untergeordneter Natur, und die äußerst einseitige, streng wirtschaftliche Erziehung im Elternhause, die jeden andern Ideen- und Gedankenkreis ausschloß, schien auch nicht geeignet, ihnen eine höhere Richtung zu geben. So war das Mädchen denn still und scheu herangewachsen, stets übersehen, überall beiseite geschoben und ohne die geringste Geltung selbst bei den nächsten Familiengliedern. Man hatte sich gewöhnt, sie als ganz unselbständig und halb unzurechnungsfähig zu betrachten, und auch ihre spätere Heirat änderte darin durchaus nichts.

Keines der jungen Leute erhob einen Einwand gegen den längst gehegten und ihnen längst bekannten Plan einer Verbindung. Ein siebzehnjähriges Mädchen und ein zweiundzwanzigjähriger Mann haben wohl überhaupt noch nicht viel Selbstbestimmung, am wenigsten, wenn sie in so abhängigen Verhältnissen aufgewachsen sind. Hier kam noch die Gewohnheit eines steten Zusammenlebens hinzu, das doch immerhin eine Art von Neigung erzeugt hatte, obgleich diese bei Reinhold eigentlich nur mitleidige Duldung und bei Ella geheime Furcht vor dem ihr geistig so sehr überlegenen Vetter war. Sie reichten sich also gehorsam die Hand zur Verlobung, der in Jahresfrist die Trauung folgte. Ueber beiden waltete nach wie vor das Scepter Almbachs, der seinem nunmehrigen Schwiegersohne, der dem Namen nach jetzt sogar Compagnon war, so wenig irgend eine Selbständigkeit im Geschäfte gestattete, wie seine Gattin der jungen Frau im Haushalte.

*

Es war Sonntag Morgen. Das Comptoir war geschlossen, und Reinhold hatte einmal einen freien Vormittag vor sich, was ihm allerdings nur selten zu teil wurde. Er befand sich im Gartenhause, dessen ausschließliche Benutzung er endlich errungen hatte, allerdings erst nach manchen Kämpfen und nur durch den wiederholten Hinweis auf seine musikalischen Uebungen, die man im Hause selbst allzu störend fand. Der junge Mann war nur hier einigermaßen sicher vor der fortwährenden Kontrolle seiner Schwiegereltern, die sich bis in die Wohnung des jungen Paares hinein erstreckte, und er benutzte jede freie Stunde, sich in sein Asyl zu flüchten.

Der sogenannte »Garten« war von jener Beschaffenheit, wie sie in einem enggebauten, alten und menschenvollen Stadtviertel die allein mögliche ist. Ueberall hohe Mauern und Giebel, die von allen Seiten das Stückchen Erde einengten, dem Luft und Sonnenschein nur spärlich zugemessen war, und auf dem einige Bäume und Gesträuche ein kümmerliches Dasein fristeten. Als Grenzlinie hatte das Gärtchen einen jener kleinen Kanäle, welche die Stadt nach allen Richtungen hin durchzogen, und dessen stille, dunkle Flut einen recht trübseligen Hintergrund bildete; jenseit desselben aber sah man wieder Mauern und Giebel; das Gefängnisartige, das dem ganzen Almbachschen Hause anhaftete, schien sich auf den einzigen freien Raum desselben zu erstrecken.

Das Gartenhaus selbst war nicht viel freundlicher, das einzige geräumige Gemach sogar mehr als einfach eingerichtet. Man sah es den wenigen altertümlichen Möbeln an, daß sie als überflüssig irgendwo beiseite gestellt und jetzt hervorgesucht waren, um das Zimmer notdürftig herzustellen. Nur am Fenster, um das sich einige kümmerliche Weinranken schlangen, stand ein großer kostbar gearbeiteter Flügel, das Vermächtnis des verstorbenen Musikdirektors Wilkens an seinen Schüler, ein Prachtstück, das sich in der nüchternen Umgebung ebenso seltsam und fremdartig ausnahm, wie die Gestalt des jungen Mannes mit der idealen Stirn und den großen flammenden Augen hinter den vergitterten Comptoirfenstern des Vorderhauses.

Reinhold saß am Tische und schrieb, aber sein Gesicht trug heute nicht jenen müden, apathischen Ausdruck, der stets darauf ruhte, sobald er die Zahlen der Handlungsbücher vor sich hatte; seine Wangen waren tief, fast fieberhaft gerötet, und die Hand, die in raschen Zügen einen Namen auf das vor ihm liegende Briefcouvert warf, zitterte leise, wie in verhaltener Erregung. Da ließen sich Schritte draußen hören und die Glasthür wurde geöffnet; mit einer schnellen, unmutigen Bewegung schob der junge Mann das Couvert unter die auf dem Tische liegenden Notenblätter und wandte sich um.

Es war Jonas, der Diener des Kapitäns, der die ihm angebotene Gastfreundschaft seiner Verwandten nur auf einige Tage angenommen hatte, und dann in eine eigene Wohnung übergesiedelt war. Der Matrose brachte Gruß und Eintritt in der ihm eigenen derben und etwas ungeschickten Art zuwege und legte dann einige Bücher auf den Tisch.

»Eine Empfehlung von dem Herrn Kapitän und er schickt hier das Versprochene aus seiner Reisebibliothek.«

»Kommt mein Bruder nicht selbst?« fragte Reinhold befremdet. »Er versprach es doch.«

»Der Herr Kapitän ist schon längst da,« rapportierte Jonas, »aber sie haben ihn richtig wieder im Hause abgefangen: der Herr Onkel wünschen eine Konferenz mit ihm in Familiensachen; die Frau Tante verlangen seine Hilfe bei einer Aenderung im Besuchszimmer, und der Buchhalter will ihn für seinen Verein kapern. Alle reißen sie sich um ihn; er kann nicht loskommen.«

»Hugo scheint im Laufe einer einzigen Woche bereits das ganze Haus erobert zu haben,« bemerkte Reinhold ironisch.

»Das machen wir überall so,« sagte Jonas voll Selbstgefühl, und schien sehr geneigt, noch einiges über diese Eroberungen hinzuzufügen, als er durch den Eintritt seines Herrn unterbrochen wurde, der in heiterster Laune den Bruder begrüßte.

»Guten Morgen, Reinhold! Nun, Jonas, was stehst du denn noch hier? Man bedarf deiner im Hause. Ich habe der Tante versprochen, daß du bei der heutigen Mittagsgesellschaft Aushilfe leisten sollst. Rasch hinauf in die Küche!«

»Unter die Frauenzimmer?« fragte Jonas, dessen Gesicht sich bei diesem Befehle merklich verlängerte.

»Unter die Frauenzimmer! Weiß der Himmel,« wandte sich Hugo lachend an seinen Bruder, »wo dieser Mensch den Haß gegen alles Weibliche gelernt hat. Bei mir sicher nicht; ich bewundere das schöne Geschlecht ganz außerordentlich.«

»Ja, leider Gottes, gar zu außerordentlich!« brummte Jonas, machte aber gehorsam kehrt und marschierte zur Thür hinaus, während der Kapitän dicht an Reinhold herantrat.

»Es ist heute große Familientafel,« hob er an, den pedantisch feierlichen Ton seines Onkels Almbach täuschend nachahmend. »Mir zu Ehren, natürlich! Ich hoffe, daß du diesem bedeutsamen Akte die gebührende Hochachtung entgegenbringst, und dich nicht wieder so benimmst, daß ich dich höchstens als Folie für meine eigene zu entwickelnde Liebenswürdigkeit benutzen kann.«

Reinhold runzelte ein wenig die Stirn. »Ich bitte dich, Hugo, werde endlich einmal vernünftig! Wie lange denkst du denn eigentlich noch diese Komödie fortzuspielen und dich über das ganze Haus lustig zu machen? Nimm dich in acht, wenn sie dahinter kommen, von welcher Beschaffenheit deine Liebenswürdigkeit eigentlich ist, und daß du im Grunde nur deinen Spott mit ihnen allen treibst.«

»Das wäre allerdings schlimm,« sagte Hugo ruhig. »Sie kommen aber nicht dahinter; verlaß dich darauf!«

»So thue mir wenigstens den Gefallen und laß deine entsetzlichen Indianergeschichten! Du mutest ihnen wirklich zu viel damit zu. Der Onkel debattierte erst gestern mit dem Buchhalter über den Kampf mit der Riesenschlange, den du ihnen neulich auftischtest, und der doch auch ihm etwas unerhört schien. Ich geriet in die grenzenloseste Verlegenheit beim Zuhören.«

»In Verlegenheit hat dich das gebracht?« spottete der Kapitän. »Wäre ich dabei gewesen, ich hätte ihnen sofort noch eine Elefantenjagd, eine Tigergeschichte und einige Ueberfälle der Wilden mit so haarsträubenden Effekten zum besten gegeben, daß ihnen die Sache mit der Riesenschlange danach höchst wahrscheinlich vorgekommen wäre. Sei unbesorgt! Ich kenne meine Zuhörer; das ganze Haus erdrückt mich ja fast mit Sympathiebeweisen.«

»Ella ausgenommen,« warf Reinhold ein. »Es ist doch eigentümlich, daß ihre Scheu vor dir in keiner Art zu überwinden ist.«

»Jawohl, das ist sehr eigentümlich,« stimmte Hugo mit beleidigter Miene bei. »Ich kann durchaus nicht zugeben, daß jemand im Haus existiert, der von meiner Vortrefflichkeit nicht unbedingt überzeugt scheint, und habe mir bereits vorgenommen, mich heute in meiner ganzen unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit meiner Frau Schwägerin zu präsentieren. Ich zweifle durchaus nicht, daß sie sich daraufhin gleichfalls der Majorität anschließen wird; du bist doch hoffentlich nicht eifersüchtig?«

»Eifersüchtig? Ich? Und um Ellas willen?« Der junge Mann zuckte halb mitleidig, halb verächtlich die Achseln. »Was fällt dir ein?«

»Nun, es hat auch keine Gefahr! Ich suchte schon vorhin eine Unterredung mit ihr, aber sie war ausschließlich mit dem Kleinen beschäftigt. – Sage einmal, Reinhold, woher hat das Kind die wunderschönen blauen Märchenaugen? die deinen sind es nicht; da ist auch nicht die leiseste Spur einer Aehnlichkeit vorhanden, und sonst wüßte ich doch niemand in der Familie –«

»Ich glaube, Ellas Augen sind blau,« unterbrach ihn der Bruder gleichgültig.

»Das glaubst du nur? Ueberzeugt hast du dich davon wohl noch nie? Allerdings mag das schwierig sein; sie schlägt sie ja niemals auf, und unter dieser unendlichen Haube ist überhaupt nichts von ihrem Gesichte zu erblicken. Reinhold, um Gottes willen, wie kannst du deiner Frau eine solche vorsündflutliche Tracht erlauben! Ich versichere dir, für mich wäre diese Haube ein unbedingter Scheidungsgrund.«

Reinhold hatte sich an den Flügel gesetzt und ließ mechanisch die Hand über die Tasten gleiten, während er mit vollkommener Teilnahmlosigkeit erwiderte: »Ich kümmere mich nie um Ellas Toilette, und ich glaube, es wäre auch nutzlos, da Aenderungen durchsetzen zu wollen. Was geht es mich auch an?«

»Was es dich angeht, wie deine Frau aussieht?« wiederholte der Kapitän, indem er einige der auf dem Tische liegenden Notenblätter ergriff und flüchtig durchsah: »eine allerliebste Frage für einen jungen Ehemann! Du hattest doch sonst einen nur allzu reizbaren Sinn für das Schöne, und ich möchte beinahe fürchten – was ist denn das? ›Signora Beatrice Biancona in H.‹ Hast du italienische Korrespondenzen hier in der Stadt?«

Reinhold sprang auf. Verlegenheit und Unmut stritten in seinem Gesicht, als er den Brief, den er vorhin unter die Noten geschoben, in der Hand des Bruders sah, der unbefangen die Adresse wiederholte:

»Beatrice Biancona? Das ist ja die Primadonna der italienischen Oper, die hier ein so unglaubliches Furore machen soll. Kennst du die Dame?«

»Oberflächlich,« sagte Reinhold, ihm den Brief rasch aus der Hand nehmend. »Ich wurde ihr kürzlich beim Konsul Erlau vorgestellt.«

»Und du korrespondierst bereits mit ihr?«

»Nicht doch! Der Brief enthält nicht eine einzige Zeile.«

Hugo lachte laut auf. »Ein Couvert mit einer vollständigen Adresse darauf und einem sehr umfangreichen Papier darin und keine einzige Zeile? Lieber Reinhold, das ist noch wunderbarer als meine Geschichte mit der Riesenschlange. Verlangst du im Ernst Glauben dafür? Nun, sieh nur nicht so finster aus! Ich beabsichtige durchaus nicht, mich in deine Geheimnisse zu drängen.«

Statt aller Antwort zog der junge Mann das Papier aus dem noch nicht geschlossenen Couverte hervor und hielt es dem Bruder hin, der verwundert darauf niederblickte.

»Was soll das heißen? Nur ein Lied – Noten und Text – kein Wort der Erklärung dabei – einzig dein Name darunter. Hast du das etwa komponiert?«

Reinhold nahm das Papier wieder zurück, schloß den Brief und steckte ihn zu sich.

»Es ist ein Versuch, weiter nichts. Sie ist Künstlerin genug, um darüber zu urteilen. Mag sie es annehmen oder verwerfen!«

»Du komponierst also auch?« fragte der Kapitän, dessen Gesicht auf einmal ernst geworden war. »Ich glaubte nicht, daß deine leidenschaftliche Neigung für die Musik bis zum eigenen Schaffen ginge. Armer Reinhold, wie hältst du es nur aus in diesem Leben, unter all dieser Engherzigkeit und Beschränktheit, die jeden Funken von Poesie als überflüssig oder gefährlich ersticken möchte? Ich habe es nicht gekonnt.«

Reinhold hatte sich wieder auf den Sessel vor seinem Flügel geworfen. »Frage mich nicht, wie ich es aushalte!« entgegnete er gepreßt. »Genug, daß ich es thue!«

»Ich ahnte es längst, daß deine Briefe nicht aufrichtig waren,« fuhr Hugo fort, »daß hinter all der Zufriedenheit, mit der du mich täuschen wolltest, sich etwas ganz andres barg. In dieser einen Woche hier im Hause ist mir die Wahrheit klar geworden, trotzdem du dir alle nur erdenkliche Mühe gabst, sie mir zu verbergen.«

Der junge Mann blickte düster vor sich hin. »Wozu sollte ich dich in der Ferne auch noch mit der Sorge um mich quälen? Du hattest genug zu thun, dich selber durchzubringen, und es gab ja auch eine Zeit, wo ich zufrieden war, oder es wenigstens zu sein glaubte, weil mein ganzes geistiges Leben wie in einem Banne lag, wo ich in dumpfer Gleichgültigkeit alles über mich ergehen ließ und willig der Kette die Hand bot. Ich habe es gethan, nun ja! Ich habe auch mein ganzes Leben lang daran zu tragen.«

Hugo war zu ihm getreten und legte die Hand auf seine Schulter. »Du meinst deine Heirat mit Ella? Bei der ersten Nachricht davon wußte ich, daß es einzig das Werk des Onkels war.«

Ein bitteres Lächeln spielte um die Lippen des jungen Mannes, als er schneidend erwiderte: »Er war von jeher ein ausgezeichneter Rechenmeister, und das hat er auch hier wieder gezeigt. Der arme, aus Gnade und Barmherzigkeit aufgenommene Verwandte mußte es ja als ein Glück betrachten, daß man ihn zum Sohn und Erben des Hauses erhob, und die Tochter mußte doch einmal verheiratet werden; da galt es, mit ihrer Hand der Firma einen Nachfolger zu sichern, der den gleichen Namen trug. Es war nicht Ellas Schuld und nicht die meine, daß man uns so zusammenband. Wir waren beide jung, willenlos, ohne Verständnis des Lebens und unser selbst. Sie wird es ewig bleiben – wohl ihr! Mir ist es nicht so gut geworden.«

Man hätte es den kecken braunen Augen des jungen Kapitäns kaum zugetraut, daß sie so ernst blicken konnten, wie in diesem Moment, wo er sich zu dem Bruder herabbeugte. »Reinhold!« sagte er halblaut. »In der Nacht, als ich entfloh, um mich einer Willkür zu entreißen, die mir Freiheit und Zukunft verschütten wollte, da hatte ich alles geplant und vorhergesehen, nur das eine, schwerste nicht, die Minute, wo ich an deinem Bette stand, um dir lebewohl zu sagen. Du schliefest ruhig und ahntest nichts von der Trennung, aber ich – als ich dein kleines blasses Gesicht auf dem Kissen sah und mir sagte, daß ich es nun lange Jahre nicht, daß ich es vielleicht nie wiedersehen würde, da wollten all die Freiheitsgelüste nicht standhalten, und ich rang schwer mit der Versuchung, dich zu wecken und mit mir zu nehmen. Später, als ich die dornenvolle Laufbahn des abenteuernden, heimatlosen Knaben mit all ihren Gefahren und Entbehrungen kosten mußte, da habe ich oft Gott gedankt, daß ich der Versuchung widerstand, wußte ich dich doch sicher und geborgen im Hause der Verwandten, und jetzt« – die kräftige Stimme Hugos bebte wie im unterdrückten Grolle oder Schmerz – »jetzt wollte ich, ich hätte dich damals mit hinausgerissen in Mangel und Entbehrung, in Sturm und Gefahr, aber auch in die Freiheit hinaus, es wäre besser gewesen.«

»Es wäre besser gewesen,« wiederholte Reinhold tonlos; dann auf einmal erhob er sich ungestüm. »Laß uns abbrechen! Wozu die Klagen, die das einmal Geschehene doch nicht ändern? Komm! Man erwartet uns oben im Hause.«

»Ich wollte, ich hätte dich auf meiner ›Ellida‹ und wir könnten der ganzen Sippschaft den Rücken kehren auf Nimmerwiedersehen!« sagte der junge Seemann mit einem Seufzer, während er sich anschickte, der Aufforderung nachzukommen. »So schlimm habe ich mir die Sache doch nicht gedacht.«

Die Brüder hatten kaum das Haus betreten, als die Unentbehrlichkeit Hugos sich auch schon wieder zu zeigen begann. Von nicht weniger als drei Seiten ward er zugleich in Anspruch genommen. Jeder verlangte seinen Rat, seine Hilfe. Der junge Kapitän schien die beneidenswerte Fähigkeit zu besitzen, sich sofort von einer Stimmung in die andre werfen zu können, denn unmittelbar nach dem tiefernsten Gespräch mit dem Bruder sprühte er schon wieder von Heiterkeit und Uebermut, half jedem, sagte jedem Artigkeiten und verspottete dabei alle in der schonungslosesten Weise. Diesmal war es der Buchhalter, der ihn schließlich »abfing«, wie Jonas sich ausdrückte, um seine Vereinsangelegenheiten vorzutragen, und während die beiden Herren darüber debattierten, trat Reinhold in das Eßzimmer, wo er seine Frau bereits mit den Vorbereitungen für die erwähnte Gesellschaft beschäftigt fand.

Ella war heute in Sonntagstracht, aber das änderte wenig in ihrer Erscheinung. Der Anzug von feinerem Stoffe war deshalb nicht kleidsamer; die Haube, die ihrem Schwager ein solches Entsetzen einflößte, umgab und entstellte auch heute das Gesicht. Die junge Frau widmete sich ihren Hausfrauenpflichten so emsig und ausschließlich, daß sie kaum den Eintritt ihres Gatten zu bemerken schien, der sich mit ziemlich finsterer Miene ihr näherte.

»Ich möchte dich doch bitten, Ella,« begann er, »in Zukunft etwas mehr Rücksicht auf meine Wünsche zu nehmen und meinem Bruder in der Weise zu begegnen, die er von seiner Schwägerin erwarten kann und darf. Ich sollte meinen, das Benehmen deiner Eltern und des ganzen Hauses könnte dir als Beispiel dienen; aber du scheinst ein eigenes Vergnügen darin zu finden, ihm jedes Verwandtenrecht zu versagen und ihm eine förmliche Antipathie zu zeigen.«

Die junge Frau sah bei dieser in nichts weniger als liebevollem Tone gegebenen Zurechtweisung genau so furchtsam und hilflos aus, wie damals, als die Mutter von ihr verlangte, sie solle gegen die musikalische »Manie« ihres Mannes einschreiten. »Sei mir nicht böse, lieber Reinhold!« entgegnete sie zaghaft, »aber ich – ich kann wirklich nicht anders.«

» Du kannst nicht?« fragte Reinhold scharf. »Freilich, das ist ja deine stete Antwort, wenn ich etwas von dir verlange, und ich dächte, es käme doch selten genug vor, daß ich einmal eine Bitte an dich richte. Diesmal aber bestehe ich ganz entschieden darauf, daß du dein Benehmen gegen Hugo änderst. Dieses scheue Ausweichen und konsequente Schweigen auf jede seiner Anreden ist ja geradezu lächerlich. Ich bitte dich jetzt ernstlich, etwas mehr dafür zu sorgen, daß ich meinem Bruder nicht gar zu bemitleidenswert erscheine.«

Ella schien im Begriff zu sein zu antworten; aber die letzte schonungslose Bemerkung schloß ihr die Lippen. Sie senkte den Kopf und machte auch nicht den leisesten Versuch mehr, sich zu verteidigen. Es war eine Bewegung so sanfter, geduldiger Fügsamkeit, daß sie wohl jeden entwaffnet hätte; Reinhold aber achtete gar nicht darauf, denn in diesem Augenblick hörte man drinnen im Nebenzimmer den alten Buchhalter sich verabschieden.

»Wir dürfen also auf die Ehre Ihrer Mitgliedschaft rechnen, Herr Kapitän? Und hinsichtlich unsrer Präsidentenwahl habe ich Ihr Wort, daß Sie zu der Opposition stehen?«

»Ganz der Ihrige, verehrter Herr!« tönte Hugos Stimme. »Und selbstverständlich nur bei der Opposition. Ich schlage mich grundsätzlich immer zur Opposition, wo eine existiert, es ist gewöhnlich die einzige Partei, bei der es amüsant zuzugehen pflegt. Bitte, die Ehre ist ganz auf meiner Seite.«

Der Buchhalter ging, und der Herr Kapitän erschien jetzt im Zimmer. Er schien Lust bekommen zu haben, das vorhin gegebene Versprechen einzulösen und die junge Frau seines Bruders gleichfalls von seiner Vortrefflichkeit zu überzeugen, denn er näherte sich ihr mit der ganzen Keckheit und dem ganzen Uebermute seines Wesens, dem eine gewisse ritterliche Galanterie beigemischt war.

»Also dem Zufalle muß ich es danken, daß ich endlich einmal meine liebenswürdige Schwägerin zu Gesicht bekomme und sie mir notgedrungen auf einige Minuten standhalten muß? Sie selbst freilich hätte mir dieses Glück nie zu teil werden lassen. Ich habe mich bereits heute morgen bitter bei Reinhold über diese Zurücksetzung beklagt, die verdient zu haben ich mir in keiner Weise bewußt bin.«

Er wollte ihre Hand ergreifen, jedenfalls um sie zu küssen; aber Ella zog mit einer bei ihr ganz ungewöhnlichen Entschiedenheit die Hand zurück.

»Herr Kapitän!«

»Herr Kapitän!« wiederholte Hugo entrüstet. »Nein, Ella, das geht zu weit. Ich hätte als Schwager wohl mehr als je ein Recht, das vertrauliche ›Du‹ zu beanspruchen, das Sie dem Vetter und Jugendgespielen nie verweigert haben; aber da Sie vom ersten Tage meines Hierseins an die fremde Anrede so entschieden betonten, so folgte ich dem mir gegebenen Winke. Dieses ›Herr Kapitän‹ aber dulde ich nicht; das ist eine Beleidigung, gegen die ich Reinhold zu Hilfe rufe. Er soll mir sagen, ob ich es wirklich ertragen muß, mich von diesen Lippen ›Herr Kapitän‹ genannt zu hören.«

»Nicht doch!« sagte Reinhold, indem er sich zum Gehen wandte. »Ella wird diese Anrede wie überhaupt den fremden Ton gegen dich fallen lassen. Ich habe sie soeben ausdrücklich darum gebeten.«

Er ging wirklich, und sein Blick befahl der jungen Frau ebenso bestimmt, zu bleiben, als sein Ton Gehorsam forderte. Dem Kapitän entging beides nicht.

»Um Gottes willen, komm mir nicht mit deiner Ehemannsautorität dazwischen! Willst du die Freundlichkeit gegen mich etwa anbefehlen?« rief er dem Bruder nach und wandte sich dann rasch wieder zu Ella, während er galant fortfuhr: »Das wäre der sicherste Weg, mich nun und nimmermehr Gnade finden zu lassen vor den Augen meiner schönen Schwägerin. Aber nicht wahr, dessen bedarf es auch nicht zwischen uns? Sie erlauben mir endlich, Ihnen den schuldigen Tribut der Ehrfurcht zu Füßen zu legen, Ihnen die freudige Ueberraschung zu schildern, mit der ich die Nachricht empfing –«

Hier hielt Hugo plötzlich inne und schien aus dem Konzepte zu kommen. Ella hatte das Auge emporgeschlagen und ihn angesehen. Es war ein Blick stillen, schmerzlichen Vorwurfes, und derselbe Vorwurf lag auch in ihrer Stimme, als sie erwiderte:

»Lassen Sie doch wenigstens mich in Frieden, Herr Kapitän! Ich dächte, Sie hätten heute bereits hinreichenden Zeitvertreib gehabt.«

»Ich?« fragte Hugo betroffen. »Wie meinen Sie das, Ella? Sie glauben doch nicht etwa –«

Die junge Frau ließ ihn nicht ausreden. »Was haben wir Ihnen denn gethan?« fuhr sie fort, und so furchtsam die Stimme auch im Anfang noch bebte, sie gewann sichtbar an Festigkeit bei jedem Worte. »Was haben wir Ihnen denn gethan, daß Sie uns immer nur verspotten, von dem Tage Ihrer Rückkehr an, wo Sie meinen Eltern eine Reueszene vorspielten, über die Sie wahrscheinlich nachher sehr gelacht haben, bis zur heutigen Stunde, wo Sie das ganze Haus zur Zielscheibe Ihres Uebermutes machen? Reinhold duldet es freilich, daß wir Tag für Tag so herabgesetzt werden; er muß es wohl in der Ordnung finden. Aber ich, Herr Kapitän,« – hier hatte Ellas Ton die vollste Sicherheit gewonnen – »ich finde es nicht in der Ordnung, daß Sie ein Haus, in welchem Sie, trotz alledem, was geschehen ist, mit der alten Liebe wieder aufgenommen worden sind, tagtäglich mit Spott und Hohn überschütten. Wenn Ihnen dies Haus und diese Familie so sehr kleinlich und lächerlich erscheinen, so hat Sie ja niemand hergerufen. Sie hätten draußen bleiben sollen in der Welt, von der Sie so viel zu erzählen wissen. Meine Eltern verdienen mehr Schonung und Achtung, selbst für ihre Schwächen, und unser Haus mag sehr einfach sein, aber es ist doch immer noch zu gut für den Spott eines – Abenteurers.«

Sie wandte ihm den Rücken und verließ das Zimmer, ohne ein Wort der Erwiderung abzuwarten. Hugo stand da und sah ihr nach, als habe sich soeben eine der unmöglichen Szenen aus seinen »Indianergeschichten« leibhaftig vor seinen Augen ereignet. Es geschah dem jungen Seemanne wahrscheinlich zum erstenmal in seinem Leben, daß er mit der Geistesgegenwart auch die Sprache verlor.

»Das war deutlich,« sagte er endlich, indem er sich ganz fassungslos niedersetzte, aber schon in der nächsten Minute sprang er wie elektrisiert empor und rief:

»Sie hat sie wahrhaftig – die schönen, blauen Augen des Kindes. Und das muß ich erst heute und jetzt entdecken! Freilich, wer hätte auch unter diesem Ungetüm von Haube diesen Blick gesucht. ›Wir sind zu gut für den Spott eines Abenteurers.‹ Schmeichelhaft ist das gerade nicht, aber verdient war es, wenn ich es auch freilich aus diesem Munde am allerletzten zu hören erwartete. Also böse muß man Frau Ella machen, wenn man sie so sehen will? Das werde ich öfters probieren.«

Hugo machte eine Wendung, in das Besuchszimmer hinüberzugehen, aber auf der Schwelle blieb er noch einmal stehen und blickte nach der Thür hinüber, durch die seine junge Schwägerin sich entfernt hatte. Der Zug von Spott und Uebermut in seinem Gesichte war völlig verschwunden; es hatte einen nachdenklichen Ausdruck angenommen, als er leise sagte: »Und da glaubt Reinhold nur, daß sie blaue Augen hat? Unbegreiflich!«

*

Der große Konzertsaal von H. schien diesmal die Elite der ganzen Stadt in seinen Räumen zu vereinigen. Es handelte sich um eines jener Konzerte, die, zu irgend einem wohlthätigen Zweck ins Werk gesetzt, von den ersten Familien der Gesellschaft in Protektion genommen wurden, und bei denen die Mitwirkung einerseits und das Erscheinen andrerseits als Ehrensache galt. Das Programm wies heute nur Namen von Berühmtheiten auf, sowohl was die Musikstücke als was die Ausführenden betraf, und im übrigen hatte man durch möglichst hohe Preise dafür gesorgt, daß das Publikum vorwiegend, wenn nicht ausschließlich, den ersten Kreisen angehörte.

Noch hatte das Konzert nicht seinen Anfang genommen, und die mitwirkenden Künstler befanden sich noch in einem neben dem Saale gelegenen Zimmer, das bei solchen Gelegenheiten als Versammlungsort diente und zu dem nur einige besonders Begünstigte aus dem Publikum Zutritt hatten. Um so mehr fiel daher die Gegenwart eines jungen Mannes auf, der weder zu diesen Begünstigten, noch zu den Künstlern selbst gehörte, und sich auch von beiden fernhielt. Er war vor kurzem eingetreten und hatte sich sofort an den Kapellmeister gewandt, der ihn zwar auch nicht zu kennen schien, aber doch von seinem Kommen unterrichtet sein mußte, denn er empfing ihn äußerst artig. Die umstehenden Herren vernahmen nur so viel von dem Gespräche, daß der Kapellmeister bedauerte, Herrn Almbach keine Auskunft geben zu können, es sei der Wunsch Signora Bianconas gewesen; Signora werde sogleich selbst erscheinen. Die kurze Unterhaltung war bald zu Ende, und Reinhold zog sich zurück.

Der in lebhafter Unterhaltung begriffene Künstlerkreis stob urplötzlich auseinander, als die Thür sich öffnete und die junge Primadonna erschien, die man noch nicht erwartet hatte, denn sie pflegte sonst stets erst im letzten Augenblick vorzufahren. Alles kam in Bewegung. Man überbot sich in Aufmerksamkeiten gegen die schöne Kollegin, aber diese nahm heute auffallend wenig Notiz von der gewohnten Huldigung ihrer Umgebung. Ihr Blick war schon beim Eintreten rasch durch das Zimmer geflogen und hatte sofort gefunden, was er suchte. Signora geruhte die Begrüßung nur sehr flüchtig zu erwidern, wechselte einige Worte mit dem Kapellmeister und entzog sich dann sofort jeden weiteren Unterhaltungsversuchen der Herren, indem sie sich an Reinhold Almbach wandte, der sich ihr jetzt näherte, und mit ihm in eine der entferntesten Fensternischen trat.

»Sie sind wirklich gekommen, Signor?« begann sie in vorwurfsvollem Tone. »Ich glaubte in der That kaum noch, daß Sie meiner Einladung Folge leisten würden.«

Reinhold sah auf, und die erzwungene Kälte und Fremdheit bei der Begrüßung begann bereits zu weichen, als er zum erstenmal wieder seit jenem Abend diesem Blicke begegnete.

»Also war es doch Ihre Einladung,« sagte er. »Ich wußte in der That nicht, ob ich die mir in Ihrem Namen übersandte Aufforderung des Herrn Kapellmeisters als eine solche betrachten durfte. Es lag keine einzige Zeile von Ihrer Hand bei.«

Beatrice lächelte. »Ich folgte nur einem mir gegebenen Beispiele. Auch ich habe ein gewisses Lied erhalten, dessen Komponist seinem Namen kein einziges Wort hinzugefügt hatte. Ich übte nur Vergeltung.«

»Hat mein Schweigen Sie beleidigt?« fragte der junge Mann rasch. »Ich wagte nichts hinzuzufügen. Was« – sein Auge sank zu Boden – »was hätte ich Ihnen auch sagen sollen!«

Die erste Frage wäre wohl überflüssig gewesen, denn die Huldigung jenes Liedes schien verstanden worden zu sein, und Signora Biancona sah nichts weniger wie beleidigt aus, als sie erwiderte:

»Sie scheinen das Wortlose zu lieben, Signor, und durchaus nur in Tönen zu mir sprechen zu wollen. Nun denn, ich füge mich Ihrem Geschmack und habe beschlossen, Ihnen gleichfalls nur in unsrer Sprache zu antworten.«

Sie legte einen leisen, aber doch bemerkbaren Nachdruck auf das Wort. Reinhold hob überrascht das Haupt.

»In unsrer Sprache?« wiederholte er langsam.

Beatrice zog aus der Notenrolle, die sie in der Hand hielt, ein andres Papier hervor. »Ich habe vergebens gewartet, daß der Autor dieses Liedes zu mir kommen werde, um es einmal von meinen Lippen zu hören und den Dank dafür in Empfang zu nehmen. Er hat Fremden überlassen, was doch wohl seine Aufgabe gewesen wäre. Ich bin gewohnt, daß man mich sucht, Signor. Sie scheinen das Gleiche für sich zu beanspruchen.«

Es lag wohl noch ein Vorwurf in der Stimme, aber herb war er nicht, und das wäre auch kaum möglich gewesen, denn Reinholds Auge verriet nur zu sehr, was ihm dieses Fernbleiben gekostet hatte. Er gab keine Antwort auf den Vorwurf, verteidigte sich nicht dagegen, aber sein Blick, der wie magnetisch gefesselt an der strahlend schönen Erscheinung hing, sagte ihr, daß seine Zurückhaltung eher allem andern als der Gleichgültigkeit entstammte.

»Glauben Sie, daß ich Sie hergerufen habe, um die Arie von mir zu hören, die auf dem Programme steht?« fuhr die Italienerin scherzend fort. »Das Publikum verlangt diese Arie stets da capo; sie ist zu anstrengend für eine Wiederholung; ich beabsichtige daher statt dieser etwas – andres zu singen.«

Eine tiefe Glut bedeckte auf einmal die Züge des jungen Mannes, und er streckte wie in unwillkürlicher Regung die Hand nach dem Papiere aus.

»Um Gottes willen! Doch nicht mein Lied?«

»Sie erschrecken ja ganz außerordentlich darüber,« sagte die Sängerin zurücktretend und ihm die Noten entziehend. »Fürchten Sie das Schicksal Ihres Werkes in meinen Händen?«

»Nein, nein!« rief Reinhold heftig, »aber –«

»Aber? Keine Einwendung, Signor! Das Lied ist mir gewidmet, ist mir auf Gnade und Ungnade übergeben. Ich schalte damit nach Gefallen. Nur noch eine Frage. Der Kapellmeister ist zwar vorbereitet; wir haben den Vortrag zusammen einstudiert, ich sehe aber lieber Sie am Flügel, wenn ich mit Ihren Tönen vor das Publikum hintrete. Darf ich auf Sie rechnen?«

»Sie wollen sich meiner Begleitung anvertrauen?« fragte Reinhold mit bebender Stimme. »Unbedingt anvertrauen ohne vorhergehende Probe? Das ist ein Wagnis für uns beide.«

»Nur wenn Ihnen der Mut fehlt, sonst nicht,« erklärte Beatrice. »Ihre Meisterschaft auf dem Flügel habe ich bereits kennen gelernt, und es bedarf wohl keiner Frage, ob Sie der Begleitung Ihres Werkes sicher sind. Wenn Sie es nur Ihrer selbst sind und zwar diesem Publikum gegenüber, wie Sie es neulich vor der Gesellschaft waren, so tragen wir das Lied unbedingt vor.«

»Ich wage alles, wenn Sie mir zur Seite stehen,« brach Reinhold jetzt leidenschaftlich aus. »Das Lied war für Sie geschaffen, Signora. Wenn Sie ihm eine andre Bestimmung geben – sein Schicksal liegt in Ihren Händen. Ich bin zu allem bereit.«

Sie antwortete nur mit einem stolzen siegesgewissen Lächeln und wandte sich dann zu dem Kapellmeister, der soeben herantrat. Es entspann sich jetzt ein leises, aber lebhaftes Gespräch in der Gruppe, und die übrigen Herren blickten mit unverhehltem Mißvergnügen auf den jungen Fremden, der die Aufmerksamkeit und das Gespräch der Signora ganz allein für sich in Anspruch nahm und zu ihrem großen Aerger auch leider so lange fesselte, bis das Zeichen zum Beginne des Konzerts gegeben wurde.

Der Saal hatte sich inzwischen bis auf den letzten Platz gefüllt und der blendend erhellte Raum bot im Vereine mit den reichen Toiletten der Damen einen glänzenden Anblick dar. Die Gattin des Konsuls Erlau saß mit einigen andern Damen im Vordergrunde des Saales und war gerade im Gespräche mit Doktor Welding begriffen, als ihr Gemahl in Begleitung eines jungen Mannes, der Kapitänsuniform trug, an ihren Sessel trat.

»Herr Kapitän Almbach,« sagte er vorstellend, »dem ich die Rettung meines besten Schiffes und der gesamten Mannschaft verdanke. Er war es, der unsrer bereits mit dem Untergange ringenden ›Hansa‹ zu Hilfe kam, und einzig seiner aufopfernden Energie –«

»O, ich bitte, Herr Konsul, stellen Sie doch Ihrer Frau Gemahlin nicht sogleich einen Seesturm in Aussicht!« fiel Hugo ein. »Wir armen Seeleute sind schon so verrufen wegen unsrer Abenteuer, daß jede Dame mit geheimem Grauen der unvermeidlichen Aufzählung derselben entgegensieht. Ich versichere Ihnen aber, gnädige Frau, daß das bei mir nicht zu befürchten steht. Ich gedenke mit meinen bescheidenen Unterhaltungsversuchen durchaus auf dem Kontinente zu bleiben.«

Der junge Seemann schien in der That ganz genau den Unterschied der Kreise zu kennen, in denen er sich bewegte. Es fiel ihm nicht ein, hier, wo doch die Gelegenheit dazu geboten war, mit Abenteuern zu glänzen, die er im Hause seiner Verwandten sehr freigebig ausstreute. Der Konsul schüttelte ein wenig unzufrieden den Kopf.

»Sie scheinen es nun einmal zu lieben, jede Anerkennung Ihrer Leistungen wegzuspotten,« entgegnete er. »Ich bleibe deshalb nicht weniger in Ihrer Schuld, auch wenn Sie mir es unmöglich machen, sie Ihnen in irgend einer Weise abzutragen. Uebrigens glaube ich nicht, daß Ihnen die Erzählung dieses Abenteuers bei den Damen schaden wird, im Gegenteil. Und da Sie jede Schilderung desselben so entschieden ablehnen, so behalte ich mir dies für die nächste Gelegenheit vor.«

Frau Erlau wandte sich mit gewinnender Freundlichkeit zu Hugo. »Sie sind uns kein Fremder mehr, Herr Kapitän, schon um Ihrer Familie willen nicht. Wir hatten erst kürzlich die Freude, Ihren Bruder bei uns zu sehen.«

»Jawohl, ein einziges Mal,« bestätigte der Konsul. »Und da auch nur durch Zufall. Almbach scheint es mir nun einmal nicht vergeben zu können, daß meine Art zu leben von der seinigen abweicht. Er hält sich und die Seinigen absichtlich entfernt und hat uns schon seit Jahren den Besuch unsres Patenkindes entzogen – wir wissen kaum mehr, wie Eleonore aussieht.«

»Die arme Eleonore,« bemerkte Frau Erlau mitleidig. »Ich fürchte, sie ist verschüchtert durch eine allzu strenge Erziehung und eine allzuweit getriebene Abgeschlossenheit. Ich kenne sie nicht anders als scheu und still und ich glaube, sie schlägt in Gegenwart Fremder niemals die Augen auf.«

»Doch, gnädige Frau,« sagte Hugo mit ganz eigentümlicher Betonung. »Sie thut es bisweilen, aber freilich zweifle ich daran, daß mein Bruder das je gesehen hat.«

»Ihr Bruder ist also nicht anwesend?« fragte die Dame.

»Nein. Er verweigerte es, mich zu begleiten, ich begreife das nicht, da ich seine Begeisterung für die Musik und speziell für den Gesang der Biancona kenne. Mir soll ja heute zum erstenmal diese Sonne des Südens aufgehen, deren Strahlen bereits ganz H. blenden.«

Der Konsul drohte ihm scherzend mit dem Finger. »Spotten Sie nicht, Herr Kapitän, und wahren Sie lieber Ihr eigenes Herz vor diesen Strahlen! Euch, ihr jungen Herren, ist dergleichen am gefährlichsten. Sie wären nicht der erste, der dem Zauber dieser Augen erliegt.«

Der junge Seemann lachte übermütig. »Und wer sagt Ihnen denn, Herr Konsul, daß ich ein solches Schicksal fürchte? Ich unterliege in solchen Fällen immer mit dem größten Vergnügen und dem tröstlichen Bewußtsein, daß der Zauber nur dem gefährlich wird, der ihn flieht. Wer standhält, pflegt gewöhnlich sehr bald entzaubert zu werden, oft viel früher als ihm lieb ist.«

»Es scheint, Sie haben bereits viel Erfahrung in solchen Dingen,« bemerkte Frau Erlau mit leisem Vorwurfe.

»Mein Gott, gnädige Frau, wenn man so jahraus, jahrein von Land zu Land fliegt und nirgends Wurzel faßt, nirgends daheim ist, als auf der wogenden, ewig bewegten See, da lernt man den ewigen Wechsel als etwas Unabänderliches hinnehmen und ihn schließlich lieben. Ich stelle mich Ihrer vollsten Ungnade zur Verfügung mit diesem Geständnis, aber ich muß Sie wirklich bitten, mich als einen Wilden zu betrachten, der in den tropischen Meeren und Ländern längst verlernt hat, den Anforderungen norddeutscher Zivilisation zu genügen.«

Die Art, wie der junge Kapitän sich dabei verbeugte und die Hand der Dame küßte, verriet gleichwohl eine ganz hinreichende Vertrautheit mit diesen Anforderungen, und Doktor Welding bemerkte trocken zu dem Konsul gewandt:

»Die tropische Unzivilisiertheit dieses Herrn wird sich in unsern Salons gerade nicht allzuschlimm ausnehmen. Der Held unsrer vielgenannten Hansa-Affaire ist also wirklich der Bruder des jungen Almbach, dem Signora Biancona soeben drinnen im Versammlungszimmer eine Audienz erteilt?«

»Wem? Reinhold Almbach?« fragte Erlau überrascht. »Sie hören ja, daß er sich nicht hier befindet.«

»Nach der Ansicht des Herrn Kapitäns allerdings nicht,« sagte Welding ruhig. »Nach der meinigen ganz entschieden. Bitte, erwähnen Sie nichts davon! Das heutige Konzert scheint bestimmt zu sein, uns irgend eine Ueberraschung zu bringen; ich habe einen gewissen Verdacht, und es wird sich ja zeigen, ob er gegründet ist oder nicht. Signora liebt die Theatereffekte auch außerhalb der Bühne; alles muß unerwartet, blitzähnlich, überstürzend sein. Eine prosaische Ankündigung würde alles verderben. Der Kapellmeister ist jedenfalls mit im Komplott, war aber nicht zum Reden zu bringen. Wir wollen es abwarten.«

Er schwieg, denn jetzt trat Hugo, der bisher mit den Damen gesprochen hatte, zu ihnen, und gleich darauf nahm das Konzert seinen Anfang.

Der erste Teil und die Hälfte des zweiten gingen programmmäßig unter mehr oder weniger lebhafter Teilnahme der Zuhörer vorüber. Erst gegen den Schluß hin erschien Signora Biancona, deren Leistung trotz allem, was man bisher gehört, doch nun einmal den Glanzpunkt des Abends bildete. Das Publikum empfing und begrüßte seinen Liebling mit einem lauten Applaus. Beatrice war aber auch in der That blendend schön, als sie so dastand, im strahlenden Glanze des Kronleuchters, in dem blumenbestreuten duftigen Florgewande, mit den Rosen im dunklen Haare. Sie dankte lächelnd nach allen Seiten, und nachdem der Kapellmeister, der diesmal selbst die Begleitung übernahm, sich am Flügel niedergelassen hatte, begann der Vortrag.

Es war eine jener großen italienischen Bravour-Arien, die in jedem Konzert, wie auf jeder Bühne ihres Erfolges sicher sind, und den Beifall des Publikums herausfordern, ohne gleichwohl höheren Ansprüchen zu genügen. Eine Menge glänzender Passagen und Effekte mußten hier die Tiefe ersetzen, die der Komposition durchaus abging, aber sie bot der Italienerin die vollste Gelegenheit zur Entfaltung ihrer herrlichen Stimme. All diese Läufe und Triller perlten so glockenrein von ihren Lippen, nahmen so schmeichelnd Ohr und Sinn der Zuhörer gefangen, daß jede Kritik, jeder ernstere Anspruch unterging in der reinen Lust des Hörens. Es war ein reizendes Spiel mit den Tönen, freilich nur ein Spiel, nichts weiter, aber es wirkte, im Verein mit der vollendeten Sicherheit und Anmut des Vortrags, zündend auf das Publikum, das die Sängerin reichlicher als je mit dem gewohnten Beifall überschüttete und stürmisch die Arie da capo verlangte.

Signora Biancona schien auch gewillt, diesem Wunsche nachzugeben, denn sie trat von neuem vor, aber zugleich verließ der Kapellmeister den Flügel, und ein junger Mann, den bisher niemand unter den mitwirkenden Künstlern bemerkt hatte, nahm seinen Platz ein. Verwundert schauten die Zuhörer, überrascht der Konsul und dessen Gattin zu ihm hinüber; selbst Hugo sah im ersten Augenblick erschreckt auf den Bruder, dessen Hiersein er nicht vermutet hatte, aber er begann den Zusammenhang zu ahnen. Nur Doktor Welding sagte ruhig und ohne das mindeste Erstaunen: »Dachte ich es doch!« Reinhold sah bleich aus, und seine Hände bebten auf den Tasten; aber Beatrice stand an seiner Seite – ein leise geflüstertes Wort aus ihrem Munde, ein Blick aus ihrem Auge gab ihm den verlorenen Mut zurück. Er begann fest und ruhig die ersten Akkorde, die dem Publikum sofort klar machten, daß es sich hier nicht um eine Wiederholung seines Lieblingstückes handle. Alles horchte auf mit Befremdung und Spannung und jetzt fiel Beatrice ein.

Das war nun freilich etwas andres, als die eben gehörte Bravour-Arie. Die Melodien, die jetzt emporquollen, hatten nichts gemein mit jenen Läufen und Trillern, aber sie brachen sich Bahn zu den Herzen der Zuhörer. In diesen Tönen, die bald aufwogten wie in stürmischem Jubel, bald zusammensanken wie in düsterer Klage, schien das ganze Glück und Wehe eines Menschenlebens zu atmen, schien ein langgefesseltes Sehnen sich endlich emporzuringen. Es war eine Sprache von ergreifender Gewalt und Schönheit, und wenn sie auch nicht überall ganz verstanden wurde, man fühlte doch, daß in ihr etwas Mächtiges, Ewiges klang; selbst die gleichgültigste, oberflächlichste Menge bleibt nicht empfindungslos, wenn der Genius zu ihr spricht.

Und hier hatte dieser Genius einen Ebenbürtigen gefunden, der ihm zu folgen und ihn zu ergänzen wußte. Es war nicht die Rede mehr von einem Wagnisse der beiden; denn eines kam der Auffassung des andern entgegen. Das sorgfältigste Studium hätte kein so vollendetes Ineinandergreifen geben können, wie es hier der Moment und die Begeisterung schufen. Reinhold sah sich in jedem Tone verstanden, in jeder Wendung begriffen, und nie hatte Beatrice so hinreißend gesungen, nie war die Seele ihres Gesanges so hervorgetreten. Mit glühender Hingebung erfaßte sie ihre Aufgabe! die Begabung der Sängerin und die dramatische Gewalt der Künstlerin flossen in eins zusammen. Es war eine Leistung, die selbst das Unbedeutendste geadelt hätte – hier wurde es zu einem zweifachen Triumphe.

Das Lied war zu Ende. Einige Sekunden lang dauerte die atemlose Stille noch fort, mit der man zugehört; keine Hand regte sich, kein Beifallszeichen wurde laut; dann aber brach ein Sturm aus, wie ihn selbst die gefeierte Primadonna nur selten vernommen hatte, und wie er bei einem Konzertpublikum jedenfalls unerhört war. Beatrice schien nur auf diesen Moment gewartet zu haben; im nächsten schon war sie zu Reinhold getreten, hatte seine Hand ergriffen und ihn mit sich auf das Podium gezogen, ihn dem Publikum vorstellend. Diese eine Bewegung sagte genug; man begriff sofort, daß man den Komponisten vor sich habe. Aufs neue umtobte der Sturm des Beifalls die beiden, und der junge Künstler empfing, noch halb betäubt von dem unerwarteten Erfolge, an der Hand Beatricens, den ersten Gruß und die erste Huldigung der Menge. –

Reinhold kam erst wieder zur klaren Besinnung in dem Versammlungszimmer, wohin er Signora Biancona geleitet hatte. Noch blieben ihm einige Minuten des Alleinseins; draußen im Saale spielte das Orchester die Schlußpiece unter vollster Unaufmerksamkeit des Publikums, das sich noch völlig unter dem Eindrucke des eben Gehörten befand. Beatrice zog den Arm zurück, der auf dem ihres Begleiters lag.

»Wir haben gesiegt,« sagte sie leise. »Waren Sie zufrieden mit meinem Gesange?«

Mit einer leidenschaftlichen Bewegung ergriff Reinhold ihre beiden Hände. »Ach, nicht diese Frage, Signora! Lassen Sie mich Ihnen danken, nicht für den Triumph, der ja Ihnen mehr als mir galt, aber dafür, daß ich mein Lied von Ihren Lippen hören durfte. Ich schuf es in der Erinnerung an Sie, für Sie allein, Beatrice. Sie haben verstanden, was es Ihnen sagte, sonst hätten Sie es nicht so singen können.«

Signora Biancona mochte es nur zu gut verstanden haben, aber in dem Blicke, mit dem sie zu ihm niedersah, lag doch mehr noch, als bloß der Triumph einer schönen Frau, die aufs neue die Unwiderstehlichkeit ihrer Macht erprobt hat. »Sagen Sie das der Frau oder der Künstlerin?« fragte sie halb scherzend. »Die Bahn ist jetzt geöffnet, Signor! Werden Sie sie betreten?«

»Ich werde,« erklärte Reinhold, sich entschlossen aufrichtend, »was sich mir auch entgegenstellt! Und wie sich meine Zukunft einst gestalten mag, für mich hat sie die Weihe empfangen, seit die Muse des Gesanges selbst mir die Pforten öffnete.«

Die letzten Worte hatten wieder jenen Ton schwärmerischer Huldigung, den Beatrice schon einmal von ihm vernommen; sie neigte sich näher zu ihm, und ihre Stimme klang weich, fast bittend, als sie erwiderte:

»Nun, so fliehen Sie auch diese Muse nicht mehr so hartnäckig wie bisher. Dem Künstler wird es doch wohl erlaubt sein, der Künstlerin von Zeit zu Zeit zu nahen. Wenn ich Ihr nächstes Werk einstudiere, Signor, werde ich mir da wieder allein das Verständnis suchen müssen oder werden Sie mir diesmal zur Seite stehen?«

Reinhold gab keine Antwort, aber der Kuß, den er brennend heiß auf ihre Hand drückte, sprach kein Nein aus. Diesmal rief er ihr kein Lebewohl zu, diesmal riß ihn keine Erinnerung weg aus der gefährlichen Nähe. Was damals noch leise warnend in der Ferne aufgetaucht war, das hatte jetzt auch nicht mehr mit einem einzigen Gedanken Raum in der Seele des jungen Mannes. Wie hätte das matte farblose Bild seiner Gattin auch bestehen können neben einer Beatrice Biancona, die in dem ganzen dämonischen Reiz ihres Wesens vor ihm stand, neben dieser »Muse des Gesanges«, deren Hand ihn soeben zu seinem ersten Triumphe geleitet! Er sah und hörte nur sie allein. Was jahrelang verborgen in seinem Innern gelegen, was seit jener ersten Begegnung mit ihr sich emporgekämpft und emporgerungen hatte, das entschied dieser Abend: den Beginn einer Künstlerlaufbahn – und eines Familiendramas.

*

Die nächsten Tage und Wochen im Almbachschen Hause gehörten nicht zu den angenehmsten. Es konnte dem Kaufmann natürlich nicht verborgen bleiben, daß sein Schwiegersohn öffentlich mit einer Komposition hervorgetreten war, schon deshalb nicht, weil Doktor Welding im Morgenblatte eine ausführliche Besprechung jenes Konzertes brachte, in der der Name des jungen Komponisten genannt wurde. Aber weder das Lob, das der sonst so strenge Kritiker hier erteilte, noch der Beifall, mit dem das Lied überall aufgenommen wurde, noch selbst die Dazwischenkunft des Konsuls Erlau, der lebhaft für Reinhold Partei nahm und ganz entschieden für dessen musikalische Begabung eintrat, vermochten das Vorurteil Almbachs zu erschüttern. Er beharrte darauf, in jeder künstlerischen Bestrebung eine ebenso unnütze wie gefährliche Spielerei zu sehen, den eigentlichen Grund der Untüchtigkeit zum praktischen Geschäftsleben und die Wurzel alles Uebels. Da er so wenig wie sonst jemand davon wußte, daß es eine Art von Gewaltstreich gewesen war, mit dem Signora Biancona Reinhold zum öffentlichen Hervortreten gezwungen, so hielt er das Ganze für eine vorher abgekartete Sache, die ohne sein Wissen, wider seinen Willen unternommen war, und das brachte ihn vollends außer sich. Er ließ sich soweit hinreißen, seinen Schwiegersohn wie einen Knaben darüber zur Rede zu stellen, und ihm kurz und gut jede weitere Beschäftigung mit der Musik zu verbieten.

Das war nun freilich das Schlimmste, was er thun konnte. Reinhold flammte bei dem Verbote in einem ganz unzähmbaren Trotze auf. Die Leidenschaftlichkeit, die trotz allem, was sie äußerlich fesselte und in Schranken hielt, doch den eigentlichen Grundzug seines Charakters bildete, brach jetzt in wahrhaft erschreckender Heftigkeit hervor. Es gab eine furchtbare Szene, und hätte sich nicht Hugo rasch besonnen ins Mittel gelegt, der Bruch wäre jetzt schon unheilbar geworden. Aber Almbach sah mit Entsetzen, daß der Neffe, den er erzogen und geleitet, den er mit allen möglichen Familien- und Geschäftsbanden an sich gefesselt, ihm völlig entwachsen war und nicht daran dachte, sich seinem Machtworte zu beugen. Der Streit war für den Augenblick beigelegt worden, aber nur, um bei der nächsten Gelegenheit von neuem hervorzubrechen. Eine Szene folgte der andern; eine Bitterkeit überbot die andre. Reinhold stand bald genug im Kampfe gegen seine ganze Umgebung, und der Trotz, mit dem er seinen musikalischen Studien mehr als je nachhing und seine Selbständigkeit nach außen behauptete, erhöhte nur den Groll seiner Schwiegereltern.

Frau Almbach, die die Ansichten ihres Mannes durchaus teilte, unterstützte jenen nach Kräften, Ella dagegen verhielt sich, wie gewöhnlich, vollständig passiv. Von ihr wurde freilich ein Eingreifen oder eine Parteinahme weder erwartet noch verlangt; den Eltern fiel es nicht ein, ihr auch nur den geringsten Einfluß auf Reinhold zuzutrauen, und Reinhold selbst ignorierte sie in dieser Angelegenheit völlig und schien ihr gar nicht einmal das Recht einer Meinungsäußerung zuzugestehen. Die junge Frau litt unleugbar unter diesen Verhältnissen; ob sie auch die traurige, demütigende Rolle empfand, die sie, die Gattin, hier spielte, wo sie von beiden Parteien übersehen, beiseite geschoben und als unmündig behandelt ward, ließ sich kaum entscheiden. Sie zeigte bei den erbitterten und erregten Debatten der Eltern und bei der fortwährenden Gereiztheit ihres Mannes, die oft um geringfügiger Anlässe willen hervorbrach und sich zumeist gegen sie richtete, stets die gleiche, geduldige Fügsamkeit, kam nur höchst selten mit einem bittenden Worte, nie mit einer entschiedenen Parteinahme dazwischen, und zog sich, wenn sie wie gewöhnlich von beiden Seiten herb zurückgewiesen wurde, scheuer als je zurück.

Der einzige, der mit allen nach wie vor auf dem besten Fuße stand und seine Stellung als allgemeiner Liebling unangefochten behauptete, war merkwürdigerweise der junge Kapitän. Wie alle eigensinnigen Menschen, fügte sich Almbach weit eher einer Thatsache als einem Konflikte, und verzieh leichter die direkte, aber ruhige Mißachtung seiner Autorität, die der älteste Neffe sich hatte zu schulden kommen lassen, als die stürmische Auflehnung gegen seinen Willen, die jetzt von dem jüngeren versucht ward. Hugo hatte, als er sah, daß ihm ein verhaßter Beruf aufgezwungen werden sollte, weder getrotzt noch den Oheim beleidigt; er war einfach davongegangen und ließ den Sturm hinter seinem Rücken austoben. Freilich kam es ihm auch gar nicht darauf an, später die Rückkehr des verlorenen Sohnes in Szene zu setzen, um sich damit den Wiedereintritt in das Haus, dem sein Bruder angehörte, und die Wiederaufnahme in die Gunst seiner Verwandten zu sichern. Reinhold besaß weder die Fähigkeit noch die Lust, in dieser Weise mit den Verhältnissen zu spielen und sie sich dienstbar zu machen. Wie er niemals im stande gewesen war, seine Abneigung gegen das Geschäftsleben und seine Gleichgültigkeit gegen die kleinbürgerlichen Interessen zu verhehlen, so machte er auch jetzt kein Hehl aus seiner Verachtung der ganzen Umgebung, seinem glühenden Haß gegen die Fesseln, die ihn einengten, und das war es, was ihm nicht verziehen wurde. Hugo, der entschieden auf der Seite seines Bruders stand, durfte ganz offen dessen Partei nehmen, was auch bei jeder Gelegenheit geschah. Der Oheim vergab ihm das, fand es sogar natürlich, denn die Art des jungen Kapitäns, sich zu geben, ließ es nie zu einem Konflikte kommen, während bei Reinhold dieser Punkt nur berührt zu werden brauchte, um sofort die heftigsten Szenen zwischen ihm und den Schwiegereltern zu veranlassen.

Es war um die Mittagsstunde, als Hugo das Almbachsche Haus betrat und unten an der Treppe seinem Diener begegnete, den er vorher mit einem Auftrage zu dem Bruder gesandt hatte. Jonas war eigentlich nur dem Namen nach Matrose auf der »Ellida«; er war längst von den Schiffsarbeiten entbunden und ausschließlich zur Dienstleistung bei dem jungen Kapitän bestimmt worden, den er auch bei einem längeren Aufenthalte auf dem Lande nie verließ, und dem er mit zäher, unerschütterlicher Anhänglichkeit überall folgte. Beide standen ungefähr in gleichem Alter. Jonas war im Grunde nichts weniger als häßlich; er konnte in seiner Sonntagstracht sogar für einen ganz hübschen Burschen gelten, aber seine ungeschickten Manieren und sein rauhes, wortkarges Wesen ließen diese Vorzüge nie zur Geltung kommen. Er stand mit dem ganzen Dienstpersonal des Almbachschen Hauses, zumal mit dem weiblichen, auf beinahe feindseligem Fuße, und noch keiner davon hatte je eine freundliche Miene bei ihm gesehen oder ein Wort mehr von ihm gehört, als unumgänglich notwendig war. Auch jetzt sah er äußerst grämlich aus, und die vier oder fünf Thaler, die er soeben in die rechte Hand zählte, schienen sein höchstes Mißfallen zu erregen, so grimmig schaute er darauf hin.

»Was gibt es denn, Jonas?« fragte der Kapitän herantretend. »Hältst du Uebersicht über dein Barvermögen?«

Der Matrose blickte auf und setzte sich in Positur, aber sein Gesicht wurde nicht freundlicher.

»Zum Blumenhändler soll ich gehen und einen Strauß abholen,« brummte er, das Geld in die Tasche steckend.

»Ei sieh! Benutzt man dich hier auch schon zum Blumenboten?«

»Ja, hier auch,« sagte Jonas, nachdrücklich das letzte Wort betonend, und mit einem vorwurfsvollen Blicke auf seinen Herrn fügte er hinzu: »Gewohnt bin ich's freilich.«

»Allerdings,« lachte Hugo. »Aber ich bin es nicht gewohnt, daß du dergleichen Gänge für einen andern als mich besorgst. Wer hat es dir denn aufgetragen?«

»Herr Reinhold,« lautete die lakonische Antwort.

»Mein Bruder – so?« sagte Hugo langsam, während ein Schatten über seine eben noch so hellen Züge hinflog.

»Und ein wahres Sündengeld soll ich dafür bezahlen,« murrte Jonas weiter. »Herr Reinhold versteht es noch besser als wir, die Thaler fortzuwerfen für die Dinger, die morgen verwelkt sind. Und wir sind doch wenigstens nicht verheiratet, aber er –«

»Der Strauß ist jedenfalls für meine Schwägerin bestimmt,« schnitt ihm der Kapitän kurz das Wort ab. »Was gibt es dabei zu verwundern? Glaubst du, ich werde meiner Frau keine Blumen schenken, wenn ich erst einmal verheiratet bin?«

Die letzte Bemerkung mußte dem Matrosen wohl sehr unerwartet kommen, denn er richtete sich mit einem Rucke in die Höhe und starrte seinen Herrn im vollsten Entsetzen an, aber schon in der nächsten Minute kehrte er beruhigt zu seiner früheren Haltung zurück und sagte zuversichtlich:

»Wir heiraten nie, Herr Kapitän.«

»Ich verbitte mir dergleichen Orakelsprüche, die mich ohne weiteres zur Ehelosigkeit verdammen,« fiel Hugo ein. »Und warum werden ›wir‹ denn nie heiraten?«

»Weil wir uns aus den Frauenzimmern gar nichts machen,« beharrte Jonas.

»Du hast eine höchst wunderbare Manier, immer im Plural zu sprechen,« spottete der Kapitän. »Also ich mache mir nichts aus den Frauen? Ich dächte, das Gegenteil hätte oft genug deinen Ingrimm erregt.«

»Aber zur Heirat kommt es doch nicht,« triumphierte Jonas im Tone unerschütterlicher Ueberzeugung. »Im Grunde machen wir uns nicht so viel aus der ganzen Gesellschaft. Weiter als bis zum Blumenschicken und Handküssen geht die Geschichte nie, dann segeln wir ab, und sie haben das Nachsehen. Es ist auch ein wahres Glück, daß es so ist. Frauenzimmer auf der ›Ellida‹ – Gott bewahre uns davor!«

Diese mit unverwüstlichem Ernste, freilich auch wieder in dem unvermeidlichen Plural gegebene Charakteristik schien leider das Richtige getroffen zu haben, denn der Herr Kapitän erhob nicht den geringsten Einwand dagegen. Er zuckte nur lachend die Achseln, drehte dem Matrosen den Rücken und stieg die Treppe hinauf. Er fand Reinhold in dessen eigener Wohnung, die im obern Stocke lag, und ein einziger Blick auf das Gesicht des Bruders, der heftig im Zimmer auf und ab schritt, zeigte ihm, daß auch heute etwas vorgefallen sein müsse.

»Du willst ausgehen?« fragte er nach der ersten Begrüßung mit einem Blicke auf den Hut und die Handschuhe, die auf dem Tische lagen.

»Später!« antwortete Reinhold, sich zusammennehmend. »In einer Stunde etwa. Du bleibst doch einige Zeit?«

Hugo überhörte die letzte Frage. Er stand vor seinem Bruder und sah ihn forschend an.

»Hat es wieder eine Szene gegeben?« fragte er halblaut.

Der finstere Trotz, der einige Minuten lang aus den Zügen des jungen Mannes gewichen war, kehrte wieder zurück.

»Gewiß. Man hat wieder einmal den Versuch gemacht, mich wie einen Schulknaben zu behandeln, der, wenn er sein tägliches Arbeitspensum geleistet, sich auch noch in den Erholungsstunden überwachen lassen und von jedem Gange Rechenschaft ablegen muß. Ich habe ihnen klar gemacht, daß ich dieser ewigen Bevormundung müde bin.«

Der Kapitän fragte nicht, um welchen Gang es sich bei diesem Streite handelte; das kurze Gespräch mit Jonas schien ihn hinreichend darüber aufgeklärt zu haben; er sagte nur kopfschüttelnd: »Es ist ein Unglück, daß du so gänzlich abhängig von dem Onkel bist. Wenn es früher oder später zwischen euch zum Bruche kommt, und du aus dem Geschäfte trittst, so ist das für dich eine Existenzfrage; dein ganzes Einkommen fällt damit. Du allein könntest dich wohl zur Not deinen Kompositionen anvertrauen, aber ihnen jetzt schon die Erhaltung einer Familie zumuten, hieße deine Zukunft von vornherein in Frage stellen. Ich hatte damals nur für mich allein einzustehen; du wirst notgedrungen warten müssen, bis dich ein größeres Werk in die Lage versetzt, mit Frau und Kind der ganzen kleinbürgerlichen Sphäre den Rücken zu kehren.«

»Unmöglich!« rief Reinhold ungestüm. »Bis dahin wäre ich zehnmal zu Grunde gegangen, und was ich an Talent besitze, mit mir. Ausharren, warten, vielleicht noch jahrelang? Das kann ich nicht, das ist für mich gleichbedeutend mit Selbstvernichtung. Meine neue Arbeit ist vollendet. Wenn sie nur einigermaßen den Erfolg der ersten erreicht, so ermöglicht sie mir wenigstens, einige Monate in Italien zu leben.«

Hugo stutzte.

»Du willst nach Italien? Warum denn gerade dorthin?« fragte er.

»Wohin denn sonst?« warf Reinhold ungeduldig ein. »Italien ist die Schule jeder Kunst und jedes Künstlers. Dort allein kann ich das beschränkte und lückenhafte Studium ergänzen, zu dem die Verhältnisse mich zwangen. Begreifst du das nicht?«

»Nein,« sagte der Kapitän ziemlich kühl. »Ich sehe die Notwendigkeit nicht ein, daß ein Anfänger sogleich auf die hohe Schule muß. Du findest hier zum Studium Gelegenheit genug, und die meisten unsrer Talente haben jahrelang ringen und arbeiten müssen, ehe Italien ihren Werken die letzte Weihe gab. – Gesetzt aber, du führtest deinen Plan aus, was soll inzwischen aus deiner Frau und dem Kinde werden? Denkst du sie mitzunehmen?«

»Ella?« rief der junge Mann in einem wegwerfenden Tone. »Das wäre das sicherste Mittel, mir jeden Aufschwung unmöglich zu machen. Denkst du, ich werde beim ersten Schritt, den ich in die Freiheit hinaus thue, die ganze Kette der Häuslichkeitsmisere mit mir schleppen?«

Zwischen Hugos Augen wurde eine leichte Falte sichtbar. »Das klingt sehr hart, Reinhold,« erwiderte er.

»Ist es meine Schuld, daß mir die Wahrheit endlich einmal zum Bewußtsein kommt?« grollte Reinhold. »Meine Frau kann sich nun einmal nicht über die Küchen- und Wirtschaftssphäre erheben. Es ist nicht ihre Schuld, ich weiß es, aber es ist deshalb nicht weniger das Unglück meines Lebens.«

»Ellas Beschränktheit scheint allerdings als eine Art Dogma in der Familie festzustehen,« bemerkte der Kapitän ruhig. »Du glaubst blindlings daran, wie all die andern. Habt ihr euch denn schon jemals die Mühe genommen, zu untersuchen, ob diese Annahme wirklich so unfehlbar ist?«

Reinhold zuckte die Achseln. »Ich glaube, das wäre in diesem Fall wohl überflüssig. In keinem Falle aber kann die Rede davon sein, daß ich Ella mit mir nehme. Sie bleibt mit dem Kinde natürlich hier im Hause ihrer Eltern, bis ich zurückkomme.«

»Bis du zurückkommst – und wenn es nun nicht geschieht?«

»Was soll das heißen? Was meinst du damit?« fuhr der junge Mann auf, während eine dunkle Röte über sein Gesicht hinflammte.

Hugo kreuzte seine Arme und sah ihn fest an. »Es fällt mir auf, daß du jetzt auf einmal mit fertigen Plänen hervortrittst, die jedenfalls längst entworfen und auch wohl besprochen sind. Leugne nicht, Reinhold! Du allein wärst nie so ins Extrem gegangen, wie du es jetzt im Kampfe mit dem Onkel thust, ohne einen Rat oder eine Vorstellung zu hören; es ist da fremder Einfluß thätig. – Ist es wirklich unbedingt notwendig, daß du Tag für Tag zu der Biancona gehst?«

Reinhold gab keine Antwort; er wandte sich ab und entzog sich so der Beobachtung seines Bruders.

»Man spricht bereits in der Stadt davon,« fuhr dieser fort. »Es kann nicht lange dauern, so dringt das Gerücht auch hieher. Ist dir das wirklich ganz gleichgültig?«

»Signora Biancona studiert meine neue Komposition ein,« sagte Reinhold kurz, »und ich sehe in ihr nun einmal das Ideal einer Künstlerin. Du hast sie auch bewundert.«

»Bewundert, ja! Im Anfange wenigstens, angezogen hat sie mich nie. Die schöne Signora hat so etwas – Vampyrisches in ihren Augen. Ich fürchte, auf wen sich diese Augen richten, in der Absicht ihn festzuhalten, der bedarf einer starken Dosis Willenskraft, um Herr seiner selbst zu bleiben.«

Er war mit den letzten Worten an die Seite seines Bruders getreten, der sich jetzt langsam umwandte und ihn ansah.

»Hast du das auch schon empfunden?« fragte er düster.

»Ich? Nein!« entgegnete Hugo mit einem Anfluge seiner alten spöttischen Laune. »Ich bin zum Glück wenig empfänglich für dergleichen romantische Gefahren und überdies hinreichend vertraut damit. Nenne es Leichtsinn, Unbeständigkeit – wie du willst! Aber mich vermag nun einmal eine Frau nicht lange und tief zu fesseln; mir fehlt eben das Element zur Leidenschaft. Du aber trägst es nur zu sehr in dir, und wo dir ein Gleichartiges entgegenkommt, da liegt die Gefahr auch dicht dabei. Nimm dich in acht, Reinhold!«

»Willst du mich damit an die Fesseln erinnern, die ich trage?« fragte Reinhold bitter. »Als ob ich sie nicht täglich und stündlich fühlte, und mit ihnen die Ohnmacht, sie zu zerreißen. Wäre ich frei, wie du es damals warst, als du dich der Sklaverei hier entrissest, es könnte noch alles gut werden; aber du hast ganz recht, mich haben sie beizeiten festgekettet, und ein Traualtar ist der sicherste Riegel, den man allen Freiheitsgelüsten vorschiebt – ich muß es jetzt erfahren.«

Sie wurden unterbrochen; der Hausdiener überbrachte eine Anfrage des Buchhalters an den jungen Herrn Almbach. Dieser hieß den Mann gehen und wandte sich dann an seinen Bruder.

»Ich muß noch einen Augenblick in das Comptoir. Du siehst, ich gerate nicht in Gefahr, in einer allzugroßen Romantik unterzugehen; dafür sorgen schon unsre Handlungsbücher, in denen vermutlich wieder ein paar Thaler nicht vorschriftsmäßig eingetragen sind. Auf Wiedersehen, Hugo!«

Er ging, und der Kapitän blieb allein zurück. Einige Minuten lang saß er noch wie in Gedanken versunken, während die Falte auf seiner Stirn immer tiefer wurde; dann auf einmal richtete er sich wie mit einem raschen Entschlusse empor und verließ gleichfalls das Gemach, aber nicht, um sich nach dem unteren Stocke zu dem Oheim und der Tante zu begeben; er ging geradeswegs nach dem gegenüberliegenden Zimmer, das seine Schwägerin bewohnte.

Ella war in der That dort; sie saß am Fenster, den Kopf tief auf eine Handarbeit herabgeneigt, aber es hatte beinahe den Anschein, als sei diese in der Eile ergriffen worden, als die Thür sich so unvermutet öffnete; das rasch beiseite geworfene Taschentuch und die geröteten Augenlider der jungen Frau verrieten eben erst getrocknete Thränen. Sie sah mit unverhehltem Erstaunen ihren Schwager eintreten. Es war allerdings das erste Mal, daß er sie in ihrem Zimmer aufsuchte; er kam auch nur bis in die Mitte desselben und blieb stehen, ohne sich ihrem Sitze zu nähern.

»Darf der ›Abenteurer‹ es noch einmal wagen, sich Ihnen zu nahen, Ella? Oder bannt ihn das über ihn ausgesprochene Verdammungsurteil gänzlich von Ihrer Schwelle?«

Die junge Frau errötete; sie drehte in peinlichster Verlegenheit die Arbeit zwischen den Händen.

»Herr –«

»Kapitän!« fiel Hugo ein. »Ganz richtig, so pflegen mich meine Matrosen stets zu nennen. Noch einmal diese Bezeichnung aus Ihrem Munde, und ich falle Ihnen sicher nicht wieder mit meiner Gegenwart lästig. Bitte Ella, hören Sie mich heute an!« fuhr er sehr entschieden fort, als die junge Frau Miene machte aufzustehen. »Diesmal halte ich die Thür blockiert, durch die Sie bei meinem Nahen stets zu verschwinden pflegen; es ist auch zum Glück keine Magd in der Nähe, die Sie mit irgend einem Auftrage an Ihre Seite fesseln können. Wir sind allein, und ich gebe Ihnen mein Wort darauf, ich gehe nicht eher von der Stelle, bis ich entweder begnadigt werde, oder – den unvermeidlichen Kapitän anzuhören bekomme, der mich ein für allemal vertreiben soll.«

Ella hob die Augen empor und jetzt sah man es deutlich, daß sie geweint hatte.

»Was liegt Ihnen denn an meiner Verzeihung?« entgegnete sie ruhig. »Mich haben Sie am wenigsten gekränkt; ich sprach nur im Namen meiner Eltern und Hausgenossen.«

»An denen liegt mir gar nichts,« fuhr Hugo mit der ungeniertesten Aufrichtigkeit heraus. »Aber daß ich Sie gekränkt habe, das thut mir leid, sehr leid, das hat mir wie ein Alp auf der Brust gelegen bis zu diesem Augenblicke. Ich kann doch nicht mehr thun, als ehrlich und herzlich um Verzeihung bitten. Sind Sie mir noch böse, Ella?«

Er streckte ihr die Hand hin. Es lag in der Bewegung und in den Worten eine so warme, offene Liebenswürdigkeit und Aufrichtigkeit, daß eine Verweigerung der Bitte fast unmöglich schien, und Ella legte wirklich, wenn auch etwas zögernd, ihre Hand in die seine.

»Nein,« sagte sie einfach.

»Gott sei Dank!« rief Hugo aufatmend. »Also endlich bin ich doch in meine Rechte als Schwager eingesetzt. Ich ergreife hiermit feierlichst Besitz davon.«

Er ließ dem Worte die That folgen, indem er einen Stuhl heranzog und an ihrer Seite Platz nahm. »Wissen Sie, Ella, daß Sie mich seit unsrer neulichen Begegnung ganz außerordentlich interessieren?« fuhr er fort.

»Es scheint, man muß unartig gegen Sie sein, um Sie zu interessieren,« bemerkte Ella, im Tone des Vorwurfs.

»Ja, es scheint so,« stimmte der Kapitän mit voller Gemütsruhe bei. »Wir ›Abenteurer‹ sind nun einmal ein eigenes Volk und wollen anders behandelt sein, als die Normalmenschen. Sie scheinen bei mir durchaus das Richtige getroffen zu haben. Seit Sie mir damals so schonungslos den Text lasen, habe ich das ganze Haus in Ruhe gelassen; ich habe einen ganzen Ehrfurchts- und Achtungskursus dem Onkel und der Tante gegenüber durchgemacht und sogar meine Indianergeschichten sämtlicher haarsträubender Effekte beraubt, einzig aus Furcht vor gewissen strafenden Augen. Das kann Ihnen doch unmöglich entgangen sein.«

Es flog etwas wie ein Lächeln über das Antlitz der jungen Frau, als sie fragte:

»Es ist Ihnen wohl recht schwer geworden?«

»Sehr schwer, obgleich die Verhältnisse hier im Hause es mir eigentlich hätten erleichtern sollen. Sie waren in der letzten Zeit nicht danach, daß man seinen Uebermut daran hätte üben können.«

Bei dieser Hindeutung erlosch der flüchtige Schimmer von Heiterkeit sofort in Ellas Gesicht; es hatte einen angstvoll bittenden Ausdruck, als sie sich jetzt zu ihrem Schwager wandte.

»Ja, es ist traurig bei uns,« sagte sie leise, »und es wird schlimmer von Tag zu Tag. Die Eltern sind so hart, und Reinhold so gereizt, so heftig bei jeder Gelegenheit. O mein Gott, vermögen Sie denn gar nichts über ihn?«

»Ich?« fragte Hugo ernst. »Die Frage möchte ich Ihnen, der Gattin, zurückgeben.«

Ella schüttelte in trostloser Resignation das Haupt. »Auf mich hört ja doch niemand, und Reinhold am wenigsten. Er ist der Meinung, ich verstehe nichts von allen diesen Dingen – er würde mich nur herb zurückweisen.«

Hugo blickte mitleidig auf die junge Frau, die so offen eingestand, daß sie ihrem Manne gegenüber ganz macht- und einflußlos war und auch nicht den geringsten Anteil an seinem Denken und Streben hatte.

»Und doch muß irgend etwas geschehen,« sagte er entschieden. »Reinhold reibt sich in diesem Kampfe auf; er leidet grenzenlos darunter und macht andre leiden. Sie hatten geweint, Ella, als ich eintrat, und es ist in diesen Wochen kein Tag gewesen, wo ich nicht diesen roten Schein um Ihre Augen gesehen habe. Nein, rücken Sie nicht so ängstlich seitwärts! Dem Bruder wird doch einmal ein freies Wort erlaubt sein, und Sie sollen sehen, daß er auch etwas andres kann, als Possen treiben. Ich wiederhole Ihnen: es muß etwas geschehen, durch Sie geschehen. Es gilt Reinholds Künstlerberuf, seine ganze Zukunft, und in dem Kampfe muß seine Frau an seiner Seite stehen, sonst könnten es – andre statt ihrer thun, und das wäre gefährlich.«

Ella sah ihn mit einem Gemisch von Erstaunen und Schrecken an. Es geschah ihr wohl zum erstenmal in ihrem Leben, daß man sie zur offenen Parteinahme aufrief, und sich von ihrem Eingreifen irgend eine Wirkung versprach. Und was konnte denn mit den »andern« gemeint sein, die ihren Platz einnehmen könnten? Ihr Gesicht verriet deutlich, daß sie auch nicht die leiseste Ahnung davon hatte.

Hugo sah das und hatte doch nicht den Mut, weiter zu gehen, denn weiter gehen hieß hier, den ersten Verdacht in die Seele der ganz ahnungslosen Frau werfen, zum Angeber des eigenen Bruders werden und unausbleiblich eine Katastrophe heraufbeschwören, von deren Notwendigkeit er gleichwohl überzeugt war. Aber das ganze Wesen des jungen Kapitäns sträubte sich gegen diese peinvolle Aufgabe; er saß unentschlossen da, als ihm der Zufall zu Hilfe kam. Es wurde draußen an die Thür geklopft und gleich darauf trat Jonas mit einem großen Blumenstrauß in der Hand ein.

Der Matrose mochte sonst wohl vorsichtiger sein, wenn er dergleichen Aufträge für seinen Herrn besorgte. Er wußte aus Erfahrung, daß dessen Blumenspenden, wenn auch von den betreffenden jungen Damen, so doch nicht immer von den respektiven Vätern und Beschützern mit besonderer Freundlichkeit aufgenommen wurden, und pflegte sich, wenn auch mit geheimem Ingrimm, stets an die richtige Adresse zu halten. Diesmal aber hatte Hugo mit der hingeworfenen Bemerkung, der Strauß sei für seine Schwägerin bestimmt, den Irrtum selbst verschuldet. Jonas zweifelte natürlich nicht daran, daß die Bemerkung seines Kapitäns, mit der dieser nur seinen Bruder decken wollte, ernst gemeint sei; er schritt deshalb direkt auf die junge Frau Almbach zu und präsentierte ihr die Blumen mit den Worten:

»Ich kann Herrn Reinhold im ganzen Hause nicht finden, und da will ich den Strauß doch lieber gleich hier abgeben.«

Ella sah erstaunt auf das prachtvolle Rosenbouquet nieder, das, mit ebensoviel Kunst wie Geschmack zusammengefügt, eine Auswahl der herrlichsten Blüten zeigte.

»Von wem kommen die Blumen?« fragte sie.

»Vom Blumenhändler,« berichtete Jonas. »Herr Reinhold hat sie bestellt, und ich habe sie abgeholt; da ich ihn aber nirgends finde –«

»Es ist gut. Du kannst gehen,« fiel ihm Hugo ins Wort, während er rasch zu seiner Schwägerin trat und die Hand, wie beschwichtigend, auf ihren Arm legte. Ein befehlender Wink gab der Weisung noch mehr Nachdruck, und Jonas trollte ab, konnte aber doch nicht umhin, sich darüber zu wundern, daß die junge Frau Almbach die Artigkeit ihres Mannes in so seltsamer Weise aufnahm. Sie war ja auf einmal zusammengezuckt, als habe sie ein Stich in das Herz getroffen, und kreideweiß war sie dabei geworden. Aber der Herr Kapitän hatte mit gerunzelter Stirn und einem Ausdruck im Gesicht dabei gestanden, als möchte er die teuren Blumen am liebsten zum Fenster hinauswerfen. Jonas besaß zum Glück allzuviel Phlegma, als daß er sich um die Verhältnisse im Almbachschen Hause viel hätte kümmern sollen; bei seiner feindseligen Stellung zu dem Dienstpersonal erfuhr er auch wenig genug davon; so ließ er es denn bei einer mäßigen Verwunderung bewenden und kümmerte sich in der Ueberzeugung, seinen Auftrag gewissenhaft erfüllt zu haben, nicht weiter um den Auftraggeber.

Drinnen im Zimmer herrschte einige Sekunden lang tiefes Schweigen. Ella hielt das Bouquet noch krampfhaft fest in der Hand; aber das sonst so leblose Antlitz der jungen Frau mit dem leeren, beinahe stumpfen Ausdrucke war seltsam verändert. Jetzt war jeder Zug desselben gespannt, wie im peinigenden Schmerze, und die Augen hafteten starr und unverwandt auf der bunten Blütenpracht, auch jetzt noch, als sie sich zu ihrem Schwager wandte.

»Reinhold gab den Auftrag?« fragte sie, wie nach Atem ringend. »Dann kamen die Blumen wohl nur durch Irrtum in meine Hände?«

»Nicht doch,« sagte Hugo mit einem vergeblichen Versuch sie zu beruhigen. »Reinhold hat den Strauß bestellt, nun ja! Jedenfalls doch für Sie?«

»Für mich?« Es klang ein ergreifendes Weh aus dem Tone. »Ich habe noch niemals eine Blume von ihm erhalten. Für mich sind diese hier sicher nicht bestimmt.«

Hugo sah, daß er nicht auf halbem Wege stehen bleiben dürfe – der Zufall hatte entschieden; jetzt galt es, dem Winke des Schicksals zu gehorchen. »Sie haben recht, Ella,« versetzte er entschlossen, »und es wäre nutzlos und gefährlich, Sie noch länger darüber zu täuschen. Reinhold hat mir nicht gesagt, wem das Bouquet bestimmt ist; ich weiß aber, daß es noch heute abend in den Händen der Signora Biancona sein wird.«

Ella zuckte zusammen und der Blumenstrauß fiel zu Boden. »Signora Biancona?« wiederholte sie tonlos.

»Die Sängerin, die sein erstes Lied vor dem Publikum sang,« fuhr der Kapitän mit Nachdruck fort, »der auch seine neue Komposition gilt. Dieselbe, zu der er täglich geht, die bereits sein ganzes Denken und Empfinden einnimmt. Sie wußten bisher noch nichts davon – ich sehe es an Ihrem Gesichte; aber Sie müssen es jetzt erfahren, ehe es zu spät ist.«

Die junge Frau gab keine Antwort; ihr Antlitz war so farblos, wie die weißen Blüten, die den Rand des Bouquets umgaben; stumm bückte sie sich danach, hob es vom Boden auf und legte es auf den Tisch nieder; aber kein Laut, keine Entgegnung kam von ihren Lippen. Hugo wartete vergeblich darauf.

»Glauben Sie, daß ich Freude habe an der Grausamkeit, Ihnen zu enthüllen, was man sonst jeder Frau verbirgt?« fragte er mit unterdrückter Bewegung. »Glauben Sie, daß ich nicht mit irgend einer Erfindung die Ungeschicklichkeit des Burschen wieder gut machen und mich selbst für den Spender der unglückseligen Blumen ausgeben könnte? Wenn ich das nicht thue, wenn ich Ihnen die ganze Wahrheit schonungslos aufdecke, so geschieht es, weil die Gefahr aufs äußerste gestiegen ist, weil nur Sie allein noch retten können – und dazu müssen Sie klar sehen. Signora Biancona steht im Begriffe nach ihrer Heimat abzureisen, und Reinhold erklärte mir vorhin, daß er seine Studien in Italien fortsetzen wolle und müsse. Begreifen Sie den Zusammenhang?«

Ella fuhr auf. Jetzt zum erstenmal brach eine verzweiflungsvolle Angst mitten durch die starre Ruhe ihres Wesens.

»Nein, nein!« rief sie wie außer sich. »Das kann er nicht. Das darf er nicht. Wir sind ja vermählt.«

»Er darf nicht?« wiederholte Hugo. »Sie kennen die Männer schlecht, Ella, und Ihren eigenen Mann am wenigsten. Trauen Sie nicht zu sehr auf das Recht, das die Kirche Ihnen gab; auch diese Macht hat ihre Grenze, und ich fürchte, Reinhold steht bereits jenseits derselben. Sie haben freilich keine Ahnung von jener glühenden, dämonischen Leidenschaft, die einen Mann willenlos in Fesseln legt, ihn so mit ihrem Banne umstrickt, daß er um ihretwillen alles vergißt und alles opfert. Signora Biancona ist eine von jenen dämonischen Naturen, die solche Leidenschaften einflößen können, und hier steht sie im Bunde mit allem, was Reinholds eigentliches Leben ausmacht, mit der Musik, der Kunst, dem Ideale. Da schützt keine Kirche und kein Trauschein mehr, wenn sich die Frau nicht selbst zu schützen weiß. Sie sind sein Weib, die Mutter seines Kindes. Vielleicht hört er Ihre Stimme noch, wo er sonst nichts mehr hört.«

Die schweren Atemzüge der jungen Frau zeigten, wie schwer sie litt, und ein paar Thränen, die ersten, rollten langsam aus ihren Augen, als sie kaum hörbar erwiderte: »Ich werde es versuchen.«

Hugo trat dicht an ihre Seite. »Ich weiß, daß ich heute einen Zündstoff in die Familie geworfen habe, dem vielleicht der letzte Rest von Frieden zum Opfer fällt,« sagte er ernst. »Hunderte von Frauen würden jetzt verzweiflungsvoll zu ihren Eltern stürzen, um mit ihnen, oder allein, den Gatten zur Rede zu stellen, und eine Szene herbeiführen, die das letzte Band zerreißen und ihn unwiderruflich aus dem Hause treiben würde. Sie werden das nicht thun, Ella; ich weiß es, deshalb habe ich bei Ihnen gewagt, was ich so leicht bei keiner andern Frau gethan hätte. Was Sie Reinhold sagen, wie Sie ihn halten wollen, das steht ja bei Ihnen, aber lassen Sie ihn nicht von Ihrer Seite, lassen Sie ihn nicht nach Italien!«

Er schwieg und schien eine Antwort zu erwarten – vergebens! Ella saß da, das Gesicht in beiden Händen verborgen; sie regte sich kaum, als er ihr lebewohl sagte. Der junge Kapitän sah, daß sie den Schlag allein verwinden mußte, und so ging er denn. –

Als Reinhold eine halbe Stunde später aus dem Comptoir zurückkam, lag das Rosenbouquet in seinem eigenen Zimmer auf dem Schreibtische, und er nahm es an sich, in der festen Meinung, Jonas habe es dorthin gelegt. Inzwischen saß Ella im Schlafzimmer ihres Kindes und wartete, nicht auf ein Lebewohl ihres Mannes – an dergleichen Zärtlichkeiten war sie in ihrer Ehe nicht gewöhnt – aber sie wußte, daß er nie das Haus verließ, ohne erst noch nach seinem Knaben zu sehen. Die junge Frau fühlte nur zu gut, daß sie selbst ihrem Gatten nichts war, daß ihre ganze Bedeutung für ihn einzig in dem Kinde wurzelte; sie fühlte, daß die Liebe zu seinem Kinde der einzige Punkt war, auf dem sie seinem Herzen näher treten konnte, und deshalb erwartete sie ihn gerade hier zu der so unendlich schweren und qualvollen Unterredung; er mußte ja kommen. Aber sie sollte heute vergebens warten. Reinhold kam nicht. Zum erstenmal vergaß er den Abschiedskuß auf die Stirn seines Kindes, vergaß er das letzte und einzige Band, das ihn noch an die Heimat fesselte. In seiner Seele war jetzt nur noch Raum für einen Gedanken, und der hieß: Beatrice Biancona.

*

Die Oper war zu Ende. Aus dem Theatergebäude flutete ein Menschenstrom hervor, der sich nach verschiedenen Richtungen hin verteilte, und von allen Seiten rollten die Wagen herbei, um die ihnen bestimmten Insassen aufzunehmen. Das Haus war heute bis auf den letzten Platz gefüllt gewesen; denn die italienische Operngesellschaft hatte ihre Abschiedsvorstellung gegeben und ganz H. hatte sich bemüht, den Sängern und vor allem der schönen Primadonna zu zeigen, wie sehr es von ihren Leistungen entzückt war und wie ungern es sie verlor, jetzt, wo die Zeit des Scheidens kam. Die Treppen und Korridore waren noch dicht gefüllt; unten im Vestibül drängte sich Kopf an Kopf, und an den Ausgängen wuchs das Menschengewühl zu einer unbequemen und fast bedrohlichen Höhe an.

»Es ist ganz unmöglich, hier durchzukommen,« sagte Doktor Welding, der in Begleitung eines andern Herrn soeben die Treppe herabkam. »Man gerät ja in Lebensgefahr bei dem Gedränge da unten. Lassen Sie uns lieber noch einige Minuten warten, bis die Menge sich etwas verlaufen hat!«

Der Begleiter stimmte bei, und die beiden traten seitwärts in eine der tiefen und dunkeln Nischen des Korridors, wo bereits vor ihnen eine Dame Schutz gesucht hatte. Sie war einfach, aber doch nach Art der besseren Stände gekleidet, hatte den Schleier dicht über das Gesicht gezogen und schien das Menschengewühl sehr zu scheuen, auch wohl ganz unbekannt im Theatergebäude zu sein, denn sie drückte sich mit sichtbarer Aengstlichkeit fest an die Wand, als die beiden Herren herantraten, die, ohne sie weiter zu beachten, ihr vorhin unterbrochenes Gespräch wieder aufnahmen.

»Ich habe es gleich anfangs prophezeit, dieser Almbach nimmt einen großartigen Aufschwung,« sagte Welding. »Seine zweite Komposition übertrifft die erste in jeder Hinsicht, und schon die erste war bedeutend genug für einen Anfänger. Ich dächte, mit der Aufnahme könnte er auch diesmal zufrieden sein; sie war womöglich noch enthusiastischer. Freilich, es hat nicht jeder das Glück, eine Biancona für seine Töne zu finden und sie so dafür zu begeistern, daß sie ihre höchste Kraft einsetzt. Es war jedenfalls ihre Idee, diese neueste Komposition Almbachs als Einlage im letzten Akt der Oper zu singen, noch dazu heute, bei ihrem Scheiden, wo der Beifallssturm selbstverständlich war; sie sicherte ihm damit von vornherein den Erfolg.«

»Nun, ich glaube, an Dankbarkeit läßt er es auch nicht fehlen,« spöttelte der andre Herr. »Man spricht so allerlei. So viel steht fest, der ganze Verehrerkreis ist außer sich über diesen Eindringling, der, kaum aufgetaucht, schon auf dem besten Wege ist, Alleinherrscher zu werden. Die Sache scheint übrigens ziemlich ernst und hochromantisch angelegt zu sein, und ich bin wirklich gespannt, was schließlich daraus wird, wenn die Biancona abreist.«

Der Doktor knöpfte ruhig seinen Paletot zu. »Das ist unschwer zu erraten. Eine Entführung in bester Form.«

»Sie glauben, daß er sie entführt?« fragte der andre ungläubig.

»Er sie? Das würde wohl keinen Zweck haben. Die Biancona ist ja vollkommen frei in ihren Entschlüssen, wie in der Wahl ihres Aufenthaltsortes. Aber sie ihn. Das könnte eher der Fall sein. Die Fessel ist auf seiner Seite.«

»Freilich, er ist ja verheiratet,« stimmte der Begleiter bei. »Die arme Frau! Kennen Sie sie persönlich?«

»Nein,« sagte Welding gleichgültig, »aber nach der Schilderung des Konsuls Erlau kann ich mir ein ziemlich treffendes Bild von ihr entwerfen. Beschränkt, passiv, unbedeutend im höchsten Grade, dazu gänzlich untergegangen in Küche und Hauswirtschaft – ganz die Frau danach, einen genialen Feuerkopf wie diesen Almbach zu irgend einem Verzweiflungsschritte zu treiben, und da es eine Biancona ist, die ihr gegenübersteht, so wird dieser Schritt wohl nicht allzulange auf sich warten lassen. Für Almbach selbst wäre es vielleicht ein Glück, wenn er gewaltsam den beengenden Umgebungen entrissen und auf die Bahn des Lebens geworfen würde, aber freilich das bißchen Familienfrieden würde dabei rettungslos zu Grunde gehen. Das gewöhnliche Schicksal solcher Künstlerehen, in denen sich die Frau auch nicht entfernt zu der Bedeutung des Mannes erheben kann!«

Er wandte sich bei den letzten Worten etwas verwundert um; die Dame hinter ihnen hatte eine heftige Bewegung gemacht, aber gerade in dem Momente, wo der Doktor sie schärfer ins Auge fassen wollte, öffnete sich eine Seitenthür und Reinhold Almbach erschien, in Begleitung Hugos, des Kapellmeisters und noch einiger Herren.

Hier freilich war Reinhold ein andrer als zu Hause im Kreise der Seinigen. Die Düsterheit, welche dort immer und immer auf seinen Zügen ruhte, die Verschlossenheit, die ihn so oft unzugänglich machte, waren wie mit einem Schlage abgeworfen; er strahlte vor Aufregung, Glück und Triumph. Seine Stirn hob sich frei und stolz; aus seinen dunklen Augen blitzte das vollste Siegesbewußtsein, und sein ganzes Wesen atmete leidenschaftliche Genugthuung, als er sich zu seinen Begleitern wandte.

»Ich danke Ihnen, meine Herren. Sie sind sehr freundlich, aber Sie werden mich entschuldigen, wenn ich mich heute abend der schmeichelhaftesten Anerkennung entziehe. Signora wünscht meine Begleitung bei der Festlichkeit, die zum Abschiede noch einmal die Mitglieder der Oper vereinigt. Sie werden begreifen, daß ich diesem Befehle vor allem nachkommen muß.«

Die Herren schienen das durchaus zu begreifen und nebenbei sehr zu bedauern, daß sie sich nicht einem ähnlichen Befehl zu fügen hatten, als Doktor Welding in ihren Kreis trat.

»Ich gratuliere,« sagte er, dem jungen Komponisten die Hand reichend. »Das war ein großer und mehr noch, es war ein verdienter Erfolg.«

Reinhold lächelte. Das Lob aus dem Munde des sonst anspruchsvollen Kritikers ließ ihn keineswegs gleichgültig.

»Sie sehen, Herr Doktor, ich habe doch schließlich noch vor Ihrem Richterstuhle zu erscheinen,« entgegnete er verbindlich. »Konsul Erlau war leider im Irrtume, als er mich vor der Gefahr ein für allemal gesichert wähnte.«

»Man soll niemand vor seinem Ende glücklich preisen,« bemerkte der Doktor lakonisch. »Warum stürzen Sie sich so kopfüber in die Gefahr und wenden dem edlen Kaufmannstande den Rücken? Ist es wahr, daß wir mit Signora Biancona auch Sie verlieren werden? Sie wollen gleichfalls Ihren Flug nach dem Süden richten?«

»Nach Italien, ja!« sagte Reinhold mit vollster Bestimmtheit. »Es war schon längst mein Plan. Der heutige Abend hat ihn zum Entschluß gereift, aber jetzt – verzeihen Sie, meine Herren, ich kann Signora unmöglich warten lassen.«

Er grüßte und ging, von seinem Bruder begleitet. Der sonst nicht gerade schweigsame Kapitän hatte während des Gesprächs eine auffallende Zurückhaltung beobachtet. Er war leise aufgezuckt, als beim Herantreten Weldings die Nische frei wurde, in der die dunkle Frauengestalt sich tief in den Schatten der Wand geschmiegt hatte, als wolle sie um keinen Preis gesehen werden; es sah sie auch niemand weiter, wenigstens nahm niemand Notiz von ihr. Sie konnte ihren Zufluchtsort nicht verlassen, ohne den ganzen Kreis zu passieren, der auch nach der Entfernung der Brüder noch seinen Platz behauptete. Die Herren kannten sich sämtlich, und sie benutzten dieses Zusammentreffen, um ihre Ansichten über den jungen Komponisten, Signora Biancona und das mutmaßliche Verhältnis der beiden zu einander auszutauschen. Das letztere besonders mußte sich eine ziemlich schonungslose Kritik gefallen lassen. Die spöttischen, witzigen und boshaften Bemerkungen fielen hageldicht, und es dauerte eine geraume Zeit, bis der Kreis sich endlich auflöste.

Jetzt, wo der Korridor völlig leer war, richtete sich auch die Dame in der Nische empor und schickte sich an, zu gehen, aber sie wankte schon nach den ersten Schritten und griff, wie zusammenbrechend, nach dem Geländer der Treppe, als ein kräftiger Arm sie stützte und aufrecht erhielt.

»Kommen Sie ins Freie, Ella!« sagte Hugo, der urplötzlich an ihrer Seite stand. »Das war ja eine Folterqual.«

Er zog ihren Arm in den seinigen und führte sie hinunter, durch den nächsten Ausgang auf die Straße. Erst hier in der scharfen, kühlen Abendluft schien Ella wieder zur Besinnung zu kommen; sie schlug den Schleier zurück und atmete auf, als sei sie dem Ersticken nahe gewesen.

»Hätte ich ahnen können, daß meine Warnung Sie hieher treiben würde, sie wäre unterblieben,« fuhr Hugo vorwurfsvoll fort. »Ella, um Gottes willen, welche unglückselige Idee!«

Die junge Frau zog die Hand von seinem Arm zurück. Der Vorwurf schien ihr wehe zu thun.

»Ich wollte sie doch wenigstens einmal sehen,« entgegnete sie.

»Ohne selbst gesehen zu werden,« ergänzte der Kapitän. »Ich wußte das in dem Augenblicke, als ich Sie erkannte; deshalb schwieg ich auch gegen Reinhold. Aber wie auf Kohlen habe ich hier unten gestanden, während der ganze kritische Zirkel da oben vor Ihrem Zufluchtsorte tagte und seinen liebevollen Gesinnungen und Bemerkungen freien Lauf ließ. Ich kann mir ungefähr denken, was Sie da alles anzuhören bekamen.«

Er hatte während der letzten Worte einem Kutscher einen Wink gegeben, ihm Straße und Hausnummer zugerufen und seiner Schwägerin beim Einsteigen in den Wagen geholfen; als er aber Miene machte, an ihrer Seite Platz zu nehmen, wies sie ihn sanft, aber entschieden zurück.

»Ich danke Ihnen. Ich gehe allein.«

»Auf keinen Fall!« rief Hugo ungestüm. »Sie sind furchtbar aufgeregt, halb ohnmächtig; es wäre unverantwortlich, Sie in diesem Zustande allein zu lassen.«

»Sie sind doch nicht verantwortlich dafür, was aus mir wird,« sagte Ella mit aufquellender Bitterkeit. »Und andre – kümmert das ja nicht. Lassen Sie mich allein nach Hause fahren, Hugo! Ich bitte Sie darum.«

Ihre Augen sahen ihn durch den Thränenschleier bittend an. Der Kapitän sagte kein Wort weiter; er schloß gehorsam den Schlag und trat zurück; aber er sah dem fortrollenden Wagen nach, bis dieser verschwunden war.

*

Mitternacht war längst vorüber, als Reinhold zurückkehrte und, ohne seine Wohnung zu betreten, sich sofort nach dem Gartenzimmer begab. Das Haus und die Nebengebäude lagen still und dunkel da; nichts regte sich mehr in dem ganzen Umkreise. Was hier lebte und schaffte, war gewohnt, den Tag für die Arbeit zu benutzen, und forderte dafür nachts seine ungestörte Ruhe. Es war ein Glück, daß das Gartenhaus so fern und einsam lag, sonst wären die Hausgenossen und die Nachbarschaft wohl noch unduldsamer gewesen gegen den jungen Komponisten, der es nun einmal nicht lassen konnte, so spät er auch oft nach Hause kam, stets noch seinen Flügel aufzusuchen, und den oft genug der lichte Morgen in seinen musikalischen Phantasien überraschte.

Es war eine stille und mondhelle, aber scharfe und rauhe nordische Frühlingsnacht. In dem dämmernden Lichte sahen diese Mauern und Giebel, die den Garten einengten, noch düsterer und gefängnisartiger aus, als am Tage; die Flut des Kanals erschien noch schwärzer in dem blassen Mondstreif, der darüber hin zitterte, und die noch kahlen, blattlosen Bäume und Gesträuche schienen zu beben und zusammenzuschauern in dem kalten Nachtwinde, der erbarmungslos darüber weg fuhr. Man befand sich bereits im April und doch zeigten sich kaum die ersten Knospen. »Dieser armselige Frühling mit seinem mühseligen Wachsen und Gedeihen, seinen grauen Regentagen und kalten Winden!« Das hatte Reinhold erst vor wenigen Tagen aussprechen hören, und dann war eine glühende Schilderung jenes Frühlings gefolgt, der wie mit einem Zauberschlage auf den Fluren des Südens emporblüht, jener Sonnentage mit dem ewig blauen Himmel und der tausendfachen Farbenpracht der Erde, jener Mondscheinnächte voll Orangenduft und Liederklang. Der junge Mann mußte wohl noch Kopf und Herz voll haben von diesem Bilde, denn er blickte noch verächtlicher als sonst auf die dürftig kahle Umgebung und schob ungeduldig einen Fliederzweig zur Seite, dessen braune eben erst aufbrechende Knospen seine Stirn streiften. Er hatte keinen Sinn mehr für die Gaben dieses armseligen Frühlings und keine Lust mehr, so mühselig zu wachsen und zu gedeihen wie die Knospen hier, ewig im Kampfe mit Reif und Wind. Hinaus in die Freiheit, das war der einzige Gedanke, der ihn jetzt noch erfüllte.

Reinhold öffnete die Thür des Gartenzimmers und fuhr wie in plötzlichem Schrecken zurück. Es dauerte einige Sekunden, ehe er in der Gestalt, die da an seinem Flügel lehnte, hell beschienen vom Mondlichte, das durch das Fenster fiel, seine Gattin erkannte.

»Du bist es, Ella?« rief er endlich rasch eintretend. »Was gibt es? Ist etwas vorgefallen?«

Sie machte eine verneinende Bewegung. »Nichts! Ich wartete nur auf dich.«

»Hier? Und zu dieser Stunde?« fragte Reinhold aufs äußerste befremdet. »Was fällt dir denn ein?«

»Ich sehe dich ja fast nie mehr,« war die leise Antwort, »höchstens noch bei Tisch in Gegenwart der Eltern, und ich möchte dich doch einmal allein sprechen.«

Sie hatte bei diesen Worten die Lampe angezündet und auf den Tisch gestellt. Die junge Frau trug noch das dunkle Seidenkleid, das sie heute abend im Theater getragen; es war freilich auch schmucklos und einfach genug, aber doch nicht so derb und unkleidsam wie ihre gewöhnlichen Hausanzüge. Auch die sonst immer unvermeidliche Haube war verschwunden, und jetzt, wo sie fehlte, sah man erst, welch ein seltener Reichtum sich unter ihr geborgen hatte. Das blonde Haar, das sonst immer nur in einem schmalen Streifen sichtbar wurde, ließ sich kaum bergen in den schweren Flechten, die sich jetzt in ihrer ganzen prachtvollen Fülle zeigten; aber dieser natürliche Schmuck, mit dem wohl jede andre Frau geprunkt hätte, wurde hier beinahe ängstlich Tag für Tag versteckt, bis ein Zufall ihn enthüllte, und doch schien er dem Kopfe ein ganz andres Gepräge zu geben.

Reinhold hatte wie gewöhnlich kein Auge dafür; er sah seine Frau kaum an und hörte nur flüchtig und zerstreut auf ihre Worte. Es lag auch nicht die leiseste Spur eines Vorwurfes darin, aber er mußte doch so etwas herausfühlen, denn er sagte ungeduldig:

»Du weißt doch, daß ich gerade jetzt von allen möglichen Seiten in Anspruch genommen werde. Meine neue Komposition, die in den letzten Wochen vollendet wurde, ist heute abend zum erstenmal in die Oeffentlichkeit getreten –«

»Ich weiß es,« unterbrach ihn Ella, »ich war im Theater.«

Reinhold stutzte. »Du warst im Theater?« fragte er rasch und scharf. »Mit wem? Auf wessen Veranlassung?«

»Ich war allein dort. Ich wollte –« sie stockte und fuhr dann zögernd fort: »ich wollte doch auch einmal deine Töne hören, von denen alle Welt spricht, und die nur ich nicht kenne.«

Ihr Gatte schwieg und sah sie forschend an. Die junge Frau verstand sich schlecht auf die Verstellung, und die Lüge wollte nicht über ihre Lippen. Sie stand vor ihm, totenblaß, bebend an allen Gliedern; es bedurfte keines besonderen Scharfblickes, um hier die Wahrheit zu erraten, und Reinhold erriet sie sofort.

»Und allein deshalb gingst du?« sagte er endlich langsam. »Willst du mich täuschen mit dem Vorwande oder vielleicht dich selber? Ich sehe, das Gerücht hat bereits bis zu dir seinen Weg gefunden, du hast mit eigenen Augen sehen wollen – natürlich! Wie konnte ich glauben, daß es mir und dir erspart bleiben würde!«

Ella blickte auf. Das war wieder die finster umschattete Stirn, die sie stets an ihrem Gatten zu sehen gewohnt war, der Blick düsterer Schwermut, der Ausdruck eines trotzig niedergehaltenen Leidens, kein Hauch mehr von jenem strahlenden Triumphe, der vor wenig Stunden seine Züge so verklärte; das war ja draußen gewesen, fern von den Seinen; für die Heimat blieb nur der Schatten übrig.

»Warum antwortest du nicht?« begann er von neuem. »Denkst du, ich wäre Feigling genug, die Wahrheit abzuleugnen? Wenn ich sie dir bisher verschwieg, so geschah es aus Schonung für dich; jetzt, wo du sie kennst, werde ich dir Rede stehen. – Man hat dir von der jungen Künstlerin erzählt, der ich die erste Anregung zum Schaffen, meinen ersten Erfolg und den heutigen Triumph danke. Man hat dir das Verhältnis zwischen uns, Gott weiß wie, geschildert, und du hältst das nun natürlich für ein todeswürdiges Verbrechen.«

»Nein. Aber für ein Unglück.«

Der Ton dieser Worte hätte wohl jeden entwaffnet; auch Reinholds Gereiztheit hielt nicht stand davor. Er trat ihr näher und ergriff ihre Hand.

»Armes Kind!« sagte er mitleidig. »Ein Glück war es freilich nicht, was der Wille deines Vaters dir bestimmte. Du mehr als jede andre bedurftest eines Gatten, der Tag für Tag im ruhigen Kreislaufe der Alltäglichkeit wirkt und schafft, ohne auch nur mit einem Wunsche darüber hinauszureichen, und gerade dich hat das Schicksal an einen Mann gekettet, den es gewaltsam fortreißt auf andre Bahnen. Du hast ganz recht: das ist ein Unglück für uns beide.«

»Das heißt: ich bin es dir,« ergänzte die junge Frau tonlos. » Sie freilich wird es wohl besser verstehen, dir Glück zu geben.«

Reinhold ließ ihre Hand fallen und trat zurück. »Du bist im Irrtum,« versetzte er beinahe rauh, »und verkennst das Verhältnis zwischen Signora Biancona und mir. Es ist ein rein ideales gewesen vom ersten Augenblicke an, und ist es noch bis zu dieser Stunde. Wer dir etwas andres gesagt hat, ist ein Lügner.«

Es schien, als wolle Ella aufatmen bei den ersten Worten; aber bei den nächsten schon zog sich ihr Herz wie im Krampfe zusammen. Sie wußte, daß ihr Gatte keiner Lüge fähig sei, am wenigsten in solchem Augenblicke, und er sagte ihr, das Verhältnis sei ein ideales. Noch war es das, daran zweifelte sie nicht, aber auf wie lange? Sie hatte heute abend im Theater selbst die dämonischen, schwarzen Augen leuchten sehen, denen so leicht nichts widerstand, hatte gesehen, wie jene Frau in ihrer Rolle die ganze Stufenleiter der Empfindungen bis zur höchsten Leidenschaft hinauf durchlief, wie diese Leidenschaft das Publikum zum Beifallssturm fortriß, und sie konnte sich unschwer sagen, daß, wenn es der Italienerin beliebt hatte, bisher nur die beglückende Muse zu sein, die den jungen Tondichter an ihrer Hand in das Reich der Kunst einführte, wohl die Stunde kommen werde, wo sie ihm etwas andres sein wollte.

»Ich liebe Beatrice,« fuhr Reinhold mit einer Aufrichtigkeit fort, von deren Grausamkeit er in der That keine Ahnung zu haben schien, »aber diese Liebe kränkt und verletzt keines von deinen Rechten. Sie gilt der Musik, als deren verkörperter Genius sie mir entgegentrat, gilt dem Besten und Höchsten in meinem Leben, dem Ideale –«

»Und was bleibt dann noch für dein Weib übrig?« unterbrach ihn Ella.

Er schwieg betroffen. Die Frage, so einfach sie war, klang doch eigentümlich in dem Munde seiner für so beschränkt gehaltenen Gattin. Es war ja selbstverständlich, daß sie sich mit dem begnügen mußte, was noch übrigblieb, mit dem Namen, den sie trug, und dem Kinde, dessen Mutter sie war. Sie schien das seltsamerweise gar nicht begreifen zu wollen, und Reinhold verstummte völlig vor dem ruhigen und doch vernichtenden Vorwurfe dieser Frage.

Die junge Frau stützte die Hand auf den Flügel. Sie kämpfte sichtbar mit der Furcht, welche sie von jeher vor ihrem Manne gehegt, dessen geistige Ueberlegenheit sie tief empfand, ohne gleichwohl den Versuch zu wagen, sich zu ihm zu erheben. In dem Bewußtsein, daß er hoch über ihr stehe, hatte sie sich ihm stets unbedingt untergeordnet, ohne damit jemals etwas andres zu erreichen, als eine Duldung, die nahe an Verachtung streifte. Jetzt, wo er eine andre liebte, hörte die Duldung auf; die Verachtung war geblieben – das fühlte sie deutlich aus seinem Geständnisse heraus, das er so ruhig, so sicher that; seine Liebe zu der schönen Sängerin »kränkte und verletzte ja keines von ihren Rechten«; sie hatte ja überhaupt kein Recht an sein geistiges Leben. Und diesen Mann sollte sie festhalten, jetzt, wo ihm die Liebe einer schönen, von aller Welt gefeierten Künstlerin, wo ihm der Zauberschein Italiens, wo ihm eine Zukunft voll Ruhm und Glück winkte, sie, die nichts zu geben hatte, als sich selber – Ella fühlte jetzt erst das Unmögliche der Aufgabe, die man ihr zugewiesen.

»Ich weiß es, du hast nie zu uns gehört, nie jemand von uns lieb gehabt,« sagte sie mit stiller Resignation. »Gefühlt habe ich es wohl immer; klar geworden ist es mir erst, seit ich deine Frau bin, und da war es zu spät. Aber ich bin es doch nun einmal, und wenn du mich und das Kind verlassen, aufgeben willst um einer andern willen –«

»Wer sagt das?« fuhr Reinhold mit einer Entrüstung auf, die ihn freisprach von dem Verdachte, daß ein solcher Gedanke wirklich schon in seine Seele gekommen war. »Verlassen? Dich und das Kind aufgeben? Niemals!«

Die junge Frau richtete das Auge fragend auf ihn, als verstehe sie ihn nicht.

»Du sagtest doch soeben, du liebtest Beatrice Biancona?«

»Ja, aber –«

»Aber? So mußt du auch wählen zwischen ihr und uns.«

»Du entwickelst ja auf einmal eine ganz ungewöhnliche Bestimmtheit,« rief Reinhold gereizt. »Ich muß? Und wenn ich es nun nicht thue? Wenn ich diese ideale Künstlerliebe für vollkommen vereinbar halte mit meinen Pflichten, wenn –«

»Wenn du ihr nach Italien folgst,« ergänzte Ella.

»Also auch das weißt du schon?« fuhr der junge Mann heftig auf. »Du scheinst ja so vortrefflich unterrichtet zu sein, daß mir nur noch übrigbleibt, die Nachrichten, die man dir so freundlich zugetragen, zu bestätigen. Es ist allerdings meine Absicht, in Italien meine Studien fortzusetzen, und wenn ich dort Signora Biancona begegnen sollte, wenn ihre Nähe mir neue Begeisterung zum Schaffen gibt, ihre Hand mir die Künstlerwelt öffnet, so werde ich nicht der Thor sein, das alles zurückzustoßen, bloß weil ich nun einmal das Schicksal habe – eine Frau zu besitzen.«

Ella zuckte zusammen bei der schonungslosen Härte dieser letzten Worte.

»Schämst du dich dieser Frau so sehr?« fragte sie leise.

»Ella, ich bitte dich –«

»Schämst du dich meiner so sehr?« wiederholte die junge Frau scheinbar ruhig, aber es war ein seltsamer, nervendurchzitternder Klang in ihrer Stimme. Reinhold wendete sich ab.

»Sei nicht kindisch, Ella!« erwiderte er ungeduldig. »Glaubst du, daß es für einen Mann wohlthuend und erhebend ist, wenn er von seinen ersten Erfolgen nach Hause kommt und findet hier Klagen, Vorwürfe, kurz, die ganze nüchterne Prosa der Häuslichkeit? Du hast mich bisher damit verschont und solltest das auch in Zukunft thun. Du könntest sonst die Erfahrung machen, daß ich nicht der geduldige Ehemann bin, der dergleichen Szenen widerstandslos über sich ergehen läßt.«

Die junge Frau richtete das Auge fragend auf ihn, als verstehe sie ihn nicht.

Es bedurfte nur eines einzigen Blickes auf die junge Frau, um die grenzenlose Ungerechtigkeit dieses Vorwurfes zu erkennen. Sie stand da, nicht wie eine Anklägerin, sondern wie eine Verurteilte, fühlte sie doch, daß in dieser Stunde das Urteil ihrer Ehe und ihres Lebens gesprochen wurde.

»Ich weiß wohl, ich bin dir nie etwas gewesen,« sagte sie mit bebender Stimme, »habe dir nie etwas sein können, und wenn es sich jetzt nur um mich handelte, so ließe ich dich gehen, ohne ein Wort, ohne eine Bitte weiter. Aber das Kind steht ja noch zwischen uns, und da« – sie hielt einen Augenblick inne und atmete tief auf – »da wirst du es wohl begreifen, wenn die Mutter dich noch einmal bittet, daß du bei uns bleibst.«

Die Bitte kam scheu, zaghaft heraus; man hörte ihr die Ueberwindung an, die es sie dem Manne gegenüber kostete, in dessen Herzen auch nicht mehr eine Stimme für sie sprach, und doch bebte in den letzten Worten ein so rührend angstvolles Flehen, daß es nicht ganz ungehört an dem Ohre ihres Gatten verhallte. Er wandte sich wieder zu ihr.

»Ich kann nicht bleiben, Ella,« entgegnete er milder als vorhin, aber doch mit kühler Bestimmtheit. »Es handelt sich um meine Zukunft. Du ahnst nicht, was in dem Worte für mich liegt. Begleiten kannst du mich nicht mit dem Kinde. Abgesehen davon, daß dies bei einer Studienreise unmöglich ist, würdest du dich bald genug unglücklich fühlen in einem fremden Lande, dessen Sprache du nicht verstehst, unter Verhältnissen und Umgebungen, denen du auch nicht entfernt gewachsen bist. Du wirst dich jetzt überhaupt gewöhnen müssen, mich und mein Leben mit einem andern Maßstabe zu messen, als mit dem des engherzigen Vorurteils und der kleinbürgerlichen Beschränktheit. Du bleibst mit dem Kleinen hier im Schutze deiner Eltern; in spätestens einem Jahre kehre ich zurück. In diese Trennung mußt du dich fügen.«

Er sprach ruhig, freundlich sogar, aber jedes Wort war eine eisige Zurückweisung, ein ungeduldiges Abschütteln der ihm lästigen Bande. Hugo hatte recht: er lag bereits zu tief im Banne der Leidenschaft, um noch auf irgend eine andre Stimme zu hören – es war zu spät. Ein kaltes, mitleidloses »Du mußt dich fügen« war die einzige Antwort auf jene rührende Bitte.

Ella richtete sich mit einer ihr sonst fremden Entschlossenheit empor, und es war auch ein fremder Klang in ihrer Stimme; es lag etwas darin von dem Stolze des Weibes, der, jahrelang getreten und unterdrückt, sich endlich doch aufbäumte, als man ihm das äußerste bot.

»In die Trennung, ja!« erwiderte sie fest. »Ich bin ja machtlos dagegen. Aber nicht in deine Rückkehr, Reinhold. Wenn du jetzt gehst, mit ihr gehst, trotz meiner Bitte, trotz unsres Kindes, so thue es – aber dann gehe auch für immer!«

»Willst du mir Bedingungen stellen?« rief Reinhold auflodernd. »Habe ich es nicht jahrelang getragen, dieses Joch, das die sogenannten Wohlthaten deines Vaters mir aufzwangen, das meine Kindheit verbittert, meine Jugend vernichtet hat und mich jetzt an der Schwelle des Mannesalters zwingt, mir das erst in endlosen Kämpfen zu erobern, was ein jeder als sein natürliches Recht beansprucht, die freie Selbstbestimmung? Ihr habt mich losgelöst von allem, was andern Freiheit und Glück heißt, habt mich festgekettet an eine verhaßte Lebenssphäre mit allen nur möglichen Banden und glaubtet nun eures Eigentums sicher zu sein. Aber endlich ist doch für mich die Stunde gekommen, wo es beginnt zu tagen, und wenn es dann auf einmal wie ein Blitz in die Seele niederschlägt und in flammender Klarheit das Ziel zeigt und den Preis am Ziele, dann erwacht man aus dem jahrelangen dumpfen Traume und findet sich – in Fesseln.«

Es war ein Ausbruch der wildesten Leidenschaftlichkeit, des glühendsten Hasses, der schrankenlos hervorbrach, ohne danach zu fragen, ob er sich über Schuldige oder Unschuldige ergoß. Das ist ja eben das furchtbar Dämonische der Leidenschaft, daß sie den Haß gegen alles kehrt, was sich ihr entgegenstellt, und träfe dieser Haß auch die nächsten und heiligsten, träfe er auch die selbstgeknüpften Bande.

Es folgte eine lange, totenstille Pause. Reinhold hatte sich, überwältigt von der Aufregung, in einen Sessel geworfen und die Hand über die Augen gelegt. Ella stand noch an demselben Platze wie vorhin; sie sprach nicht, regte sich nicht; selbst das Beben, das so oft während der Unterredung sie durchzitterte, hatte aufgehört. So vergingen mehrere Minuten, da endlich näherte sie sich langsam ihrem Gatten.

»Das Kind läßt du mir doch wohl?« sagte sie mit zuckender Lippe. »Dir würde es nur eine Last sein in deinem neuen Leben, und ich habe ja sonst nichts weiter auf der Welt.«

Reinhold sah auf und sprang dann plötzlich empor. Es waren nicht die Worte, die ihn so seltsam erschütterten, auch nicht die totenstarre Ruhe ihres Gesichtes; es war der Blick, der sich auch ihm jetzt so unerwartet und überraschend entschleierte, wie einst seinem Bruder. Zum erstenmal sah er auch in dem Antlitze seiner Gattin die »schönen blauen Märchenaugen«, die er so oft an seinem Knaben bewundert, ohne je danach zu fragen, woher sie stammten, und diese Augen waren jetzt groß und voll auf ihn gerichtet. Es stand keine Thräne darin, auch keine Bitte mehr, aber ein Ausdruck, dessen er Ella nie für fähig gehalten, ein Ausdruck, vor dem sein Auge zu Boden sank.

»Ella,« sagte er ungewiß. »Wenn ich zu hastig war – was hast du, Ella?«

Er wollte ihre Hand ergreifen; sie wich zurück.

»Nichts. Wann gedenkst du zu reisen?«

»Ich weiß nicht,« antwortete Reinhold immer mehr betreten. »In einigen Tagen – oder Wochen – es eilt nicht.«

»Ich werde die Eltern benachrichtigen. Gute Nacht!« Sie wandte sich, um zu gehen. Er that ihr heftig einen Schritt nach, als wolle er sie zurückhalten.

»Du hast mich mißverstanden.«

Die junge Frau richtete sich hoch und fest auf. Sie schien auf einmal eine andre geworden zu sein; diesen Ton und diese Haltung hatte Ella Almbach nie gekannt.

»Die ›Fessel‹ soll dich nicht länger drücken, Reinhold. Du wirst ungehindert dein Ziel erreichen und deinen – Preis. Gute Nacht!«

Sie öffnete rasch die Thür und trat hinaus. Das Mondlicht fiel hell auf die schlanke Gestalt in dem dunklen Kleide, auf das starre blasse Antlitz und die dunklen Flechten. Im nächsten Augenblick schon war sie verschwunden. Reinhold stand allein.

*

»Das ist jetzt ein Elend hier im Hause!« sagte der alte Buchhalter im Comptoir, indem er die Feder hinter das Ohr steckte und das Rechnungsbuch zuklappte. »Der junge Herr seit drei Tagen fort, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben, ohne nach Frau und Kind zu fragen – der Herr Kapitän setzt den Fuß nicht mehr über die Schwelle – der Prinzipal geht in einer Wut herum, daß man es kaum wagt, ihm nahe zu kommen, und die junge Frau Almbach sieht aus, daß einem das Herz in der Brust weh thut, wenn man sie nur anschaut. Weiß der Himmel, was aus dieser unglückseligen Geschichte noch werden wird!«

»Aber wie ist denn der Bruch nur so plötzlich gekommen?« fragte der erste Commis, der gleichfalls – es war der Schluß der Comptoirstunde – seine Schreibereien beiseite legte und sein Pult verschloß.

Der Buchhalter zuckte die Achseln. »Plötzlich? Ich glaube kaum, daß er einem von uns unerwartet kam. Das hat ja wochen- und monatelang gewühlt in der Familie; es fehlte nur noch der Funke in all dem Zündstoffe, und der ist schließlich auch gekommen. Frau Almbach brachte aus einer Damengesellschaft die Neuigkeit mit nach Hause und so erfuhr denn auch ihr Mann, was bereits die halbe Stadt weiß, und was nun freilich keiner von seinem Schwiegersohn gern hört. Sie kennen ja den Prinzipal und wissen, mit welchem Widerwillen er von jeher diese ganze Künstlergeschichte angesehen, wie er dagegen gekämpft hat, und nun noch diese Entdeckung! Er ließ den jungen Herrn rufen, und da gab es einen Auftritt – ich habe ihn teilweise im Nebenzimmer mit angehört. Hätte Herr Reinhold sich wenigstens noch vernünftig benommen und nachgegeben, hier, wo er doch wahrhaftig nicht schuldlos war, die Sache wäre vielleicht noch beigelegt worden, statt dessen aber setzte er seinen ärgsten Trotzkopf auf, sagte dem Schwiegervater ins Gesicht, er wolle nicht länger Kaufmann bleiben, wolle nach Italien gehen, Musiker werden, er habe die Sklaverei hier lange genug ausgehalten, und was dergleichen Dinge mehr waren. Der Prinzipal kannte sich nicht mehr vor Wut; er verbot, drohte, beleidigte endlich, und da freilich war's aus. Der junge Herr brach los mit einer Wildheit, daß ich glaubte, es würde ein Unglück geben. Wie wahnsinnig stampfte er mit dem Fuße und rief: ›Und wenn die ganze Welt sich dagegen setzt, es geschieht doch. Ich lasse mich nicht länger knechten, lasse mir mein Denken und Fühlen nicht vorschreiben.‹ Und in dem Tone ging es fort; eine Stunde darauf stürmte er aus dem Hause und hat noch nichts wieder von sich hören lassen. Gott bewahre einen jeden vor solchen Familienszenen!«

Der alte Herr legte die Feder beiseite, verließ seinen Sitz und wünschte den übrigen Herren einen guten Abend, während er zugleich Anstalt machte, das Comptoir zu verlassen. Er hatte aber kaum einige Schritte in den Hausflur hinaus gethan, als er dort mit Hugo Almbach zusammentraf, der rasch von der Straße her einbog. Der Buchhalter schlug im freudigen Schreck die Hände zusammen.

»Gott sei Dank, daß wenigstens Sie sich wieder sehen lassen, Herr Kapitän!« rief er. »Es thut uns wahrlich not hier im Hause.«

»Steht das Barometer immer noch auf Sturm?« fragte Hugo, mit einem Blicke nach dem oberen Stock hinauf.

Der Buchhalter seufzte. »Auf Unwetter! Vielleicht bringen Sie uns Sonnenschein.«

»Schwerlich!« sagte Hugo ernst. »Augenblicklich suche ich Frau Almbach. Sie ist doch zu Hause?«

»Ihre Frau Tante ist mit dem Herrn Prinzipal ausgegangen,« berichtete jener.

»Nicht doch. Ich meine meine Schwägerin.«

»Die junge Frau? Du lieber Gott, die haben wir in den drei Tagen kaum zu Gesichte bekommen. Sie wird wohl oben im Kinderzimmer sein; sie geht jetzt kaum eine Minute mehr weg von dem Kleinen.«

»Ich werde sie aufsuchen,« erklärte Hugo, mit flüchtigem Gruße die Treppe hinaufeilend. »Guten Abend!«

Der Buchhalter sah ihm kopfschüttelnd nach. Er war es so gar nicht gewohnt, daß der junge Kapitän ohne irgend einen Scherz, ohne eine Neckerei an ihm vorüberging, und er hatte auch eine Wolke bemerkt, die heute auf der sonst so hellen Stirn des jungen Mannes lag. Er schüttelte noch einmal den Kopf und wiederholte seinen Stoßseufzer von vorhin: »Weiß der Himmel, wie die Geschichte enden wird!«

Hugo hatte inzwischen die Wohnung seiner Schwägerin erreicht. »Ich bin's, Ella,« sagte er eintretend. »Habe ich Sie erschreckt?«

Die junge Frau war allein; sie saß am Bettchen ihres Knaben. Der jugendlich rasche Schritt draußen und das schnelle Oeffnen der Thür mochten sie wohl über den Kommenden getäuscht haben; sie hatte sicher einen andern erwartet. Das bewies ihr jähes Auffahren und die Glut in ihrem Antlitz, die urplötzlich einer tiefen Blässe wich, als sie in dem Eintretenden ihren Schwager erkannte.

»Der Onkel treibt die Ungerechtigkeit so weit, auch mir sein Haus zu verbieten,« fuhr dieser fort, indem er näher trat. »Er hält nun einmal fest an dem Gedanken, daß auch ich einen Anteil an dem unglückseligen Zerwürfnis habe. Ich hoffe, Ella, Sie sprechen mich frei davon.«

Die junge Frau hörte kaum auf die letzten Worte. »Sie bringen mir Nachricht von Reinhold?« fragte sie rasch mit fliegendem Atem. »Wo ist er?«

»Sie haben doch wohl nicht erwartet, daß er selbst kommt,« sagte der Kapitän ausweichend. »Welche Schuld er auch bei der ganzen Sache tragen mag, die Behandlung von seiten des Onkels war derart, daß sich ein jeder dagegen erhoben hätte. In dem Punkte stehe ich ganz auf seiner Seite und begreife es vollkommen, daß er mit der Absicht ging, nicht zurückzukehren. Ich hätte es auch gethan.«

»Es war ein furchtbarer Auftritt,« versetzte Ella, die hervorbrechenden Thränen niederkämpfend. »Die Eltern erfuhren von andrer Seite, was ich ihnen um jeden Preis verbergen wollte, und Reinhold war entsetzlich in seiner wilden Gereiztheit. Er verließ uns, aber ein Wort hätte er mir in den drei Tagen doch zukommen lassen können, wenigstens durch Sie. Er ist doch bei Ihnen?«

»Nein,« erwiderte Hugo kurz, beinahe herb.

»Nicht?« wiederholte Ella, »er ist nicht bei Ihnen? Ich nahm es als selbstverständlich an, daß er dort sei.«

Der Kapitän sah zu Boden. »Er kam zu mir, und zwar in der Absicht, zu bleiben, aber es stellte sich eine Differenz zwischen uns heraus. Reinhold ist maßlos heftig, wenn ein gewisser Punkt berührt wird; ich konnte und mochte ihm meine Ansichten darüber nicht verhehlen, und wir gerieten zum erstenmal in unsrem Leben ernstlich in Streit. Er verweigerte es daraufhin, mein Gast zu sein; ich habe ihn erst heute mittag wiedergesehen.«

Ella erwiderte nichts. Sie fragte auch nicht, was den Anlaß zum Streite gegeben, fühlte sie doch nur zu gut, daß sie in dem für so leichtsinnig, übermütig und herzlos gehaltenen Schwager den energischsten Schutz ihrer Rechte gehabt hatte.

»Ich habe noch einmal das Aeußerste versucht,« sagte er, »obgleich ich wußte, daß es umsonst sein werde. Aber Sie – Ella? Konnten Sie ihn nicht halten?«

»Nein,« entgegnete die junge Frau. »Ich konnte nicht – und ich wollte auch nicht mehr.«

Statt aller Antwort wies Hugo nach dem schlafenden Kinde hinüber; sie schüttelte heftig den Kopf.

»Um seinetwillen habe ich mich überwunden und den Mann, der sich um jeden Preis von mir losreißen wollte, gebeten zu bleiben. Ich wurde zurückgewiesen; er ließ es mich fühlen, welch eine Fessel ich ihm bin, so mag er denn frei werden!«

Hugos Blick ruhte forschend auf ihrem Antlitz, das wieder jenen Ausdruck von Energie zeigte, der diesen Zügen einst so fremd gewesen war; langsam zog er ein Billet hervor.

»Wenn Sie denn vorbereitet sind – ich habe Ihnen einige Zeilen von Reinhold zu bringen. Er übergab sie mir vor einigen Stunden.«

Die junge Frau fuhr zusammen. Die eben noch gezeigte Festigkeit wollte nicht standhalten, als sie auf dem Couvert die Handschrift ihres Gatten erblickte, nur seine Handschrift, wo sie sich mit Todesangst an die Hoffnung geklammert, er werde selbst kommen, und wäre es auch nur, um Abschied zu nehmen. Mit bebender Hand nahm sie den Brief und erbrach ihn; er enthielt nur wenige Zeilen:

»Du bist Zeugin des Auftrittes zwischen Deinem Vater und mir gewesen und wirst es daher begreifen, daß ich sein Haus nicht wieder betrete. An meinem Entschlusse ändert jene Szene nichts; sie beschleunigt nur meine Abreise, denn die Taktlosigkeit Deiner Eltern hat der Sache eine Oeffentlichkeit gegeben, die es mir nicht wünschenswert erscheinen läßt, auch nur eine Stunde länger in H. zu bleiben, als unbedingt notwendig ist. Ich kann Dir und dem Kinde nicht persönlich lebewohl sagen; denn ich setze nicht wieder den Fuß über die Schwelle, von der man mich in solcher Weise fortwies. Meine Schuld ist es nicht, wenn die zeitweise Trennung, die ich erzwingen wollte, jetzt zu einer dauernden wird und sich im gewaltsamen Bruche vollzieht. Du warst es, die mir die Bedingung stellte, entweder zu bleiben, oder für immer zu gehen. Nun denn, ich gehe! Vielleicht ist es das beste für uns beide. Lebe wohl!«

Der Kapitän mußte wohl wissen, was der Brief enthielt, denn er stand dicht an Ellas Seite, augenscheinlich bereit, sie zu stützen, wie damals im Theater, aber diesmal verriet die junge Frau keine Schwäche. Sie blickte stumm nieder auf die eisigen Abschiedsworte, mit denen ihr Gatte sich lossagte von Weib und Kind. Mit welcher Hast ergriff er den Vorwand, den die Härte ihres Vaters und ihre eigenen Worte ihm boten, mit welchem Aufatmen schüttelte er die belästigenden Bande ab! Unvorbereitet traf der Schlag freilich nicht mehr. Seit jener letzten Unterredung kannte sie ihr Schicksal.

»Er ist bereits abgereist?« fragte sie, ohne das Auge von dem Briefe zu erheben, den sie noch immer in der Hand hielt.

»Vor einer Stunde.«

»Und – mit ihr?«

Hugo schwieg; er hatte kein »Nein« auf diese Frage. Ella erhob sich scheinbar ruhig, aber sie stützte sich doch schwer auf das Bettchen des Knaben.

»Ich wußte es. Und jetzt – lassen Sie mich allein! Ich bitte Sie.«

Der Kapitän zauderte. »Ich kam gleichfalls, um Ihnen lebewohl zu sagen,« entgegnete er. »Meine Abreise war ohnedies bestimmt, und jetzt, nach der Entfernung meines Bruders, hält mich hier nichts mehr. Ich mache keinen Versuch, das erneute Vorurteil des Onkels gegen mich zu brechen, aber von Ihnen, Ella, wollte ich ein Abschiedswort mit hinaus nehmen. Werden Sie es mir verweigern?«

Die junge Frau schlug langsam das Auge empor; es begegnete dem seinigen, und wie einer unwillkürlichen Regung folgend, streckte sie ihm beide Hände hin.

»Ich danke Ihnen, Hugo. Leben Sie wohl!«

Er schloß mit einer raschen Bewegung die Hände in die seinigen. »Ich habe Ihnen immer nur Schmerz bringen können,« sagte er leise. »Von mir kam die erste Nachricht, die Ihren Frieden rettungslos zerstörte; sie kam zu spät, und heute war es wieder meine Hand, die Ihnen die letzte brachte. Aber wenn ich Ihnen wehe that, Ella, wehe thun mußte – bei Gott! leicht ist es mir nicht geworden.«

Seine Lippen ruhten einen Moment lang auf ihrer Hand, dann ließ er sie fallen und verließ rasch das Zimmer; wenige Minuten darauf war er im Freien.

Es war ein rauher, echt nordischer Frühlingsabend. Einförmig plätscherte der Regen nieder; schwer und dicht hing der Nebel in den Straßen; selbst die Flammen der Laternen schimmerten nur rötlich trübe in dem grauen Dunste. In diesem Nebel trug der rollende Bahnzug Reinhold Almbach nach dem Süden, wo ihm Ruhm und Liebe, wo ihm sonnenhell die Zukunft winkte, und in derselben Stunde lag sein junges Weib daheim auf den Knieen, an der Wiege ihres Kindes und drückte das Haupt tief in die Kissen, um den Verzweiflungsschrei zu ersticken, der jetzt, wo sie sich allein wußte, doch endlich hervorbrach. Er war nicht einmal gekommen, ihr lebewohl zu sagen; er hatte nicht ein letztes freundliches Wort für sie, nicht einmal einen Abschiedskuß für sein Kind. Sie waren beide verlassen, aufgegeben – wahrscheinlich schon vergessen.

*

Die flammende Pracht des Sonnenunterganges schien Erde und Himmel in ein Meer von Glut und Verklärung zu tauchen. Das ganze wunderbare Farbenspiel des Südens leuchtete auf am westlichen Horizonte, und die Lichtflut ergoß sich weithin über die Stadt mit ihren Kuppeln, Türmen und Palästen. Es war ein unvergleichliches Panorama, das sich rings um die Villa ausbreitete, die außerhalb der Stadt auf einer Anhöhe lag, weithin sichtbar mit ihren Terrassen und Säulengängen und umgeben von den tiefer gelegenen Gärten, in denen sich die üppigste Fülle südlicher Vegetation entfaltete. Da hoben die ernsten Cypressen ihre dunklen Häupter; da schwankten Pinien im leisen Abendwinde; weiße Marmorstatuen blickten aus Lorbeer- und Myrtengebüschen hervor; der Strahl der Fontänen rauschte und sprühte nieder auf den Rasenteppich, und Tausende von Blumenkelchen sandten ihren berauschend süßen Duft empor. Ueberall Schönheit und Kunst, Duft und Blüten, Licht und Farbenglanz.

Auf der Terrasse und in den angrenzenden Partien des Parkes befand sich eine zahlreiche Gesellschaft, die den Genuß des herrlichen Abends und die wundervolle Aussicht hier draußen dem Aufenthalte in den Sälen drinnen vorziehen mochte. Sie schien in ihrer überwiegenden Mehrheit der Aristokratie anzugehören, doch sah man auch manche Gestalt darunter, die unzweifelhaft den Künstler verriet, und hie und da erschien das dunkle Gewand eines Geistlichen neben den hellen Toiletten der Damen oder den glänzenden Uniformen. Die verschiedensten Elemente schienen sich hier zu vereinigen. Man promenierte, plauderte, und saß oder stand in zwanglosen Gruppen beisammen.

In einer dieser Gruppen, die sich am Fuße der Terrasse, dicht neben der großen Fontäne zusammengezogen hatte, wurde die Unterhaltung mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit geführt; es mußte sich wohl um einen Gegenstand von allgemeinerem Interesse handeln. Die einzelnen Worte und Namen, die genannt wurden, schienen die Aufmerksamkeit eines der Gäste zu erregen, der, von der Terrasse kommend, gerade an der Gruppe vorüberging. Es war offenbar ein Fremder; das verriet das helle Braun des Haares und der Augen, wie überhaupt das ganze Gesicht, das, obwohl gebräunt von Luft und Sonne, dennoch nicht das dunkle Kolorit des Südländers zeigte. Die Kapitänsuniform kleidete die kräftig männliche Gestalt äußerst vorteilhaft, und Haltung und Bewegungen vereinigten sehr glücklich das freie, etwas ungebundene Wesen des Seemannes mit den Formen der guten Gesellschaft. Er blieb in der Nähe der lebhaft debattierenden Herren stehen und folgte deren Gespräch mit offenbarer Teilnahme.

»Diese neue Oper ist und bleibt aber doch nun einmal das Hauptereignis der Saison,« sagte ein Offizier in der Uniform der Bersaglieri, »und da begreife ich nicht, wie man sie so ohne weiteres verschieben kann. Die Aufführung ist bereits festgesetzt; die Proben haben begonnen; die sämtlichen Vorbereitungen sind fast beendigt, da auf einmal wird das alles unterbrochen und die ganze Aufführung bis zum Herbste verschoben – alles ohne irgend einen ersichtlichen Grund.«

»Der Grund liegt einzig in dem souveränen Belieben des Signor Rinaldo,« entgegnete ein andrer Herr in etwas hämischem Tone. »Er ist es nun einmal gewohnt, Oper und Publikum ganz nach Laune und Willkür zu behandeln.«

»Ich fürchte, Sie irren, Signor Gianelli,« fiel ein junger Mann von vornehmem Aeußern ein wenig erregt ein. »Wenn Rinaldo selbst den Aufschub forderte, so wird man ihm wohl Anlaß dazu gegeben haben.«

»Um Vergebung, Signor Marchese, das that man nicht,« versetzte jener. »Ich, als Kapellmeister der großen Oper, weiß am besten, welch eine unendliche Mühe und welche immensen Opfer an Zeit und Geld es gekostet hat, um den Wünschen Rinaldos zu entsprechen. Er brachte mit seinen Anforderungen und Bedingungen die ganze Theaterwelt in Verwirrung; denn er verlangte Aenderungen im Personale, wie sie noch nicht dagewesen sind, und dergleichen mehr. Es wurde ihm, wie gewöhnlich, in allem nachgegeben, und man glaubte nun endlich seines hohen Beifalls sicher zu sein, aber jetzt, wo er aus M. eintrifft, findet er alles noch tief unter seiner Erwartung, befiehlt Abänderungen und diktiert Neuerungen in der rücksichtslosesten Weise. Es war vergebens, daß man den Versuch machte, ihn durch Signora Biancona umzustimmen; er drohte die ganze Oper zurückzuziehen, und« – hier zuckte der Maestro spöttisch die Achseln – »die Verantwortung für ein solches Unglück wollten Exzellenza, der Intendant, denn doch nicht auf sich nehmen. Er versprach alles, gewährte alles, und da es schlechterdings nicht möglich war, die diktatorisch geforderten Aenderungen in der kurzen Zeit auszuführen, selbst auf den Herrscherbefehl Signor Rinaldos nicht, so muß die Aufführung bis zur nächsten Saison verschoben werden.«

»Der Intendant hat in diesem Falle ganz recht gethan, dem Wunsche oder meinetwegen der Laune des Komponisten nachzugeben,« sagte der junge Marchese bestimmt. »Die Gesellschaft hätte es ihm nie verziehen, wenn eine übel angebrachte Konsequenz sie einer Oper Rinaldos beraubt hätte. Man weiß, daß dieser imstande ist, seine Drohung auszuführen und sein Werk in der That zurückzuziehen, und einer solchen Alternative gegenüber blieb eben nichts weiter übrig, als unbedingtes Nachgeben.«

»Freilich! Mein Widerspruch gilt nur dieser Art von Terrorismus, den sich ein fremder Künstler hier im Herzen Italiens erlaubt, indem er die Einheimischen zwingt, sich seiner speziell deutschen Auffassung der Musik zu fügen.«

»Besonders wenn diese Einheimischen schon zweimal mit einer Oper Fiasko gemacht haben, während jede neue Schöpfung Rinaldos vom stürmischen Beifall des Publikums getragen wird,« flüsterte der Marchese seinem Nachbar zu.

Dieser, ein Engländer, sah äußerst gelangweilt aus. Er war des Italienischen nur teilweise mächtig, und die rasch und lebhaft geführte Unterhaltung blieb ihm daher größtenteils unverständlich. Nichtsdestoweniger beantwortete er die leise und verächtliche Bemerkung seines jugendlichen Nachbars mit einem würdevollen Kopfnicken und sah sich daraufhin aufmerksam den Maestro an, als sei ihm dieser auf einmal eine Merkwürdigkeit geworden.

»Wir sprechen von der neuen Oper Rinaldos,« wandte sich der Offizier artig erklärend an den Fremden, der bisher einen stummen Zuhörer abgegeben hatte, und jetzt in fremdartig klingendem, aber doch geläufigem Italienisch antwortete.

»Ich hörte soeben den Namen. Irgend eine musikalische Größe vermutlich?«

Die Herren blickten den Fragenden in sprachlosem Erstaunen an, nur das Gesicht des Maestro verriet eine unverkennbare Genugthuung darüber, daß es doch wenigstens einen Menschen auf der Welt gab, der diesen Namen nicht kannte.

»Irgend eine?« betonte Marchese Tortoni. »Verzeihung, Signor Capitano, aber Sie sind wohl sehr lange auf der See gewesen und kommen vermutlich aus einer andern Hemisphäre?«

»Direkt von den Südsee-Inseln!« bestätigte der Kapitän, trotz des ironischen Tones der Frage mit einem verbindlichen Lächeln. »Und da man dort leider noch nicht so vertraut ist mit den künstlerischen Erzeugnissen der Neuzeit, wie es im Interesse der Zivilisation wohl zu wünschen wäre, so bitte ich meiner bedauernswerten Unkenntnis zu Hilfe zu kommen.«

»Es handelt sich um den ersten und genialsten unsrer Komponisten,« sagte der Marchese. »Er ist zwar von Geburt ein Deutscher, aber seit Jahren schon gehört er ausschließlich uns an. Er lebt und schafft nur auf italienischem Boden, und wir sind stolz darauf, ihn den Unsern nennen zu dürfen. Uebrigens würde es Ihnen leicht sein, heute abend seine persönliche Bekanntschaft zu machen. Er erscheint jedenfalls.«

»Mit Signora Biancona – selbstverständlich!« fiel der Offizier ein. »Hatten Sie schon Gelegenheit, unsre schöne Primadonna zu hören?«

Der Kapitän machte eine verneinende Bewegung. »Ich bin erst vor einigen Tagen hier angekommen, indessen sah ich sie bereits vor Jahren in meiner Heimat, wo sie damals ihre ersten Lorbeeren einsammelte.«

»Ah, damals war sie ein aufsteigendes Gestirn,« rief der andre. »Freilich, im Norden hat sie ihren Ruhm gegründet; sie kam bereits als gefeierte Künstlerin zu uns zurück. Jetzt aber steht sie unbedingt auf der Höhe ihres Talentes. Sie müssen sie hören und zwar in einer von Rinaldos Opern hören, wenn Sie sie in ihrem vollen Glanze bewundern wollen.«

»Gewiß, denn da flammt ein Feuer in das andre,« bestätigte der junge Marchese. »Jedenfalls werden Sie auch heute schon in der Signora eine blendend schöne Erscheinung finden. Versäumen Sie ja nicht eine Vorstellung und Unterredung mit ihr.«

»Falls dies nämlich dem Signor Rinaldo genehm ist,« mischte sich der Maestro jetzt wieder ein. »Sonst würden Sie ganz vergeblich eine Annäherung versuchen.«

»Hat Rinaldo darüber zu bestimmen?« warf der Kapitän flüchtig hin.

»Nun, wenigstens nimmt er sich das Recht dazu. Er ist so gewöhnt, überall den Herrn und Gebieter herauszukehren, daß er dies auch hier versucht, und leider nicht ohne Erfolg. Ich begreife die Biancona nicht. Eine Künstlerin von ihrer Bedeutung, eine Frau von ihrer Schönheit – und sie läßt sich so gänzlich von einem Manne beherrschen.«

»Aber dieser eine ist Rinaldo,« lachte der Offizier, »und damit ist genug gesagt. Gestehen wir es nur, wir alle können uns nicht mit seinen Erfolgen messen. Dem fliegen ja alle Herzen entgegen, wo er nur erscheint – da ist es am Ende kein Wunder, wenn selbst eine Biancona sich willig dem Zauber beugt, den dieser Mann nun einmal in sich zu tragen scheint.«

»Nun, so willig geschieht es gerade nicht,« meinte Gianelli hämisch. »Signora ist leidenschaftlich im höchsten Grade, aber Rinaldo überbietet sie darin womöglich noch. Es gibt zwischen ihnen mindestens ebenso oft Sturm wie Sonnenschein, und heftige Szenen sind an der Tagesordnung.«

»Dieser Rinaldo scheint ja, wie das Publikum, so auch die gesamte Gesellschaft zu beherrschen,« sagte der Kapitän sich jetzt ausschließlich an den Kapellmeister wendend. »Läßt man sich dergleichen denn von einem einzigen Menschen und noch dazu von einem Fremden gefallen?«

»Weil man eben blind ist und sein will für jedes andre Verdienst,« rief der Maestro mit unterdrückter Heftigkeit. »Wenn die Gesellschaft einmal einen Götzen auf den Thron erhebt, so pflegt sie auch in ihrer Anbetung bis zur Lächerlichkeit zu gehen. Man treibt ja einen förmlichen Kultus mit diesem Rinaldo, da ist es am Ende kein Wunder, wenn sein Hochmut und seine Selbstüberschätzung ins Maßlose geht, und er glaubt, ungestraft alles unter die Füße treten zu dürfen, was ihm nicht unbedingt huldigt.«

Der Kapitän fixierte mit einem eigentümlichen Lächeln den aufgeregten Italiener. »Schade, daß ein solches Talent solche Schattenseiten hat! Aber am Ende ist es mit dem Talente auch nicht so weit her? Modesache – Laune des Publikums – unverdientes Glück – meinen Sie nicht?«

Gianelli hätte wahrscheinlich von Herzen gern bejaht, aber die Gegenwart der andern Herren legte ihm doch einigen Zwang auf.

»Das Publikum pflegt in solchem Falle zu entscheiden,« erwiderte er vorsichtig, »und hier ist es verschwenderisch mit seinen Gunstbezeigungen. Ich meinesteils behaupte – ohne dem Ruhme Rinaldos irgendwie zu nahe treten zu wollen – er könnte jetzt ein Stümperwerk komponieren, man würde es bis in den Himmel erheben, nur weil es von ihm stammt.«

»Sehr wahrscheinlich!« stimmte der Fremde bei. »Und möglicherweise ist die neue Oper bereits ein solches Stümperwerk. Ich bin durchaus Ihrer Meinung und werde gewiß –«

»Ich rate Ihnen, Signor, Ihr Urteil aufzuschieben, bis Sie Rinaldos Werke kennen gelernt haben,« fiel der Marchese im schärfsten Tone ein. »Er hat allerdings den unverzeihlichen Fehler begangen, den Gipfel des Ruhmes wie in einem einzigen Siegeslaufe zu ersteigen, und sich zu einer Größe aufzuschwingen, an die so leicht keiner hinanreicht. Das verzeiht man ihm nun einmal nicht in gewissen Kreisen, und er muß es bei jeder Gelegenheit büßen. Folgen Sie meinem Rate!«

Der Kapitän verbeugte sich leicht. »Mit Vergnügen, und dies um so mehr, als es mein Bruder ist, dem Ihre so beredte Verteidigung gilt, Signor Marchese.«

Diese mit dem liebenswürdigsten Lächeln gegebene Erklärung brachte begreifliche Sensation in der Gruppe hervor. Marchese Tortoni trat erstaunt einen Schritt zurück und maß den Sprechenden von oben bis unten. Der Maestro erbleichte und biß sich auf die Lippen, während der Offizier mühsam das Lachen unterdrückte. Der Engländer dagegen hatte diesmal genug von dem Gespräch verstanden, um zu begreifen, welch einen Streich der fremde Seemann den Italienern gespielt, und dieser Streich schien sein höchstes Wohlgefallen zu erregen. Er lächelte mit dem Ausdrucke außerordentlicher Zufriedenheit und steuerte sofort mit langen Schritten zu dem Kapitän hinüber, an dessen Seite er sich stumm aufpflanzte, ihm damit ein untrügliches Zeichen seiner Sympathie gebend.

»Den Signori scheint nur der Künstlername meines Bruders bekannt zu sein,« fuhr Hugo unbeirrt fort. »Der meinige klang Ihnen wohl zu fremdartig bei der allgemeinen Vorstellung vorhin? Wir haben indessen keinen Grund, unser Verwandtschaftsverhältnis zu verleugnen.«

»Ah, Signor Capitano, ich hörte bereits von Ihrer bevorstehenden Ankunft,« rief jetzt der Marchese, ihm mit unverkennbarer Herzlichkeit die Hand entgegenstreckend. »Aber es war nicht schön, uns mit diesem Inkognito zu necken. Einen wenigstens hat es in bittere Verlegenheit gesetzt, obgleich er die Lehre reichlich verdient hat.«

Hugo sah sich gleichfalls nach dem Maestro um, der es vorgezogen hatte, unbemerkt zu verschwinden. »Ich wollte das Terrain ein wenig rekognoszieren,« entgegnete er lachend, »und das war eben nur möglich, solange mein Inkognito noch andauerte. Es hatte doch bald genug sein Ende erreicht, denn ich erwarte Reinhold jede Minute; er wurde noch in der Stadt zurückgehalten, während ich vorausfuhr. Ah, da ist er ja schon.«

Der Erwartete erschien in der That in diesem Augenblicke oben auf der Terrasse, und der Maestro hätte jetzt aufs neue Gelegenheit gehabt, seinem Aerger über die »bis zur Lächerlichkeit gehende Abgötterei der Gesellschaft« Luft zu machen, denn dieses plötzliche Aufhören aller Gespräche, dieses Interesse, womit sich aller Blicke dem einen Punkte zuwendeten, diese Bewegung, die sich der ganzen Gesellschaft mitteilte, galt einzig Rinaldos Eintritt.

Reinhold selbst war freilich ein andrer geworden in diesen Jahren, ein ganz andrer. Das junge Talent, das einst so ungeduldig gegen die beengenden Schranken und Vorurteile seiner Umgebung ankämpfte, hatte sich zum gefeierten Künstler emporgeschwungen, dessen Name weit über die Grenzen Italiens und seiner Heimat hinausdrang, dessen Werke auf den Bühnen aller Hauptstädte heimisch waren, dem Ruhm und Ehre, Gold und Triumphe in reichster Fülle zuströmten. Dieselbe mächtige Wandlung hatte sich auch an seinem Aeußeren vollzogen, und unvorteilhaft war diese Veränderung keineswegs, denn statt des bleichen, ernsten Jünglings mit dem verschlossenen Wesen und den tiefen, düsteren Augen stand jetzt ein Mann da, dem man es ansah, daß er mit dem Leben und der Welt vertraut war, und erst bei dem Manne kam die stets so eigentümlich anziehende Art seiner Schönheit zur vollsten Geltung. Es stand dieser idealen Stirn gut, dieses stolze Selbstbewußtsein, das jetzt darauf ruhte, und sich auch in den Zügen, in der ganzen Haltung aussprach, aber es lagen auch tiefe Schatten auf dieser Stirn und in diesen Zügen, die wohl nicht das Glück hineingelegt hatte. Von dem Munde zuckte es wie herber Spott, wie höhnische Bitterkeit, und im Auge schlummerte der einstige Funke nicht mehr in der Tiefe; jetzt loderte eine Flamme dort, brennend, verzehrend und fast dämonisch aufzuckend bei jeder Erregung. Was dieses Antlitz auch äußerlich gewonnen haben mochte, Friede sprach nicht daraus.

Er führte Signora Biancona am Arme, nicht mehr die jugendliche Primadonna einer italienischen Operngesellschaft zweiten Ranges, die in den Städten des Nordens Gastvorstellungen gab, sondern eine Größe von europäischem Rufe, die, nachdem sie auf allen bedeutenderen Bühnen Lorbeeren und Triumphe gesammelt, jetzt an der Oper ihrer Heimatstadt die erste Stelle einnahm. Marchese Tortoni hatte recht; sie war auch jetzt noch blendend schön, diese Frau. Das war noch der glutstrahlende Blick, der einst »das ehrsame Patrizierblut der edlen Hansastadt so in Flammen zu setzen verstand«, nur schien er heißer, versengender geworden zu sein. Das war noch das Antlitz mit seinem dämonisch bestrickenden Zauber, die Gestalt mit ihren plastisch edlen Formen, nur erschien alles voller, üppiger. Die Blume hatte sich zu reifster, fast überreicher Pracht entfaltet; noch blühte sie; noch stand ihre Schönheit im Zenith, wenn man sich auch sagen mußte, daß vielleicht beim nächsten Jahreswechsel schon die Grenze überschritten sein werde, mit der sie sich unwiderruflich ihrem Niedergange zuneigte.

Die beiden, besonders Reinhold, wurden sofort nach ihrem Eintritte von allen Seiten in Anspruch genommen. Alles drängte sich um ihn; alles suchte seine Nähe, seine Unterhaltung. In wenig Minuten war er bereits der Mittelpunkt der Gesellschaft geworden, und es dauerte eine geraume Zeit, ehe es ihm gelang, sich all den Aufmerksamkeiten und Schmeicheleien zu entziehen und sich nach seinem Bruder umzusehen, der sich in einiger Entfernung gehalten hatte.

»Da bist du ja endlich, Hugo,« sagte er herantretend. »Ich vermißte dich bereits. Läßt du dich suchen?«

»Es war ja nicht möglich, den dreifachen Bewunderungszirkel zu durchbrechen, der dich wie eine chinesische Mauer umgab,« spottete Hugo. »Ich habe dieses Wagestück gar nicht versucht, sondern erging mich in Betrachtungen darüber, welch ein Glück es doch ist, einen berühmten Bruder zu besitzen.«

»Ja, dieses fortwährende Herandrängen ist wirklich ermüdend,« meinte Reinhold mit einer Miene, die nichts von befriedigtem Triumphe hatte, dagegen eine unverkennbare Abspannung verriet.

»Aber jetzt komm! Ich werde dich Beatricen vorstellen.«

»Beatricen? – Ah so, Signora Vampyr! Muß das sein, Reinhold?«

Der Blick des Bruders verfinsterte sich. »Allerdings muß es sein. Du wirst nicht umhin können, ihr in meiner Begleitung oft und viel zu nahen. Sie ist schon, und mit Recht, befremdet darüber, daß es nicht bereits geschehen ist. Was hast du denn, Hugo? Du scheinst ja dieser Vorstellung förmlich ausweichen zu wollen, und doch kennst du Beatricen nicht einmal.«

»Doch,« entgegnete der Kapitän kurz. »Ich habe sie bereits in H. im Konzerte und auf der Bühne gesehen.«

»Aber niemals gesprochen. Eigentümlich, daß man dich beinahe zu dem zwingen muß, was jeder andre als einen Vorzug betrachten würde! Du bist doch sonst stets der erste, wenn es die Bekanntschaft einer schönen Frau gilt.«

Hugo erwiderte nichts, aber er folgte ihm ohne ferneren Einwand. Signora Biancona war, wie gewöhnlich, von einem Kreise von Herren umgeben und in lebhaftester Unterhaltung begriffen, aber sie brach diese sofort ab, als die beiden erschienen. Reinhold stellte ihr seinen Bruder vor. Beatrice wandte sich mit der ganzen Liebenswürdigkeit an den letzteren.

»Wissen Sie, Signor Capitano, daß ich Ihnen bereits gezürnt habe, ohne Sie zu kennen?« begann sie. »Rinaldo war nicht zu halten, als er die Nachricht von Ihrer Ankunft empfing. Er ließ mich höchst ungalanterweise in M. zurück, um Ihnen entgegenzueilen. Ich mußte die Rückreise hieher allein antreten.«

Hugo verbeugte sich artig, aber doch fremder, als er es sonst wohl vor einer Dame that, und er schien es auch nicht zu bemerken, daß die schöne Hand Beatricens sich dem Bruder Rinaldos vertraulich entgegenstreckte, wenigstens widerstand er vollständig der Versuchung des Handkusses, der wohl erwartet wurde.

»Ich bin sehr unglücklich, Signora, Ihren Unwillen erregt zu haben. Wer aber so ausschließlich wie Sie über Reinholds Nähe und Gegenwart verfügt, sollte doch Großmut genug besitzen, ihn einmal auch für kurze Zeit dem Bruder abzutreten.«

Er sah sich nach Reinhold um, aber dieser wurde bereits wieder in Anspruch genommen.

»Ich fügte mich ja auch,« sagte Beatrice noch immer mit bezaubernder Freundlichkeit, »oder vielmehr, ich füge mich noch jetzt, denn seit der Zeit Ihres Hierseins habe ich Rinaldo wenig genug gesehen. Es wird wohl kein andres Auskunftsmittel übrigbleiben, als daß ich Sie bitte, ihn zu begleiten, wenn er bei mir erscheint.«

Hugo machte eine etwas gemessene Bewegung des Dankes. »Sie sind sehr gütig, Signora. Ich ergreife gewiß mit Freuden die Gelegenheit, die so hochgefeierte Muse meines Bruders näher kennen zu lernen.«

Signora Biancona lächelte. »Hat er mich Ihnen so genannt? Freilich, der Name ist unsrem Freundeskreise nicht fremd. Rinaldo gab ihn mir einst, damals, als ich seine ersten Schritte auf der Künstlerbahn leitete. Eine etwas romantische Bezeichnung, zumal für deutsche Anschauungen, nicht wahr, Signor? Sie kennen dergleichen schwerlich in Ihrem Norden.«

»Bisweilen doch,« sagte der Kapitän ruhig, »nur mit einem unbedeutenden Unterschiede. Bei uns pflegen die Musen Ideale zu sein, die in unerreichbarer Höhe schweben. Hier sind es – schöne Frauen. Ein ganz unleugbarer Vorteil für den Künstler.«

Die Worte klangen wie ein Kompliment und hielten genau den scherzenden Ton fest, den Beatrice selbst angeschlagen; dennoch streifte sie mit einem raschen, forschenden Blicke das Antlitz des Sprechenden; vielleicht sah sie den aufblitzenden Spott darin, denn sie erwiderte mit einiger Schärfe:

»Ich meinesteils bekenne, gar keine Sympathie für den Norden zu besitzen. Nur gezwungen habe ich einige Zeit dort verlebt, und ich atmete erst wieder auf, als der Himmel Italiens sich über mir wölbte. Wir Südländer vermögen es nun einmal nicht, uns in die eisig pedantischen Regeln zu zwängen, die dort die Gesellschaft einengen, in die Fesseln, die man auch den Künstlern auferlegen möchte.«

Hugo lehnte sich mit vollendeter Gleichgültigkeit an die Marmorbalustrade. »Mein Gott, das ist doch von keiner Bedeutung; man sprengt sie einfach und ist dann frei wie der Vogel in der Luft. Reinhold hat das ja hinreichend bewiesen, und jetzt hat er die Heimat und ihre pedantischen Regeln ein für allemal abgeschworen, was doch wohl ausschließlich Ihr Verdienst ist, Signora.«

Beatrice gebrauchte heftig den Fächer, obgleich gerade in diesem Augenblicke der Abendwind erfrischend kühl herüberwehte.

»Wie meinen Sie das, Signor?« fragte sie rasch.

»Ich? O, ich meine gar nichts, ausgenommen etwa, daß es doch ein erhebendes Gefühl sein muß, so das ganze Schicksal eines Menschen – oder auch einer Familie – in Händen zu halten, wenn man jemand seinen ›Fesseln‹ entreißt. Man muß in einem solchen Falle durchaus etwas von einer irdischen Vorsehung in sich spüren. Nicht, Signora?«

Beatrice war leicht zusammengezuckt bei den Worten, ob vor Ueberraschung oder Zorn, das ließ sich schwer entscheiden. Ihre Augen begegneten den seinigen; aber diesmal maßen sie einander, wie zwei Gegner sich messen. Der Blick der Italienerin sprühte, doch der Kapitän hielt ihn so fest und ruhig aus, daß sie wohl fühlte, es sei kein allzu leichtes Spiel diesen klaren braunen Augen gegenüber, die ihr so keck die Spitze zu bieten wagten.

»Ich glaube, Rinaldo hat allen Grund, dieser Vorsehung dankbar zu sein,« entgegnete sie stolz. »Er wäre vielleicht untergegangen in Verhältnissen und Umgebungen, die seiner unwürdig waren, hätte sie seinen Genius nicht wachgerufen und ihm die Bahn zur Größe gewiesen.«

»Vielleicht,« sagte Hugo kühl. »Man behauptet zwar, ein wahrer Genius ginge nie zu Grunde, und je schwerer er sich durchringen müsse, desto mehr stähle sich seine Kraft; indessen das ist jedenfalls auch eine von den nordisch-pedantischen Anschauungen. Der Erfolg hat für Ihre Ansicht entschieden, Signora, und der Erfolg ist ja ein Gott, dem sich alles beugt.«

Er verneigte sich und trat zurück. Er hatte das alles im leichtesten Konversationstone, scheinbar ganz absichtslos hingeworfen, aber Signora Biancona mußte doch wohl die Bitterkeit empfunden haben, die in den Worten des Kapitäns lag; denn sie preßte die Lippen zusammen wie in tiefster innerster Gereiztheit, und der Fächer geriet in eine stürmische Bewegung.

Hugo hatte inzwischen seinen Bruder aufgesucht, den er im Gespräch mit dem Marchese Tortoni fand; die beiden standen ein wenig abseits von der übrigen Gesellschaft.

»Nein, nein, Cesario!« sagte Reinhold soeben abwehrend. »Ich bin ja vor kurzem erst aus M. zurückgekehrt und kann unmöglich daran denken, jetzt schon wieder die Stadt zu verlassen. Vielleicht später –«

»Aber die Oper ist ja verschoben worden,« fiel der junge Marchese im Tone der Bitte ein, »und die Hitze beginnt sich schon fühlbar zu machen. Sie wählen sicher in einigen Wochen irgend eine Villeggiatur – Kommen Sie mir zu Hilfe, Signor Capitano!« wandte er sich an den eben herantretenden Hugo. »Sie beabsichtigen gewiß auch, unsern Süden kennen zu lernen, und dazu bietet sich nirgends besser Gelegenheit, als in meinem Mirando.«

»Kennst du den Marchese bereits?« fragte Reinhold. »Da bedarf es also keiner Vorstellung mehr.«

»Durchaus nicht,« versicherte Hugo übermütig. »Ich habe mich bereits persönlich bei den Herren eingeführt, gerade als sie über dich zu Gericht saßen, und ich machte mir dabei als unbekannter Zuhörer das harmlose Vergnügen, sie durch eingestreute Bemerkungen zu Angriffen gegen dich zu reizen. Leider gelang das nur bei einem einzigen, Marchese Tortoni dagegen nahm leidenschaftlich deine Partei, ich mußte seine volle Ungnade fühlen, weil ich mir erlaubte an deinem Talente zu zweifeln.«

Reinhold schüttelte den Kopf. »Hat er Ihnen auch schon wieder einen seiner Streiche gespielt, Cesario? Nimm dich in acht, Hugo, mit deinen Neckereien! Wir stehen hier auf italienischem Boden; da pflegt man dergleichen nicht so harmlos aufzunehmen wie in unsrer Heimat.«

»Nun, in diesem Falle bedurfte es nur des Namens, um uns zu versöhnen,« sagte der Marchese lächelnd. »Aber damit verlieren wir ja ganz den Faden des Gesprächs,« fuhr er ungeduldig fort. »Ich habe noch immer keine Antwort auf meine Bitte. Ich rechne bestimmt auf Ihren Besuch, Rinaldo, selbstverständlich auch auf den Ihrigen, Signor.«

»Ich bin der Gast meines Bruders,« erklärte Hugo, an den die letzten Worte gerichtet waren. »Eine solche Bestimmung hängt wohl von ihm ab und – von Signora Biancona.«

»Von Beatrice? Wieso?« fragte Reinhold rasch.

»Nun, sie ist bereits ungehalten darüber, daß meine Gegenwart dich ihr so oft entzieht. Es ist sehr die Frage, ob sie dich auf längere Zeit freigeben will, wie Marchese Tortoni es zu wünschen scheint.«

»Meinst du, ich ließe mich so gänzlich von ihren Launen beherrschen?« In Reinholds Ton verriet sich eine auflodernde Empfindlichkeit. »Ich werde dir wohl beweisen müssen, daß ich noch einen Entschluß ohne ihre Genehmigung fassen kann. Wir kommen, Cesario. Im nächsten Monate schon, ich verspreche es Ihnen.«

Ein Ausdruck heller Freude überflog das Gesicht des jungen Mannes bei dieser rasch und heftig gegebenen Zusage; er wandte sich verbindlich zu dem Kapitän.

»Rinaldo kennt mein Mirando hinreichend und hat es stets bevorzugt; ich hoffe auch Ihnen, Signor, den Aufenthalt angenehm machen zu können. Die Villa liegt sehr schön, dicht am Meeresstrande –«

»Und einsam,« sagte Reinhold mit einem eigentümlichen Gemisch von Schwermut und Sehnsucht. »Man kann da einmal wieder aufatmen, wenn man nahe daran ist, zu ersticken in der Salonatmosphäre. – Die Gesellschaft geht zu Tisch,« sagte er, dem Gespräch eine andre Wendung gebend, mit einem Blicke nach der Terrasse hinauf. – »Wir werden uns wohl den übrigen anschließen müssen. Willst du Beatrice zur Tafel führen, Hugo?«

»Ich danke,« lehnte der Kapitän kühl ab. »Das ist doch wohl dein ausschließliches Recht. Ich möchte es dir nicht streitig machen.«

»Deine Unterhaltung mit ihr war ja auffallend kurz, soviel ich bemerken konnte,« warf Reinhold hin, während sie zusammen die Treppe zur Terrasse emporstiegen. »Was gab es denn zwischen euch?«

»Nichts von Bedeutung. Ein kleines Vorpostengefecht, weiter nichts. Signora und ich haben gleich von vornherein Stellung zu einander genommen. Du hast doch hoffentlich nichts dagegen?«

Er erhielt keine Antwort; denn das Seidenkleid Signora Bianconas rauschte bereits dicht neben ihnen, und in der nächsten Minute stand sie zwischen den Brüdern. Der Kapitän verbeugte sich mit vollendeter Ritterlichkeit vor der schönen Frau. Es wäre in der That unmöglich gewesen, an der Art seines Grußes auch nur das Geringste auszusetzen, und Beatrice neigte auch dankend das Haupt, aber der Blick, der dabei auf ihn niedersprühte, bewies hinreichend, daß auch sie bereits Stellung genommen hatte. In ihrem Auge flammte der ganze Haß der gereizten Südländerin, freilich nur einen Moment lang; im nächsten schon wendete sie sich um und legte ihren Arm in den Reinholds, um sich von ihm in den Saal führen zu lassen.

»Mir scheint, das war nicht mehr und nicht weniger als eine Kriegserklärung,« murmelte Hugo, indem er sich den beiden anschloß. »Wortlos, aber hinreichend verständlich. Die Feindseligkeiten sind also eröffnet – zu Befehl, Signora.«

*

Marchese Tortoni hatte nicht so unrecht mit seiner Bemerkung; die Hitze begann sich trotz der frühen Jahreszeit schon sehr fühlbar zu machen. Zwar war die Saison noch nicht zu Ende, aber schon vertauschte manche Familie den Aufenthalt in der Stadt mit der gewohnten Villeggiatur im Gebirge oder am Meeresstrande, und die übrige Gesellschaft stand gleichfalls auf dem Punkte, sich früher als gewöhnlich nach allen Himmelsrichtungen zu zerstreuen, bis der Herbst sie wieder zusammenführte.

In der Wohnung Signora Bianconas hatte man noch keine Anstalten getroffen, die auf eine baldige Abreise schließen ließen, und doch schien von einer solchen die Rede gewesen zu sein in dem Gespräche, das soeben zwischen ihr und Reinhold Almbach stattgefunden hatte. Die beiden waren allein in dem glänzend und prachtvoll eingerichteten Salon der Sängerin; aber das schöne Antlitz Beatricens trug den Ausdruck einer unverkennbaren Aufregung. In die Kissen des Diwans gelehnt, die Lippen zornig zusammengepreßt, zerpflückte sie achtlos eines der schönen Bouquets, die in reicher Fülle das Empfangszimmer der berühmten Künstlerin schmückten, während Reinhold mit finster umwölkter Stirn und verschränkten Armen im Zimmer auf und nieder ging. Es bedurfte nur eines Blickes, um zu erraten, daß hier eine jener Sturmszenen stattfand, von denen Maestro Gianelli behauptete, daß sie zwischen den beiden ebenso häufig seien wie der Sonnenschein.

»Ich bitte dich, Beatrice, verschone mich jetzt mit ferneren Auftritten!« sagte Reinhold mit vollster Heftigkeit. »Sie ändern nichts mehr an der einmal beschlossenen Sache. Marchese Tortoni hat mein Versprechen, und unsre Abreise nach Mirando ist auf morgen festgesetzt.«

»Nun, so wirst du dieses Versprechen zurücknehmen,« entgegnete Beatrice in gleichem Tone. »Du hast es ohne mein Wissen gegeben, schon vor Wochen gegeben, und doch hatten wir damals schon beschlossen, die diesjährige Villeggiatur im Gebirge zu nehmen.«

»Gewiß! Und ich werde dich auch dort aufsuchen, sobald ich von Mirando zurückkehre.«

»Sobald du zurückkehrst? Als ob Tortoni nicht wie gewöhnlich alles aufbieten würde, dich dort zu fesseln, und wenn du nun vollends in Begleitung deines Bruders gehst, so ist es wohl selbstverständlich, daß du so lange wie nur möglich von mir ferngehalten wirst.«

Reinhold blieb plötzlich stehen, und ein finsterer Blick flog zu ihr hinüber.

»Willst du nicht die Güte haben, dies bis zum Ueberdruß erschöpfte Thema endlich einmal beiseite zu lassen?« fragte er scharf. »Ich weiß bereits hinreichend, daß zwischen dir und Hugo keine Sympathie besteht; aber er verschont mich wenigstens mit Auseinandersetzungen darüber und verlangt nicht, daß ich seine Sympathien und Antipathien teile. Uebrigens wirst du zugeben, daß er dir gegenüber niemals den Kavalier verleugnet.«

Beatrice warf das Bouquet beiseite und erhob sich. »O, gewiß, das gebe ich zu, und eben diese angenommene Ritterlichkeit ist es, die mich so empört. Diese liebenswürdigen Unterhaltungen mit dem ewigen Spottpfeile auf den Lippen, diese Aufmerksamkeit mit dem Hohne tief im Auge, das ist so recht die deutsche Art, unter der ich so oft gelitten habe in eurem Norden, die uns in den Kreis der sogenannten Gesellschaftsregeln bannt, die uns darin festzuhalten weiß, und wenn man noch so erbittert miteinander kämpft. Dein Bruder versteht das meisterhaft; den trifft nichts und verwundet nichts; alles gleitet ab an diesem ewigen Spottlächeln. Ich – ich hasse ihn und er mich nicht minder.«

»Schwerlich!« sagte Reinhold bitter. »Denn im Hassen bist du eine Meisterin, die so leicht keiner erreicht. Ich habe das oft genug gesehen, wenn du dich von irgend jemand beleidigt glaubtest. Das flutet bei dir gleich über alle Schranken. Diesmal aber wirst du dich erinnern, daß es mein Bruder ist, gegen den sich dieser Haß richtet, und daß ich nicht gesonnen bin, mir das erste kurze Zusammensein nach Jahren dadurch rauben zu lassen. Ich dulde keine Beleidigung und keinen Angriff gegen Hugo.«

»Weil du ihn mehr liebst als mich,« rief Beatrice ungestüm, »weil ich dir nichts gelte neben deinem Bruder. Freilich, was bin ich dir auch –« Und jetzt war die Bahn gebrochen zu einer wahren Flut von Vorwürfen, Klagen und Drohungen, die schließlich in einem Thränenstrom endigten. Die ganze Leidenschaft der Italienerin brach hervor; aber Reinhold schien dadurch zu nichts weniger als zur Nachgiebigkeit gestimmt zu werden. Er versuchte einigemal Einhalt zu thun, und als dies nicht gelang, stampfte er wütend mit dem Fuße.

»Noch einmal, Beatrice, laß diese Auftritte! Du weißt, daß du damit nichts bei mir ausrichtest, und ich dächte, du hättest nun schon hinreichend die Erfahrung gemacht, daß ich nicht ein willenloser Sklave bin, dem ein Wort, eine Laune von dir Befehl ist. Ich ertrage sie nicht länger, diese ewigen Szenen, die du bei all und jedem Anlasse hervorrufst.«

Er trat stürmisch zum Balkon und, dem Gemache den Rücken zukehrend, blickte er hinab auf die Straße, wo sich das rege Leben und Treiben des Korso entfaltete. Im Salon hörte man noch einige Minuten lang das leidenschaftliche Schluchzen Beatricens, aber dann verstummte es, und gleich darauf legte sich eine Hand auf die Schulter des am Fenster Stehenden.

»Rinaldo!«

Halb widerstrebend wandte er sich um. Sein Blick begegnete Beatricens heißem, dunklem Auge; noch stand eine Thräne darin, aber es war keine Thräne des Zornes mehr, und die eben noch so erregte Stimme hatte einen weichen schmelzenden Klang.

»Du sagst, ich sei eine Meisterin im Hassen. Nur im Hassen, Rinaldo? Du hast doch oft genug das Gegenteil erfahren.«

Reinhold wandte sich vollends zu ihr und trat vom Balkon zurück.

»Ich weiß, daß du lieben kannst,« entgegnete er milder, »heiß und voll lieben. Aber du kannst auch quälen mit dieser Liebe; das muß ich täglich empfinden.«

»Und dieser ›Qual‹ möchtest du entfliehen, wenigstens auf einige Zeit?«

Aus ihrer Stimme sprach ein herber Vorwurf. Almbach machte eine ungeduldige Bewegung.

»Ich suche Ruhe, Beatrice,« sagte er, »und die finde ich nun einmal nicht in deiner Nähe. Du kannst nur in fortwährender Glut und Aufregung atmen; beides ist dir Lebensbedingung, und du reißest deine ganze Umgebung mit dir in den ewig lodernden Feuerkreis deines Wesens. Ich – bin müde.«

»Der Gesellschaft, oder meiner?« fragte Beatrice wieder mit aufblitzender Heftigkeit.

»Kannst du es denn nicht lassen, in jedem Worte einen Stachel zu suchen?« fuhr Reinhold auf. »Ich sehe, daß wir heute wieder einander nicht verstehen. Leb wohl!«

»Du gehst?« rief die Italienerin halb erschreckt, halb drohend. »Und mit diesem Abschiede für eine wochenlange Trennung?«

Reinhold, der schon an der Thür war, besann sich und kehrte langsam um.

»Ja so, ich vergaß die Abreise. Leb wohl, Beatrice!«

Aber so leicht sollte ihm der Abschied nicht gemacht werden. Signora Biancona hatte es längst verlernt, dem Manne dauernd zu trotzen, der es nun einmal verstand, ihren sonst so launenhaften Willen dem seinigen zu beugen, und als er sich ihr wieder näherte, da war es vorbei mit jedem ferneren Widerstande. Ihre Stimme bebte, als sie leise fragte: »Und du willst wirklich allein gehen, ohne mich?«

»Beatrice –«

»Allein, ohne mich?« wiederholte sie leidenschaftlicher. Reinhold machte einen Versuch, ihr seine Hand zu entziehen, aber es blieb bei dem Versuche.

»Cesario erwartet mich aufs bestimmteste,« sagte er abwehrend, »und ich habe dir schon einmal erklärt, daß du mich nicht begleiten kannst –«

»Nach Mirando nicht,« fiel Beatrice ein, »das weiß ich. Aber was hindert mich denn, den ursprünglichen Plan zu ändern und den ersten Sommeraufenthalt anstatt im Gebirge, jetzt in S., der großen Villeggiatur aller Fremden, zu nehmen? Es liegt nahe genug bei Mirando, in einer halben Stunde trägt dich das Boot zu mir herüber. Wenn ich dir folgte – darf ich, Rinaldo?«

Er war unwiderstehlich, dieser Ton schmeichelnder Bitte, und noch unwiderstehlicher bat ihr Blick. Reinhold sah schweigend nieder auf die schöne Frau, deren Liebe, deren Besitz ihm einst als der höchste Preis des Glückes erschien. Der Zauber übte noch immer seine alte Macht und übte sie gerade dann am stärksten, wenn er den Versuch machte, ihm zu entrinnen. In Worten ward die Gewährung freilich nicht gegeben, aber Beatrice sah es, als er sich zu ihr niederbeugte, daß sie diesmal gesiegt hatte. Als er sie eine halbe Stunde darauf wirklich verließ, war die Aenderung in ihrem Reiseplane eine beschlossene Sache, und der Abschied galt nicht einer Trennung von Wochen, sondern nur von Tagen.

Es dämmerte bereits und der Mond stieg langsam empor, als Reinhold seine eigene Wohnung erreichte, die in einiger Entfernung im freieren Teile der Stadt lag. Beim Eintritt in das Empfangszimmer fand er dort den Kapitän, der seinem Diener soeben eine nachdrückliche Strafpredigt gehalten zu haben schien, denn Jonas stand vor ihm mit der Miene äußerster Zerknirschung, die sich in komischer Weise mit einem verhaltenen Ingrimm mischte, dem Worte zu leihen ihn wohl nur die Gegenwart seines Herrn abhielt.

»Was gibt es denn?« fragte Reinhold etwas befremdet.

»Eine Inquisitionssitzung,« entgegnete Hugo ärgerlich. »Seit Jahren schon mühe ich mich vergebens ab mit diesem verstockten Sünder und unverbesserlichen Weiberfeind, aber da hilft weder Lehre noch Beispiel. – Jonas, du gehst jetzt augenblicklich hinauf zur Padrona, bittest um Verzeihung und versprichst künftig manierlicher zu sein. Marsch hinaus!«

»Ich werde ihn schließlich noch nach der Ellida zurückschicken müssen,« fuhr er zu seinem Bruder gewandt fort, nachdem Jonas das Zimmer verlassen hatte. »Da ist die Schiffskatze das einzige weibliche Wesen, das er um sich hat, mit dem wird er hoffentlich noch auskommen.«

Reinhold warf sich in einen Sessel. »Ich wollte, ich hätte deinen unverwüstlichen Humor, deine glückliche Gabe, das Leben leicht wie ein Spiel zu nehmen. Ich habe das nie vermocht.«

»Nein, der Grundton deines Wesens war immer elegisch,« meinte der Kapitän. »Ich glaube, du hast mich nie recht als ebenbürtig betrachtet, weil ich nicht so idealromantisch alle Höhen erfliegen und alle Tiefen durchdringen konnte und mochte, wie ihr Künstlernaturen. Wir Seeleute sind nun einmal auf die Oberfläche angewiesen, und wenn auch hin und wieder der Sturm die Tiefe aufwühlt, uns macht das nichts; wir bleiben eben oben.«

»Ganz recht,« sagte Reinhold düster. »Bleibe du auf deiner hellen sonnigen Oberfläche! Glaube mir, Hugo, es ist nur Schlamm in der Tiefe da unten, wo man nach Schätzen suchte, und es weht ein Eishauch auf den Höhen da oben, wo man nur goldenes Sonnenlicht geträumt, ich habe beides durchgekostet.«

Hugo blickte forschend auf seinen Bruder, der in dem Sessel mehr lag als saß, das Haupt todmüde zurückgelehnt, während die düsteren Augen weit hinaus schweiften über die Gärten der Umgebung und zuletzt an dem noch matt erhellten Horizonte haften blieben, wo soeben das letzte Tageslicht verschwand.

»Höre, Reinhold, du gefällst mir ganz und gar nicht,« brach er auf einmal los. »Ich komme nach Jahren, um meinen Bruder wiederzusehen, dessen Name alle Welt erfüllt, dem das Schicksal alles gegeben, was es einem Menschen nur geben kann; ich finde dich auf der Höhe des Ruhmes und Glückes – und da glaubte ich dich anders zu finden.«

»Und wie denn?« fragte Reinhold, ohne den Kopf zu heben und das Auge von dem dämmernden Abendhimmel abzuwenden.

»Ich weiß nicht,« sagte der Kapitän ernst, »aber das weiß ich, daß ich schon nach vierzehn Tagen dieses Leben nicht mehr aushalte, das du jahrelang geführt hast. Dieses ruhelose Stürmen von Genuß zu Genuß ohne irgend eine Befriedigung, dieses fortwährende Schwanken zwischen wilder Aufregung und tödlicher Ermattung sagt meiner Natur nicht zu. Du solltest der deinigen Zügel anlegen.«

Reinhold machte eine halb ungeduldige Bewegung. »Thorheit! Ich bin längst daran gewöhnt, und dann – das verstehst du nicht, Hugo.«

»Möglich! Wenigstens bedarf ich noch keiner Betäubung

Reinhold fuhr auf; ein Blick flammenden Zornes traf den Bruder, der es versuchte, ihm so tief ins Innere zu sehen, und der ganz unbeirrt fortfuhr:

»Denn nur Betäubung ist es, nach der du Tag für Tag ringst, die du überall suchst, ohne sie je zu finden. Gib dieses Leben auf – ich bitte dich. Du richtest dich damit geistig und körperlich zu Grunde; du mußt ja schließlich unterliegen.«

»Seit wann ist der lebensfrohe Kapitän der Ellida denn zum Moralprediger geworden?« spottete Reinhold mit dem herbsten Nachdrucke, der ihm zu Gebote stand. »Wer hätte vor Zeiten gedacht, daß du mir in dieser Weise den Text lesen würdest! Aber gib dir keine Mühe mit meiner Bekehrung, Hugo! Ich habe die frommen Jugendideen ein für allemal abgeschworen.«

Der Kapitän schwieg. Das war wieder der Ton verletzenden Hohnes, mit dem sich Reinhold unnahbar zu machen wußte, sobald ähnliche Gegenstände berührt wurden; dieser Ton, der jeden Einfluß unmöglich machte, in jede Jugenderinnerung wie ein Mißlaut hineinklang und das einst so warme Verhältnis der Brüder fremd und erkältend berührte. Hugo versuchte auch heute nicht, das zu ändern; er wußte, daß es vergebens sein würde. Sich abwendend ergriff er ein auf dem Tische liegendes Buch und begann darin zu blättern.

»Ich habe ja noch kein einziges Wort von dir über meine Werke gehört,« begann Reinhold nach einem minutenlangen Stillschweigen von neuem. »Du hast ja hier Gelegenheit gehabt, meine Opern kennen zu lernen. Wie findest du sie?«

»Ich bin kein Musikkenner,« sagte Hugo ausweichend.

»Das weiß ich, und ebendeshalb lege ich Wert auf dein Urteil, weil es das des unbefangenen, aber scharfblickenden Publikums ist. Wie findest du meine Musik?«

Der Kapitän warf das Buch auf den Tisch.

»Sie ist genial und –« Er hielt inne.

»Und?«

»Zügellos wie du selber. Du und deine Töne, ihr geht über jedes Maß hinaus.«

»Eine vernichtende Kritik,« sagte Reinhold halb spöttisch, halb betroffen. »Gut, daß nur ich sie höre; im Kreise meiner Bewunderer würdest du übel damit ankommen. Also etwas Genialität gestehst du mir doch wirklich noch zu?«

»Wo du selbst sprichst, ja!« erklärte Hugo mit voller Bestimmtheit, »aber das geschieht selten genug. Stets überwuchert dieses fremde Element, das deinem Talente die Richtung gegeben hat und es noch jetzt beherrscht. Ich kann mir nicht helfen, Reinhold, aber dieser Einfluß, dem du von Anfang an gefolgt bist, den alle Welt als so erhebend preist, er ist kein heilbringender gewesen, auch für den Künstler nicht. Ohne ihn wärst du vielleicht noch nicht so berühmt, aber unbedingt größer.«

»Wahrhaftig, Beatrice hat recht, wenn sie in dir den unversöhnlichen Gegner fürchtet,« bemerkte Reinhold mit unverstellter Bitterkeit. »Freilich, sie setzt nur ein persönliches Vorurteil bei dir voraus. Daß du nicht einmal ihren künstlerischen Einfluß auf mich gelten lassen willst, das möchte ihr doch neu sein.«

Hugo zuckte die Achseln. »Sie hatte dich ganz und gar in die italienische Art hineingezogen. Du stürmst freilich, wo die andern nur tändeln, aber gleichviel! Warum schreibst du nicht deutsche Musik? Doch was rede ich? Du hast ja der Heimat und all ihren Beziehungen für immer den Rücken gekehrt.«

Reinhold stützte den Kopf in die Hand. »Jawohl – für immer.«

»Das klang ja beinahe wie Sehnsucht,« warf der Kapitän hin, das Gesicht des Bruders scharf fixierend. Dieser sah finster auf.

»Was soll das? Denkst du vielleicht, ich sehnte mich zurück nach den alten Ketten, weil ich in der Freiheit nicht das erträumte Glück gefunden? Wenn ich eine Annäherung versuchte, so –«

»Ah so, du hast eine Annäherung versucht? An deine Frau?«

»An Ella?« fragte Reinhold, und es war wieder das alte Gemisch von Mitleid und Verachtung, das sich in seiner Stirn verriet, sobald er von seiner Gattin sprach, »wozu hätte das wohl führen sollen? Du weißt doch, wie ich damals gegangen bin; es geschah im vollsten Bruche mit ihren Eltern, und da muß ein so beschränktes und abhängiges Wesen wie Ella natürlich in deren Verdammungsurteil einstimmen, wenn sie sich überhaupt je bis zu einem eigenen Urteil erhoben hat. War die Kluft zwischen uns früher weit, so ist sie jetzt, nach allem was geschehen ist, endlos geworden. Nein, davon konnte keine Rede sein, aber ich wollte Nachricht von meinem Kinde haben. Ich ertrug es nicht länger, den Knaben fern zu wissen, ihn nicht sehen zu dürfen, nicht einmal ein Bild von ihm zu besitzen. Ich wollte Nachricht um jeden Preis, deshalb wählte ich den kürzesten Weg und schrieb an die Mutter.«

»Nun, und –?« fragte Hugo gespannt.

Reinhold lachte bitter auf. »Nun, ich hätte mir die Demütigung ersparen können. Es kam keine Antwort – das war freilich Antwort genug, aber ich wollte nun einmal wissen, wie es mit dem Kinde gehe; ich glaubte an die Möglichkeit eines Irrtums, eines Verlierens, an was glaubt man nicht in solchem Falle, und schrieb zum zweitenmal. Der Brief kam uneröffnet zurück« – er ballte im wilden Zorne die Hand – »uneröffnet! Mir das, mir! Es ist das Werk des Onkels; daran ist kein Zweifel. Ella hätte nie gewagt, mir das zu bieten.«

»Meinst du? Da kennst du deine Frau nicht. Sie hat es allerdings ›gewagt‹, und sie allein konnte es wagen; denn die Eltern sind tot, schon seit Jahren.«

Reinhold wandte sich rasch um. »Woher weißt du das? Stehst du noch in Verbindung mit H.?«

»Nein,« sagte der Kapitän ruhig. »Du kannst dir wohl denken, daß die Stimmung, die in der Familie gegen dich herrschte, zum Teil wenigstens auch auf mich übertragen wurde. Seit ich H. damals wenige Tage nach dir verließ, habe ich es nicht wieder besucht, aber ich stehe noch in Korrespondenz mit dem ehemaligen Buchhalter des Almbachschen Hauses, der das Geschäft übernommen hat und es auf eigene Rechnung fortführt. Von ihm erfuhr ich einiges.«

»Und das sagst du mir jetzt erst, nach beinahe vierzehntägigem Zusammensein?« rief Reinhold beinahe ungestüm.

»Ich habe selbstverständlich einen Punkt nicht berühren wollen, von dem es mir schien, daß du ihn zu vermeiden wünschtest,« entgegnete Hugo kühl.

Reinhold ging einigemal im Zimmer auf und nieder. »Die Eltern sind tot? Und Ella und das Kind?«

»Ihretwillen brauchst du nicht in Sorge zu sein. Der Onkel hat ein nicht unbedeutendes Vermögen hinterlassen, weit mehr als man geglaubt.«

»Ich wußte, daß er viel reicher war, als er gelten wollte,« sagte Reinhold rasch. »Und diese Gewißheit allein gab mir die volle Freiheit des Handelns bei meiner Entfernung. Ich war für Frau und Kind nicht notwendig. Sie waren gesichert vor jedem Wechselfalle des Schicksals auch ohne meine Nähe. Aber wo sind sie jetzt? Noch in H.?«

»Konsul Erlau wurde Vormund des Knaben,« berichtete Hugo ziemlich kurz und gemessen. »Er scheint sich auch der jungen, wohl nun sehr vereinsamten Frau thätig angenommen zu haben, denn bereits nach Ablauf der Trauerzeit siedelte sie mit dem Kinde in sein Haus über. Dort lebten beide noch vor einem halben Jahre; bis dahin reichen meine Nachrichten.«

»So?« meinte Reinhold gedankenvoll. »Nun, da begreife ich nur nicht, wie Ella mit ihrer Erziehung und ihrer Persönlichkeit es möglich macht, in dem großartigen Erlauschen Haushalte auch nur zu existieren. Freilich, sie wird sich ein paar Hinterzimmer eingerichtet haben, nie zum Vorschein kommen, oder trotz ihres Vermögens die Stelle einer Wirtschafterin übernehmen. Ueber dieses Niveau war sie ja nun einmal nicht hinauszubringen. Wäre das nicht gewesen, ich hätte viel, hätte alles ertragen – um des Kindes willen.«

Er trat zum Fenster, stieß es auf und lehnte sich weit hinaus. Die Abendluft strömte kühl hinein in das schwüle Zimmer, wo jetzt ein längeres Stillschweigen eintrat, denn auch der Kapitän schien keine Lust zu einer weiteren Fortsetzung des Gespräches zu haben; nach einer Weile erhob er sich.

»Unsre Abreise ist morgen sehr früh angesetzt; wir werden zeitig wach sein müssen. Gute Nacht, Reinhold!«

»Gute Nacht!« antwortete Reinhold, ohne sich umzuwenden.

Hugo verließ das Gemach. »Ich wollte, diese Circe von Beatrice sähe ihn einmal in solchen Stunden,« murmelte er, die Thür ins Schloß werfend. »Sie haben gesiegt, Signora, und ihn an sich gerissen als Ihr unbestreitbares Eigentum – glücklich haben Sie ihn nicht gemacht.«

Noch einige Minuten lang verharrte Reinhold unbeweglich an seinem Platze; dann richtete er sich empor und ging hinüber nach seinem Arbeitszimmer. Er mußte mehrere der Gemächer durchschreiten, um dorthin zu gelangen. Die Wohnung, die das ganze untere Stockwerk der geräumigen Villa einnahm, war nicht so glänzend wie die Signora Bianconas und dennoch verschwenderischer eingerichtet; denn die Pracht, die dort vorherrschte, wurde hier zehnfach ausgewogen durch den künstlerischen Schmuck der Räume. Da hingen Gemälde an den Wänden, standen Statuen in den Fensternischen, deren Wert nur nach Tausenden berechnet werden konnte; da waren die herrlichsten Kunstschätze Italiens in meisterhaften Nachbildungen vorhanden. Wohin das Auge nur blickte, traf es auf Vasen, Büsten, Zeichnungen und Prachtwerke, die anderswo schon allein die Zierde eines Salons gebildet hätten und die hier, überallhin zerstreut, nur als beiläufiger Schmuck dienten. Es war eine Fülle von Schönheit und Kunst, wie sie in dieser verschwenderischen Art eben nur ein Rinaldo um sich versammeln konnte, dem mit dem Ruhme auch das Gold in nie versiegender Menge zuströmte und der gewohnt war, das letztere völlig achtlos wieder von sich zu werfen.

In der Mitte des Arbeitszimmers stand ein prachtvoller Flügel, das Geschenk eines begeisterten Verehrerkreises, der dem Meister ein sichtbares Zeichen seines Dankes hatte darbringen wollen; den Schreibtisch bedeckten Karten und Briefe, welche die ersten Namen im Reiche der Geburt und des Geistes trugen und die hier gleichgültig beiseite geschoben waren, ohne daß der Empfänger den mindesten Wert darauf zu legen schien; von der Hauptwand aber blickte das lebensgroße Bild Beatrice Bianconas herab, von berühmter Künstlerhand in genialster Auffassung und wahrhaft sprechender Aehnlichkeit gemalt. Sie trug das ideale Kostüm einer ihrer Hauptrollen in den Opern Rinaldos, mit deren hinreißender Darstellung sie diese Werke erst zur vollen Höhe ihrer Berühmtheit emporgehoben hatte, mit der sie selbst erst zu einer Künstlerin ersten Ranges hinaufgestiegen war. Es war dem Maler gelungen, den ganzen berückenden Zauber, den glühenden Reiz des Originals in diesem Porträt zu verkörpern. Die schöne Gestalt schien sich in unnachahmlich graziöser Stellung halb dem Flügel zuzuwenden, und die dunklen Augen blickten mit täuschender Lebenswahrheit herab auf den Mann, den sie nun so lange schon in unlösbaren Banden hielten, als wollten sie ihn selbst hier, im Heiligtume seines Wirkens und Schaffens, nicht allein lassen.

Reinhold saß am Flügel und phantasierte. Das Gemach war nicht erhellt, nur das voll hereinströmende Mondlicht schwebte über dem Meere von Tönen, das hier aufbrauste, als ob der Sturm in seinen Wogen wühle, sie bald anschwellend zu Bergeshöhe, bald wieder eine Abgrundtiefe entschleiernd. Jetzt quollen die Melodien empor, leidenschaftlich, glühend, berauschend, und dann auf einmal zuckte es jäh dazwischen, wie schneidende Dissonanzen, wie grelle Mißlaute. Das waren die Töne, mit denen Rinaldo schon seit Jahren im Reiche der Musik herrschte, mit denen er die Menge zur Bewunderung mit sich fortriß, vielleicht weil sie jenem dämonischen Elemente eine Sprache liehen, das in der Brust eines jeden schlummert, und dessen sich wohl schon jeder einmal, halb mit Grauen und halb mit süßem Schauer bewußt geworden ist. Es lag in diesen Melodien auch etwas von dem wilden Stürmen von Genuß zu Genuß, von dem jähen Wechsel zwischen fieberischer Aufregung und tödlicher Ermattung, von dem Ringen nach Betäubung, die, ewig gesucht, nie gefunden wurde, und doch klang immer und immer wieder etwas Mächtiges, Ewiges hindurch, das nichts gemein hatte mit jenem Elemente, das mit ihm kämpfte, sich darüber erhob, um schließlich doch wieder darin unterzugehen.

Jetzt quollen die Melodien empor, leidenschaftlich, glühend, berauschend. (S. 126.)

Aus den Gärten stiegen die Orangendüfte empor und fluteten herein durch die weitgeöffneten Balkonthüren und wehten berauschend hin durch das Gemach. Klar, voll unendlicher Schönheit und unendlichen Friedens lag der Mondesglanz über der ewigen Stadt, und im bläulichen Nebeldufte verschwand die dämmernde Ferne. Träumerisch rauschte die Fontäne dort unten inmitten der Blütenbäume, und das Licht, das in den fallenden Tropfen glänzte, erhellte jetzt auch in vollster Klarheit die ganze Reihe der Gemächer mit ihren Kunst- und Marmorschätzen; es beleuchtete das Bild in dem reich vergoldeten Rahmen, so daß die dämonisch schöne Gestalt da oben zu leben schien, und fiel auf das Antlitz des Mannes, dessen Stirn inmitten all dieser Schönheit und all dieses Friedens so schwer umdüstert blieb.

Freilich, es lagen Jahre zwischen jenen langen nordischen Winternächten, in denen der junge Künstler seine ersten Kompositionen schuf, und dieser duftigen Mondnacht des Südens, in welcher der hochgefeierte Rinaldo das Hauptthema seiner neuesten Oper in unendlichen Variationen wiederholte, und wohl noch vieles andre, was schwerer wog, als die Jahre allein. Und doch versank das alles in dieser Stunde. Leise kam die Erinnerung gezogen und ließ längstvergangene Tage wieder aufleben, längstvergessene Bilder wieder hervortreten, das kleine Gartenhaus mit seinen altertümlichen Möbeln und der dürftigen Weinranke über dem Fenster, das armselige Stückchen Gartenland mit den wenigen Bäumen und Gesträuchen und den hohen, gefängnisartigen Mauern ringsum, das enge, düstere Haus mit dem so tief gehaßten Geschäftszimmer. Matte farblose Bilder, und sie wollten nicht weichen, denn über ihnen schwebten lächelnd ein Paar große tiefblaue Kinderaugen, die dem Vater nur dort geleuchtet hatten, und die er hier, in dieser Umgebung voll Poesie und Schönheit, vergebens suchte. Er hatte sie so oft gesehen in dem Antlitze seines Kindes, und dann auch einmal noch – anderswo. Die Erinnerung daran war freilich halb verweht; fast vergessen, hatten sie sich ihm doch nur auf einen Augenblick gezeigt, um sich dann wieder zu verschleiern, wie sie es jahrelang gethan, aber diese Augen waren es doch, die ihm allein vorschwebten, als sich jetzt aus dem Wogen und Wallen der Töne eine zauberisch süße Melodie emporrang. Es sprach ein unendliches Sehnen daraus, ein Weh, das die Lippen nicht aussprechen wollten, und es schlug die Brücke hinüber zu der fernen, fernen Vergangenheit. Jetzt hatte der Genius die Fesseln gesprengt, die ihn damals drückten und einengten; jetzt stand er oben auf der einst erträumten Höhe. Was Leben und Glück, was Ruhm und Liebe nur zu geben vermochten, das war ihm zu teil geworden, und jetzt – wie ein Sturm brauste es wieder empor aus den Tasten, wild, leidenschaftlich, bacchantisch, und daraus hervor klagte immer wieder jene Melodie mit ihrem ergreifenden Weh, mit ihrem ruhelosen, nie gestillten Sehnen.

*

Ich fürchte, unser Signor Capitano hält es nicht lange aus in Mirando. Es ist gefährlich, daß er hier fortwährend seine See vor Augen hat; er blickt mit einer solchen Sehnsucht darauf hin, als wolle er uns je eher je lieber davonsegeln.«

Mit diesen Worten wandte sich Marchese Tortoni an seinen Gast, der während der letzten Viertelstunde fast gar keinen Anteil am Gespräche genommen hatte und den der junge Wirt soeben auf einem verstohlenen Gähnen ertappte.

»Nicht doch!« verteidigte sich Hugo. »Ich fühle mich nur so grenzenlos unbedeutend und unwissend bei all diesen idealen Kunstgesprächen, bin so tief durchdrungen von dem Gefühle dieser meiner Unwissenheit, daß ich mir soeben in aller Eile das ganze Kommando während eines Sturmes wiederholte, um mir die tröstliche Ueberzeugung zu verschaffen, daß ich doch auch noch irgend etwas verstehe.«

»Ausrede!« rief der Marchese. »Sie vermissen das weibliche Element hier, das Sie so sehr verehren und das Sie nun einmal nicht entbehren zu können scheinen. Leider kann mein Mirando Ihnen diesen Reiz noch nicht bieten. Sie wissen, ich bin unvermählt und habe mich bisher noch nicht entschließen können, meine Freiheit zu opfern.«

»Noch nicht entschließen können, Ihre Freiheit zu opfern,« paradierte Hugo, »mein Gott, das klingt ja ganz entsetzlich. Wenn Sie wirklich die höchste Stufenleiter irdischen Glückes noch nicht erstiegen haben, wie die eigentliche Lesart lautet –«

»Glauben Sie ihm nicht, Cesario!« fiel Reinhold ein. »Mein Bruder ist mit all seiner Ritterlichkeit und Galanterie doch im Grunde eine Eisnatur, die so leicht nichts erwärmt. Er tändelt mit allen – Empfindung hat er für keine; der jedesmalige Roman, den er Liebe, gelegentlich auch wohl Leidenschaft zu nennen beliebt, dauert gerade so lange, wie er am Lande ist, und verweht mit der ersten frischen Brise, die seine ›Ellida‹ wieder hinaustreibt ins Meer. In seinem Herzen hat sich noch nie etwas geregt.«

»Abscheuliche Charakteristik!« rief Hugo, seine Zigarre fortwerfend. »Ich protestiere feierlichst.«

»Willst du etwa behaupten, sie sei ungerecht?«

Der Kapitän lachte und wandte sich an Tortoni. »Ich versichere Ihnen, Signor Marchese, daß ich auch unverbrüchlich treu sein kann – meiner schönen blauen Wellenbraut da draußen« – er wies nach dem Meere hinüber – »der habe ich mich nun einmal angelobt mit Herz und Hand. Sie allein versteht es, mich immer wieder von neuem zu fesseln und festzuhalten, und wenn sie mir auch hin und wieder erlaubt, in ein Paar schöne Augen zu blicken, eine ernstliche Untreue duldet sie nicht.«

»Bis du einmal doch in ein Paar Augen blickst, die dich lehren, daß du auch nicht gefeit bist gegen das allgemeine Los der Sterblichen,« sagte Reinhold, halb scherzend, halb mit einer Bitterkeit, die nur dem Bruder allein verständlich war. »Es gibt solche Augen.«

»O ja, es gibt solche Augen,« wiederholte Hugo mit einem beinahe träumerischen Ausdrucke in das Meer hinausblickend.

»Wie, Signor, der Ton klang ja äußerst bedenklich,« neckte der Marchese. »Sind Sie vielleicht doch schon den bewußten Augen begegnet?«

»Ich?« Der Kapitän hatte den augenblicklichen Ernst schon wieder abgeschüttelt und war ganz wieder der alte Uebermut. »Thorheit! Ich hoffe noch ziemlich lange dem ›allgemeinen Lose der Sterblichen‹ zu trotzen. Sie hören es ja.«

»Schade, daß Sie hier so gar keine Gelegenheit finden, diesen heroischen Entschluß zu bewahrheiten,« meinte Cesario. »Die einzige Nachbarschaft, die wir haben, schließt sich in einer Weise ab, die es gar nicht bis zu einer Versuchung kommen läßt. Die junge Signora zumal –«

»Eine junge Signora? Wo?« Hugo fuhr aufgeregt in die Höhe.

Der Marchese zeigte nach einem Landhause hinüber, das, kaum eine Viertelstunde entfernt, halb versteckt in einem Olivenwalde lag.

»Dort drüben, die Villa Fiorina ist schon seit mehreren Monaten bewohnt. Wie ich höre, sind es sogar Landsleute von Ihnen, Deutsche, welche sich dort für den Sommer niedergelassen haben; aber sie scheinen sich vollständigste Einsamkeit und Unsichtbarkeit zum Gesetze gemacht zu haben. Es wird niemand dort empfangen, niemand angenommen, und da die Familie sich auch bei ihren Spaziergängen größtenteils auf den Park und die Terrasse beschränkt, so ist die Unnahbarkeit eine vollständige.«

»Und die Signora? Ist sie schön?« fragte Hugo in lebhaftester Spannung.

Cesario zuckte die Achseln. »Das kann ich beim besten Willen nicht sagen. Ich sah sie nur flüchtig und in ziemlicher Entfernung ein einziges Mal. Eine schlanke, jugendliche Gestalt; ein Kopf voll schöner, goldblonder Flechten; das Gesicht war mir leider nicht zugewandt, und ich ritt auch ziemlich schnell vorüber.«

» Ohne das Gesicht gesehen zu haben? Signor Marchese, ich bewundere Ihren Stoicismus, verwahre mich aber feierlich gegen die Zumutung, ihn irgendwie nachzuahmen. – Bis heute abend bringe ich Ihnen und Reinhold die Nachricht, ob die Signora wirklich schön ist oder nicht.«

»Das möchte Ihnen doch schwer werden,« lachte der Marchese. »Sie hören es ja, der Eintritt ist nicht zu erlangen.«

»Bah, als ob mich das hinderte!« rief Hugo übermütig. »Jetzt fängt die Sache erst an, interessant zu werden. Eine unzugängliche Villa, eine unsichtbare Dame, die noch dazu blond und eine Deutsche ist – das werde ich untersuchen, gründlich untersuchen. Schon meine Pflicht als Landsmann gebietet mir das.«

»Gott sei Dank, daß Sie ihn auf diese Spur gebracht haben, Cesario,« sagte Reinhold. »Nun stört uns hoffentlich sein mühsam verhaltenes Gähnen nicht mehr, wenn wir von Musik reden. Ich wollte so noch einiges über die Partitur mit Ihnen sprechen.«

Der junge Marchese war aufgestanden und legte jetzt wie bittend die Hand auf seine Schulter.

»Nun, und die Oper? Bleiben Sie unerbittlich bei Ihrem Ultimatum stehen? Ich versichere Ihnen, Rinaldo, es ist fast unmöglich, all die Aenderungen bis zum Herbste durchzuführen; ich habe mich selbst davon überzeugt. Man wird einen neuen Aufschub verlangen müssen, und Publikum und Gesellschaft warten nun bereits seit Monaten.«

»So warten sie noch länger.« Es klang eine hochmütig schroffe Abweisung in den Worten.

»Wie ein Diktator gesprochen,« bemerkte Hugo. »Bist du immer so souverän dem Publikum gegenüber? Das Bild, das Maestro Gianelli von dir entwarf, scheint doch einige treffende Züge zu besitzen. Ich glaube, es war wirklich nicht so unbedingt notwendig, das ganze Opernpersonal, inklusive Eccellenza den Intendanten, so in Verzweiflung zu bringen, wie du es diesmal gethan hast.«

Reinhold hob den Kopf mit dem ganzen Stolze und der ganzen Rücksichtslosigkeit des verwöhnten, gefeierten Künstlers, der gewohnt ist, seinen Willen als ein Gesetz befolgt zu sehen, und dem ein Widerspruch gleichbedeutend mit Beleidigung ist.

»Ueber mein Werk und dessen Ausführung verfüge ich. Entweder man hört die Oper in der Gestalt, wie ich es wünsche, oder man hört sie nicht. Ich habe ihnen die Wahl gelassen.«

»Als ob es eine Wahl gäbe!« meinte Cesario achselzuckend, indem er sich zu einem der Diener wandte, um ihm einen Auftrag zu geben, und die Brüder auf einige Minuten allein ließ.

»Leider scheint es hier keine zu geben,« sagte Hugo, dem jungen Wirte nachblickend. »Und Marchese Tortoni hat dich auch mit auf dem Gewissen, wenn du schließlich noch ganz und gar verdorben wirst durch die unsinnige Vergötterung, die man mit dir treibt. Der leistet das Möglichste darin, wie überhaupt dein ganzer Verehrerkreis! Sie setzen dich ja wie einen Dalai Lama in die Mitte und gruppieren sich ehrfurchtsvoll um dich herum, um den Aeußerungen deines Genius zu lauschen, auch wenn es diesem Genius gelegentlich einmal belieben sollte, seine begeisterte Umgebung zu maltraitieren. Schade um dich, Reinhold. Sie treiben dich damit unfehlbar zu der Klippe, an der schon so manche bedeutende Kraft gescheitert ist – zur Selbstvergötterung.«

»Nun, daß dies vorläufig noch nicht geschieht, dafür sorgst du schon,« entgegnete Reinhold sarkastisch. »Du scheinst dich jetzt ganz ausgezeichnet in der Rolle des getreuen Eckhard zu gefallen und probierst sie bei jeder Gelegenheit; sie ist aber die undankbarste von allen; gib sie auf, Hugo! Sie sagt deiner Natur ganz und gar nicht zu.«

Der Kapitän runzelte die Stirn, aber er blieb vollkommen ruhig bei dem Tone, der einen andern leicht gereizt hätte, warf die Vogelflinte über den Rücken und ging hinaus. Nach wenigen Minuten schon befand er sich draußen am Meere, und als der frische Seewind erst seine Stirn kühlte, da war es auch schon wieder aus mit dem ganzen Ernste des Herrn Kapitän; er schlug richtig den Weg nach der Villa Fiorina ein.

Die Wahrheit zu sagen, begann sich Hugo bereits zu langweilen in Mirando und in der vorwiegend künstlerischen Atmosphäre, welche die Neigung des Marchese und die Gegenwart seines Bruders dort schufen. Die paradiesische Lage der Besitzung war dem mit der Schönheit der Tropenwelt vertrauten Seemanne nichts Neues, und die Einsamkeit, der sich Reinhold mit einer fast krankhaften Sehnsucht hingab, sagte Hugos lebensfroher Natur durchaus nicht zu. Freilich lag das von Fremden schon reich bevölkerte S. in ziemlicher Nähe, aber man konnte doch nicht allzuoft hinüberfahren, und dadurch dem jungen Wirte zeigen, daß man bei ihm die Geselligkeit vermisse. Da kam denn diese vermutlich schöne und jedenfalls geheimnisvolle und interessante Nachbarschaft äußerst gelegen, und Hugo war sofort entschlossen, sie sich zu nutze zu machen.

»Das halte ein andrer aus mit diesen Künstlern und Kunstenthusiasten!« sagte er ärgerlich, während er den Weg am Meere entlang verfolgte. »Den halben Tag lang sitzen sie am Flügel, und während der übrigen Zeit sprechen sie von Musik. Reinhold bewegt sich ewig in Extremen. Mitten aus dem wildesten Leben, aus den unsinnigsten Aufregungen stürzt er sich Hals über Kopf in diese ideale Einsamkeit und will nichts weiter hören und wissen als nur seine Musik; mich soll nur wundern, wie lange das anhält. Und dieser Marchese Tortoni? Jung, schön, reich, aus dem edelsten Geschlecht, weiß dieser Cesario mit dem Leben nichts Besseres anzufangen, als sich monatelang in die Einsamkeit seines Mirando zu vergraben, den Dilettanten in großem Stile zu spielen, und dem Reinhold mit seiner maßlosen Vergötterung den Kopf noch mehr zu verdrehen. Da verstehe ich meine Zeit doch besser anzuwenden!«

Bei diesen letzten, mit großem Selbstgefühle gesprochenen Worten blieb der Kapitän stehen, denn das Ziel seines Ganges war vorläufig erreicht. Vor ihm lag die Villa Fiorina, überschattet von hohen Pinien und Cypressen und wie vergraben in blühenden Gesträuchen. Das Haus selbst schien prachtvoll und geräumig zu sein, aber die Hauptfront, sowie die nach dem Meere hinaus gelegene Terrasse waren so dicht umrankt und umgeben von Rosen- und Oleandergebüschen, daß selbst der Falkenblick Hugos es nicht vermochte, die duftige Schutzwehr zu durchdringen. Eine hohe, von Schlingpflanzen überwucherte Mauer umschloß die parkartigen Gartenanlagen, die in dem Olivenwalde endigten, der die Besitzung umgab. Sie mochte, nach der Großartigkeit der ganzen Anlage zu urteilen, wohl früher das Eigentum einer vornehmen Familie gewesen sein, dann, wie so viele ihresgleichen öfter, den Besitzer gewechselt haben, und jetzt reichen Fremden zum vorübergehenden Aufenthalt dienen. Jedenfalls gab sie an Schönheit der Lage dem viel gepriesenen Mirando des Marchese Tortoni nicht das Geringste nach.

Vor ihm lag die Villa Fiorina, überschattet von hohen Pinien und Cypressen.

Der Kapitän hatte seinen Feldzugsplan bereits entworfen; er musterte daher nur flüchtig die Umgebung, machte einen vergeblichen Versuch von der Seeseite her einen freieren Blick auf die Terrasse zu gewinnen, maß für alle Fälle mit dem Auge die Höhe der Gartenmauer und schritt dann geradeswegs nach dem Eingange, wo er die Glocke zog und ohne weiteres die Herrschaft zu sprechen verlangte.

Der Pförtner, ein alter Italiener, schien für dergleichen Fälle schon seine Instruktion zu haben, denn ohne nur nach dem Namen des Fremden zu fragen, erklärte er kurz und bündig, die Herrschaft nehme keine Besuche an, und er bedauere, daß sich der Signor umsonst bemüht habe.

Hugo zog kaltblütig seine Karte hervor. »Man wird eine Ausnahme machen. Es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit, die durchaus persönliche Rücksprache erfordert. Ich werde inzwischen hier warten, da man mich jedenfalls empfangen wird.«

Er ließ sich ruhig auf die Steinbank nieder, und diese unerschütterliche Zuversicht imponierte dem Pförtner dermaßen, daß er wirklich an die Wichtigkeit der vorgeblichen Mission zu glauben begann. Er verschwand mit der Karte, während Hugo, ganz unbekümmert um die etwaigen Folgen, das Resultat seines kecken Manövers abwartete.

Dieses Resultat war ein über Erwarten günstiges, denn schon nach kurzer Zeit erschien ein Diener, der den Fremden, welcher sich mit einem deutschen Namen eingeführt, auch in dieser Sprache anredete und ihn ersuchte, einzutreten. Er führte den Kapitän in einen Gartensaal und ließ ihn dort allein, mit der Versicherung, der Herr werde sogleich erscheinen.

»Glück muß der Mensch haben,« sagte Hugo, selbst ein wenig erstaunt über dieses unerwartet schnelle Gelingen. »Ich wollte, Reinhold und der Marchese könnten mich jetzt sehen. Mitten in der ›unzugänglichen‹ Villa, in Erwartung des Herrn und Gebieters derselben, und nur einige Thüren weit von der blonden Signora. Das ist vorläufig genug für die ersten fünf Minuten, und das hätte nicht einmal mein genialer Herr Bruder fertig gebracht, vor dem doch sonst alle Thüren springen. Jetzt heißt es aber selbst genial sein, im Lügen nämlich. Was in aller Welt sage ich diesem Edlen, bei dem ich mich in einer wichtigen Angelegenheit habe anmelden lassen, ohne je eine Silbe von ihm gehört zu haben, so wenig als er von mir? Ah bah! Irgend jemand hat mir auf irgend einer meiner Fahrten irgend einen Auftrag gegeben. Im schlimmsten Falle kann ich mich doch nur in der Person geirrt haben, inzwischen ist die Bekanntschaft eingeleitet, und das übrige ergibt sich von selbst. Ich werde die Improvisation ganz nach der Persönlichkeit des Betreffenden einrichten, jedenfalls gehe ich nicht von der Stelle, ohne die Signora gesehen zu haben.«

Er nahm Platz und begann in vollster Gemütsruhe, die Umgebung zu betrachten. »Meine verehrten Landsleute scheinen in der That der glücklich situierten Minderheit anzugehören, die jährlich über einige Zehntausende verfügt. Die ganze Villa nebst Park zum ausschließlichen Gebrauche gemietet – die Einrichtung mit großen Kosten vervollständigt, denn diesen Komfort findet man hier nicht im Süden – die eigene Dienerschaft mitgebracht; ich sah nicht weniger als drei Gesichter da draußen, denen die urgermanische Abkunft auf der Stirn geschrieben steht. Jetzt ist nur die Frage, ob wir es mit der Aristokratie oder mit der Börse zu thun haben. Das Letztere wäre mir lieber, ich kann da doch wenigstens einige merkantilische Beziehungen geltend machen, während ich vor einem hohen Adel in der ganzen Nichtigkeit des Bürgerlichen – – wie, Konsul Erlau?«

Mit diesem in grenzenlosem Erstaunen hervorgestoßenen Ausrufe prallte Hugo von der Schwelle zurück, auf der jetzt die wohlbekannte Gestalt des Handelsherrn erschien. Der Konsul war freilich im Laufe der Jahre sehr gealtert; das einst so volle dunkle Haar erschien grau und spärlich; die Züge trugen den Ausdruck eines unverkennbaren Leidens, und auch das freundliche Wohlwollen, das sie sonst belebte, war, für den Augenblick wenigstens, einer kalten Gemessenheit gewichen, mit der er sich dem Gaste näherte.

»Herr Kapitän Almbach, Sie wünschen mich zu sprechen?«

Hugo war bereits Herr seiner Ueberraschung geworden, und augenblicklich entschlossen, diesen ganz unerwartet günstigen Zufall nach Kräften zu benutzen. Er nahm alle seine Liebenswürdigkeiten zusammen.

»Herr Konsul, ich bin Ihnen sehr dankbar – ich hoffte in der That kaum, von Ihnen persönlich empfangen zu werden.«

Erlau ließ sich nieder und lud ihn mit einer Handbewegung zum Sitzen ein.

»Ich habe auf ärztliche Anordnung Besuche zu meiden; bei der Nennung Ihres Namens aber glaubte ich eine Ausnahme machen zu müssen, da es sich vermutlich um meine Eigenschaft als Vormund Ihres Neffen handelt. Sie kommen im Auftrage Ihres Bruders?«

»Im Auftrage Reinholds?« wiederholte Hugo ungewiß. »Wieso?«

»Es ist mir lieb, daß Herr Almbach keine persönliche Annäherung versucht hat, wie er sie schon einmal schriftlich versuchte,« fuhr der Konsul noch immer in dem Tone kühler Zurückhaltung fort. »Er scheint trotz unsrer absichtlichen Zurückgezogenheit den gegenwärtigen Aufenthalt seines Sohnes zu kennen. Ich bedauere aber, Ihnen mitteilen zu müssen, daß Eleonore durchaus nicht gesonnen ist –«

»Ella? Sie ist hier? Bei Ihnen?« fuhr Hugo mit solcher Lebhaftigkeit auf, daß Erlau ihn mit äußerster Befremdung anblickte.

»War Ihnen das nicht bekannt? Dann, Herr Kapitän, darf ich wohl fragen, was mir eigentlich die Ehre Ihres Besuches verschafft?«

Hugo überlegte einen Augenblick; er sah wohl, daß der Name Reinholds, der ihm die Thüren geöffnet, doch die schlimmste Empfehlung war, die er hier mitbringen konnte, und faßte danach seinen Entschluß.

»Ich muß zuvörderst einen Irrtum aufklären,« entgegnete er mit vollster Offenheit. »Ich komme weder als Abgesandter meines Bruders, wie Sie zu vermuten scheinen, noch bin ich überhaupt in seinem Interesse oder mit seinem Wissen hier. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, er hat augenblicklich keine Ahnung davon, daß seine Gattin und sein Sohn sich in seiner Nähe, daß sie sich überhaupt in Italien befinden. Mich dagegen« – hier hielt es der Kapitän doch für angemessen, etwas Dichtung in die Wahrheit zu mischen – »mich dagegen führte ein Zufall auf die Spur, von deren Richtigkeit ich mich vorerst zu überzeugen wünschte. Ich kam, um meine Schwägerin zu sehen.«

»Das würde wohl besser unterbleiben,« meinte der Konsul mit auffallender Kälte. »Sie werden begreifen, daß ein solches Zusammentreffen für Eleonore nur peinlich sein kann –«

»Ella weiß am besten, wie ich von jeher zu der ganzen Angelegenheit gestanden habe,« unterbrach ihn der Kapitän. »Und sie wird mir sicher die erbetene Unterredung nicht versagen.«

»Nun wohl, so thue ich es im Namen meiner Pflegetochter,« erklärte Erlau bestimmt.

Hugo stand auf. »Herr Konsul, ich weiß, daß Sie Vaterrechte über meinen Neffen und auch wohl über seine Mutter erworben haben, und ehre diese Rechte. Deshalb bitte ich Sie um die Gewährung dieser Zusammenkunft. Ich werde meine Schwägerin mit keinem Worte, mit keiner Erinnerung verletzen, wie Sie es zu fürchten scheinen, nur – sehen möchte ich sie doch wenigstens.«

Es lag in den Worten eine so warme ernste Bitte, daß der Konsul schwankte. Er mochte wohl an die Zeit denken, wo der Mut des jungen Kapitän Almbach ihm das beste seiner Schiffe gerettet hatte, und der Dank, den der reiche Handelsherr in überschwenglicher Weise abzutragen bereit war, höflich aber bestimmt zurückgewiesen wurde. Es wäre mehr als undankbar gewesen, diesem Manne gegenüber auf der schroffen Abweisung zu verharren; er gab nach.

»Ich werde fragen, ob Eleonore zu dieser Unterredung geneigt ist,« sagte er aufstehend. »Von Ihrem Hiersein ist sie allerdings schon unterrichtet, denn sie war bei mir, als ich Ihre Karte empfing. Ich bitte nur um einige Augenblicke Geduld.«

Er verließ das Zimmer; es vergingen wohl an zehn Minuten ungeduldigen Harrens, da endlich wurde die Thür von neuem geöffnet und ein Damenkleid rauschte auf der Schwelle. Hugo ging rasch der Eintretenden entgegen.

»Ella, ich wußte, daß Sie mich nicht –« Er stockte plötzlich, die zum Willkommen ausgestreckte Hand sank langsam nieder, und der Kapitän stand wie angewurzelt.

»Sie scheinen mich kaum mehr zu erkennen,« sagte die junge Frau, die vergeblich auf eine Vollendung des Grußes wartete. »Habe ich mich denn so sehr verändert?«

»Ja – sehr,« bestätigte Hugo, dessen Auge noch immer in maßlosem Erstaunen an der Gestalt der vor ihm stehenden Dame hing. Der kecke, übermütige Seemann, der sich sonst jeder Lage des Lebens, jeder Ueberraschung gewachsen zeigte, stand hier stumm, verwirrt, fast bestürzt da. Freilich, wer hätte das auch je für möglich gehalten!

Das also war aus der einstigen Gattin seines Bruders geworden, aus der scheuen furchtsamen Ella, mit dem blassen unschönen Gesichtchen und dem linkisch schüchternen Wesen. Jetzt erst sah man es, was jene Kleidung gesündigt hatte, in der Eleonore Almbach immer nur wie die Magd und nie wie die Tochter des Hauses erschien, und was jene unendliche Haube, die, wie für die Stirn einer Sechzigjährigen gemacht, Tag für Tag das Haupt der noch so jugendlichen Frau bedeckte. Das alles war verschwunden bis auf die letzte Spur. Das helle duftige Morgengewand ließ die schlanke noch immer mädchenhaft zarte Gestalt in ihrer ganzen Schönheit hervortreten, und der überreiche Schmuck der blonden Flechten, die jetzt unverhüllt getragen wurden, umgab in seiner ganzen schweren, goldschimmernden Pracht das Haupt. Das Gesicht der »blonden Signora« hatte Marchese Tortoni freilich nicht gesehen, aber Hugo sah es jetzt, und während dieses sekundenlangen Anschauens fragte er sich immer wieder, was denn eigentlich mit diesen Zügen vorgegangen sei, die einst so starr und leer waren, daß man ihnen den Vorwurf der Stumpfheit gemacht, und die nun so beseelt und durchgeistigt erschienen, als sei ein Bann von ihnen genommen, und irgend etwas Niegeahntes darin zum Leben erwacht. Freilich lag es noch um den Mund wie ein Zug leisen, nicht überwundenen Schmerzes, und die Stirn überschattete eine Schwermut, die sie früher nicht gekannt, aber die Augen suchten nicht mehr verschleiert und scheu den Boden; jetzt waren sie klar und voll aufgeschlagen, und sie hatten wahrlich nichts eingebüßt von der einstigen Schönheit. Ella schien es gelernt zu haben, das, was ihr die Natur gegeben, nicht mehr ängstlich vor fremden Blicken zu verstecken. Als sie achtzehn Jahre alt war, fragte ein jeder achselzuckend: »Wie kommt diese Frau an die Seite dieses Mannes?« Mit achtundzwanzig war sie eine Erscheinung, die mit jeder andern in die Schranken treten konnte. Wie schwer mußten der Druck und die Fesseln des Elternhauses auf der jungen Frau gelastet haben, wenn wenige Jahre, in freieren, edleren Umgebungen verlebt, genügt hatten, um die einstige Hülle bis auf den letzten Rest abzustreifen und dem Schmetterlinge die Flügel zu lösen. Die fast unglaubliche Veränderung bewies, was die einstige Jugenderziehung verschuldet.

Das helle duftige Morgengewand ließ die schlanke noch immer mädchenhaft zarte Gestalt in ihrer ganzen Schönheit hervortreten.

»Sie wünschten eine Unterredung mit mir, Herr Kapitän?« begann Ella, indem sie sich auf die Ottomane niederließ. »Darf ich bitten?«

Worte und Haltung waren so sicher und unbefangen, wie die einer vollendeten Weltdame, die einen Besuch empfängt, aber auch fremd und kühl, als habe sie nicht die geringste Beziehung zu diesem Besuche. Hugo verneigte sich; es lag noch eine helle Röte auf seiner Stirn, als er der Einladung folgend, an ihrer Seite Platz nahm.

»Ich bat darum – der Herr Konsul glaubte mir in Ihrem Namen diese Unterredung versagen zu müssen, aber ich bestand auf der direkten Anfrage bei Ihnen. Ich hatte ein besseres Vertrauen auf Ihre Güte, gnädige Frau.«

Sie sah ihn groß und fragend an. »Sind wir uns so fremd geworden? Warum geben Sie mir diesen Namen?«

»Weil ich sehe, daß mein Besuch hier als ein unberechtigtes Eindringen angesehen wird, das man nur um des Namens willen, den ich trage, nicht entschieden zurückweist,« versetzte Hugo mit einiger Bitterkeit. »Schon Herr Konsul Erlau ließ mich das fühlen, und hier mache ich zum zweitenmal die Erfahrung. Und doch kann ich auch Ihnen wiederholen, daß ich ohne Auftrag, selbst ohne Wissen – eines andern hier bin und daß dieser andre bis zur Stunde noch keine Ahnung von Ihrer Nähe hat.«

»Nun, so bitte ich Sie, diese Nähe auch ferner ein Geheimnis bleiben zu lassen,« sagte die junge Frau ernst. »Sie werden begreifen, daß ich nicht wünsche, meine Anwesenheit verraten zu sehen, und S. ist immerhin weit genug entfernt, um das möglich zu machen.«

»Wer sagt Ihnen denn, daß wir unsern Aufenthalt in S. genommen haben?« fragte Hugo etwas betreten über die Sicherheit dieser Annahme.

Ella wies nach den auf dem Tische liegenden Zeitungen. »Ich las heute morgen, daß man dort zwei der ersten musikalischen Berühmtheiten erwartet. Die Nachricht ist verspätet wie ich sehe, und Sie sind jedenfalls Gast Ihres Bruders.«

Hugo schwieg; er hatte nicht den Mut, ihr zu sagen, um wie vieles näher ihr der einstige Gatte war, und die Zeitungsnotiz konnte er sich leicht erklären, da er von der bevorstehenden Ankunft Beatricens wußte, man war eben gewohnt, sie und Reinhold stets zusammen zu nennen, und wenn dieser auch jetzt noch in Mirando weilte, so setzte man sein Kommen doch als bestimmt voraus, sobald sie in S. eingetroffen. Im Grunde war es ja auch ein verabredetes Zusammentreffen zwischen den beiden; ableugnen ließ sich das nicht.

»Aber weshalb dieses Verbergen?« fragte er, den gefährlichen Punkt ganz unberührt lassend. » Sie sind es doch nicht, Ella, die eine etwaige Begegnung zu scheuen oder zu fliehen hat.«

»Nein! Aber meinen Knaben will ich um jeden Preis schützen vor der Möglichkeit einer solchen Begegnung.«

»Mit seinem Vater?« Hugo legte einen vorwurfsvollen Nachdruck auf das letzte Wort.

»Mit Ihrem Bruder – ja!«

Der Kapitän sah überrascht auf. Der Ton klang eiskalt, und starr und eisig lag es auf dem Antlitze der jungen Frau, das auf einmal den Ausdruck eines unbeugsamen Willens zeigte, wie ihn niemand in dieser lieblichen Erscheinung gesucht hätte.

»Das ist hart, Ella,« sagte Hugo leise. »Wenn Sie sich unnahbar machen – ich begreife es nach dem, was geschehen ist, warum aber auch den Knaben? Reinhold versuchte es schon einmal, sich seinem Kinde zu nähern – Sie wiesen ihn zurück –«

Ella unterbrach ihn. »Sie haben mir gesagt, daß Sie ohne Auftrag kommen, Hugo, und ich glaube Ihnen; dann aber braucht dieser Punkt nicht weiter zwischen uns erörtert zu werden. Lassen wir ihn ruhen! – Ich war sehr überrascht, Sie hier in Italien wieder zu sehen. Gedenken Sie lange hier zu bleiben?«

Der Kapitän folgte, wenn auch mit einiger Betroffenheit, dem gegebenen Winke. Es war ihm doch noch gar zu ungewohnt, daß seine junge Schwägerin, die er fast nur als stumme, scheue Zuhörerin gekannt, so vollständig das Gespräch beherrschte, und es mit großer Sicherheit und Unbefangenheit auf einen andern Gegenstand hinüberzuleiten wußte, wenn der frühere ihr peinlich wurde.

»Wohl länger, als ich anfangs glaubte,« sagte er, ihre Frage beantwortend. »Mein Aufenthalt war ursprünglich nur auf kurze Zeit bestimmt, aber ein Sturm, der uns auf offener See ergriff, hat meine Ellida so zugerichtet, daß ich nur mit Mühe den nächsten italienischen Hafen erreichte und vorläufig noch nicht daran denken kann, die Fahrt wieder aufzunehmen. Die Arbeiten am Schiffe werden Monate erfordern, und mein Urlaub ist somit ins Ungewisse verlängert worden. Ich ahnte freilich nicht, daß ich Sie hier finden würde.«

Ueber das Antlitz der jungen Frau flog ein Schatten.

»Wir sind auf ärztlichen Befehl hier,« erwiderte sie ernst. »Ein Brustleiden nötigte meinen Pflegevater, den Süden aufzusuchen; seine Gattin ist schon seit mehreren Jahren tot, und Sie wissen ja, daß er kinderlos ist. Ich war längst in die Rechte einer Tochter getreten; da war es wohl selbstverständlich, daß ich auch die Pflichten derselben übernahm. Die Aerzte bestanden durchaus auf diesem Ort, der in der That die günstigste Wirkung zu üben scheint, und so sehr ich wünschte, gerade Italien zu vermeiden, so konnte ich es doch nicht über mich gewinnen, den Kranken, dem meine Nähe Bedürfnis geworden war, allein reisen zu lassen. Wir glaubten jeder peinlichen Begegnung vorzubeugen, wenn wir die Stadt vermieden, in der – Signor Rinaldo lebt, und uns hier die einsamste und abgelegenste der Villen zu möglichster Zurückgezogenheit auswählten. Die Maßregeln waren umsonst, wie ich sehe; Sie waren kaum in meiner Nähe, als Sie auch bereits meinen Aufenthalt entdeckten.«

»Ich? Ja freilich,« sagte Hugo in unwillkürlicher Verlegenheit. »Und Sie machen mir einen Vorwurf daraus?«

Ella lächelte. »Nein! Aber gewundert hat es mich, daß Kapitän Hugo noch so viel Interesse für die kleine Cousine und ehemalige Spielgefährtin hegte, um so hartnäckig auf einem Wiedersehen zu bestehen, das ihm anfangs verweigert wurde. Wir glaubten uns hinreichend gegen fremde Besuche gesichert zu haben. Sie wußten dennoch den Eingang zu erzwingen, und das zeigt mir, daß ich auch schon in meinem früheren Leben Freunde besessen habe. Bis heute bezweifelte ich das, aber es ist doch eine Gewißheit, die mir wohl thut, und dafür danke ich Ihnen, Hugo.«

Sie hatte die Augen klar und voll zu ihm aufgeschlagen, und mit einem reizenden Lächeln, welches das Gesicht unendlich lieblich erscheinen ließ, streckte sie ihm jetzt vertraulich die Hand entgegen. Aber der freundliche Dank fand keine Antwort – die Stirn des Kapitäns brannte in glühender Röte, und urplötzlich sprang er auf und stieß ihre Hand zurück.

»Nein! – Das geht nicht! – Ich – ich habe Ihnen ein Bekenntnis zu machen, Ella, – auf die Gefahr hin, daß Sie mir dann sofort die Thür weisen.«

»Was haben Sie mir denn zu bekennen?« fragte die junge Frau erstaunt.

Hugo sah zu Boden. »Daß ich noch immer der ›Abenteurer‹ bin, dem Sie einst so nachdrücklich den Text gelesen. Gebessert hat ihn das freilich nicht, aber er hat es seitdem doch nicht wieder versucht, mit seinen Thorheiten Ihnen nahe zu kommen, und kann's auch heute nicht. Also kurz und gut, ich hatte keine Ahnung davon, wer die Bewohner dieser Villa seien, als ich meine Schritte hieher lenkte. Ich ließ mich bei dem mir völlig unbekannten Herrn melden, weil Marchese Tortoni mir von einer jungen Dame gesprochen hatte, die hier in äußerster Zurückgezogenheit lebte, und – ja, das wußte ich vorher, daß Sie mich wieder so ansehen würden.«

Ihr Blick hatte ihn in der That ernst und vorwurfsvoll getroffen; jetzt wandte sie sich schweigend ab und sah durch das Fenster. Es entstand eine Pause, dann trat Hugo an ihre Seite.

»Das war der ›Zufall‹, der mich hergeführt. Nun, Ella? Ich warte auf meine Strafpredigt.«

»Sie sind ja frei und haben keine Pflicht zu verletzen,« sagte die junge Frau kühl. »Im übrigen kann meine Meinung in solchen Dingen wohl schwerlich von Einfluß auf Sie sein, Herr Kapitän.«

»Und damit hat der Herr Kapitän sich zu entfernen, um das nächste Mal verschlossene Thüren zu finden, nicht wahr?« In seiner Stimme klang eine unverkennbare Erregung. »Sie sind doch ungerecht gegen mich. Daß ich hier, wo ich völlig Unbekannte zu finden wähnte, einem Abenteuer nachging – nun, das ist eben nichts Neues bei mir, aber daß ich die grenzenlose Albernheit beging, es Ihnen einzugestehen, obwohl mir doch der beste Vorwand zur Täuschung gegeben war, das ist sehr neu, und dazu haben nur Sie mich mit diesen Augen gezwungen, die mich wieder so groß und fragend anblickten, daß ich rot wurde wie ein Schulknabe und nicht von der Stelle konnte mit meiner Lüge. Und dafür bekomme ich nun auch sofort wieder den ›Herrn Kapitän‹ zu hören, der sich, Gott sei Dank, auf eine Viertelstunde aus unsrem Gespräche empfohlen hatte.«

Ella schüttelte leise das Haupt. »Sie haben mir die ganze Freude am Wiedersehen verdorben – jetzt freilich –«

»Haben Sie sich denn gefreut? Haben Sie das wirklich?« rief Hugo, sie lebhaft unterbrechend, mit aufblitzenden Augen.

»Gewiß,« versicherte sie ruhig. »Man freut sich immer, wenn man in der Ferne Grüße und Erinnerungen aus der Heimat wiederfindet.«

»Ja so,« sagte Hugo langsam. »Ich hatte ganz vergessen, daß wir nebenbei noch Landsleute sind. Also nur den Deutschen haben Sie in mir gesehen? Da bekenne ich denn doch offen, daß meine Regungen nicht so allgemein patriotischer Natur waren, als ich Sie wiedersah.«

»Trotz der unvermeidlichen Enttäuschung, die Ihnen die Entdeckung bereitete?« fragte Ella mit einiger Schärfe.

Der Kapitän sah sie einige Sekunden lang unverwandt an.

»Sie lassen mich das unvorsichtige Geständnis arg büßen, Ella. Sei's darum! Ich muß es wohl ertragen. Nur eine Frage noch, ehe ich gehe, oder eine Bitte vielmehr. Darf ich wiederkommen?«

Sie zögerte mit der Antwort; er trat ihr einen Schritt näher. »Darf ich wiederkommen? Ella, was habe ich Ihnen denn gethan, daß Sie auch mich von Ihrer Schwelle bannen wollen?«

Es lag ein Vorwurf in den Worten, der seinen Eindruck auf die junge Frau nicht verfehlte. »Ich thue es ja auch nicht,« erwiderte sie leise. »Wenn Sie mich wieder aufsuchen wollen – Ihnen wird unsre Thür nicht verschlossen sein.«

Mit einer raschen Bewegung ergriff Hugo ihre Hand und zog sie an seine Lippen, aber diese Lippen ruhten ungewöhnlich lange darauf, viel länger, als es sonst bei einem Handkuß üblich ist, und Ella schien das zu fühlen, denn sie zog etwas hastig die Hand zurück. Ebenso hastig richtete sich auch der Kapitän auf; die helle Röte von vorhin lag wieder auf seinem Antlitz und er, der nie um eine Artigkeit oder eine passende Antwort verlegen war, sagte jetzt nur einsilbig:

»Ich danke Ihnen. Auf Wiedersehen also!«

»Auf Wiedersehen!« entgegnete Ella mit einer Befangenheit, die seltsam mit der Ruhe und Sicherheit kontrastierte, die sie während der ganzen Unterredung gezeigt hatte. Fast schien es, als bereue sie die soeben gegebene Erlaubnis, die gleichwohl nicht mehr zurückgenommen werden konnte.

Wenige Minuten darauf befand sich Kapitän Almbach im Freien und schlug langsam den Rückweg nach Mirando ein. Er hatte wieder einmal seinen Willen durchgesetzt und das heute morgen im Uebermute gegebene Versprechen eingelöst. Aber er schien wenig geneigt, diesen Triumph irgendwo geltend zu machen. Nach der Villa zurückschauend, strich er mit der Hand über die Stirn wie jemand, der aus einem Traume erwacht.

»Ich glaube, die elegische Atmosphäre in Mirando hat mich angesteckt,« murmelte er ärgerlich. »Ich fange jetzt auch an, die einfachsten Dinge vom idealromantischen Standpunkte aufzufassen. Was ist denn eigentlich an dieser Begegnung, daß ich so gar nicht darüber hinauskommen kann? Die Erlauschen Salons sind eben eine gute Schule gewesen, und die Schülerin hat über Erwarten leicht und schnell begriffen! Geahnt habe ich längst so etwas und doch – Thorheit, was geht es mich denn an, wenn Reinhold schließlich seine Blindheit bereuen lernt! Und sie weiß noch nicht einmal, wie nahe er ihr ist, so nahe, daß eine Begegnung auf die Dauer nicht ausbleiben kann. Ich fürchte, der Versuch einer Annäherung käme Reinhold diesmal noch viel teurer zu stehen als jener erste. Was war das für ein seltsam eisiger Ausdruck in ihrem Gesichte, als ich auf die Möglichkeit einer Versöhnung hindeutete! Das,« – hier atmete Hugo auf, in vielleicht unbewußter, aber tiefster Genugthuung – »das sprach ›nein‹ bis in alle Ewigkeit. Und wenn sie jetzt auch Zufall oder Schicksal wieder zusammenführt, jetzt ist's zu spät – jetzt hat er sie verloren.«

*

Ueber den blauen Spiegel der Flut glitt ein Boot, das, von S. kommend, die Richtung nach Mirando nahm. Das zierliche Aussehen der Barke ließ sie als das Eigentum irgend einer reichen Familie erkennen, und die beiden Ruderer trugen die Farben des Hauses Tortoni. Für den Herrn jedoch, der sich außerdem noch im Boote befand, schien weder die schwebend schnelle Fahrt noch das herrliche Panorama ringsum auch nur das mindeste Interesse zu besitzen. Er lehnte, wie schlafend, mit geschlossenen Augen in seinem Sitze und blickte erst auf, als das Fahrzeug an der Marmortreppe anlegte, die von der Terrasse der Villa direkt ins Meer hinabführte. Er stieg aus. Ein Wink verabschiedete die beiden Leute, die, wie die gesamte Dienerschaft des Marchese, gewohnt waren, dem berühmten Gast ihres Herrn fast noch größeren Respekt als diesem selbst zu erweisen. Einige Ruderschläge trieben das Boot seitwärts, und gleich darauf legte es drüben am Parke in einem kleinen Hafen an.

Reinhold betrat die Stufen und stieg langsam hinauf. Er kam von S. her, wo Beatrice inzwischen eingetroffen war. Wie gewöhnlich war die Künstlerin auch hier, wo alle Fremden und Einheimischen von Bedeutung sich zur Villeggiatur zusammenfanden, von Bekannten umringt und mit Huldigungen umgeben worden, und Reinhold befand sich kaum an ihrer Seite, als auch ihm, und zwar in höherem Maße, dieses Schicksal zu teil wurde. In Beatrices Nähe gab es nun einmal für ihn kein Ausruhen und keine Erholung; sie zog ihn sofort wieder in den Strudel hinein. Aus den Stunden, die er bei ihr zubringen wollte, waren Tage geworden, die an Aufregung und Zerstreuung den letzten Wochen in der Stadt wenig nachgaben, und nachdem er sie gestern abend noch zu einer größeren Festlichkeit begleitet, welche die ganze Nacht hindurch bis an den lichten Morgen währte, hatte er sich endlich mit Tagesanbruch losgerissen und sich ins Boot geworfen, um nach Mirando zurückzukehren.

Er atmete tief auf bei der Stille und Einsamkeit, die ihn hier empfing und die nicht einmal durch einen Gruß oder Empfang gestört wurde. Cesario hatte, wie er wußte, heute bereits in aller Frühe und in Begleitung Hugos einen Ausflug nach der benachbarten Insel unternommen, von dem beide erst gegen Abend zurückerwartet wurden, und für Fremde war die Villa jetzt nicht zugänglich. Der junge Marchese liebte es nicht, in der Einsamkeit seiner Villeggiatur gestört zu werden, und der Verwalter hatte Befehl erhalten, während seiner Anwesenheit keine fremden Besucher zuzulassen, ein Befehl, der in vollster Strenge aufrecht erhalten wurde zum großen Mißvergnügen der Fremden, denen Mirando als ein beliebtes Ziel ihrer Ausflüge galt. Die Besitzung mit ihren weiten Gärten und prachtvollen Gebäuden, die man im Norden unbedingt ein Schloß genannt hätte und die hier nur den bescheidenen Namen einer Villa führte, war weitberühmt, nicht allein wegen ihrer paradiesischen Lage und des unbegrenzten Blickes auf das Meer hinaus, sondern auch wegen der reichen Kunstschätze, die sie in ihrem Innern barg und die jetzt nur das Auge der wenigen entzückten, die das Glück hatten, sich die Gäste des Marchese nennen zu dürfen.

Ueberwacht, ermüdet, und doch unfähig, Schlaf und Ruhe zu suchen, warf sich Reinhold auf eine der Marmorbänke im Schatten der Säulenhalle; er fühlte sich abgespannt bis zur äußersten Erschlaffung. Jawohl, diese schwülen italienischen Nächte mit ihrem betäubenden Blütenduft und ihrer mondbeglänzten Ruhe oder dem rauschenden Festesjubel, diese sonnenhellen Tage mit dem ewig blauen Himmel und der glühenden Farbenpracht der Erde, sie hatten ihm alles gegeben, was er nur je im kalten trüben Norden davon geträumt, aber sie hatten ihm auch den besten Teil seiner Lebenskraft gekostet. Die Zeit war längst vorüber, wo dem jungen Künstler das ganze Dasein nur ein Wechsel war von glühendem Rausch und beseligenden Träumen. Das hatte monden-, jahrelang gewährt – dann war allmählich die Ermüdung gekommen und dann zuletzt das Erwachen, wo diese herrliche farbenglänzende Welt so kalt und leer vor ihm lag, wo die Ideale zusammensanken und die einst so heiß ersehnte Freiheit zur grenzenlosen Oede wurde, die keine Pflicht, aber auch keine Sehnsucht mehr begrenzte. Mit den Fesseln, die er so energisch und rücksichtslos gesprengt, hatte er auch den Zügel verloren; er schweifte hinaus ins Schrankenlose, und die Schrankenlosigkeit war ihm zum Fluch geworden. Den Künstler bewahrte freilich der Prometheusfunke in seinem Inneren vor dem Schicksal, das so viele andre ereilte, vor dem rettungslosen Versinken in diese Ernüchterung und Gleichgültigkeit gegen alles, aber dieselbe Macht, die ihn immer und immer wieder daraus emporriß, jagte ihn auch ruhelos umher, dem einen nie Erreichten nach, das er nicht zu nennen wußte, und von dem er nur fühlte, daß es ihm fehle und ewig fehlen werde. Italien in all seiner Schönheit hatte es ihm nicht zu geben vermocht, nicht die glühende Liebe Beatricens und nicht die Kunst, die ihm doch den vollsten Ruhmeskranz gereicht – das Phantom zerfloß, sobald er die Arme danach ausstreckte. Und wenn die Wunderblüte des Südens sich ihm auch geöffnet hatte in ihrer ganzen berauschenden Pracht – die blaue Märchenblume hatte er nicht gefunden. –

Reinhold schreckte plötzlich empor aus seinen Träumereien. Irgend etwas hatte ihn darin gestört. War es ein Schritt, ein Rauschen gewesen – er erhob sich und sah mit grenzenlosem Erstaunen eine Dame nur wenige Schritte entfernt auf der Terrasse stehen und in das Meer hinausblicken. Was sollte das heißen? Und wie kam diese Fremde hieher, jetzt wo Mirando doch für Besucher nicht zugänglich war? Sie konnte erst vor wenigen Minuten aus der noch offenen Thür getreten sein, die in den Saal führte, der die berühmte Gemäldesammlung der Villa enthielt, und schien den einsamen Träumer in der Säulenhalle so wenig bemerkt zu haben, wie er sie.

Reinhold war längst auch gegen Frauenschönheit gleichgültig geworden, aber diese Erscheinung fesselte ihn doch unwillkürlich. Sie stand im Schatten einer der riesigen Vasen, welche die Terrasse schmückten; nur das etwas vorgeneigte Haupt wurde von dem vollen Sonnenlicht getroffen und die schweren blonden Flechten schimmerten in dem Strahle wie gesponnenes Gold. Das Gesicht war zur Hälfte abgewendet. Man sah kaum das zarte, rein und edel gezeichnete Profil. Die schlanke Gestalt im luftig weißen Gewande lehnte leicht in unbeschreiblich graziöser Haltung an der Marmorbalustrade; die linke Hand stützte sich darauf, während die herabhängende Rechte den blumengeschmückten Strohhut hielt. Sie stand unbeweglich, ganz im Anblick des Meeres versunken und hatte augenscheinlich keine Ahnung davon, daß sie beobachtet wurde.

Es war noch früh am Tage. Der Morgen war in leuchtender Klarheit aus dem Meere emporgestiegen und lag jetzt sonnig lächelnd in tauiger Frische über der ganzen Umgebung. Noch umwob blauer Duft das Vorgebirge und die fernen Küsten, deren Linien wie hineingehaucht am Horizont zu schweben schienen, und in der Luft flimmerte es noch wie feuchter Silberglanz. Es lag etwas Märchenhaftes in dieser Morgenstunde und dieser Umgebung, vor allem in der weißen Gestalt da drüben mit dem goldschimmernden Haar, und wie ein Märchenschloß, das aus der feuchten Tiefe emporgestiegen, erschien auch Mirando mit seinen weißen Marmorsäulen und Terrassen. Tiefblau wölbte sich der Himmel darüber hin und tiefblau rauschte das Meer zu seinen Füßen. Aus den Gärten wehte der Blütenduft herüber, aber geisterhafte Stille umfing alles, als sei jedes Leben hier gebannt oder in Schlaf versunken. Kein Ton ringsum, nichts als das leise Wallen des Meeres, der immer gleiche, träumerische Laut der Wellen, welche die Marmorstufen küßten und vor den Blicken nur die blaue wogende Unermeßlichkeit, die sich fernhin dehnte in unbegrenzter Weite.

Reinhold verharrte regungslos in seiner Stellung; er mochte mit keiner Bewegung den Zauber dieser Minute stören. Wehte es doch auf einmal zu ihm herüber wie ein Hauch der alten Sagenpoesie seiner Heimat, die er längst vergessen, und die mit ihrem schwermütig süßen Reiz in diesem Augenblicke wieder vor ihm auftauchte. Aber die tiefe Stille wurde plötzlich unterbrochen durch das helle Jauchzen einer Kinderstimme. Ein Knabe von sieben oder acht Jahren stürmte die Stufen zur Terrasse herauf, eine große, glänzende Muschel in der Hand, die er irgendwo am Ufer aufgelesen haben mochte. Das Kind war sichtlich voll Entzücken über seinen Fund; das ganze kleine Gesicht strahlte, als es mit glühenden Wangen und fliegenden Locken auf die Dame zueilte, die sich auf seinen Ruf umwandte.

Mit einem halb unterdrückten Aufschrei fuhr Reinhold auf und stand dann wie in dem Boden festgewurzelt. In dem Momente, wo sie ihm das Gesicht voll zuwendete, erkannte er die Fremde, die Ellas Züge trug und doch nicht Ella sein konnte. Betäubt, totenbleich starrte er die Frau an, deren poetische Erscheinung er soeben noch bewundert und die doch Zug um Zug seiner so sehr mißachteten und schließlich verlassenen Gattin glich. Auch sie hatte ihn erkannt; das bewies die tiefe Blässe, die auch ihr Antlitz überflog, bewies ihr jähes Zurückweichen. Sie faßte nach der Marmorbalustrade, wie um einen Halt zu suchen, aber jetzt hatte der Knabe sie erreicht, und seine Muschel mit beiden Händen emporhaltend, rief er triumphierend:

»Mama! Liebe Mama, sieh nur, was ich gefunden habe!«

Das riß Reinhold aus seiner Erstarrung. Betäubung, Schreck, Erstaunen, das alles verschwand, als er die Stimme seines Kindes vernahm. Nur der Eingebung des Augenblickes folgend, stürzte er vorwärts und streckte die Arme aus, um den Knaben stürmisch an seine Brust zu reißen.

»Reinhold!«

Almbach hielt betreten inne, aber der Name galt nicht ihm, sondern dem Knaben, der, dem Rufe augenblicklich gehorchend, zur Mutter eilte. Mit einer raschen Bewegung legte sie beide Arme um ihn, als wolle sie ihn schützen oder verbergen, und richtete sich dann empor. Noch war die Blässe nicht von ihrem Antlitze gewichen, und die Lippen bebten noch, aber die Stimme klang fest und energisch.

»Du darfst Fremde nicht belästigen, Reinhold. Komm, mein Kind! Wir wollen gehen.«

Almbach zuckte zusammen und trat einen Schritt zurück; der Ton war ihm so neu, wie das ganze Wesen derjenigen, die er einst seine Gattin genannt. Hätte er nicht ihre Stimme erkannt, er würde jetzt mehr als je an eine Täuschung geglaubt haben. Der Kleine dagegen blickte bei dem Vorwurf verwundert auf. Er war dem fremden Herrn ja nicht einmal nahe gekommen und hatte ihn sicher nicht belästigt, aber er sah an der Blässe und Aufgeregtheit der Mutter, daß irgend etwas Ungewöhnliches vorging, und die großen blauen Augen des Kindes richteten sich trotzig, fast feindselig auf den Unbekannten, von dem es instinktmäßig erriet, daß er es sei, der die Mama so erschreckt habe.

Ella hatte sich bereits wieder gefaßt. Sie wandte sich zum Gehen, den Arm noch immer fest um die Schulter ihres Knaben gelegt, aber Reinhold vertrat ihr jetzt heftig den Weg – sie mußte stehen bleiben.

»Wollen Sie die Güte haben, uns vorüber zu lassen?« sagte sie kalt und fremd. »Ich bitte darum.«

»Was soll das, Ella?« brach Reinhold jetzt in leidenschaftlicher Erregung aus. »Du hast mich so gut erkannt, wie ich dich. Wozu dieser Ton zwischen uns?«

Sie sah ihn an; in dem Blicke lag die ganze Antwort, eiskalte, niederschmetternde Verachtung. Er hatte es freilich nie für möglich gehalten, daß Ellas Augen so blicken konnten, aber er wandte sein Angesicht vor ihnen zu Boden.

»Wollen Sie die Güte haben, uns den Weg frei zu geben, Signor?« wiederholte sie in vollkommen reinem Italienisch, als nehme sie an, er habe die deutsche Anrede nicht verstanden. Es lag ein entschiedener Befehl in den Worten, und Reinhold – gehorchte. Ganz fassungslos wich er zur Seite und ließ sie vorüber. Er sah, wie sie mit dem Kinde die Stufen hinabstieg, wie dort unten ein Diener in fremder Livree, der gewartet zu haben schien, sich ihnen anschloß, und wie alle drei durch die Gärten davoneilten; er selbst aber stand noch immer oben auf der Terrasse und besann sich, ob er denn geträumt habe und das Ganze nur ein Gebilde seiner Phantasie sei.

Das geräuschvolle Schließen der Thür, die in den Gemäldesaal führte, brachte ihn wieder zur Besinnung. Mit wenigen Schritten stand er dort, und die Thür ungestüm aufreißend, trat er in den Saal, wo der Verwalter von Mirando soeben beschäftigt war, die Vorhänge wieder niederzulassen, die er der besseren Beleuchtung wegen aufgezogen hatte.

»Wer war die Dame mit dem Kinde, die sich soeben hier auf der Terrasse befand?« Mit dieser hastigen Frage stürmte Reinhold auf den Mann ein, der sehr bestürzt schien, als er den Gast seines Herrn, den er noch in S. vermutete, so plötzlich vor sich sah; er zögerte in sichtlicher Verlegenheit mit der Antwort.

»Verzeihung, Signor – ich hatte keine Ahnung davon, daß Sie schon zurück seien, und da Eccellenza und der Signor Capitano erst gegen Abend erwartet werden, so hatte ich mir erlaubt –«

»Wer war die Dame?« drängte Reinhold in fieberhafter Ungeduld, ohne auf die Entschuldigung zu achten. »Woher kamen sie? Schnell! Ich muß es wissen.«

»Drüben aus der Villa Fiorina,« sagte der Verwalter, halb verwundert, halb erschreckt über das Ungestüm des Fragenden. »Die fremde Signora wünschte Mirando zu sehen und ließ durch ihren Diener anfragen. Eccellenza haben freilich befohlen, während ihres Hierseins keine Besucher einzulassen, aber es war ja heute morgen niemand von den Herrschaften anwesend, und da glaubte ich eine Ausnahme machen zu dürfen.« Er hielt inne und setzte dann im Tone der Bitte hinzu: »Es würde mir freilich große Ungelegenheiten bei Eccellenza bereiten, wenn Signor Rinaldo es ihm mitteilen wollten.«

»Ich? Nein,« sagte Reinhold wie abwesend. »Und wie nannte sich die Dame?«

»Erlau, wenn ich recht verstanden habe.«

»Erlau – so?« Almbach fuhr mit der Hand über die Stirn. »Es ist gut, Mariano; ich danke Ihnen,« sagte er und verließ den Saal.

*

Der Tag war glühend heiß geworden, und auch der Abend brachte weder Kühle noch Erfrischung. Luft und Meer schienen von keinem Hauche bewegt, und die Sonne ging in heißen Dunstwolken nieder. Auch in der Villa Fiorina schien man von der Glut zu leiden. Die Bewohner hielten sich vermutlich drinnen in den kühleren Zimmern, denn die Jalousien waren während des ganzen Tages nicht geöffnet worden und die Glasthüren, welche nach der Terrasse führten, blieben geschlossen. Die deutsche Familie bewohnte das weitläufige Gebäude, das sie für sich allein in Anspruch genommen hatte, kaum zur Hälfte. Einige Zimmer rechts vom Gartensaale waren für den Konsul eingerichtet worden; die auf der andern Seite gelegenen bewohnte dessen Pflegetochter mit ihrem Kinde; die Dienerschaft war in den hintern Räumen untergebracht, und das übrige stand leer.

Es war schon in vorgerückter Abendstunde, als Ella in den von einer Lampe erhellten Gartensaal trat. Der Konsul hatte sich bereits zur Ruhe begeben, und die junge Frau kam von ihrem Knaben, den sie, nachdem er eingeschlummert war, der Obhut seiner Wärterin überließ. Vielleicht war es der matte Lampenschein, der ihr Antlitz auch jetzt noch so blaß erscheinen ließ; seit dem heutigen Morgen war die Farbe noch nicht wieder darauf zurückgekehrt, wenn auch die Züge selbst vollkommen ruhig erschienen.

Sie öffnete die Glasthür und trat auf die Terrasse. Draußen herrschte bereits völlige Dunkelheit; kein Mondstrahl drang durch das Gewölk, das noch immer den Himmel umzogen hielt, kein Hauch des Seewindes bewegte die blühenden Gesträuche. Schwül und schwer schien die Luft auf der Erde förmlich zu lasten, und das Meer lag in träger Ruhe, fast regungslos. Es war beängstigend in dieser schwülen Stille und Dunkelheit; dennoch schien Ella sie dem Aufenthalt in dem erhellten Gartensaale vorzuziehen; sie stand wie heute morgen an die Steinbalustrade gelehnt, zur Hälfte noch in dem matten Lichtkreise, der aus der geöffneten Thür auf die Terrasse fiel und die helle Gestalt, wenn auch undeutlich, erkennen ließ.

Einige Minuten mochten so vergangen sein, als ein Geräusch in ihrer Nähe sie aufschreckte. Mit einem leichten Aufschrei wollte sie nach dem Hause zurückflüchten, denn dicht neben ihr stand eine dunkle, hohe Männergestalt, in demselben Augenblicke aber legte sich auch eine Hand auf ihren Arm, und eine unterdrückte Stimme sagte:

»Beruhige dich, Ella! Es ist weder ein Räuber noch ein Dieb, der vor dir steht, wenn du mich auch gezwungen hast, den Weg eines solchen zu wählen.«

Die junge Frau hatte beim ersten Ton Reinholds Stimme erkannt, aber sie wich nur um so weiter zurück, bis an die Schwelle der Glasthür.

»Was wünschen Sie, Signor?« sagte sie kalt in italienischer Sprache. »Und was bedeutet dieser Ueberfall zu einer solchen Stunde?«

Reinhold war ihr gefolgt, aber er versuchte es nicht wieder, ihren Arm zu berühren oder ihr auch nur nahe zu kommen.

»Vor allen Dingen wünsche ich, daß du die Güte haben mögest, einmal deutsch mit mir zu sprechen,« versetzte er mit mühsam verhaltener Erregung. »Ich habe unsre Sprache doch nicht so ganz verlernt, wie du vorauszusetzen scheinst. Woher ich komme? Aus dem Boote dort! Die Terrasse wenigstens hat sich nicht so unzugänglich gezeigt, wie die Thüren deines Hauses, die mir verschlossen blieben.«

Er wies nach dem Meere hinüber. Es war ein Wagnis, von dem schwankenden Boote aus die hohe Steinterrasse zu ersteigen, aber Reinhold schien nicht in der Stimmung, nach der Möglichkeit einer Gefahr zu fragen. Er war augenscheinlich schon hier gewesen, als Ella heraustrat, und fuhr jetzt noch erregter fort:

»Es wird dir wohl nicht unbekannt geblieben sein, daß ich bereits heute nachmittag hier war. Du ließest mich abweisen, oder vielmehr Erlau that es, denn ich hatte begreiflicherweise nicht die Taktlosigkeit, mich bei dir melden zu lassen. Er hat mich weder empfangen, noch das Billet angenommen, das meine Bitte enthielt, und doch mußtet ihr beide wissen, was mich herführte. Da blieb denn nur die Selbsthilfe übrig. Du siehst, ich habe den Eingang dennoch erzwungen.«

Er sprach in tiefster Erbitterung. Der stolze Künstler empfand die doppelte Zurückweisung, die er heute erfahren hatte, als eine tödliche Beleidigung. Man hörte, wie er noch jetzt jedes einzelne Wort seinem Stolze abrang, und es mußte ein mächtiger Beweggrund sein, der ihn trotz alledem herführte und noch dazu auf solchem Wege. Seine Gattin hatte wohl keinen Anteil daran, denn er stand ihr gegenüber in finsterem, ungebeugtem Trotze. Reinhold Almbach hatte es schon als Knabe nie vermocht, sich zu demütigen, selbst da nicht, wo er sich im Unrecht wußte, und er hatte während der letzten Jahre nur zu oft die gefährliche Erfahrung gemacht, daß jedes Unrecht, das er beging, mit dem Rechte des Genius gedeckt wurde, der sich nahezu alles erlauben darf.

Sie waren während der letzten Worte vollends in den Gartensaal getreten. In der Mitte desselben blieb Ella stehen.

»Signor Rinaldo scheint diesmal den Weg verfehlt zu haben,« sagte sie, jetzt zwar in deutscher Sprache, aber in dem gleichen Tone wie vorhin. »Drüben in S. liegt die Villa, wo sich Signora Biancona befindet, und es konnte wohl nur ein Irrtum sein, der sein Boot an unsrer Terrasse landen ließ.«

Der Vorwurf traf. Almbachs trotziger Blick senkte sich, und für einige Sekunden fehlte ihm die Antwort.

»Ich suchte diesmal nicht Signora Biancona,« erwiderte er endlich, »und daß ich Eleonore Almbach nicht suchen darf, hat sie mir heute morgen bereits hinreichend gezeigt. Es war nicht meine Absicht, dich nochmals durch meinen Anblick zu beleidigen; es wäre dir erspart worden, hättest du meiner schriftlichen Bitte nachgegeben. Ich kam einzig, mein Kind zu sehen.«

Mit einigen raschen Schritten war die junge Frau an der Thür des Schlafzimmers und stellte sich davor. Sie sprach kein Wort, aber in der einen Bewegung lag ein so energischer Protest, daß Reinhold sofort ihre Absicht begriff.

»Willst du es mir nicht einmal gestatten, meinen Sohn zu umarmen?« fragte er heftig.

»Nein!« lautete die feste, mit vollster Entschiedenheit gegebene Antwort.

Reinhold wollte auffahren; sie sah, wie er die Hand ballte, aber er zwang sich zur Ruhe.

»Ich sehe, daß ich deinem verstorbenen Vater unrecht gethan habe,« sagte er bitter. »Ich hielt es für sein Werk, daß mir jede Nachricht über meinen Knaben vorenthalten wurde. – Hast du selbst meinen ersten Brief gelesen und ihn unbeantwortet gelassen?«

»Ja.«

»Und den zweiten unerbrochen zurückgesandt?«

»Ja.«

In Reinholds Antlitz wechselten Röte und Blässe; stumm sah er die Frau an, aus deren Munde er nie eine eigene Willensäußerung, viel weniger einen Widerspruch vernommen, die er nur als demütig und schweigend Gehorchende kannte und die es jetzt wagte, ihm mit solcher Entschiedenheit etwas zu versagen, was er als sein unbedingtes Recht in Anspruch nahm.

»Nimm dich in acht, Ella!« sagte er dumpf. »Was auch zwischen uns geschehen ist, was du mir vorwerfen magst, diesen Ton der Verachtung ertrage ich nicht, und vor allem dulde ich es nicht, daß mir der Anblick des Knaben versagt wird. Ich will mein Kind sehen.«

Die Forderung klang beinahe drohend; die bleichen Wangen der jungen Frau begannen sich leise zu röten, aber sie wich nicht von ihrem Platze.

» Dein Kind?« fragte sie langsam. »Der Knabe gehört mir, mir allein. Du hast jedes Recht auf ihn verloren, als du ihn mir zurückließest.«

»Das möchte doch noch die Frage sein,« rief Almbach mit ausbrechender Heftigkeit. »Sind wir gerichtlich geschieden? Haben die Gesetze dir Reinhold zugesprochen? Er bleibt mein Sohn, was auch zwischen dir und mir liegen mag, und wenn du mir meine Vaterrechte noch länger verweigerst, so werde ich sie mir zu erzwingen wissen.«

Die Drohung blieb nicht wirkungslos, aber sie verfehlte vollständig ihren Zweck. Ella richtete sich auf mit zuckenden Lippen, aber mit vollster Energie.

»Das wirst du nicht. Die Stirn hast du nicht, und hättest du sie, so gibt es, Gott sei Dank, noch eine andre Macht, die ich anrufen kann, und die dir vielleicht nicht so gleichgültig ist wie Familienbande und Pflichten, welche du so leicht zerrissest. Die Welt würde es erfahren, daß Signor Rinaldo, nachdem er Weib und Kind verlassen und jahrelang nicht nach ihnen gefragt hat, es jetzt wagt, seinem Weibe mit denselben Gesetzen zu drohen, die er verhöhnt und mit Füßen getreten hat, weil sie nicht will, daß ihr Knabe ihn Vater nennt – und all dein Ruhm und all die Vergötterung würden dich nicht schützen vor der verdienten Verachtung.«

»Eleonore!«

Es war ein Aufschrei der Wut, der seinen Lippen entfuhr, als sie das letzte Wort aussprach, und sein Blick flammte in erschreckender Wildheit nieder auf die zarte vor ihm stehende Gestalt. Wenn Reinholds Leidenschaftlichkeit erst einmal aufs äußerste gereizt war, so kannte er keine Schranken mehr und seine ganze Umgebung pflegte dann vor ihm zu zittern. Selbst Beatrice, so wenig sie ihm sonst an Heftigkeit nachgab, wagte es in solchen Augenblicken nicht, ihn noch mehr zu reizen. Sie kannte die ihr gezogene Grenze, und war diese erst einmal erreicht, so fügte sie sich stets. Hier war das anders; zum erstenmal seit Jahren scheiterte er an einem fremden Willen; vor dem Auge, das so klar und groß dem seinigen begegnete, sank sein ganzer Trotz zusammen – er verstummte.

»Du siehst wohl selbst ein, daß es mehr als Hohn wäre, wolltest du dich auf die Gesetze berufen,« sagte die junge Frau ruhiger.

Reinhold stützte sich schwer auf den Sessel, an dem er stand. War es Scham oder Zorn, die Hand, welche sich in die Polster vergrub, zitterte.

»Ich sehe, daß ich in einem verhängnisvollen Irrtum befangen war, als ich die Frau zu kennen wähnte, die zwei Jahre lang meine Gattin hieß,« erwiderte er in seltsam gepreßtem Tone. »Hättest du mir nur ein einziges Mal die Eleonore gezeigt, der ich jetzt begegne, es wäre wohl manches ungeschehen geblieben. Wer hat dich diese Sprache gelehrt?«

»Die Stunde, in der du mich verließest,« antwortete sie mit vernichtender Kälte, indem sie sich abwandte.

»Die Stunde scheint dir noch manches andre gegeben zu haben, was dir sonst fremd war – die Lust an der Rache zum Beispiel –«

»Und den Stolz, den ich dir gegenüber nie gekannt,« ergänzte Ella. »Ich mußte erst zu Boden getreten werden, ehe er aufwachte und mir zeigte, was ich mir und meinem Kinde schuldig war, dem einzigen, was du mir noch gelassen hattest, dem einzigen, was mich noch aufrecht erhielt. Um seinetwillen habe ich noch einmal angefangen, zu lernen und zu arbeiten, als die Zeit des Lernens längst hinter mir lag, um seinetwillen habe ich mich emporgerissen aus den Vorurteilen und Banden meiner Erziehung und meinem Leben eine neue Richtung gegeben, als der Tod der Eltern mich frei machte. Ich mußte dem Kinde jetzt alles sein, wie es mir alles war, und ich hatte mir gelobt, daß mein Sohn sich dereinst nicht der Mutter schämen sollte, wie sein Vater sich ihrer schämte, weil sie äußerlich hinter andern Frauen zurückstand.«

Almbachs Stirn färbte sich dunkelrot bei den letzten Worten. »Es war nicht meine Absicht, dir Reinhold streitig zu machen,« sagte er hastig. »Nur sehen wollte ich ihn, wenn es sein muß, in deiner Gegenwart. Du weißt nur zu gut, welch eine Waffe du mit dem Kinde in deiner Hand hast, und gebrauchst sie schonungslos gegen mich. Ella,« – er trat ihr näher und zum erstenmal klang etwas wie Bitte in seiner Stimme – »Ella, es ist unser Kind. Dieses Band wenigstens reicht noch aus der Vergangenheit herüber in die Gegenwart, das einzige zwischen uns, das nicht zerrissen wurde. Willst du es jetzt zerreißen? Soll der Zufall, der uns hier zusammenführte, wirklich nur Zufall bleiben? In deinen Händen liegt es, ihn zu einer Schicksalswendung zu machen, die vielleicht noch zum Heil werden kann für uns beide.«

Die Hindeutung war verständlich genug, aber die junge Frau wich zurück, und auf ihr Antlitz legte sich wieder jener verhängnisvolle Ausdruck, der »nein!« sprach bis in alle Ewigkeit.

»Für uns beide?« wiederholte sie. »Also glaubst du wirklich, ich könnte ein Glück an deiner Seite finden, nach allem, was du mir angethan? Wahrlich, Reinhold, du mußt sehr durchdrungen sein von deinem Werte oder meinem Unwerte, daß du es wagst, mir das zu bieten. Freilich, wo hättest du auch Achtung für mich lernen sollen? In meinem Elternhause war es ja nicht möglich. Ich war zum Gehorsam, zur Unterordnung erzogen und brachte beides auch meinem Gatten entgegen. Was wurde mein Lohn dafür? Ich war die letzte in seinem Hause und die letzte in seinem Herzen. Er hielt es nie der Mühe wert, danach zu fragen, ob die Frau, der er sich doch nun einmal verbunden, auch wirklich so beschränkt, so unempfänglich für alles Höhere, oder ob sie nur verschüchtert war durch den Druck einer Erziehung, unter der wir beide gelitten hatten. Er wies meine scheuen Versuche, mich ihm zu nähern, verächtlich, verletzend zurück, und ließ es mich täglich und stündlich fühlen, daß nur das Verdienst, die Mutter seines Kindes zu sein, mir noch einen Anspruch auf seine Duldung gab. Und als ihm die Kunst und das Leben aufgingen, da warf er mich beiseite wie eine Last, die man lange genug mit Widerwillen getragen, da gab er mich dem Gerede, dem Spotte, dem entehrenden Mitleid preis, da verließ er mich um einer andern willen, und fragte an der Seite dieser andern nicht danach, ob das Herz seines Weibes sich verblutete an dem Todesstoß, den er ihr gegeben. – Und jetzt, meinst du, bedürfe es nur eines Wortes, um das alles ungeschehen zu machen? Du meinst, du brauchest nur die Hand auszustrecken, um das wieder an dich zu reißen, was du einst von dir stießest? Nein, so spielt man nicht mit dem Heiligsten auf Erden, und wenn du glaubtest, die verachtete, verstoßene Ella würde dem ersten Winke gehorchen, durch den du sie wieder zu Gnaden annimmst, so sage ich dir jetzt: eher stürbe sie mit ihrem Kinde, ehe sie dir wieder folgte. Du hast dich losgesagt von deinen Gatten- und Vaterpflichten, und wir haben es gelernt, den Gatten und Vater zu entbehren. Du hast es ja klar genug ausgesprochen, daß wir die ›Fesseln‹ waren, die den Aufschwung deines Genius hemmten – nun wohl, sie sind jetzt gebrochen, durch dich gebrochen, und ich gebe dir mein Wort darauf, sie werden dich nie mehr drücken. Du hast ja deinen Lorbeer und deine – Muse. Was brauchst du da noch Weib und Kind?«

Sie schwieg, überwältigt von der Erregung, und preßte beide Hände gegen die stürmisch wogende Brust. Reinhold war totenbleich geworden, und doch hing sein Auge wie festgebannt an ihr. Das Lampenlicht fiel voll auf ihr Gesicht und auf die blonden Flechten, wie an jenem Abende, wo er ihr so schonungslos die Trennung ankündigte. Aber wo war die Ella geblieben, die damals scheu und furchtsam an seinen Mienen hing, und jedem Winke, jeder Laune gehorsam folgte? Auch nicht ein Zug von ihr war in dem Wesen zu entdecken, das so hoch und stolz aufgerichtet ihm gegenüberstand und so energisch ihm die einst empfangenen Demütigungen zurückschleuderte. Sie konnten aufflammen, diese blauen Märchenaugen, aufflammen in glühender Empörung, das sah er jetzt, aber er sah auch zum erstenmal, wie wunderbar schön sie waren, wie hinreißend die ganze Erscheinung der jungen Frau, in dieser leidenschaftlichen Erregung, und mitten durch den Zorn und Groll des tiefgereizten Mannes blitzte etwas auf, das fast der Bewunderung glich.

»Ist das dein letztes Wort?« fragte er endlich nach einer sekundenlangen Pause.

»Mein letztes.«

Mit einer raschen Bewegung richtete sich Reinhold empor. All sein Trotz und Stolz loderte wieder auf bei dieser Art von Zurückweisung. Er schritt nach der Thür, während Ella auf ihrem Platze verharrte, aber an der Schwelle blieb er noch einmal stehen und wandte sich zurück.

»Ich fragte nicht danach, ob das Herz meines Weibes sich verblutete an dem Todesstoße, den ich ihr gegeben –« wiederholte er mit verschleierter Stimme. »Hast du ihn denn überhaupt gefühlt, Ella?«

Sie schwieg.

»Damals glaubte ich es in der That nicht,« fuhr Reinhold mit tiefer Bitterkeit fort, »und die heutige Begegnung läßt mich mehr als je daran zweifeln, daß dein Herz bei einer Trennung litt, die deinen Stolz allerdings tiefer verwundete, als ich je für möglich gehalten – du brauchst nicht so angstvoll die Thür zu hüten; ich sehe es ja, daß ich dich erst zur Seite schleudern müßte, um zu dem Kinde zu gelangen, und den Mut habe ich nicht. Für diesmal hast du gesiegt. Ich verzichte auf das Wiedersehen. Leb wohl!«

Er ging. Sie hörte seinen Schritt draußen auf der Terrasse, dann das Rauschen der Gebüsche, durch die er sich einen Weg bahnte, endlich die Ruderschläge, die das Boot vom Lande entfernten. Die junge Frau atmete tief auf und verließ langsam den so energisch verteidigten Platz. Sie trat an die Glasthür; vielleicht tauchte eine leise Besorgnis in ihr auf, ob der gewagte Sprung von der Terrasse ebenso glücklich sein werde wie das Ersteigen derselben es gewesen, aber in der Dunkelheit war nichts zu unterscheiden. Wie vorhin lag das Meer in träger Ruhe. Darüber hin breitete sich die stille schwüle Nacht, und ringsum dufteten die Blüten – von Reinhold schien jede Spur verschwunden.

*

Den duftig klaren Frühlingstagen folgte heiße Sommerglut. Der Golf und seine Umgebungen lagen Tag für Tag da in der ganzen sonnendurchleuchteten Schönheit, aber auch in der ganzen Glut des Südens, nur die Seeluft bot noch einige Kühlung, und das Meer war deshalb auch das Ziel der meisten Ausflüge, die noch jetzt unternommen wurden.

Dieser wochenlangen Ruhe der Natur folgte endlich ein Ausbruch: ein Gewittersturm tobte in den Lüften und wühlte das Meer auf bis in die fernsten Tiefen. Das Unwetter war so schnell heraufgezogen, so plötzlich losgebrochen, daß niemand sich dessen versehen hatte, und jetzt wütete es schon über eine Stunde mit unverminderter Gewalt.

Durch die schäumenden Wogen schoß ein Boot, das, augenscheinlich von dem Sturme überrascht, sich im Kampfe mit ihm befand. Eine Zeit lang war es in Gefahr gewesen, rettungslos erfaßt und auf die hohe See hinausgeschleudert zu werden, jetzt aber floh es mit vollen Segeln der Küste zu und nach einigen mißlungenen Versuchen glückte es ihm auch wirklich, zu landen.

»Das heißt mit dem Sturm um die Wette jagen,« rief Hugo Almbach, indem er, über und über naß von Regen und Spritzfluten, als der erste ans Land sprang. »Für diesmal sind wir der nassen Umarmung der Meeresgöttin noch glücklich entgangen. Nahe genug waren wir ihr.«

»Es ist doch ein Glück, wenn man so einen echten Seemann bei sich hat,« meinte Marchese Tortoni, der in nicht trockenerem Zustand ihm folgte. »Das war ein Meisterstück, Signor Capitano, uns bei diesem Unwetter glücklich ans Land zu bringen. Ohne Sie waren wir verloren.«

Reinhold hob die halb ohnmächtige Signora Biancona aus dem Boote, die sich zitternd und totenbleich an ihn klammerte. »Mein Gott, beruhige dich doch, Beatrice! Die Gefahr ist ja vorüber,« sagte er ungeduldig, während der letzte Insasse der Barke, der englische Herr, der damals Hugos Inkognito-Unterhaltung mit dem Maestro Gianelli beigewohnt hatte, gleichfalls den festen Boden gewann.

Inzwischen schüttete Jonas seine ganze Verachtung auf die beiden Schiffer aus, denen ursprünglich die Führung anvertraut gewesen war und die zum Glück die ihnen in deutscher Sprache gespendeten Lobsprüche nicht verstanden.

»Das wollen Seeleute sein – ein Schiff wollen sie regieren, und wenn ein elendes Gewitter heraufzieht, so verlieren sie den Kopf und schreien zu ihren Heiligen. Hätte mein Kapitän euch nicht das Steuer aus den Händen gerissen und ich die Segel auf mich genommen, so lägen wir jetzt drunten bei den Haifischen. Ich wollte, ihr machtet einmal einen Sturm durch, wie er unsre ›Ellida‹ packte, ehe wir hier einliefen, da würdet ihr merken, was das bißchen Wehen auf eurem Golfe zu bedeuten hat.«

Das »bißchen Wehen« wäre von jedem andern als dem Matrosen für einen ganz erträglichen Sturm gehalten worden. Jedenfalls hatte es die Gesellschaft in Lebensgefahr gebracht, und sie dankte ihre Rettung nur der energischen Führung des Kapitäns, der soeben die Dankesäußerung des Marchese und des Engländers abwehrte.

»Ich bitte Sie, Signori! Mir ist ja eine solche Fahrt nichts Neues und Ungewohntes. Ich bedauerte nur Sie wegen der unangenehmen Situation, in die Sie die Laune einer schönen Frau brachte.«

»Jawohl, die Frauenzimmer sind an allem schuld,« brummte Jonas wütend, während Hugo halblaut fortfuhr:

»Ich wußte bereits vor zwei Stunden, was uns Himmel und Meer trotz ihres heiteren Aussehens prophezeiten. Sie wissen ja, wie ernstlich ich die Fahrt widerriet. Signora Biancona aber bestand entschieden darauf und geruhte, den ›furchtsamen Seemann‹ zu verspotten, der sich nicht einmal ›auf sein eigenes Element wage‹. Ich glaube nun allerdings, daß mein Mut etwas weniger zweifelhaft geworden ist in ihren Augen, der ihrige dagegen –« Er brach plötzlich ab und that einige Schritte hinüber nach der andern Seite. »Darf ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen, Signora?«

Beatrice zitterte noch immer, aber der Anblick ihres Widersachers, der wie die vollendete Artigkeit und die vollendete Malice vor ihr stand, gab ihr doch einigermaßen die Besinnung zurück. Für sie war es genügend gewesen, daß er sich gegen die Fahrt erklärte, um mit dem vollsten Eigensinne darauf zu bestehen und die übrigen Herren mit ihren Spottreden taub gegen jede Warnung zu machen. Die Todesangst der letzten Stunde hatte ihr freilich eine harte Lehre gegeben, und noch härter war es, daß sie gerade dem Kapitän ihre Rettung danken mußte, der heute zum Helden geworden war, während sie sich in der Gefahr nichts weniger als heldenhaft benommen hatte.

»Ich danke – mir ist besser,« antwortete sie, noch kämpfend zwischen Zorn und Verlegenheit.

»Ich bin glücklich, das zu vernehmen,« versicherte Hugo, indem er mitten im Regen eine tadellose Salonverbeugung machte. »Und jetzt werde ich mich an die Spitze des Entdeckungszuges stellen, der ins Innere geht. Voran, Jonas, und rekognosziere das Terrain! Reinhold, du bist ja kein Fremder hier in der Gegend; weißt du nicht, wo wir eigentlich sind?«

»Nein,« versetzte Reinhold nach einem kurzen und raschen Umblick.

»Und Sie, Marchese Tortoni?«

Cesario zuckte die Achseln. »Ich bedaure, Ihnen gleichfalls keine Auskunft geben zu können. Ich komme wenig über die nähere Umgebung von Mirando hinaus, und überdies ist bei solchem Wetter eine Orientierung fast unmöglich.«

Das letztere war allerdings wahr, Erde, Himmel und Meer schienen in wogendem Nebel ineinanderzufließen. Man sah kaum einige hundert Schritte weit in die aufgeregte See und nicht viel weiter in das Land hinein. Kein Berg, keine Ortschaft war zu erblicken; eine dichte graue Dunsthülle hielt alles gefangen, dennoch schien der Kapitän den Einwand nicht gelten zu lassen.

»Unpraktische Künstlernaturen!« murmelte er ärgerlich. »Da sitzen sie monatelang in ihrem Mirando und geraten Tag für Tag in Ekstase über die unvergleichliche Schönheit ihres Golfs, aber die Küsten kennen sie nicht, und wenn sie einmal eine Meile abseits sind von der großen Touristenstraße, wissen sie sich nicht zurechtzufinden. Lord Elton, wollen Sie die Güte haben an meine Seite zu kommen? Ich glaube, wir beide eignen uns noch am besten zu Pfadfindern.«

Lord Elton, der schon bei der ersten Begegnung außerordentliches Wohlgefallen an dem übermütigen Wesen Hugos gefunden, und dem dieser heute vollends imponiert hatte, kam augenblicklich der Aufforderung nach. Mit derselben unverwüstlichen Gelassenheit, die er vorhin in der Gefahr gezeigt, stellte er sich jetzt an die Seite des Seemanns, und man schritt vorwärts, während die andern beiden Herren mit Beatrice folgten.

»Mir scheint, der Zufall hat uns an eine ziemlich unwirtliche Küste geworfen,« spottete Hugo, auf dessen Laune das Wetter nicht den geringsten Einfluß übte. »Meiner Berechnung nach müssen wir drei bis vier Stunden von S. entfernt sein, und da zur Linken schimmern durch den Nebel Berge mit sehr verdächtigen Schluchten. Gennaros Bande soll ja hier im Gebirge ihr Wesen treiben. Was meinen Sie, Mylord, wenn wir heute noch etwas von der rechten Schauerromantik Italiens zu kosten bekämen?«

Der Lord wendete sich mit plötzlicher Lebhaftigkeit den bezeichneten Schluchten zu, die in dem wogenden Nebel allerdings unheimlich genug aussahen, und musterte sie aufmerksam.

» Indeed, das wäre sehr interessant.«

»Vorausgesetzt, daß sich eine hübsche Brigantesse dabei befindet, sonst nicht,« ergänzte Hugo.

»Gennaros Bande führt keine Frauen mit sich; ich habe mich genau darüber unterrichtet,« sagte jener wichtig.

»Schade! Die Bande scheint noch sehr unzivilisiert zu sein, da sie den billigen Wünschen ihrer geehrten Gäste so wenig Rechnung trägt. Uebrigens wäre das etwas für meinen Jonas. Ein Leben ohne Frauenzimmer! Wenn er das hört, wird er zum Ueberläufer und schwört zu Gennaros Fahne; ich werde ihn in Obhut nehmen müssen.«

»So scherzen Sie doch nicht so leichtsinnig!« mischte sich der Marchese ein. »Bedenken Sie, Signor, wir haben eine Dame bei uns und sind sämtlich unbewaffnet.«

»Bis auf Mylord, der den sechsläufigen Revolver immer als Taschenfeuerzeug bei sich trägt,« sagte Hugo lachend. »Wir andern hielten es allerdings nicht für nötig, in Waffen zu starren, als wir die harmlose Spazierfahrt unternahmen. Uebrigens haben wir heute einen wirksameren Schutz, als zwei Dutzend Karabinieri ihn uns gewähren könnten. In dem Regen wagt sich kein Brigant heraus.«

»Meinen Sie?« fragte der Lord im Tone unverkennbarer Enttäuschung.

»Gewiß, Mylord! Und ich meinesteils halte es auch für besser, wenn die Vergnügungspartie in die Berge für diesmal unterbleibt. Ist es übrigens nicht wunderbar, daß wir beide, die einzigen Nichtkünstler in der Gesellschaft, zugleich die einzigen sind, die Verständnis für die Romantik der Situation haben? Mein Bruder« – hier senkte Hugo die Stimme – »geht wie ein gereizter Löwe neben Signora Biancona her – er ist jetzt überhaupt immer in der Löwenstimmung, und man thut am besten, ihm so wenig wie möglich nahe zu kommen – Signora hat die tragische Verzweiflung auf der Bühne nie so vollendet zum Ausdruck gebracht, wie in diesen Minuten, und Marchese Cesario starrt elegisch in den Nebel, anstatt unsern höchst effektvollen Regenzug zu bewundern. Ah, da schimmert ja endlich etwas wie ein Gebäude hervor, und da kommt auch Jonas zurück von seiner Rekognoszierung. Nun, was gibt es?«

»Eine Locanda!« berichtete Jonas, der vorausgegangen war und jetzt eilig zurückkehrte. »Nun sind wir geborgen,« setzte er triumphierend hinzu.

»Der Himmel hat Erbarmen,« rief Hugo pathetisch, indem er sich umwandte, um den übrigen die willkommene Mitteilung zu machen. Die Aussicht auf ein nahes Obdach belebte in der That den schon sinkenden Mut der Gesellschaft; man verdoppelte die Schritte und befand sich bald darauf in der geschützten Vorhalle des bezeichneten Hauses.

»Der rauhen Seemannshülle ist heute ein beneidenswertes Glück zu teil geworden,« sagte der Kapitän, indem er in der verbindlichsten Art von der Welt seinen Regenmantel von den Schultern Signora Bianconas nahm. »Ich wußte, daß wir sie heute noch brauchen würden; deshalb erlaubte ich mir, sie mitzunehmen. Der Mantel hat Sie doch vollkommen geschützt, Signora?«

Beatrice preßte hastig die Lippen zusammen, als sie mit einem erzwungenen Danke die schützende Hülle zurückgab. Es war ihr schwer genug geworden, sie gerade von der Hand des Kapitäns anzunehmen, indessen war er der einzige, der sich im Besitze einer solchen befand, und ihr blieb keine andre Wahl, wollte sie nicht völlig durchnäßt werden. Aber wie alle leidenschaftlichen Naturen war sie dem Spott nicht gewachsen, und diese verhaßte Ritterlichkeit ihres Gegners erlaubte ihr nie, ihm entschieden feindselig gegenüberzutreten, und hielt sie unerbittlich fest in den Grenzen gesellschaftlichen Umgangs.

Die Locanda, die abseits von der großen Touristenstraße ziemlich einsam am Strande lag, gehörte nicht zu denen, welche von vornehmeren Gästen frequentiert wurden, und ließ an Reinlichkeit und Bequemlichkeit sehr viel zu wünschen übrig, aber das Wetter und ihr völlig durchweichter Zustand erlaubten den Gästen nicht, wählerisch zu sein. Gab es doch hier einige Räumlichkeiten, die wenigstens den Namen von Gastzimmern führten und auch wirklich bisweilen jungen Malern und umherstreifenden Touristen als Nachtquartier dienten. Beatrice entsetzte sich beim Eintritt, und der Marchese blickte mit stummer Resignation auf diese »Zimmer«, die denen seines Mirando allerdings sehr unähnlich waren, der Lord dagegen fand sich besser in das Unvermeidliche, und was die beiden Brüder betraf, so schien Reinhold gegen die Art der Aufnahme sehr gleichgültig und Hugo sehr amüsiert dadurch zu sein. Bei dieser Gelegenheit erfuhr man auch, daß man in der That volle drei Stunden von S. entfernt war, und daß bereits eine Reisegesellschaft hier Zuflucht vor dem Unwetter gesucht hatte. Sie war aber glücklich noch beim Ausbruch desselben und zwar zu Wagen angekommen, hatte also nicht so vom Regen gelitten, wie die eben anlangenden Herrschaften, denen man bereitwillig mit allem aushalf, was gerade zur Hand war.

Eine Viertelstunde später trat Hugo in das allgemeine Gast- und Empfangszimmer und schob sanftmütig mit dem Fuße einen schwarzen borstigen Gegenstand beiseite, der sich in bewundernswerter Ungeniertheit gerade vor die Thür gelagert hatte und jetzt ärgerlich grunzend den Platz räumte.

»Diese lieben Tierchen scheinen hier als salonfähig betrachtet zu werden; bei uns sind sie das höchstens in gebratenem Zustande,« sagte er ruhig. »Ich wollte sehen, wo du bleibst, Reinhold. Aber, mein Gott, du bist ja noch immer in dem nassen Anzuge. Warum hast du dich nicht umgekleidet?«

Reinhold, der am Fenster stand und auf das Meer hinausblickte, wandte sich um und warf einen zerstreuten Blick auf seinen Bruder, der bereits, wie die übrigen Herren, von den in aller Eile herbeigeschafften Sonntagskleidern des Padrone und seiner Söhne Gebrauch gemacht hatte.

»Umkleiden? Ja so, das hatte ich vergessen.«

»So thue es jetzt!« drängte Hugo. »Willst du denn deine Gesundheit durchaus zu Grunde richten?«

Reinhold wehrte ihn ungeduldig ab. »Laß doch! Welch ein Aufheben um einen Gewitterregen!«

»Nun, der Gewitterregen hätte um ein Haar verhängnisvoll für uns werden können,« meinte der Kapitän. »Uebrigens kann ich als Pilot meiner Schiffsbesatzung das Zeugnis geben, daß sie sich tapfer gehalten hat, mit alleiniger Ausnahme Donna Beatricens. Sie machte von dem Rechte einer Dame, uns erst in Gefahr zu bringen und sie uns dann noch zehnfach zu erschweren, einen etwas ausgedehnten Gebrauch.«

»Dafür hast du ja auch den Triumph, daß sie dir ihr Leben verdankt, wie wir alle,« warf Reinhold gleichgültig hin.

Hugo fixierte den Bruder scharf. »Was für deine Person sehr wenig zu gelten scheint.«

»Mir – warum?«

Er wartete die Antwort nicht ab, sondern wandte sich wieder dem Fenster zu, aber Hugo war bereits an seiner Seite und legte den Arm um seine Schulter.

»Was hast du, Reinhold?« fragte er wieder mit dem Tone jener alten Zärtlichkeit, mit der er einst den jüngeren Bruder umfaßte, den er im Hause der Verwandten unterdrückt und gequält wußte, und die jetzt so selten unter ihnen geworden war. Reinhold schwieg.

»Ich hoffte, du würdest hier endlich die Ruhe finden, die du so leidenschaftlich suchtest,« fuhr der Kapitän ernster fort, »statt dessen stürmst du ärger als je seit den letzten acht Tagen. Wir sind kaum mehr als dem Namen nach die Gäste des Marchese. Du reißest ihn und uns alle mit hinein in diesen ewigen Wechsel von Zerstreuungen und Ausflügen. Das geht vom Schiffe in den Wagen, und vom Wagen auf das Maultier, als ob dir jede Minute des Ausruhens oder Alleinseins zur Qual würde, und sind wir erst mitten in dem Wirbel, so bist du oft genug der steinerne Gast in unsrer Mitte. Was ist vorgegangen?«

Reinhold wand sich, nicht heftig, aber entschieden aus seinen Armen.

»Das – kann ich dir nicht sagen.«

»Reinhold –«

»Laß mich – ich bitte dich!«

Der Kapitän trat zurück; er sah, daß die Abweisung nicht einer Laune entsprang; der matte, gepreßte Ton verriet zu sehr den verhaltenen Schmerz, aber er wußte bereits, daß von seinem Bruder in solcher Stimmung nichts zu erreichen war.

»Das Gewitter scheint vorüber zu sein,« sagte er nach einer kurzen Pause, »an die Rückkehr aber wird wohl vorläufig nicht zu denken sein. Auf das erregte Meer können wir uns heute unter keinen Umständen wieder wagen, und der Landweg wird wohl auch arg genug zugerichtet sein. Ich habe den Herren versprochen, ihnen einigermaßen Auskunft darüber zu verschaffen, ob die Rückkehr heute überhaupt noch möglich ist, und ob wir nicht etwa einen zweiten Wolkenbruch zu gewärtigen haben. Die Veranda da oben scheint eine ziemlich freie Aussicht zu bieten; ich werde nachsehen.«

Er verließ das Gemach und stieg die Treppe hinauf. Die Veranda lag an der andern Seite des Hauses; es war ein großer steinerner Anbau, der wohl noch aus einer früheren Glanzperiode des Gebäudes stammte, jetzt, wie dieses selbst, verwahrlost, halb zerfallen, aber unendlich malerisch in diesem Verfall und mit den wuchernden Weinranken, die sich um Pfeiler und Brüstungen schlangen. Eine lange offene Galerie führte hinüber, und Hugo war eben im Begriff, sie zu durchschreiten, als er aufgehalten wurde. Dicht vor ihm flatterte eine Taube auf, und ihr nach jagte ein Knabe in vornehm städtischem Anzuge. Das zahme, an Menschen gewöhnte Tier dachte nicht an ernstliche Flucht; es flatterte wie neckend am Boden hin, und erst als die kleinen Arme sich ausstreckten, um es zu haschen, schwang es sich leicht empor bis auf das Dach des Hauses, während der ungestüme kleine Verfolger noch im vollen Laufe vorwärts stürzte und dabei gegen den Kapitän anrannte.

»Sieh da, Signorio, das hätte ein Zusammenstoß werden können,« sagte Hugo, indem er den Kleinen auffing, dieser aber, noch im vollen Eifer der Jagdlust, streckte beide Hände in die Höhe und rief lebhaft in deutscher Sprache:

»Ich möchte den Vogel so gern haben. Kannst du ihn mir nicht fangen?«

»Nein, mein kleiner Jäger, das kann ich nicht, ich müßte mir denn Flügel anbinden,« scherzte Hugo, während er, überrascht, hier seine Muttersprache zu vernehmen, den Knaben genauer ansah. Er stutzte, sah ihm einige Sekunden lang tief in die Augen und hob ihn dann plötzlich empor, um ihn mit aufflammender Zärtlichkeit in seine Arme zu schließen.

Der Kleine ließ sich die Liebkosung ruhig, wenn auch etwas verwundert gefallen. »Du sprichst ja gerade wie die Mama und Onkel Erlau,« sagte er zutraulich. »Die andern verstehe ich alle nicht, und zu Haus verstand ich doch jeden.«

»Ist die Mama auch hier?« forschte Hugo hastig.

Das Kind nickte und zeigte nach der andern Seite hinüber; der Kapitän setzte es rasch auf den Boden und trat mit ihm in die Veranda, wo Ella ihnen bereits entgegenkam, die in sprachlosem Erstaunen stehen blieb, als sie ihren Knaben an der Hand seines Oheims erblickte. »Müssen wir hier zusammentreffen!« rief dieser, sie lebhaft begrüßend. »Ich glaubte kaum, daß Sie die Villa Fiorina überhaupt verließen, und noch dazu in solchem Wetter.«

»Es war auch der erste Ausflug, den wir wagten,« erwiderte die junge Frau. »Das fortgesetzt günstige Befinden des Onkels verleitete uns, eine Fahrt nach den Tempelruinen oben im Gebirge zu unternehmen, aber auf dem Rückwege überfiel uns das Gewitter, und da die Pferde scheu zu werden drohten, so waren wir froh, hier Schutz und Aufnahme zu finden.«

»Wir sind in dem gleichen Falle,« berichtete Hugo. »Nur ging es uns schlimmer, denn wir kamen zur See an.«

Ueber Ellas Antlitz flog ein momentanes Erbleichen.

»Sie sind also in Begleitung Ihres Bruders? Ich ahnte es, als ich Sie erblickte.«

Hugo machte eine bejahende Bewegung. »Sie sagten mir, daß Sie eine Begegnung um jeden Preis vermeiden wollen –« begann er von neuem.

»Ich wollte es, ja!« unterbrach sie ihn fest. »Es ist aber unmöglich gewesen. Wir haben uns bereits gesehen.«

»Dachte ich's doch!« murmelte der Kapitän. »Daher also seine unbegreifliche Stimmung.«

»Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie die Gäste des Herrn von Mirando sind?« fragte die junge Frau vorwurfsvoll. »Ich glaubte Sie in S. und kam ahnungslos die Villa zu besichtigen. Erst als es zu spät war, erfuhr ich, wer in unsrer nächsten Nachbarschaft weilte.«

Hugo streifte mit einem raschen Blick ihr Antlitz, als wolle er sich ihrer Fassung versichern.

»Sie haben Reinhold gesprochen?« sagte er in äußerster Spannung, ihren Vorwurf kaum beachtend. »Nun?«

»Nun?« wiederholte sie mit beinahe herbem Ausdruck. »Fürchten Sie nichts! Signor Rinaldo weiß jetzt, daß er mir und meinem Sohne fern zu bleiben hat. Er wird uns nicht kennen bei einem etwaigen Zusammentreffen, so wenig wie ich ihn kennen werde.«

»Für heute wäre das allerdings unmöglich,« entgegnete Hugo ernst, »denn er ist nicht allein. Ich fürchte, Ella, auch das wird Ihnen nicht erspart bleiben.«

»Sie meinen eine Begegnung mit Signora Biancona?« Ellas Lippen bebten doch, als sie den Namen aussprach, so sehr sie sich auch zwang, ruhig zu scheinen. »Nun denn, wenn es nicht zu vermeiden ist, so werde ich es zu ertragen wissen.«

Sie waren während des Gespräches an die Brüstung der Veranda getreten. Das Gewitter war in der That vorüber und die Schleusen des Himmels schienen sich endlich erschöpft zu haben, aber noch hing es feucht und regenschwer in der Luft. Die nassen Weinranken, vom Sturm zerwühlt und zerrissen, flatterten noch immer auf und nieder, und von dem Heiligenbilde in der nur schlecht geschützten Mauerblende rannen die Tropfen herab. Unten brauste das noch immer wild empörte Meer; der sonst so ruhige azurblaue Spiegel war nur ein wüstes Chaos von schwarzgrauen Fluten und weißschäumenden Wellenhäuptern, die sich zischend und tosend am Strande brachen. Aber der Nebel, der bisher die ganze Umgebung in einen undurchdringlichen Schleier hüllte, begann endlich zu weichen, schon traten einige Ortschaften deutlich daraus hervor, nur um die Höhenzüge wogte und qualmte es noch, während im Westen bereits ein hellerer Lichtschein mit dem niedergehenden Gewölk kämpfte.

»Woher kannten Sie denn meinen kleinen Reinhold?« fragte Ella plötzlich in ganz verändertem Tone. »Sie sahen ihn ja nicht bei Ihrem letzten Besuche, und als Sie H. verließen, hatte er kaum das erste Lebensjahr zurückgelegt.«

Hugo beugte sich zu dem Kinde nieder und hob dessen Köpfchen empor. »Woran ich ihn erkannte?« versetzte er lächelnd. »An seinen Augen. Er hat ja die Ihrigen, Ella, und die verkennt man nicht so leicht, auch wenn sie einmal aus einem andern Antlitz blicken. Ich finde sie heraus unter Hunderten.«

Sein Ton hatte eine beinahe leidenschaftliche Wärme. Die junge Frau wich leise ein wenig seitwärts.

»Seit wann machen Sie mir Komplimente, Hugo?«

»Sind Ihnen Komplimente jetzt so ungewohnt?«

»In Ihrem Munde allerdings.«

»Ja freilich, ich darf bei Ihnen nicht wagen, was jedem andern erlaubt ist,« sagte der Kapitän, mit einem Anfluge von Bitterkeit. »Der Versuch dazu hat mir schon einmal den ›Abenteurer‹ eingetragen.«

»Es scheint, Sie können das Wort noch immer nicht vergessen,« bemerkte Ella mit einem halben Lächeln.

Er warf mit einer trotzigen Bewegung den Kopf zurück. »Nein, ich kann es auch nicht, denn es hat mir wehe gethan und darum verwinde ich es nicht bis auf diesen Augenblick.«

»Wehe gethan?« wiederholte Ella. »Kann Ihnen denn überhaupt etwas wehe thun, Hugo?«

»Das heißt mit andern Worten: ›Haben Sie denn überhaupt ein Herz, Hugo?‹ O nein, ich besitze ganz und gar nichts von diesem Artikel, ich bin zu kurz gekommen bei der Austeilung desselben, das müssen Sie ja nachgerade herausgefunden haben.«

»So meinte ich es nicht,« lenkte die junge Frau ein. »Ich traue Ihnen gewiß die volle Wärme der Empfindung zu.«

»Aber keinen Ernst und keine Tiefe?«

»Nein.«

Der Kapitän sah sie einige Sekunden lang schweigend an, endlich sagte er leise:

»War es nötig, Ella, mir eine so herbe Lehre zu geben, weil ich neulich einen Handkuß wagte, der Ihnen vielleicht mißfallen hat? Ich weiß, was dieses ›Nein‹ bedeutet. Sie sehen, ich verstehe auch Winke und werde den heutigen nützen. Fürchten Sie nichts!«

Ueber die Züge der jungen Frau flog ein leichtes Rot, als sie sich verstanden sah. »Ich wollte Sie nicht kränken, gewiß nicht!« versicherte sie lebhaft und streckte ihm herzlich die Hand hin, aber Hugo stand trotzig abgewendet und schien das nicht zu bemerken.

»Sind Sie mir böse?« fragte sie halblaut; es war ein süß bittender Ton, und er verfehlte auch seine Wirkung nicht, der Kapitän wandte sich plötzlich um und ergriff die dargebotene Hand, aber in seiner Antwort kämpfte eine mühsam niedergehaltene Erregung schon wieder mit der alten Spottlust, als er entgegnete:

»Wenn der selige Onkel und die Tante uns jetzt sehen könnten, sie würden mit unendlichem Wohlgefallen bemerken, wie ihre Tochter den ›unverbesserlichen Hugo‹ im Zügel hat, der sonst keinem Zügel gehorchen wollte, wie sie ihn auch nicht einen Schritt hinausläßt über die Grenze, die sie zu ziehen für gut findet. Nein, ich bin Ihnen nicht böse, Ella, kann es nicht sein, aber – Sie müssen mir das Gehorchen auch nicht so schwer machen.«

Die beiden waren noch in lebhaftem Gespräch begriffen, als Marchese Tortoni und Lord Elton von der Galerie her gleichfalls in die Veranda traten.

»Sieh da,« sagte der erstere überrascht zu seinem Begleiter, »darum also zog sich die Wetterbeobachtung unsres Capitano so endlos in die Länge, daß wir ihn schließlich selbst aufsuchen mußten. Es ist doch eine unverwüstliche Natur. Vor einer Stunde erst hat er unser Boot durch Sturm und Wogen gezwungen und jetzt spielt er schon wieder den Liebenswürdigen bei einer jungen Signora.«

» Yes, ein ausgezeichneter Mensch,« bestätigte der Lord, der bereits eine so blinde Vorliebe für Hugo gefaßt hatte, daß er an diesem schlechterdings alles vortrefflich fand.

Die unerträglich schwüle Luft in den dunstigen Zimmern schien die ganze Gesellschaft auf die Veranda getrieben zu haben, denn unmittelbar hinter den beiden Herren erschienen auch Beatrice und Reinhold. Wenn seine Gattin auf dieses Zusammentreffen vorbereitet war, so war er es jedenfalls nicht, denn er wurde bleich und machte eine Bewegung wie zur Umkehr, aber in demselben Augenblicke tauchte der blonde Lockenkopf des Knaben hinter der jungen Frau auf und wie gebannt blieb der Vater stehen. Das Auge unverwandt auf das Kind gerichtet, schien er alles andre um sich her vergessen zu haben.

»Welch ein schönes Kind!« rief Beatrice bewundernd, indem sie unbefangen die Arme ausstreckte, jetzt aber zuckte Ella empor; mit einer einzigen Bewegung hatte sie den Knaben der beabsichtigten Liebkosung entzogen und preßte ihn fest an sich.

»Verzeihung, Signora,« sagte sie kalt. »Das Kind ist scheu gegen Fremde, und nicht an solche Liebkosungen gewöhnt.«

Beatrice schien etwas beleidigt durch die Zurückweisung, indessen sah sie darin nichts, als die übertriebene Aengstlichkeit einer Mutter. Sie zuckte unmerklich die Achseln, und ein spöttischer Seitenblick fiel auf die Fremde, aber er blieb bald genug gefesselt an der Erscheinung derselben haften, wenn das Wiedererkennen auch nur auf einer Seite stattfand.

Vor Ellas Gedächtnis stand noch in vollster Klarheit jener Abend, wo sie allein, ohne Wissen der Ihrigen, den Schleier dicht über das Gesicht gezogen, in das Theater eilte, um diejenige kennen zu lernen, die ihr den Gatten so völlig entfremdet hatte. Sie hatte sie gesehen, im vollen Glanze ihrer Schönheit und ihres Talentes, umrauscht von dem Jubel und den Huldigungen des Publikums, und sie nahm den Eindruck unauslöschlich mit sich fort. Beatrice hatte gleichfalls nur ein einziges Mal die Gattin Reinholds erblickt, damals, als sie erst anfing sich für den jungen Künstler zu interessieren, und Ella noch nichts von ihrem unheilvollen Einfluß ahnte. Der Italienerin genügte eine flüchtige Begegnung von wenigen Minuten, um zu erkennen, daß dieses stille blasse Wesen mit den niedergeschlagenen Augen und dem lächerlich matronenhaften Anzuge nicht einen solchen Mann zu fesseln vermochte, und diese Erkenntnis war hinreichend für sie, um ferner keine Notiz mehr von der jungen Frau zu nehmen. Jedenfalls war es ihr unmöglich, das verblaßte, halb lächerliche und halb mitleidswerte Bild, das sie in der Erinnerung trug, auch nur entfernt mit jener Erscheinung in Berührung zu bringen, die so unnahbar stolz dort stand, die das blonde Haupt so hoch und frei aufgerichtet trug, und deren große blaue Augen sie mit einem Ausdrucke anblickten, den Beatrice sich nicht zu enträtseln vermochte. Sie sah nur, daß die Fremde sehr hochmütig, nebenbei aber auch sehr schön war.

Letzteres schienen auch die beiden Herren zu finden, die artig grüßend näher getreten waren, denn der Lord schaute Ella mit offenbarer Verwunderung an, und der Marchese, dem Hugo so oft eine sträfliche Gleichgültigkeit gegen Damenbekanntschaften vorgeworfen hatte, sagte mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit zu ihm:

»Sie scheinen Signora zu kennen. Dürfen wir nicht auf das Vergnügen rechnen, ihr vorgestellt zu werden?«

Der Kapitän hatte sich wie zum Schutze an die Seite der jungen Frau gestellt. Zwischen seinen Augenbrauen lag eine Falte, die selten auf dieser heiteren Stirn erschien, und sie wurde noch tiefer bei dieser direkten Aufforderung, die sich unmöglich ablehnen ließ. Er stellte daher die beiden Herren vor und nannte ihnen seine Landsmännin, Frau Erlau. Er wußte, daß Ella, um unliebsamen Nachforschungen vorzubeugen, zu denen der Name Almbach leicht hätte Veranlassung geben können, den ihres Pflegevaters trug, solange sie in Italien weilte.

Beatricens Augen sprühten auf in beleidigtem Stolze. Sie war es nicht gewohnt, daß sie und Reinhold bei solchen Gelegenheiten zuletzt genannt wurden, und hier wurden sie überhaupt gar nicht genannt. Der Kapitän ignorierte sie vollständig und schien dies sogar absichtlich zu thun, denn der Zornesblick, den sie ihm zuschleuderte, ward mit empörender Kälte aufgefangen, aber auch Cesario war betroffen über die Taktlosigkeit seines sonst so liebenswürdigen Gastes. Während er der fremden Dame einige Höflichkeiten sagte, wartete er vergebens auf die Fortsetzung der Vorstellung, und als diese nicht erfolgte, übernahm er es, die vermeintliche Unart des Kapitäns wieder gut zu machen.

»Sie haben das Wichtigste vergessen, Signor,« sagte er, die Sache rasch zum Scherze wendend. »Signora Erlau würde Ihnen schwerlich dankbar sein, wenn Sie ihr gerade die beiden Namen nicht nennen, die sie ohne Zweifel am meisten interessieren, und die ihr keinesfalls unbekannt sind. Signora Biancona – Signor Rinaldo.«

Beatrice, noch entrüstet über die ihr widerfahrene Beleidigung, grüßte nur mit einer kurzen Neigung des Hauptes, die ebenso erwidert wurde, plötzlich aber ward sie aufmerksam. Sie fühlte, wie Reinholds Arm zuckte, wie er den ihrigen fallen ließ und einen Schritt von ihr wegtrat, als er sich verneigte. Sie kannte ihn allzu genau, um nicht zu wissen, daß er in diesem Momente, trotz seiner scheinbaren Ruhe, furchtbar erregt war. Diese fahle Blässe, dieses nervöse Zucken der Lippen waren das sichere Zeichen, daß er irgend eine leidenschaftliche Aufwallung mit Gewalt unterdrückte, und was sollte dieser Blick, der freilich nur einige Sekunden lang dem der Fremden begegnete, aber er flammte in unverkennbarem Trotze und schmolz doch wieder in vollster Weichheit, als er auf das Kind an ihrer Seite fiel. Sie selbst freilich stand ihm völlig unbewegt gegenüber, auch nicht ein Zug regte sich in dem marmorkalten Antlitze, aber auch dies Antlitz war auffallend bleich und die Arme umschlangen den Knaben so krampfhaft fest, als sollte er ihnen entrissen werden. Dennoch erwiderte sie mit vollkommen beherrschter Stimme:

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Signor. Ich hatte in der That noch nicht das Vergnügen, Italiens erste Sängerin und Italiens berühmten Tondichter zu kennen.«

Reinholds Blut wallte siedend heiß auf, als ihm von neuem, und diesmal vor Fremden, die unendliche Kluft gezeigt wurde, die ihn von der einstigen Gattin schied. Jetzt war sie es, welche ihm die Stellung anwies, die er ihr gegenüber einzunehmen hatte, und daß sie dies mit einer solchen Ruhe und Gelassenheit vermochte, brachte ihn aufs äußerste.

»Italiens?« wiederholte er mit scharfer Betonung. »Sie vergessen, Signora, daß ich von Geburt ein Deutscher bin.«

»Wirklich?« entgegnete Ella in dem gleichen Tone wie vorhin. »In der That, das wußte ich bisher noch nicht.«

»Man scheint in der Heimat sehr schnell vergessen zu werden,« warf Reinhold mit einer Art wilder Bitterkeit hin.

»Doch wohl nur, wenn man sich ihr selbst entfremdet. In diesem Falle ist das freilich begreiflich. Sie, Signor, haben ja ein zweites Vaterland gefunden, und wem Italien so viel gegeben hat, der kann die Heimat und ihre Erinnerungen wohl leicht entbehren.«

Sie wandte sich zu den übrigen Herren, wechselte einige gleichgültige Worte mit ihnen und reichte dann ruhig und offen Hugo die Hand zum Abschiede.

»Sie verzeihen, ich muß zu meinem Oheim. Reinhold, sage dem Herrn Kapitän lebewohl!«

Es war nur zu wahr, Ella besaß eine furchtbare Waffe in dem Kinde und verstand sie schonungslos zu gebrauchen, das empfand Reinhold wieder in diesem Augenblicke. Ihm versagte sie den Anblick und die Nähe seines Knaben unerbittlich, trotzdem sie wußte, mit welcher Leidenschaftlichkeit er sich danach sehnte, und jetzt ließ sie es ihn sehen, wie dieser Knabe seinem Bruder die Aermchen entgegenstreckte und ihm den Mund zum Kusse bot, ließ es ihn sehen in Gegenwart der Frau, um derentwillen er sie beide verlassen hatte, und deren Nähe ihm verbot, auch nur eines seiner Vaterrechte geltend zu machen – die Rache traf bis ins innerste Herz hinein.

Beatrice hatte ganz gegen ihre Gewohnheit sich mit keiner Silbe an dem Gespräche beteiligt, aber ihr dunkelglühender Blick wich nicht von den beiden, zwischen denen sie eine geheime Wechselbeziehung ahnte, wenn auch ihre Gedanken von der Wahrheit selbst unendlich weit entfernt waren. Für jetzt jedoch machte Ella jeder weiteren Beobachtung ein Ende; sie nahm den kleinen Reinhold bei der Hand, und nach einer kurzen stolzen Verbeugung, die der ganzen Gesellschaft galt, verließ sie mit dem Kinde die Veranda.

»Sie scheinen uns da irgend ein Inkognito vorgeführt zu haben, Signor Capitano,« sagte Beatrice mit schneidendem Spotte. »Vielleicht haben Sie jetzt die Güte, uns zu erklären, welche Fürstin es denn eigentlich war, die soeben geruhte uns zu verlassen.«

»Ja, beim Himmel, sehr stolz, aber auch sehr schön!« rief der Marchese in ausbrechender Bewunderung, während Hugo kühl erwiderte:

»Sie sind im Irrtume, Signora. Ich nannte Ihnen ja den Namen der deutschen Dame.«

Der junge Italiener trat zu seinem Freunde und legte die Hand auf dessen Schulter.

»Signoras Irrtum ist erklärlich. Meinen Sie nicht auch, Rinaldo? – Mein Gott, was haben Sie denn – was ist Ihnen?«

»Nichts!« sagte Reinhold, sich gewaltsam fassend. »Mir ist nicht wohl; die stürmische Fahrt hat mich angegriffen. Es ist nichts, Cesario.«

»Ich glaube, wir thun am besten, jetzt an die Rückkehr zu denken,« fiel Hugo ein, der für nötig fand, die Aufmerksamkeit von seinem Bruder abzulenken, da er sah, daß dieser nicht mehr Herr seiner Aufregung war. »Eine Wiederholung des Unwetters steht nicht zu befürchten, und da der Padrone versprochen hat, einen Wagen herbeizuschaffen, so können wir noch heute abend in S. sein, wenn wir baldigst aufbrechen.«

Es war das erste Mal, daß Beatrice einem Vorschlage, den der Kapitän machte, mit vollster Lebhaftigkeit beistimmte. Marchese Tortoni dagegen fand die große Eile sehr unnötig und erhob verschiedene Einwendungen. Für ihn schien die einsame Locanda auf einmal besondere Anziehungskraft gewonnen zu haben. Als er aber mit seiner Ansicht nicht durchdrang – denn auch Reinhold bestand auf der sofortigen Rückkehr –, schloß er sich dem Kapitän an, welcher ging, um nach dem Wagen zu sehen.

»Ich fürchte, Sie haben Ihrem Bruder und mir ein Märchen aufgetischt, als Sie behaupteten, eine gewisse Villa sei Ihnen unzugänglich geblieben,« sagte er neckend. »Es war mir schon damals verdächtig, daß Sie den Rückzug so offen eingestanden und so ruhig unsern Spott über sich ergehen ließen. Ich wollte darauf schwören, daß ich diese reizende Gestalt und diese blonde Flechtenpracht schon einmal erblickt habe, als ich an der Villa Fiorina vorüberritt. Ich begreife es freilich, daß Sie uns nicht zu Vertrauten Ihres Abenteuers machten, allein –«

»Sie irren,« unterbrach ihn Hugo mit einer Entschiedenheit, die keinen Zweifel an seinen Worten möglich machte. »Es ist hier von keinem Abenteuer die Rede, Signor Marchese; ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«

»Ah, dann verzeihen Sie,« sagte Cesario ernst. »Ich glaubte, Ihre anscheinend nähere Bekanntschaft mit der Dame –«

»Stammt aus einer früheren Bekanntschaft in Deutschland her,« ergänzte der Kapitän. »Ich hatte allerdings keine Ahnung von diesem Zusammentreffen, als ich eine völlig Fremde in der Villa Fiorina aufzusuchen glaubte, aber ich wiederhole es Ihnen, daß das Wort ›Abenteuer‹ auch nicht entfernt mit jener Dame in Berührung gebracht werden darf, und daß ich die vollste und unbedingteste Achtung eines jeden für sie in Anspruch nehme.«

Der sehr bestimmte Ton dieser Erklärung hätte einen andern Zuhörer vielleicht gereizt, der junge Marchese dagegen schien eine unverkennbare Genugthuung dabei zu empfinden.

»Ich zweifle nicht im geringsten daran, daß Sie mit dieser Forderung in Ihrem Rechte sind,« erwiderte er mit großer Wärme. »Das ganze Wesen der schönen Frau spricht dafür. Welch ein imponierender Anstand und welche vollendete Lieblichkeit der Erscheinung! Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die beides so zu vereinigen weiß.«

»Wirklich?« In Hugos Stimme verriet sich eine keineswegs angenehme Ueberraschung, als er seinen Begleiter ansah, dessen Wangen lebhaft gerötet waren und dessen Augen blitzten. Der Kapitän sagte kein Wort weiter, aber seine Miene sprach deutlich genug aus, was er dachte. »Ich glaube, dieser Idealmensch fängt jetzt auch an, sich um etwas andres zu kümmern, als um Arien und Recitative – das ist aber ganz und gar überflüssig.«

Droben in der Veranda stand Beatrice allein; sie war Reinhold und dem Lord nicht gefolgt, die gleichfalls hinabstiegen. Ihre Hand vergrub sich mechanisch in das nasse Weinlaub, während die dunklen Augen starr auf die See gerichtet waren, und doch schien sie nichts von der ganzen Umgebung zu sehen. In düsteres Sinnen verloren, hing sie nur dem einen Gedanken nach, den die Lippen jetzt aussprachen, als sie halb drohend, halb angstvoll flüsterte: »Was war das zwischen den beiden?«

*

Der Herbst war gekommen und hatte Fremde und Einheimische vom Meeresstrande und aus den Gebirgen wieder zurückgeführt in den großen, ewig steten und ewig bewegten Mittelpunkt Italiens. Freilich war es kein Herbst, wie er im Norden die Natur zu Grabe geleitet, mit düsteren Regentagen, rauhen Sturmnächten, wogenden Nebeln, Reif und Nachtfrösten. Hier lag er mild in goldiger Klarheit und unbeschreiblicher Schönheit über der weiten Ebene, von der endlich die Sommerglut gewichen war, über dem Gebirge, das, sonst Tag für Tag vom heißen Dunst umzogen, von weißen Wolken umlagert, jetzt wieder seine blauen Linien unverhüllt zeigte, und über der Stadt, wo die große Woge des Lebens, die einige Monden lang träger gerollt war, nun mit neuer Macht emporflutete.

Auch Signora Biancona war bereits zurückgekehrt. Ihr Aufenthalt in S. hatte ein ebenso unerwartet schnelles Ende genommen, wie der Reinholds in Mirando. Diesen schien es auf einmal nicht länger zu dulden an dem sonstigen Lieblingsorte. Fast unmittelbar nach jener stürmischen Seefahrt bestand er mit Entschiedenheit darauf, daß der ursprüngliche Plan wieder aufgenommen und die längst beschlossene Villeggiatur im Gebirge angetreten werde. Die Einwendungen, ja selbst die offen gezeigte Empfindlichkeit des Marchese, der auf eine längere Anwesenheit seiner Gäste gerechnet hatte, waren umsonst; denn auch Beatrice schloß sich mit einer Art von Hast dem Plane Rinaldos an, und so blieb Cesario denn allein in Mirando zurück, während die übrigen in das Gebirge gingen, von wo sie soeben zurückgekehrt waren. –

Es war in den Vormittagsstunden. In ihrem Boudoir saß Signora Biancona, den Kopf auf den Arm gestützt und die Hand in den dunklen Locken vergraben, in der Stellung einer eifrig Zuhörenden. Ihr gegenüber hatte der Kapellmeister Gianelli Platz genommen. Was auch seine wahre Gesinnung gegen den vielbeneideten Rinaldo sein mochte, er war doch allzu klug, um dem in der Künstlerwelt wie in der Gesellschaft Allmächtigen nicht äußerlich all die nötige Rücksicht und Unterordnung zu zeigen, und der schönen Primadonna gegenüber war er nun vollends ganz Ergebenheit und Aufmerksamkeit; das zeigte sich in Ton und Haltung, als er, das vorhin begonnene Gespräch fortsetzend, sagte:

»Sie hatten befohlen, Signora, und das war genug für mich, um sofort alle Hebel in Bewegung zu setzen. Ich bin so glücklich, Ihren Wunsch erfüllen und Ihnen die genauesten Mitteilungen über den bewußten Gegenstand machen zu können.«

Beatrice hob in lebhafter Spannung den Kopf. »Nun?«

»Dieser Signor Erlau«, fuhr der Maestro fort, »ist in der That, wie Sie vermuten, ein Kaufmann aus H. Er muß wohl zu den reichsten seines Standes gehören; denn er tritt hier überall als Millionär auf. In der Nähe von S. hatte er die ganze Villa Fiorina für sich und seine Familie gemietet, und auch hier hat er eine der teuersten Wohnungen inne. Der Haushalt ist sehr vornehm eingerichtet, die Dienerschaft zum Teil aus Deutschland mitgebracht. Auch besitzt er bedeutende Empfehlungen an seine Gesandtschaft, von denen er jedoch noch keinen Gebrauch gemacht hat, da sein leidender Zustand ihn zur Zurückgezogenheit nötigt. Die Uebersiedelung bewerkstelligte er überhaupt nur, um sich der Behandlung eines unsrer berühmtesten Aerzte zu unterwerfen –«

»Das alles weiß ich bereits,« unterbrach ihn Beatrice ungeduldig. »Als ich den Namen hörte, zweifelte ich nicht daran, daß es sich um jenen Konsul handelte, in dessen Hause auch ich während meines Aufenthaltes in H. verkehrte. Aber die Dame, welche sich in seiner Begleitung befindet, die junge Signora?«

»Ist – seine Nichte,« erklärte Gianelli, der nach dem ersten Worte eine absichtliche Pause machte.

Die Sängerin schien nachzusinnen. »Sie wurde mir allerdings als Signora Erlau genannt. Eine Anverwandte also. Ich habe sie damals nicht gesehen. Sie wäre mir sicher aufgefallen; solch eine Gestalt übersieht man nicht so leicht.«

Der Maestro lächelte mit boshaftem Ausdrucke. »Sie soll allerdings den gleichen Namen wie ihr Pflegevater führen; sie soll Witwe sein, soll ihren Gatten schon vor Jahren verloren haben – wenigstens wünscht man, daß es hier in Italien so heiße, und die Diener haben strenge Weisung, etwaige Anfragen in diesem Sinne zu beantworten.«

Beatrice horchte bei dieser zweideutigen Erklärung auf. »Soll? Aber es ist nicht so? Ich ahnte es, daß sich ein Geheimnis dahinter berge. Sie haben es entdeckt?«

»Bediente schweigen nie, wenn man es versteht, in der rechten Weise anzuklopfen,« bemerkte Gianelli spöttisch. »Ich fürchte nur – es ist ein äußerst zarter Punkt – und da er Signor Rinaldo betrifft –«

»Rinaldo?« fuhr Beatrice auf. »Wieso? Was hat Rinaldo damit zu thun? Sagten Sie nicht, daß es Rinaldo betreffe?«

Der Maestro neigte das Haupt und sagte in seinem sanftesten Tone: »Ich war wohl im Irrtume, Signora, wenn ich voraussetzte, daß die Veranlassung zu Ihrem Wunsche, etwas Näheres über die Erlausche Familie zu erfahren, von Signor Rinaldo ausging.«

Die Sängerin biß sich auf die Lippen. Sie hätte es freilich vorhersehen können, daß bei dem Auftrage, den sie ihm gab, den beobachtenden Augen eines Gianelli nicht die Regung entgehen konnte, die diesen Auftrag diktierte.

»Lassen wir jetzt Rinaldo beiseite!« sagte sie mit einer Anstrengung, ruhig zu erscheinen. »Sie wollten von Signor Erlau sprechen.«

»Das möchte wohl schwer voneinander zu trennen sein,« warf Gianelli hin. »Ich fürchte nur – Signor Rinaldo ist mir leider schon ungünstig gestimmt, gewiß ohne mein Verschulden – ich fürchte seinen höchsten Unwillen zu erregen, wenn er erfährt, daß ich es war, der eine solche Mitteilung gerade Ihnen –« Er stockte und zeichnete in gut gespielter Verlegenheit mit seinem Spazierstöckchen Figuren auf den Boden.

»Gerade mir?« wiederholte Beatrice heftig. »Also ist diese Mitteilung nicht für mich bestimmt? Sie werden sprechen, Signor Gianelli! Sie werden mir auch nicht ein Wort, nicht eine Silbe verschweigen! Ich verlange, ich fordere es von Ihnen.«

»Nun denn« – er schien wirklich einen Anlauf zur Erklärung nehmen zu wollen, aber das Spiel war doch zu interessant, um es jetzt schon aufzugeben, und der Maestro hatte selbst zu oft unter den Launen der schönen Primadonna gelitten, als daß er sich die Genugthuung hätte versagen sollen, sie noch länger auf die Folter zu spannen. »Nun denn – Sie kennen jedenfalls die früheren Bande Signor Rinaldos. Man weiß hier in Italien wenig oder nichts davon, daß er bereits vermählt war; ich selbst erfuhr es erst bei dieser Gelegenheit. Ihnen ist die Thatsache jedenfalls bekannt.«

»Ich weiß es,« entgegnete Beatrice gepreßt. »Aber wie gehört das hieher?«

»Doch wohl einigermaßen. Sie kennen die Gemahlin Rinaldos nicht, Signora?«

»Nein. Doch ja, ich sah sie einmal flüchtig. Eine höchst unbedeutende Erscheinung.«

»Das scheint man hier durchaus nicht zu finden,« bemerkte Gianelli wieder in seinem sanften Tone. »Die schöne blonde Deutsche fängt trotz ihrer Zurückgezogenheit bereits an, Aufsehen zu erregen.«

»Wer?« Beatrice erhob sich so jäh und ungestüm, daß der Maestro es für gut fand, um einige Schritte zurückzuweichen. »Von wem sprechen Sie?«

»Von Signora Eleonore Almbach, die allerdings hier den Namen ihres Pflegevaters Erlau führt, wohl um neugierigen Nachforschungen auszuweichen.«

»Das ist unmöglich,« brach die Sängerin jetzt mit vollster Heftigkeit aus. »Das kann nicht sein. Sie täuschen mich, oder Sie sind selbst getäuscht worden.«

»Bitte,« verteidigte sich Gianelli, »meine Quelle ist die sicherste. Ich stehe für deren Richtigkeit ein, und Signor Rinaldo selbst wird sie mir bestätigen müssen.«

»Unmöglich!« wiederholte Beatrice noch immer fassungslos. »Seine Frau diese Erscheinung! Ich habe sie ja damals gesehen, wenn auch nur auf Minuten. Bin ich denn blind gewesen?«

»Oder war er es?« ergänzte Gianelli im stillen bei sich, laut aber sagte er: »Ich bin untröstlich, Sie in solche Aufregung versetzt zu haben, Signora. Sie werden mir das Zeugnis geben, daß ich nicht sprechen wollte, daß Sie mir diese Mitteilungen förmlich abgezwungen haben. Ich beklage dies ganz außerordentlich.«

Seine Worte gaben Beatrice wenigstens einigermaßen die Besinnung zurück. Sie fühlte wohl, was sie von dem Mitleid des Mannes zu erwarten hatte, der in ihrem Auftrage den Spion spielte.

»Nicht doch!« erwiderte sie mit einem hastigen, aber vergeblichen Versuch, ihre Selbstbeherrschung zurückzugewinnen. »Ich – ich danke Ihnen, Signor. Ich bin nur überrascht, weiter nichts.«

Der Maestro sah, daß er am besten that, sich zu entfernen, aber während er Anstalt machte, zu gehen, legte er beteuernd die Hand auf das Herz:

»Sie wissen, Signora, daß ich ganz zu Ihren Befehlen bin, und wenn Sie es für nötig halten sollten, in dieser Angelegenheit über mein unbedingtes Schweigen zu verfügen, so bedarf es wohl keiner Versicherung, daß Ihnen auch dies zu Diensten steht. Ganz wie Sie befehlen.«

Er verließ mit einer tiefen Verneigung das Gemach, und es war ihm ernst mit den letzten Worten. Gianelli war ein zu guter Rechner, um etwas, das sich vielleicht früher oder später doch einmal gegen den gehaßten Rinaldo verwenden ließ, nicht als ein kostbares Geheimnis zu betrachten. Wenn er die pikante Neuigkeit jetzt den Gesellschaftskreisen preisgab, so ließ sich eben nichts weiter damit anfangen, in seinem Alleinbesitz dagegen konnte sie zu vielem nützen. Sicherte sie ihm für den Augenblick doch schon einen Einfluß auf Beatrice und indirekt sogar auf Rinaldo, dem dieses Bekanntwerden seiner Familienbeziehungen zum mindesten nicht angenehm sein konnte.

In der vortrefflichsten Stimmung durchschritt der Maestro den Salon und trat in das Vorzimmer, wo sich augenblicklich nur der Matrose Jonas befand. Der Kapitän hatte ihn seinem Bruder mit einem Auftrage nachgesendet; Reinhold befand sich aber noch bei dem Intendanten, wurde jedoch jeden Augenblick erwartet. Das erfuhr Jonas von einem Bedienten, der aus dem Dienste des Impresario, welcher einst die italienische Operngesellschaft nach Deutschland führte, in den Beatricens übergegangen war und als Errungenschaft seiner nordischen Reise etwas deutsch radebrechte. Da der Matrose den Auftrag hatte, das Billet seines Herrn dessen Bruder selbst zu übergeben, so blieb ihm nichts übrig, als zu warten; er faßte daher im Vorgemache Posto, das Reinhold jedenfalls passieren mußte. Er hatte allerdings bemerkt, daß die Thür eines der Hinterzimmer offen stand und daß sich dort jemand befand, anscheinend ein Kammermädchen der Signora, welches sich mit einer Robe ihrer Gebieterin beschäftigte. Da dieser Jemand aber ein Frauenzimmer war, so existierte er begreiflicherweise nicht für Jonas, der sich, mürrisch und schweigsam wie gewöhnlich, in eine der Fensterecken zurückzog und dort schon über eine Viertelstunde harrte, ohne die mindeste Notiz von jener Nachbarschaft zu nehmen.

Signor Gianelli schien in Bezug auf die Frauen gerade den entgegengesetzten Ansichten zu huldigen; denn er hatte kaum die offen stehende Thür und das junge Mädchen entdeckt, als er auch sofort seinen Kurs änderte und nach jener Richtung steuerte. Jonas verstand natürlich nichts von dem italienisch geführten Gespräche, das sich jetzt zwischen den beiden entspann, aber so viel wurde ihm doch klar, daß der Maestro sich bemühte, den Liebenswürdigen zu spielen, freilich, wie es schien, ohne besonderen Erfolg; denn er erhielt nur kurze und ziemlich trotzig klingende Antworten, und dabei wurden die schweren Seidenwogen der Robe so geschickt drapiert, daß er nicht näher kommen konnte, ohne den hellen Atlas zu zerknittern. Das dauerte einige Minuten, dann schien Signor Gianelli dennoch eine ernstliche Attacke zu versuchen; denn man hörte einen entrüsteten Ausruf, dem das zornige Aufstampfen eines kleinen Fußes folgte. Die Robe flog zur Seite, und das junge Mädchen flüchtete in das Vorgemach, wo es mit trotzig verschränkten Armen und zornsprühenden Augen stehen blieb. Der Maestro aber war ihm gefolgt, und ohne im mindesten durch den Widerspruch eingeschüchtert zu werden, machte er Miene, den ihm vorhin augenscheinlich versagten Kuß hier zu erzwingen, als er auf ein höchst unerwartetes Hindernis stieß. Eine kräftige Faust packte ihn urplötzlich am Kragen und eine fremde Stimme sagte mit nachdrücklicher Betonung:

»Das läßt man bleiben.«

Im ersten Augenblick schien der Italiener sehr betroffen durch diese Dazwischenkunft eines Fremden, den er noch gar nicht bemerkt hatte; als er diesen aber genauer ansah und entdeckte, daß er es nur mit einem gewöhnlichen Matrosen zu thun hatte, richtete er sich mit großem Selbstbewußtsein und großer Entrüstung auf. Er kehrte die Sache sofort um und spielte den Beleidigten. Wie man es wagen könne, einen Mann in seiner Stellung anzugreifen, noch dazu in den Zimmern Signora Bianconas; er werde sich bei der Signora darüber beklagen; was das denn eigentlich für eine Persönlichkeit sei, die sich dergleichen herausnehme, und damit strömte eine ganze Flut von nicht gerade schmeichelhaften Ehrentiteln auf den armen Jonas herab.

Dieser ertrug mit unverwüstlicher Gelassenheit die auf ihn gehäuften Beleidigungen, da er nicht eine einzige davon verstand; als sich aber der Italiener, durch diese Ruhe getäuscht, beikommen ließ, mit seinem Spazierstocke einige drohende Bewegungen zu machen, da war es aus mit der Gelassenheit des Matrosen; denn diese Pantomime begriff er sehr gut. Mit einem einzigen Rucke hatte er dem Maestro den Stock entrissen, in der nächsten Sekunde ihn selber umfaßt und säuberlich zur Thür hinausgeschoben, dann warf er ihm seinen Stock nach, schloß die Thür, alles ohne ein einziges Wort zu sprechen, und kehrte ruhig, als sei nicht das mindeste vorgefallen, wieder in seine Fensterecke zurück. Hier aber trat ihm bereits das junge Mädchen entgegen, das in aufwallender Dankbarkeit und mit südlicher Lebhaftigkeit ihm beide Hände entgegenstreckte.

»Ist nicht nötig! Ist gern geschehen,« sagte Jonas trocken, aber in dem Augenblick, wo er abwehrend den Arm ausstreckte, legte sich eine kleine Hand auf denselben, und eine helle Stimme sprach in den weichsten Tönen etwas, das ganz unzweifelhaft einen Dank ausdrücken sollte.

Jonas sah höchst indigniert erst seinen Arm, dann die Hand an, die noch immer auf demselben lag, und nachdem er beide eine Weile angeschaut, ließ er sich endlich herab, auch auf die zu der Hand gehörige Person einen Blick zu werfen.

Vor ihm stand ein junges Mädchen von höchstens sechzehn Jahren, eine kleine, so unendlich leichte und zierliche Gestalt, daß sie den denkbar größten Gegensatz zu der breiten Figur des Seemanns bildete. Eine Fülle prächtiger blauschwarzer Flechten umgab das Gesichtchen, das mit seinem dunklen, braunen Teint und brennend schwarzen Augen jedenfalls dem Süden Italiens entstammte. Die Kleine war ohne Zweifel hübsch, sehr hübsch, das ließ sich nicht leugnen, und die Lebendigkeit, mit der sie sich bemühte, ihrem Beschützer zu zeigen, wie sehr dankbar sie ihm sei, machte sie nur noch anmutiger.

»Ja, wenn ich nur die vermaledeite Sprache verstände!« brummte Jonas, in dem zum erstenmal etwas wie Reue darüber aufstieg, daß er die während des Sommers ihm so reichlich gebotene Gelegenheit zum Lernen des Italienischen stets in hartnäckiger Verschlossenheit von sich gewiesen hatte. Er schüttelte den Kopf, zuckte die Achseln und gab auf diese Weise pantomimisch zu verstehen, daß er des Italienischen nicht mächtig sei, was das junge Mädchen ganz unerhört und nebenbei sehr unangenehm zu finden schien.

»Den Herrn Reinhold soll ich suchen,« brummte Jonas weiter, bei dem sich merkwürdigerweise ein Bedürfnis nach Mitteilung kundgab, das er sonst einem »Frauenzimmer« gegenüber nie empfand. Er machte aber die Entdeckung, daß auch der Name nicht verstanden wurde, denn jetzt war die Reihe den Kopf zu schütteln und die Achseln zu zucken an seiner Gefährtin.

»Ja so,« sagte der Matrose ärgerlich, »er hat ja nicht einmal seinen ehrlichen deutschen Namen behalten! Rinaldo läßt er sich hier nennen – daß Gott erbarm! so heißen bei uns zu Hause die Räuber und Spitzbuben. Signor Rinaldo,« erklärte er, indem er zugleich das Billet seines Herrn hervorzog, das den gleichen Namen trug. Diese Adresse war nun freilich bekannt genug im Hause Signora Bianconas, eine weitere Verständigung für jetzt aber unnötig, denn gerade in dem Augenblick, wo die beiden ihre Köpfe eifrig über den Brief hinneigten, öffnete sich die Thür des Vorzimmers, und Reinhold selbst trat ein.

Das junge Mädchen bemerkte ihn zuerst. Sie war urplötzlich von der Seite des Matrosen weg und in der Mitte des Gemaches, wo sie einen zierlichen Knicks machte und dann in der Richtung des Salons verschwand, wahrscheinlich um ihrer Gebieterin den längst Erwarteten zu melden, während Jonas, der nicht zu begreifen schien, wie jemand so leicht und schnell davonfliegen und im Laufe weniger Sekunden so spurlos verschwinden könne, ihr so beharrlich nachblickte, daß Reinhold an ihn herantreten und ihn fragen mußte, wie er hieher komme. Beschämt und etwas verlegen entledigte sich der Matrose seines Auftrages und übergab das Billet, das Almbach erbrach und flüchtig durchlas; der Inhalt desselben schien ihn sehr gleichgültig zu lassen.

»Sagen Sie meinem Bruder, ich wäre für heute bereits gefesselt, ich ließe ihn bitten, die Einladung des Marchese allein anzunehmen. Wenn es irgend möglich ist, so erscheine ich noch gegen Abend.«

Damit steckte er den Brief zu sich, verabschiedete den Boten mit einer Handbewegung und trat gleichfalls in den Salon. Jonas hatte nun seinen Bescheid und hätte füglich nach Hause gehen können; statt dessen suchte er draußen den Bedienten auf, der ihm vorhin die nötige Auskunft gegeben hatte, und dieser machte die Entdeckung, daß der wortkarge unzugängliche Seemann auf einmal sehr neugierig geworden sei, da er sich ausführlich nach dem Haushalte Signora Bianconas und nach dem Personale desselben erkundigte und das wahrhaft fürchterliche Deutsch des auf seine Sprachkenntnisse sehr stolzen Italieners mit einer musterhaften Geduld ertrug. –

Reinhold war inzwischen in das Boudoir getreten. Er bedurfte allerdings keiner Anmeldung mehr bei der Herrin desselben, und sie kam ihm auch schon an der Schwelle entgegen, aber wäre er nicht so gänzlich von andern Gedanken hingenommen gewesen, so hätte er auf den ersten Blick sehen müssen, daß irgend etwas mit ihr vorgegangen war. Das dunkle warme Kolorit der Italienerin konnte auch bleich erscheinen; das sah man jetzt, wo das heiße Blut, das sonst immer in ihren Wangen pulsierte, bis auf den letzten Tropfen gewichen schien, aber es war eine unheimliche Blässe und die Augen brannten nur um so sengender. Beatrice war Schauspielerin genug, um, auf Minuten wenigstens, ihr stürmisches Temperament beherrschen zu können, wenn es galt, einen Zweck zu erreichen, und heute wollte sie etwas erreichen. In ihrem Gesichte stand ein Zug finsterer Entschlossenheit; sie wollte klar sehen um jeden Preis.

»Ich traf unten auf der Straße mit Gianelli zusammen,« begann Reinhold nach der ersten Begrüßung. »Er schien aus deinem Hause zu kommen; war er bei dir?«

»Gewiß! Ich weiß, daß du gegen ihn eingenommen bist, aber ich kann unmöglich den Kapellmeister der Oper abweisen lassen, wenn er kommt, um irgend etwas hinsichtlich der Aufführungen mit mir zu besprechen.«

Reinhold zuckte die Achseln. »Das konnte füglich in den Proben geschehen. Bist du eine junge Anfängerin, die der Protektion bedarf, und fürchten muß, irgend jemand zu verletzen? Ich dächte, du in deiner Stellung könntest gegen mißliebige Persönlichkeiten ebenso rücksichtslos auftreten, wie ich es thue. Indessen, ich will dir darin keine Vorschriften machen. Empfange wen du willst, auch Gianelli. Ich bin weit entfernt, dir irgend einen Zwang auferlegen zu wollen.«

Der Ton klang eisig, und Beatrices Stimme bebte leise, als sie erwiderte: »Das ist mir neu. Du pflegtest sonst meine Besuche despotischer zu überwachen; früher durfte keiner meine Schwelle überschreiten, der dir nicht genehm war.«

Reinhold hatte sich in einen Sessel geworfen. »Du siehst, ich bin duldsamer geworden.«

»Duldsamer oder – gleichgültiger.«

»Du hast dich doch oft genug über meinen Despotismus beklagt,« bemerkte er mit einem Anfluge von Spott.

»Und ich ertrug ihn dennoch, weil ich wußte, daß er aus Liebe entsprang. Es ist nur natürlich, daß mit der einen auch der andre ein Ende nimmt.«

Reinhold machte eine ungeduldige Bewegung. »Beatrice, du verlangst Unmögliches, wenn du forderst, das Menschenherz solle immer und ewig in jenen vulkanischen Empfindungen glühen, die allein dir Liebe heißen.«

Sie war an seinen Sessel getreten und legte die Hand auf die Lehne desselben, während sie mit einem seltsamen Ausdrucke zu ihm niederblickte.

»Ich sehe allerdings, daß es unmöglich ist, von dem kalten Herzen des Nordländers eine Liebe zu fordern, wie ich sie gebe und – verlange.«

»Du hättest ihn in seinem Norden lassen sollen,« sagte Reinhold düster. »Vielleicht wäre die Kälte dort besser für ihn gewesen als die ewige Glut eures Südens.«

»Soll das ein Vorwurf sein? War ich es, die dich deiner Heimat entriß?«

»Nein! Ich ging freiwillig, aber – sei gerecht, Beatrice! – die treibende Kraft warst du. Wer drängte mich unaufhörlich zu dem Entschlusse? Wer hielt mir immer und immer wieder meinen Künstlerberuf vor Augen? Wer schalt mich Feigling, als ich vor der Verantwortung zurückschreckte, und stellte mir endlich die verhängnisvolle Wahl zwischen der Flucht oder unsrer Trennung? Ich liebte dich – du wußtest, wie die Entscheidung fallen würde.«

In den dunklen Augen der Italienerin blitzte es drohend auf, aber noch erzwang sie Ruhe.

»Es galt unsre Liebe,« erklärte sie stolz, »es galt deine Künstlerlaufbahn. Ich rettete der Welt einen Genius, als ich dich mir rettete.«

Er schwieg. Die Verteidigung schien keinen Widerhall in seinem Inneren zu finden. Sie beugte sich tiefer zu ihm nieder, und ihre Stimme klang wieder süß und bestrickend, aber der unheimliche Ausdruck wich nicht aus ihren Zügen.

»Du träumst, Rinaldo. Das ist wieder eine von jenen Stimmungen, gegen welche ich so oft ankämpfen mußte. Ist es denn das erste Mal, daß eine unglückliche, unbefriedigte Ehe gelöst wurde, um ein beglückenderes Band zu schließen?«

Reinhold stützte den Kopf in die Hand. »Nein, gewiß nicht, aber das trifft hier nicht zu; denn meine Ehe ist nicht gelöst worden, und wir – haben nie daran gedacht, uns zu vermählen.«

Beatrice zuckte zusammen, und ihre Hand glitt von der Lehne des Sessels herab.

»Du warst nicht frei,« murmelte sie.

»Es kostete mir nur ein Wort, es zu werden. Ich wußte, daß man mich nicht halten würde, und dir standen genug Wege zu dem Dispens offen, der auch der Katholikin diese Ehe gestattet hätte. Aber wir fürchteten beide das unlösbare Band; wir wollten frei und fessellos sein, ohne Schranken in unsrer Liebe wie im Leben – nun wohl, wir sind es ja noch bis auf diese Stunde.«

»Was willst du damit sagen?« Beatrice preßte wie atemlos die Hand auf das Herz. »Betrachtest du etwa deine Ehe als noch bestehend?«

»O nein, gewiß nicht, und wenn ich es thäte, so würde mir bald genug die Verwegenheit dieser Annahme klar gemacht werden. Du kennst nicht eine beleidigte Gattin und Mutter in ihrem Tugendstolze. Wenn der Sünder auch sein ganzes noch übriges Leben der Reue und Buße widmen wollte, er würde doch nie begnadigt.«

Diese Worte sollten wie Spott klingen, er ahnte nicht, was die grenzenlose Bitterkeit verriet, mit der er sie hervorstieß, aber Beatrice verstand es nur zu gut, und mit dieser Erkenntnis brach die bisher so mühsam gewahrte Selbstbeherrschung rettungslos zusammen.

»Hast du das vielleicht schon versucht bei ihr, bei der ›beleidigten Gattin‹?« rief sie aufflammend. »Sie ist ja in deiner Nähe; ich war ja selbst Zeuge eures Wiedersehens. Darum also begegneten sich eure Augen in so rätselhafter Weise, darum konntest du den Blick nicht losreißen von dem Kinde, darum bebte sie zurück vor mir, wie vor etwas Unheilvollem? Hast du die Reueszene schon versucht, Rinaldo?«

Reinhold war aufgesprungen, in seinen Mienen stritten Zorn und Ueberraschung miteinander. »Also du weißt bereits, wer Signora Erlau ist? Doch was frage ich noch! Der Spion, dieser Gianelli, verließ dich ja soeben; er wird auch das bereits herausgespürt und dir hinterbracht haben.«

Einen Moment lang flog eine dunkle Glut über die Züge der Sängerin, als sie an den direkten Auftrag dachte, den sie dem »Spion« erteilt hatte, aber in dem Aufruhr ihres ganzen Inneren fand die Beschämung keinen Platz.

»Du wußtest es bereits in Mirando,« fuhr sie stürmisch fort, »und sie bewohnte die nahe Villa Fiorina. Willst du mich vielleicht glauben machen, daß ihr euch dort nicht gesehen, nicht gesprochen habt?«

»Ich will dich überhaupt nichts glauben machen,« sagte Reinhold kalt. »Wie ich mit Eleonoren stehe, wird dir unsre völlig fremde Begegnung wohl hinreichend gezeigt haben. Beruhige dich! Von der Seite hast du nichts zu fürchten. Was übrigens zwischen meiner Gattin und mir vorgegangen ist, werde ich dir nicht beichten.«

Es lag ein leiser, aber doch bemerkbarer Ton der Verachtung auf den beiden Worten, und er schien verstanden zu werden.

»Es scheint, du stellst mich unter deine Gattin,« sagte Beatrice schneidend. »Unter diese Frau, deren einziges Verdienst es war und ist, die Mutter deines Kindes zu sein, die dich niemals –«

»Ich bitte dich, laß das!« unterbrach er sie entschieden. »Du weißt, daß ich es nicht ertragen kann, wenn du diesen Punkt berührst, und jetzt dulde ich das weniger als je. Wenn du mir durchaus wieder eine Szene machen mußt, so thue es, aber mein Weib und mein Kind laß aus dem Spiele!«

Es war, als ob seine Worte einen Sturm entfesselt hätten, so glühend, so maßlos brach die Leidenschaftlichkeit der Italienerin jetzt hervor, jede Spur von Selbstbeherrschung mit sich fortreißend.

»Dein Weib und dein Kind!« wiederholte sie außer sich. »O, ich weiß, was mir diese Worte bedeuten; ich mußte es ja oft genug erfahren. Haben sie sich doch zwischen uns gedrängt von dem ersten Moment unsrer Vereinigung an bis auf diesen Tag. Ihnen verdanke ich jede bittere Stunde, jede kalte fremde Regung in deinem Inneren. Sie haben auf dir gelegen wie ein Schatten, mitten in dem Aufsteigen deines Künstlerruhmes, mitten in all deinen Siegen und Triumphen, als ob sie dich gebannt hätten da oben im Norden mit der Erinnerung an sie – du konntest dich nicht losreißen davon, und doch gab es eine Zeit, wo sie dir die drückenden Fesseln waren, die dich schieden von Leben und Zukunft, die du schließlich zerreißen mußtest.«

»Um andre dafür einzutauschen,« ergänzte Reinhold, dessen Heftigkeit jetzt auch aufloderte. »Und es ist noch die Frage, ob diese andern die leichteren sind. Dort waren es nur die äußeren Verhältnisse, die mich einengten; mein Denken und Fühlen, mein Schaffen wenigstens war frei. Du wolltest auch dies willenlos zu deinen Füßen sehen, wie mich selber, und daß dir das nicht gelang, wenigstens nicht immer, habe ich mit Stunden endloser Aufregung und Bitterkeit büßen müssen. Einen andern hätte deine Liebe zum Sklaven gemacht; mich zwang sie im ewigen Kampfe gegen deine Herrschsucht zu stehen, die sich jedes Gedankens, jeder Regung meines Inneren bemächtigen wollte. Aber ich dächte, Beatrice, du hättest bisweilen doch in mir deinen Meister gefunden, der seine Selbständigkeit zu wahren wußte und der nicht sein ganzes Sein und Wesen in Ketten schlagen ließ.«

Der Sturm war einmal heraufbeschworen. Nun gab es auch kein Einhalten und keine Mäßigung mehr. Zum mindesten für Beatrice nicht, deren Heftigkeit immer wilder aufschäumte.

»Das also muß ich von den Lippen des Mannes hören, der mich so oft seine Muse genannt hat? Hast du vergessen, wer es war, der dich zuerst zum Bewußtsein deines Talentes und deiner selbst erweckte, wer allein dich hinaufführte auf die Sonnenhöhe des Ruhmes? Ohne mich wäre der gefeierte Rinaldo zu Grunde gegangen in den Fesseln, die er nicht zu zerreißen wagte.«

Sie fühlte nicht, wie grenzenlos dieser Vorwurf seinen Mannesstolz verletzen mußte. Reinhold fuhr auf, aber nicht mit jenem Hochmut, der jetzt nur zu oft seinen Charakter verdunkelte; diesmal war es stolzes energisches Selbstbewußtsein, mit dem er sich emporrichtete.

»Das wäre er nicht. Denkst du so klein von meinem Talente, daß du glaubst, es könnte sich nur mit dir und durch dich Bahn brechen? Meinst du, ich hätte nicht allein meinen Weg gefunden, mich nicht allein zu der jetzigen Höhe emporgeschwungen? Frage meine Werke danach! Sie werden dir die Antwort geben. Ich wäre gegangen, früher oder später; daß ich mit dir ging, ist mir zum Verhängnis geworden, denn das zerriß jedes Band zwischen mir und der Heimat und riß mich selber auf Bahnen, die der Mann wie der Künstler besser gemieden hätte. Du hieltest mich jahrelang fest in dem Rausche eines Lebens, das mir nie auch nur eine Stunde wahrer Befriedigung und wahren Glückes bot, weil du wußtest, daß, wenn ich erst einmal daraus erwachte, es mit deiner Macht zu Ende sei. Verzögern konntest du das, verhindern nicht – das Erwachen kam spät, zu spät vielleicht – aber es kam doch endlich.«

Beatrice stützte sich auf den Marmorsims des Kamins, an dem sie stand; ihr ganzer Körper bebte wie im Fieber, zeigte ihr diese Stunde doch, was sie längst schon gefühlt hatte, ohne es sich eingestehen zu wollen, daß ihre Macht in der That zu Ende war.

»Und wer, meinst du, soll das Opfer dieses ›Erwachens‹ sein?« fragte sie dumpf. »Hüte dich, Rinaldo! Deine Frau verließest du, und sie ertrug das geduldig – ich ertrage es nicht. Beatrice Biancona läßt sich nicht aufopfern.«

»Nein, eher opfert sie selbst.« Reinhold trat vor sie hin und sah ihr fest ins Auge. »Du würdest den Dolch zücken – nicht wahr, Beatrice? Auf dich oder mich, gleichviel, wenn nur deine Rache gekühlt würde. Und wenn ich die Waffe deiner Hand entrisse und reumütig zu dir zurückkehrte, du öffnetest mir doch wieder die Arme. – Du hast ganz recht, Eleonore ertrug es geduldiger; da hielt mich kein Wort, kein Vorwurf, da wurde der Weheschrei erstickt im tiefsten Inneren. Ich vernahm auch nicht einen Laut davon; aber in dem Moment, wo ich sie verließ, da war ich der Ausgestoßene, da verschloß sich mir die Wiederkehr auf immer. Und wenn ich jetzt zu ihr käme in allem Glanze meines Ruhmes und meiner Erfolge, wenn ich ihr Lorbeeren, Gold, Ehren, alles zu Füßen legte und mich selbst dazu – es wäre umsonst: sie vergäbe mir nicht.«

Er brach ab, als habe er bereits zu viel gesagt. Beatrice erwiderte kein Wort; kein Laut kam von ihren Lippen, nur die Augen redeten eine düstere, unheimliche Sprache, aber Reinhold verstand sie diesmal nicht, oder wollte sie nicht verstehen.

»Du siehst, daß jene Trennung unwiderruflich ist,« sagte er ruhiger. »Ich wiederhole es dir, du hast von dieser Seite nichts zu befürchten. Du warst es, nicht ich, die diese Szene heraufbeschwor. Es ist nicht gut, wenn man die Geister der Vergangenheit wieder aufweckt, zumal zwischen uns nicht. Laß sie ruhen!«

Er verließ sie und trat in den anstoßenden Salon, wo er sich in die auf dem Flügel liegenden Noten vertiefte oder doch zu vertiefen schien, um dem weiteren Gespräche zu entgehen. »Laß sie ruhen!« das wurde so ruhig, so düster gesprochen, und doch klang es wie ein Hohn in seinem Munde. Konnte er doch nicht einmal mehr die Geister der Vergangenheit bannen, und er verlangte es von der Frau, die sich von ihnen in dem bedroht sah, was ihr nun einmal als das Höchste galt, in seiner Liebe, die trotz allem, was sich im Laufe der Jahre zwischen sie und ihn gedrängt hatte, doch an ihm hing mit allen Wurzeln ihres Inneren, deren glühende, leidenschaftliche Natur von jeher in der Liebe wie im Hasse keine Grenze gekannt hatte. Wer Beatrice jetzt sah, wie sie sich langsam emporrichtete und ihm nachblickte, der wußte, daß sie das nicht ruhen lassen und selbst nicht ruhen werde, und Reinhold hätte bedenken sollen, als er ihr so trotzig die Stirn bot, daß er jetzt nicht mehr allein ihrer Rache gegenüberstand, daß er in dieser Stunde nur zu sehr verraten hatte, auf welchem Wege sie ihn tödlich treffen konnte. Der Blick, der so unglückverheißend dort aufflammte, bedrohte nicht ihn, aber etwas andres, das er nicht zu schützen vermochte, weil man ihm das Recht dazu versagte – sein Weib und sein Kind.

»Ich wollte, Eleonore, wir wären in der Villa Fiorina geblieben und hätten die Uebersiedelung hieher unterlassen,« sagte der Konsul Erlau, indem er vor seiner Pflegetochter stehen blieb, die er bei seinem unvermuteten Eintritte in ihr Zimmer in Thränen überrascht hatte. »Ich sehe, daß ich dir doch damit allzuviel zugemutet habe.«

Die junge Frau hatte rasch die Spuren des Weinens vertilgt und lächelte jetzt mit einer Ruhe, die einen Fremden wohl hätte täuschen können.

»Ich bitte dich, lieber Onkel, quäle dich doch nicht mit Besorgnissen meinetwegen! Wir sind deinetwillen hier, und wir wollen Gott danken, wenn deine Genesung, die im Süden so vielversprechend begann, sich hier vollendet.«

»Ich wollte aber doch, Doktor Conti säße an jedem andern Orte der Welt,« versetzte der Konsul ärgerlich, »nur nicht gerade in der Stadt, die wir um jeden Preis vermeiden wollten, und wo ich mich nun notgedrungen seiner Behandlung unterwerfen muß. Armes Kind, ich wußte, daß du mir ein Opfer brachtest mit dieser Reise; wie groß es ist, das lerne ich erst jetzt einsehen.«

»Es ist kein Opfer, wenigstens jetzt nicht mehr,« sagte Ella fest. »Ich fürchtete nur die Möglichkeit einer ersten Begegnung. Nun ist diese überwunden und das übrige mit ihr.«

Erlau prüfte forschend und etwas argwöhnisch ihre Züge. »So! Warum hast du denn geweint?«

»Man ist nicht immer Herr seiner Stimmung. Ich war eben niedergeschlagen.«

»Eleonore!« Der Konsul setzte sich neben sie und nahm ihre Hand in die seinige. »Du weißt, ich habe es nie verwinden können, daß jenes unselige Verhältnis gerade in meinem Hause seinen Anfang nahm, und es war meine einzige Genugthuung, daß dieses Haus dir später eine Heimat bieten konnte. Ich hoffte, jetzt wo Jahre dazwischen liegen, wo in dir und um dich nicht mehr als alles sich geändert hat, würdest du die einst empfangene Kränkung verschmerzt haben, und statt dessen muß ich sehen, daß sie unvermindert und unvergessen fortbrennt, daß alle alten Wunden wieder aufgerissen werden, daß du –«

»Du irrst,« unterbrach ihn die junge Frau hastig. »Du irrst gewiß. Ich – bin längst zu Ende mit der Vergangenheit.«

Erlau schüttelte ungläubig den Kopf. »Als ob du es je zeigen würdest, wenn du leidest! Ich weiß am besten, welch eine Verschlossenheit und Selbstbeherrschung unter diesen blonden Flechten steckt. Du hast mir oft mehr davon gezeigt, als du vor deinem zweiten Vater verantworten konntest, aber er sieht doch schärfer und tiefer als die andern, und ich sage dir, Eleonore, du bist nicht wieder zu erkennen seit jenem Tage, wo dieser – Rinaldo, ungeachtet aller Abweisungen, doch schließlich eine Unterredung mit dir ertrotzte. Was eigentlich zwischen euch beiden vorgegangen ist, das weiß ich bis heute noch nicht; es hat schon Mühe genug gekostet, dir das Geständnis zu entreißen, daß er überhaupt bei dir war. Du bist nun einmal völlig unzugänglich in solchen Dingen, aber leugne es wie du willst, seit der Stunde bist du eine andre geworden.«

»Es fiel durchaus nichts vor,« beharrte Ella, »nichts von Bedeutung. Er verlangte das Kind zu sehen, und ich verweigerte es ihm.«

»Und wer steht dir dafür, daß er den Versuch nicht wiederholt?«

»Reinhold? Da kennst du ihn nicht! Ich habe ihn von meiner Schwelle gewiesen; jetzt betritt er sie sicher nicht zum zweitenmal. Er kannte von jeher alles, nur das eine nicht, sich demütigen.«

»Wenigstens hatte er Takt genug, Mirando so bald wie möglich zu verlassen,« sagte Erlau. »Diese Nähe wäre auch auf die Dauer nicht zu ertragen gewesen. Aber viel nützte uns seine Entfernung auch nicht, denn nun tauchte Marchese Tortoni auf, der dir so ununterbrochen von seinem Freunde vorschwärmte, daß ich mich endlich genötigt sah, ihm einen Wink zu geben, daß dieses Thema sich bei uns auch nicht der geringsten Sympathie erfreue.«

»Vielleicht thatest du das zu deutlich,« warf Ella leise ein. »Er hatte ja keine Ahnung davon, was er mit diesem Punkte berührte, und deine schroffe Ablehnung desselben muß ihm notwendig aufgefallen sein.«

»Meinetwegen! So soll er sich von seinem vielbewunderten Freunde den Kommentar dazu geben lassen. Sollte ich es vielleicht dulden, daß du eine stundenlange Verherrlichung Signor Rinaldos aushieltest? Freilich, hier sind wir nicht viel besser daran. Man kann ja keine Zeitung in die Hand nehmen, keinen Besuch empfangen, kein Gespräch führen, ohne auf diesen Namen zu stoßen; das dritte Wort ist Rinaldo. Er scheint es der ganzen Stadt angethan zu haben mit seinen Tönen und mit seiner neuen Oper, die man hier als eine Art Weltereignis zu betrachten scheint. Armes Kind! und zu dem allem mußt du stillhalten, mußt es mit ansehen, wie dieser Mann in Siegen und Triumphen förmlich schwelgt, wie er den Gipfel des Glückes erstiegen hat und sich unangefochten dort behauptet.«

Die junge Frau stützte den Kopf in die Hand, so daß diese ihr Gesicht beschattete.

»Vielleicht täuschest du dich doch. Er mag berühmt und gefeiert sein wie kein andrer, glücklich – ist er nicht.«

»Das freut mich,« sagte der Konsul heftig, »das freut mich ganz außerordentlich. Es gäbe auch kein Recht und keine Gerechtigkeit mehr in der Welt, wenn er es wäre. Und daß er dich gesehen hat, so wie du dich jetzt zeigst, trägt hoffentlich auch nicht sehr zu seinem Glücke bei.«

Er war bei den letzten Worten aufgestanden und ging mit der alten Lebhaftigkeit im Zimmer auf und nieder. Es trat ein kurzes Stillschweigen ein, das Ella endlich unterbrach.

»Ich habe eine Bitte an dich, lieber Onkel. Willst du sie mir erfüllen?«

Erlau blieb stehen. »Gern, mein Kind. Du weißt, daß ich dir so leicht nichts abschlage. Was wünschest du?«

Ella hatte den Blick auf den Boden geheftet, und sie blickte auch nicht auf während des Sprechens.

»Es heißt, daß Rein – daß Rinaldos neuestes Werk übermorgen in Szene gehen soll.«

»Jawohl, und dann wird es vollends nicht mehr auszuhalten sein mit der Vergötterung,« grollte Erlau. »Du wünschest dem ersten Lärm darüber zu entgehen? Ich begreife das vollkommen; wir wollen auf acht oder vierzehn Tage in das Gebirge fahren. So lange muß Doktor Conti mir Urlaub geben.«

»Im Gegenteil! Ich wollte dich bitten – mit mir die Oper zu besuchen.«

Der Konsul blickte sie mit der Miene äußerster Befremdung an. »Wie, Eleonore? Ich habe wohl nicht recht gehört? Du willst an dem Tage in das Theater, das du bisher entschieden geflohen hast, sobald der Name Rinaldo damit in Verbindung stand?«

Trotz der beschattenden Hand sah man es deutlich, wie die tiefe Röte, die das Antlitz der jungen Frau färbte, bis zu den Schläfen emporstieg, als sie kaum hörbar erwiderte:

»Ich habe es nie gewagt, das Opernhaus daheim zu betreten, wenn seine Töne es beherrschten. War es mir doch immer, als müßten sich aller Augen auf mich richten und mich suchen, selbst im dunkelsten Hintergrunde unsrer Loge. In deinen Salons und in denen unsrer Gesellschaftskreise hörte ich selten oder nie jene Kompositionen. Man vermied sie, sobald ich zugegen war; man kannte ja das Geschehene und suchte mich in jeder Weise zu schonen. Ich habe es nie versucht, diesen Kreis schonender Rücksicht zu durchbrechen, den ihr alle um mich gezogen hattet, vielleicht war ich zu feig dazu, vielleicht auch verbittert. Jetzt,« – sie erhob sich mit einer heftigen Bewegung und ihre Stimme gewann volle Festigkeit – »jetzt habe ich Reinhold wieder gesehen; jetzt will ich ihn auch in seinen Werken kennen lernen – ihn und sie

Erlau blieb bei seinem Staunen; die Sache überraschte ihn augenscheinlich aufs höchste, aber man sah es deutlich, daß er nicht gewohnt war, seinem Lieblinge irgend etwas zu versagen, selbst wenn es ihm bedenklich erschien. Für den Augenblick jedoch wurde er einer direkten Zusage enthoben, denn der Diener trat ein mit der Meldung, daß Doktor Conti soeben vorgefahren sei und daß auch Herr Kapitän Almbach sich im Empfangszimmer befinde.

»Dieser Kapitän ist doch von einer beneidenswerten Unbefangenheit,« sagte der Konsul. »Trotz allem, was zwischen dir und seinem Bruder geschehen ist, macht er nach wie vor ganz ruhig sein Verwandtenrecht geltend, als wäre nicht das Geringste vorgefallen. Das kann auf der ganzen Welt auch nur Hugo Almbach fertig bekommen.«

»Siehst du seine Besuche nicht gern?« fragte Ella.

»Ich?« Erlau lächelte. »Kind, du weißt ja, daß er mich gerade so vollständig erobert hat, wie jeden, den zu erobern er sich überhaupt vornimmt, vielleicht einzig meine Eleonore ausgenommen, vor der er einen ganz unglaublichen Respekt zu hegen scheint.«

Damit nahm er den Arm seiner Pflegetochter und führte sie hinüber in das Empfangszimmer. Der ärztliche Besuch war nicht von langer Dauer und auch Hugo verließ nach einer halben Stunde bereits wieder das Erlausche Haus, das er allerdings öfter zu besuchen pflegte. Ob Reinhold davon wußte, ließ sich nicht entscheiden, jedenfalls vermutete er es, aber es schien ein stillschweigendes Uebereinkommen zwischen den Brüdern zu sein, diesen Punkt nicht zu berühren. Es war nicht die Art des Kapitäns, sich in ein Vertrauen zu drängen, das ihm so hartnäckig und fortdauernd versagt wurde, und so folgte er denn dem Beispiele Reinholds, der über die Begegnung in der Locanda ein vollständiges Schweigen beobachtete und den Namen seiner Frau und seines Kindes nicht mehr nannte, seit er wußte, daß sie sich in seiner Nähe befanden. Was sich eigentlich hinter dieser undurchdringlichen Verschlossenheit barg, das vermochte auch Hugo nicht zu enträtseln, aber er war überzeugt, daß es nicht der Gleichgültigkeit entstammte.

Der Kapitän hatte die Wohnung seines Bruders erreicht und betrat jetzt sein eigenes Zimmer, wo er Jonas vorfand, der auf ihn zu warten schien. In dem Wesen des Matrosen lag heute entschieden etwas Ungewöhnliches; sein sonstiges Phlegma war einer gewissen Unruhe gewichen, mit der er wartete, bis sein Herr Hut und Handschuhe abgelegt und sich niedergelassen hatte. Kaum war dies geschehen, so kam er herbei und pflanzte sich dicht vor dem Stuhle des Kapitäns auf.

»Was gibt es denn, Jonas?« fragte dieser, aufmerksam werdend. »Du stehst ja da, als beabsichtigtest du eine Rede zu halten.«

»Das will ich auch,« bestätigte Jonas, indem er sich halb feierlich, halb verlegen in volle Positur setzte.

»So? Das ist mir neu. Ich war bisher der Meinung, du würdest eine äußerst schätzbare Akquisition für ein Trappistenkloster abgeben. Wenn aber angesichts all der klassischen Erinnerungen hier der Rednergeist auch über dich gekommen ist, so soll es mich freuen. Also beginne! Ich höre zu.«

»Herr Kapitän.« – Der Rednergeist des Matrosen schien doch nicht hinreichend entwickelt zu sein, denn über diese beiden Worte kam er vorläufig nicht hinaus, und anstatt fortzufahren, blickte er so beharrlich und angestrengt auf den Fußboden nieder, als wolle er die Mosaiksteine desselben zählen.

»Höre, Jonas, du bist mir verdächtig,« sagte Hugo nachdrücklich, »sehr verdächtig schon seit länger als acht Tagen. Du brummst nicht mehr; du wirfst der Padrona und ihren Mägden nicht mehr wütende Blicke zu! Du legst bisweilen dein Gesicht in Falten, die man mit einiger Phantasie für den ersten schwachen Versuch eines Lächelns halten könnte – ich wiederhole dir, daß das höchst bedenkliche Symptome sind, und daß ich mich auf Schreckliches gefaßt mache.«

Jonas schien gleichfalls einzusehen, daß er sich etwas klarer äußern müsse. Er nahm einen energischen Anlauf dazu und brachte wirklich einen halben Satz zu stande. »Herr Kapitän, es gibt Menschen –«

»Eine ganz unbestreitbare Thatsache, die ich nicht entfernt anzugreifen beabsichtige. – Also ›es gibt Menschen – ‹ nun weiter.«

»Die die Frauenzimmer leiden mögen,« fuhr Jonas fort.

»Und andre, die sie nicht leiden mögen,« ergänzte der Kapitän, als eine zweite Pause eintrat. »Gleichfalls ein unleugbares Faktum, zu dem Kapitän Hugo Almbach und Matrose Wilhelm Jonas von der Ellida die redenden Beispiele liefern.«

»Das wollte ich eigentlich nicht sagen,« versetzte der Matrose, den diese eigenmächtige Fortsetzung seiner augenscheinlich einstudierten Rede ganz aus dem Konzepte brachte. »Ich meinte nur, es gibt Menschen, die sich den Frauenzimmern gegenüber wer weiß wie schlimm anstellen, und es im Grunde gar nicht sind, weil sie sich nichts aus ihnen machen.«

»Ich glaube, das läuft auf eine höchst schmeichelhafte Illustration meiner eigenen Persönlichkeit hinaus,« bemerkte Hugo. »Jetzt aber sage mir um Gottes willen, was bezweckst du eigentlich mit all diesen Vorreden?«

Jonas holte einigemal tief Atem; die nächsten Worte schienen ihm entsetzlich schwer zu werden. Endlich sagte er stockend:

»Herr Kapitän, ich weiß ja doch am besten, wie Sie eigentlich sind, und – und – ich kenne ein junges Frauenzimmer –«

Um die Lippen des Kapitäns zuckte es wie mühsam unterdrücktes Lachen, aber er zwang sich, ernsthaft zu bleiben.

»Wirklich!« sagte er kaltblütig. »Das ist bei dir allerdings ein höchst merkwürdiges Ereignis.«

»Und ich bringe sie Ihnen,« fuhr Jonas fort.

Jetzt begann der Kapitän überlaut zu lachen. »Jonas, ich glaube, du bist nicht gescheit. Was zum Kuckuck soll ich denn mit diesem jungen Frauenzimmer anfangen? Soll ich sie heiraten?«

»Sie sollen gar nichts mit ihr anfangen,« erklärte der Matrose mit gekränkter Miene. »Sie sollen sie bloß ansehen.«

»Ein sehr bescheidenes Vergnügen,« spottete Hugo. »Wer ist denn eigentlich die betreffende Donna, und welche Notwendigkeit bedingt dieses ›Ansehen‹ meinerseits?«

»Es ist die kleine Annunziata, das Kammermädchen der Signora Biancona,« berichtete Jonas, der jetzt endlich etwas in Redefluß kam. »Ein armes blutjunges Ding, ohne Vater und Mutter. Sie ist erst seit ein paar Monaten bei der Signora, und es ging ihr ja soweit auch gut, aber da ist ein Mensch,« der Matrose ballte im vollen Ingrimme die Fäuste, »Gianelli heißt er und ist Kapellmeister; der geht dem armen kleinen Dinge auf Schritt und Tritt nach und läßt sie nicht in Ruhe. Sie hat ihn einmal derb abgefertigt, und dafür hat er sie bei der Signora verklatscht, und Signora ist seit der Zeit so unfreundlich und heftig zu ihr, daß sie es nicht mehr aushalten kann. In dem Hause sieht sie überhaupt nicht viel Gutes, und deshalb soll sie fort und muß sie fort, und ich leide es nicht, daß sie länger dableibt.«

»Du scheinst ja über diese kleine Annunziata sehr genau unterrichtet zu sein,« bemerkte Hugo trocken. »Sie ist doch Italienerin; hast du all diese Details auf pantomimischem Wege erfahren?«

»Der Diener der Signora hat uns dann und wann ausgeholfen, wenn wir gar nicht fertig werden konnten,« gestand Jonas treuherzig. »Aber der spricht ein schauderhaftes Deutsch, und ich mag es auch nicht, daß er seine Nase in alles steckt. Sie soll ohnedies fort von der ganzen Sippschaft; sie muß absolut in ein deutsches Haus.«

»Wegen der Moral,« ergänzte Hugo.

»Ja, und dann auch wegen des Deutschlernens. Sie spricht ja kein einziges Wort deutsch, und es ist ein wahrer Jammer, wenn man sich so gar nicht versteht. Da habe ich denn gedacht – Sie gehen ja so oft zu dem Konsul Erlau, Herr Kapitän; die junge Frau Erlau könnte vielleicht ein Kammermädchen gebrauchen, und in solch einem reichen Haushalte kommt es ja gar nicht auf eine Frauensperson mehr oder weniger an –, wenn Sie ein gutes Wort für die Annunziata einlegten –« Er stockte und blickte seinen Herrn bittend an.

»Ich werde mit der Dame sprechen,« sagte der Kapitän, »und jedenfalls ist es besser, du stellst deinen Schützling erst dort vor, sobald ich eine bestimmte Zusage habe; ich werde ihn mir dann gleichfalls ansehen. Aber noch eines, Jonas,« – er nahm eine feierliche Miene an – »ich setze voraus, daß dich bei der ganzen Sache nichts weiter leitet, als nur das Mitleid mit dem armen verfolgten Kinde.«

»Nur das reine Mitleid, Herr Kapitän,« versicherte der Matrose mit einer so treuherzigen Offenheit, daß Hugo sich auf die Lippen biß, um nicht in ein erneutes Gelächter auszubrechen.

»Ich glaube wahrhaftig, er ist imstande, sich das selbst einzubilden,« murmelte er und setzte dann laut hinzu: »Es ist mir lieb, das zu hören. Ich war im voraus überzeugt davon, denn nicht wahr, Jonas, wir heiraten nie?«

»Nein, Herr Kapitän,« antwortete der Matrose, aber die Antwort kam etwas kleinlaut heraus.

»Weil wir uns aus den Frauenzimmern gar nichts machen,« fuhr Hugo mit unerschütterlichem Ernste fort. »Denn weiter als bis zum Mitleide und zur Dankbarkeit geht die Geschichte doch nie, dann segeln wir davon und sie haben das Nachsehen.«

Diesmal gab der Matrose gar keine Antwort, aber er blickte seinen Herrn äußerst betroffen an.

»Und es ist auch ein wahres Glück, daß es so ist,« schloß der Kapitän mit vollem Nachdrucke. »Frauenzimmer auf unsrer ›Ellida‹! Gott bewahre uns davor!«

Damit ließ er ihn stehen und ging aus dem Zimmer. Jonas schaute ihm mit einer Miene nach, von der sich schwer entscheiden ließ, ob sie mehr verdutzt oder mehr trübselig war, endlich aber schien die letztere Empfindung vorzuherrschen, denn er ließ den Kopf hängen und stieß einen Seufzer aus, als er halblaut sagte:

»Ja freilich, sie ist auch ein Frauenzimmer – leider Gottes!«

Hugo war hinübergegangen in das Arbeitszimmer seines Bruders, den er allein fand. Der Flügel stand offen, Reinhold selbst aber lag auf dem Ruhebette ausgestreckt, den Kopf tief in die Kissen zurückgeworfen. Das Antlitz mit den halbgeschlossenen Augen und die hohe Stirn mit den dunklen Haaren, die darüber hinfielen, sahen erschreckend bleich aus. Es war eine Stellung, nicht der Ruhe, sondern der grenzenlosesten Ermüdung und Erschöpfung, und er veränderte sie kaum beim Erscheinen seines Bruders.

»Reinhold, das ist doch wirklich unverantwortlich von dir,« sagte dieser herantretend. »Die halbe Stadt hast du in Aufruhr gebracht mit deiner Oper; im Theater geht es drunter und drüber: im Publikum kämpft man förmlich um die Billets. Eccellenza der Intendant weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht, und Donna Beatrice ist in einer geradezu nervösen Aufregung. Und du, der eigentliche Anstifter all dieses Unheils, träumst hier im dolce far niente, als ob es weder Oper noch Publikum noch sonst etwas auf der Welt gäbe.«

Reinhold wandte mit einer matten, gleichgültigen Bewegung den Kopf nach dem Eintretenden; man sah es seinem Gesichte an, daß sein Träumen eher alles andre, nur nicht süß gewesen war.

»Du warst in der Probe?« fragte er. »Hast du Cesario gesehen?«

»Den Marchese? Allerdings, obgleich er so wenig in der Probe war wie ich. Er zog es diesmal vor, selbst eine Vorstellung in der höheren Reitkunst zu geben; ich habe seiner Bravour die höchste Bewunderung gezollt.«

»Cesario? Wieso?«

»Nun, er ritt nicht weniger als dreimal dieselbe Straße auf und nieder und ließ regelmäßig unter einem gewissen Balkon sein Pferd so unsinnig courbettieren, daß jeden Augenblick ein Unglück zu befürchten stand. Er wird sich den Hals brechen und seinem schönen Tiere dazu, wenn er das öfter probiert. Leider war diesmal meine ihm wohl nicht sehr wünschenswerte Physiognomie die einzige, die er am Fenster erblickte«

Der offenbar gereizte Ton dieser Worte machte Reinhold aufmerksam – er richtete sich zur Hälfte empor.

»An welchem Fenster?«

Hugo biß sich auf die Lippen; er hatte in seinem Aerger ganz vergessen, zu wem er sprach. Der Bruder bemerkte sein Zögern.

»Meintest du vielleicht das Erlausche Haus?« fragte er rasch. »Mir scheint, du besuchst es ziemlich oft.«

»Wenigstens bisweilen,« war die ruhige Entgegnung des Kapitäns. »Du weißt ja, ich habe von jeher den Vorzug der Neutralität genossen, selbst damals, als der Streit im Hause des Onkels am heftigsten entbrannt war. Ich habe diesen alten Vorzug auch hier geltend gemacht, und er wird stillschweigend von beiden Parteien anerkannt.«

Reinhold hatte sich vollends erhoben, aber die Abspannung war gänzlich aus seinen Zügen gewichen, statt dessen stand ein Ausdruck finsteren Forschens dort, als er sagte:

»Also Cesario hat gleichfalls Zutritt im Erlauschen Hause? Freilich, du stelltest ihn ja selbst vor.«

»Ja, ich war so – albern,« fuhr der Kapitän im vollsten Aerger heraus, »und etwas ganz Allerliebstes scheine ich damit angerichtet zu haben. Kaum hatten wir Mirando verlassen, als Don Cesario, der sich nicht entschließen kann, seine Freiheit zu opfern, der an der einzigen Dame der Nachbarschaft vorüberreitet, ohne sie sich auch nur anzusehen, nichts Eiligeres zu thun hatte, als sich auf Grund jener Vorstellung in der Villa Fiorina angenehm zu machen, und das geschah, wie mir der Konsul ganz offen erklärt, in einer so bescheidenen, liebenswürdigen Weise, daß man ihn unmöglich zurückweisen konnte, um so weniger, als mit unsrer Entfernung von Mirando der alleinige Grund der Zurückgezogenheit gefallen war. Nun hatte er auch noch das Glück, den Doktor Conti zu entdecken, der irgendwo in der Nähe von S. Villeggiatur hielt, und ihn dem Konsul zuzuführen. Die Behandlung des Doktors hat einen Erfolg weit über Erwarten gehabt, und es fehlt nicht viel, so wird Don Cesario in der Familie als eine Art Lebensretter betrachtet, was er auch gehörig auszunutzen weiß. – Traue einer den Weiberfeinden! Sie sind die Allerschlimmsten, davon lieferte mir mein Jonas soeben erst ein redendes Beispiel. Der hat sich für den Augenblick zwar noch eine höchst wunderbare Mitleidstheorie zurecht gemacht, an die er so fest glaubt, wie an das Evangelium, aber nichtsdestoweniger hat es ihn rettungslos gepackt, und der aristokratische Marchese Tortoni ist genau auf demselben Punkte.«

Einem ruhigen Beobachter wäre es schwerlich entgangen, daß sich unter den Spottreden des Kapitäns, die sonst nur der Uebermut diktierte, diesmal eine Bitterkeit barg, deren er mit all seinen Spöttereien nicht Herr zu werden vermochte, aber Reinhold war nichts weniger als ruhig. Er hatte zugehört, als wolle er dem Bruder jedes Wort von den Lippen ablesen, und bei der letzten Bemerkung desselben schreckte er wild auf.

»Auf welchem Punkte? Was willst du damit sagen?«

Hugo trat betroffen einen Schritt zurück. »Mein Gott, Reinhold, wie kannst du so auffahren? Ich meinte ja nur –«

»Es handelt sich ja doch um Ella?« unterbrach ihn Reinhold mit der gleichen Heftigkeit. »Wem anders können denn diese Huldigungen gelten?«

»Allerdings, um Ella,« sagte der Kapitän; es war das erste Mal seit Monaten, daß dieser Name wieder zwischen ihnen ausgesprochen wurde. »Und ebendeshalb kann und muß es dir doch gleichgültig sein.«

So einfach die Bemerkung war, so schien sie Reinhold doch mit ungeahnter Schwere zu treffen. Er durchschritt einigemal hastig das Zimmer und blieb endlich vor seinem Bruder stehen.

»Cesario hat keine Ahnung der Wahrheit,« sagte er gepreßt. »Er machte im Anfange auch gegen mich einige enthusiastische Bemerkungen; ich mag ihm wohl unwillkürlich verraten haben, wie sehr sie mich peinigten, denn seitdem berührt er diesen Gegenstand nicht wieder.«

»Erlau scheint ihm einen ähnlichen Wink gegeben zu haben,« bestätigte Hugo. »Er sucht mich darüber auszuforschen, ob und welche Beziehungen zwischen dir und jener Familie beständen. Ich wich natürlich aus, aber er scheint durchaus nur eine frühere Feindschaft zwischen dir und Erlau zu vermuten.«

Reinhold sah finster vor sich nieder. »Diese Beziehungen werden wohl nicht allzulange mehr Geheimnis bleiben können. Beatrice kennt sie bereits, und wie ich fürchte, durch eine sehr unlautere Quelle, von der kein Schweigen zu erwarten ist. Jedenfalls wird Cesario sie früher oder später erfahren müssen, nach dem, was du mir soeben entdeckt hast. Er ist Schwärmer genug, so etwas ernst zu nehmen und sich mit ganzer Seele in eine hoffnungslose Leidenschaft zu vertiefen.«

Der Kapitän lehnte mit verschränkten Armen am Flügel, auf seinem Antlitze lag eine leichte Blässe und auch die Stimme verriet ein leises Beben, als er erwiderte:

»Wer sagt dir denn, daß sie hoffnungslos ist?«

»Hugo, das ist eine Beleidigung,« brauste Reinhold auf. »Vergißt du, daß Eleonore mein Weib ist?«

»Sie war es,« sagte der Kapitän, das Wort schwer betonend. »Du denkst wohl so wenig mehr daran, jetzt noch Rechte geltend zu machen, wie sie geneigt wäre, dir dieselben zu gewähren.«

Reinhold verstummte. Er wußte am besten, mit welcher Entschiedenheit ihm auch der geringste Schein eines Rechtes versagt worden war.

»Ihr habt es beide bei der bloßen Trennung bewenden lassen,« fuhr Hugo fort, »ohne die gerichtliche Scheidung nachzusuchen. Du bedurftest ihrer nicht, und was Ella davon zurückhielt, begreife ich nur zu gut. In solchem Falle mußten endgültige Bestimmungen über den Verbleib des Kindes getroffen werden. Sie wußte, daß du deine Vaterrechte nie ganz opfern würdest, und zitterte vor dem Gedanken, dir den Knaben auch nur zeitweise zu lassen. Dein stillschweigender Verzicht auf ihn war ihr genug; sie entsagte lieber jeder Genugthuung, um nur im ungestörten Besitze ihres Kindes zu bleiben.«

Reinhold stand da, wie vom Blitze getroffen. Die Glut der Erregung, welche eben noch seine Stirn färbte, verschwand, als er mit unterdrückter Stimme fragte:

»Und das – das, meinst du, sei der alleinige Grund gewesen?«

»Wie ich Ella kenne, der einzige, der sie verhindern konnte, den Schritt, den du begonnen hattest, nun auch ihrerseits zu vollenden.«

»Und du glaubst, daß Cesario Hoffnung hat?«

»Ich weiß es nicht,« sagte Hugo ernst. »Aber das wissen wir beide, daß Ellas Freiheit nichts im Wege steht, wenn sie wirklich gesonnen wäre, das jetzt noch geltend zu machen. Du hast sie verlassen, hast sie jahrelang völlig aufgegeben, und die ganze Welt weiß, weshalb es geschah, und was dich ihr dauernd fernhielt. Sie hat nicht allein das Gesetz, sondern auch die öffentliche Meinung auf ihrer Seite, und ich fürchte, diese würde dich zwingen, ihr auch den Knaben zu lassen. Beatrice steht deinem Vaterrechte zu furchtbar im Wege.«

»Du glaubst, daß Cesario Hoffnung hat?« wiederholte Reinhold, aber diesmal klangen die Worte dumpf und drohend.

»Ich glaube, daß er liebt, leidenschaftlich liebt, und daß er früher oder später eine Werbung versuchen wird. Er wird dann allerdings erfahren, daß die vermeintliche Witwe die Gattin seines Freundes war und noch jetzt dessen Namen trägt, ich zweifle aber, daß dies irgend einen Einfluß auf ihn übt, da auf Ella nicht der geringste Schatten fällt. Nur eure Freundschaft dürfte einen unheilbaren Riß erhalten, aber damit ist es ohnedies zu Ende, sobald die Leidenschaft spricht. Bedenke das, Reinhold, und laß dich zu keiner Unbesonnenheit fortreißen! Du sprengtest deine Fesseln, um dich frei zu machen. Du hast damit auch Eleonore frei gemacht – vielleicht für einen andern.«

Die Stimme des Kapitäns sank bei den letzten Worten, und rasch, als wolle er eine heftige Bewegung unterdrücken oder verbergen, wandte er sich zum Gehen. Wenn ihm auch die Aufregung seines Bruders, den er jetzt allein ließ, nicht entgangen war, so ahnte er doch nicht entfernt, welchen Brand er mit seinen Worten in dessen Inneres warf.

Wenn Reinhold seiner Umgebung in der letzten Zeit fast nur noch Ermüdung und Gleichgültigkeit gezeigt hatte, wenn es ihn selbst oft überkam wie ein Gefühl, als sei es nun zu Ende für ihn mit dem Leben und Lieben, diese Stunde bewies, daß es noch in ihm stürmen konnte mit der ganzen wilden Leidenschaftlichkeit, die den jungen Künstler einst den Heimatbanden entrissen hatte, und die Art, wie der Sturm entfesselt ward, verriet, wenn nicht andern, doch ihm selber, was er bisher noch nicht wissen wollte, und was sich jetzt in schonungsloser Klarheit vor ihm enthüllte. Vor dem heißen Schmerze, der plötzlich in seinem Innern aufflammte, sanken der Trotz und die Bitterkeit zusammen, mit denen er sich gegen die Frau waffnete, die es wagte, ihn fühlen zu lassen, daß er sie einst schwer beleidigt hatte, und daß sie diese Beleidigung nun und nimmermehr verzieh. Aber wenn sein Stolz ihn lehrte, der Kälte mit Gleichgültigkeit, der Unversöhnlichkeit mit Schroffheit zu begegnen, er hatte es doch nicht hindern können, daß, sobald das Bild seines Kindes vor ihm auftauchte, auch die Gestalt der Mutter an dessen Seite stand. Freilich war es nicht jene Ella mehr, die vor wenigen Monaten kaum noch einen Platz in seiner Erinnerung behauptete, sondern die Frau, die ihm einen so unbeugsamen Stolz, einen so energischen Willen und eine nie geahnte Glut der Empfindung gezeigt, an jenem Abende, wo er zum erstenmal erkannte, was er frevelhaft aufgegeben und was er nun unwiederbringlich verloren hatte. Neben dem blonden Lockenkopfe des Kindes schwebte immer und immer das Antlitz mit den großen, tiefblauen Augen, deren Strahl ihn gleichwohl so vernichtend getroffen hatte. Er gestand sich selbst nicht, mit welcher Leidenschaft er an diesem Bild hing, mit welcher Sehnsucht er Stunden in diesen Erinnerungen verträumte; er gestand sich auch den Gedanken nicht, der unausgesprochen in seiner Seele lag, daß die Frau, welche noch immer seinen Namen trug, welche die Mutter seines Kindes war, trotz alledem und alledem ihm noch angehörte, und wenn er das Recht auf ihren Besitz verwirkt hatte, so durfte ihr wenigstens kein andrer nahen.

Und nun mußte er hören, daß ein andrer die Hand nach dem Preise ausstreckte und alles daran setzte, ihn zu erringen. Die Worte des Bruders deckten ihm schonungslos den Beweggrund auf, dem allein er es verdankte, daß Ella auf seine Flucht nicht mit dem Scheidungsantrage geantwortet hatte. Nur um des Kindes willen hieß sie noch seine Gattin, nicht weil noch eine Spur von Neigung für ihn in ihrem Inneren lebte. Und wenn sie nun endlich dennoch den einst vermiedenen Schritt that, wenn sie auch ihrerseits die Kette abstreifte, jetzt, wo ein Cesario ihr die Hand bot, wer konnte sie hindern, wer durfte die Frau tadeln, die nach Jahren endlich in einer besseren, reineren Liebe Ersatz suchte für den Verrat, den der Gatte an ihr geübt? Die Gefahr lag nicht darin, daß Marchese Tortoni, der, schön, reich und aus einem der edelsten Geschlechter, das Ziel so mancher Bestrebungen war, seine Gemahlin zu einer glänzenden Stellung erheben konnte; das konnte höchstens bei Erlau in Betracht kommen, aber Reinhold wußte, daß Cesario mit seinem edlen und durchaus reinen Charakter, mit glühendem Enthusiasmus für alles Schöne und Ideale wohl auch das Herz einer Eleonore gewinnen konnte, ja gewinnen mußte, wenn dieses Herz noch frei war, und diese Ueberzeugung raubte ihm jede Fassung. Es hatte einst eine Stunde gegeben, wo die junge Frau verzweiflungsvoll an der Wiege ihres Kindes auf den Knieen lag, mit dem vernichtenden Bewußtsein, daß ihr Gatte in diesem Augenblicke sie, das Kind und die Heimat verließ, um einer andern willen – die Stunde rächte sich jetzt an dem, der sie verschuldet, rächte sich in den Worten, die wie mit Flammenschrift vor seiner Seele standen: »Du hast damit auch sie frei gemacht – vielleicht für einen andern.«

*

Im Opernhause donnerte der Beifallssturm, und der Vorhang hatte sich noch nicht einmal gehoben. Es galt der Ouverture, deren letzte Töne soeben verhallten. Das Theater war überfüllt in all seinen Plätzen mit alleiniger Ausnahme einer der kleinen Proszeniumslogen zunächst der Bühne; dort befand sich nur ein einziger älterer Herr, vermutlich irgend ein reicher Sonderling, dem es Vergnügen machte, den Alleinbesitz einer Loge an solchem Abende mit Gold aufzuwiegen, denn anders würde er schwerlich dazu gelangt sein. Im übrigen boten die blendend erhellten Räume und die Logenreihen mit ihrem reichen Damenflore ein glänzendes und vielgestaltiges Bild dar. Die Künstlerwelt wie die Aristokratie war vollständig vertreten. Alles, was die Stadt nur an Schönheiten, Berühmtheiten und Personen von Stand aufzuweisen hatte, war erschienen, um dem gefeierten Lieblinge der Gesellschaft einen erneuten Triumph zu bereiten, denn nur um einen solchen handelte es sich. Hier gab kein junger Künstler zaghaft sein Werk dem Beifalle oder dem Mißfallen des Publikums preis; eine anerkannte und unbestrittene Größe im Reiche der Musik trat mit einer neuen Offenbarung ihres Talentes vor die Welt hin, um damit einen neuen Sieg zu erringen. Diese Gewißheit lag sehr deutlich, wenn auch in ziemlich mißgünstiger Form, auf dem Gesichte des Maestro Gianelli ausgeprägt, der das Orchester leitete. Gleichwohl wagte er nicht, es an Eifer oder Aufmerksamkeit fehlen zu lassen. Er wußte zu gut, daß, wenn er versuchte, hier, wo doch immerhin ein Teil des Gelingens in seine Hand gelegt war, gegen den allmächtigen Rinaldo zu intriguieren, dies ihn seine Stellung, vielleicht seine ganze Zukunft kosten konnte, denn die Ungnade des Publikums war ihm in diesem Falle gewiß. So that er denn im vollsten Maße seine Schuldigkeit und die Ouverture ging in vorzüglicher Ausführung zu Ende.

Der Vorhang rauschte auf, und man huldigte bereits im voraus dem Komponisten durch ein erwartungsvolles Stillschweigen. Noch war der erste Akt nicht zur Hälfte vorüber – und es war nicht einer unter den Zuhörern, der Rinaldo nicht bereits die Tyrannei verziehen, mit der dieser über alle ihm zu Gebote stehenden Mittel verfügt und rücksichtslos seinen Ansichten Geltung verschafft hatte. Die Darstellung war eine in jeder Hinsicht vollendete, die Szenierung eine meisterhafte. Man fühlte es, daß eine andre Hand als die des gewöhnlichen Regisseurs hier gewaltet und den bloßen Theatereffekt überall zu künstlerischer Schönheit veredelt hatte; aber all diese äußerlichen Vorzüge verschwanden vor der Gewalt, mit der das Werk an sich zu fesseln wußte.

Es war vielleicht das Vollendetste, was Rinaldo in der ihm nun einmal eigentümlichen Richtung je geschaffen hatte, einer Richtung, die von so vielen bewundert und vergöttert und von so manchem beklagt ward. Jedenfalls hatte er diesmal das Höchste geleistet auf jener Bahn, auf die ihn der Einfluß Beatricens gerissen; ob es das Höchste war, was er überhaupt leisten konnte – diese Frage ging vorläufig noch unter in dem jubelnden Beifalle, mit dem das Publikum diese neue Schöpfung seines Lieblings begrüßte. War es doch auch hier wieder Rinaldo mit dem ganzen Feuergeiste seines Genies, von dem man nie recht wußte, ob es droben auf der Höhe des Ideals oder drunten in der Tiefe der Leidenschaft heimisch war, und der wieder alle Empfindungen des Menschenherzens aufwühlte, die zwischen diesen beiden Polen lagen.

Der Sturm brauste über die nordischen Heiden hin, und die Brandung donnerte gegen die Küste. Wie die Nebel an den Uferhöhen hinziehen, so wogten und wallten die Töne chaotisch durcheinander, bis endlich aus ihnen eine traumhaft schöne Melodie emportauchte. Aber sie schwebte nur wie ein flüchtiges Nebelbild über dem Ganzen, nie vollendet, nie klar und voll austönend, und bald genug ging sie unter in andern Klängen, die, nicht so rein und süß wie jene, doch mit fremdartig seltsamem Reize zu fesseln wußten. Die Nebel zerrissen, und aus ihnen hervor trat die dämonisch schöne Gestalt, welche die Hauptträgerin und der Mittelpunkt der ganzen Oper war. Ein lauter Beifall begrüßte das Erscheinen Signora Bianconas auf der Bühne. Beatrice zeigte es heute, daß sie noch schön zu sein verstand, so schön, wie nur jemals im Beginne ihrer Laufbahn. Was die Kunst vielleicht dazu gethan hatte, kam ja hier nicht in Betracht, genug, die Erscheinung, die jetzt vor dem Publikum stand, war vollendet in jeder Hinsicht. Das halb phantastische, halb klassische Kostüm zeigte die Gestalt in ihrem ganzen Reize; die dunklen Locken wallten gelöst über die Schultern und die Augen brannten in der alten verzehrenden Glut. Und jetzt erhob sich diese Stimme, welche die Bewunderung fast ganz Europas gewesen war, voll und mächtig, den weiten Raum erfüllend – die Sängerin stand noch im Zenith ihrer Schönheit und ihrer künstlerischen Kraft.

Glühender, feuriger rauschten die Melodien auf, und vor dem Publikum entrollte sich ein Tongemälde, das seine Farben bald dem hellsten Sonnenlichte und bald der lodernden Glut eines Kraters zu entlehnen schien. Es malte ein heißes, wildes Leben, dem der Becher bis an den Rand gefüllt war, und das ihn bis auf die Neige auskostete. Dieses Stürmen über alles Maß und Ziel hinaus, diese vulkanische Glut der Empfindungen, dieses dämonische Spiel mit den Tönen riß die Zuhörer widerstandslos mit hinaus auf das tobende Meer der Leidenschaften, um sie dort zwischen Grauen und Entzücken, zwischen Himmel und Hölle ruhelos umherzuschleudern. Wohl klang es bisweilen daraus hervor wie Jubel und Triumph, aber dazwischen zuckten auch grelle Dissonanzen, und dann wieder wehten verlorene Klänge jener ersten Melodie herüber, die wie eine leise tiefschmerzliche Sehnsuchtsklage durch die ganze Oper ging. Wie ein Traum von Liebe und Glück durch die Seele der Menschen zieht, ohne je zur Wirklichkeit herabzusteigen, so verwehten und erstarben diese Töne in der Ferne, im Vordergrunde aber stand immer und immer wieder die eine Gestalt, die Rinaldo mit der höchsten dramatischen Gewalt ausgestattet hatte, in der er Meister war wie kein andrer, die er mit dem ganzen Zauber seiner Melodien umgeben hatte, deren sinnlich bestrickender Reiz sich wie ein Bann auf die Seele der Zuhörer legte.

Und wenn irgend eine, so war Beatrice dazu geschaffen, gerade diese Musik in ihrem innersten Sein und Wesen zu erfassen und zur Geltung zu bringen, sie, deren eigentliches Element die Leidenschaft war, die selbst als Künstlerin nur darin ihre Triumphe gesucht und gefunden hatte. Sie klang aus jedem Tone ihres Gesanges, bebte aus jeder Regung ihres Spiels, das sich zu einer dramatischen Höhe erhob, wie nie zuvor, während sie Haß und Liebe, Hingebung und Verzweiflung, Wut und Rache mit ergreifender Wahrheit zeichnete. Es war, als ob ein Glutstrom von dieser Frau ausgehe und sich dem Publikum mitteilte, das halb beängstigt ihrer Darstellung folgte. Noch nie war die Sängerin so eins mit ihrer Aufgabe gewesen, noch nie hatte sie diese so vollendet gelöst, wie diesmal. Freilich, es ahnte ja niemand, um welchen Preis sie kämpfte, was sie antrieb, ihre beste Kraft einzusetzen. Galt es doch den zurückzugewinnen, den sie schon mehr als halb verloren hatte! Er hatte die Künstlerin bewundert, ehe er die Frau lieben lernte, und die Künstlerin rief jetzt alle Macht ihres Talentes zu Hilfe, um die der Frau zu behaupten. Zum erstenmal war ihr der Beifallssturm gleichgültig, der jeder ihrer Szenen folgte; zum erstenmal lag ihr nichts an den Huldigungen der Menge; sie wartete nur auf den einen Blick leidenschaftlichen Entzückens, der ihr so oft gedankt hatte an solchen Abenden – heute wartete sie vergebens.

»Signora Biancona übertrifft sich heute selber,« sagte Marchese Tortoni begeistert zu dem Kapitän Almbach, der sich in seiner Loge befand. »So oft ich sie auch schon bewundert habe, so habe ich sie noch nie gesehen.«

»Ich auch nicht,« entgegnete Hugo einsilbig.

Cesario blickte ihn mit unverhehltem Erstaunen an. »Das klingt sehr kühl, Signor Capitano. Haben Sie keinen andern Ausdruck der Bewunderung für diese Frau, die Ihrem Bruder so nahe steht?«

Hugos Miene war in der That so kühl wie sein Ton, als er antwortete: »Das ist eben Reinholds Geschmack. Wir gehen bisweilen in unsern Ansichten sehr weit auseinander. Uebrigens wäre es ungerecht, Signora Biancona heute nicht unbedingt zu bewundern, und ich thue das gleichfalls, das heißt, vom Zuschauerraume aus. In der Nähe wäre mir eine solche über alles Maß hinausgehende Leidenschaft, die gar keine Grenze zu kennen scheint, doch etwas unheimlich. Ich kann mich nie ganz des Gedankens erwehren, daß Donna Beatrice einmal dieses allerdings meisterhafte Spiel in die Wirklichkeit übertragen und auch dort eine Art Medea sein könnte, die nur Tod und Verderben sprüht. Daß sie das kann, sieht man an ihren Augen, und – wenn ich auch sonst nicht gerade zu den Furchtsamen gehöre – zu lieben vermöchte ich eine solche Frau nicht.«

»Und doch fordern gerade Rinaldos Werke diese flammende Darstellung,« sagte der Marchese vorwurfsvoll, »und dessen ist nur eine Biancona fähig.«

»Jawohl, sie ist von jeher sein Verhängnis gewesen,« murmelte Hugo. »Und er wird nie frei werden, solange dieses Verhängnis über ihm waltet.«

Die beiden Herren hatten längst in der gegenüberliegenden Proszeniumsloge den Konsul Erlau bemerkt, auch einen Gruß mit ihm ausgetauscht. Daß er nicht allein sei, davon ahnten sie so wenig, wie sonst jemand aus dem Publikum, denn die Dame, welche sich in seiner Begleitung befand, saß tief im Hintergrunde der Loge, gänzlich verborgen hinter den Falten des zur Hälfte herabgelassenen Vorhanges, aber doch so, daß sie die Bühne vollständig überblicken konnte, und ihr Begleiter gebrauchte die Vorsicht, jedesmal, wenn er mit ihr sprach, aufzustehen und gleichfalls zurückzutreten. Sie wollte augenscheinlich das Gesehenwerden überhaupt und wohl auch einen Besuch der beiden Herren in ihrer Loge vermeiden.

Ella hatte in der That die Erfüllung ihres Wunsches von seiten des Pflegevaters erreicht. Sie kannte bisher nur weniges und unbedeutendes von den Kompositionen ihres Mannes, einige Lieder und Phantasien, sonst nichts. Das eigentliche Feld seines Schaffens und seiner Erfolge, die Oper, war ihr fremd geblieben. Im Gefühle der tödlichen ihr widerfahrenen Kränkung hatte sie es nie über sich gewinnen können, Zeugin der Triumphe zu sein, die Rinaldos Opern auch in ihrer Vaterstadt feierten, jener Triumphe, die sich auf den Trümmern ihres Lebensglückes aufbauten, und was sie durch die Zeitungen oder durch Fremde, denen ihre nahen Beziehungen zu dem gefeierten Komponisten nicht bekannt waren, davon erfuhr, senkte den Stachel nur noch tiefer in ihre Seele. Jetzt zum erstenmal trat ihr der Tondichter Rinaldo in dem genialsten seiner Werke entgegen; jetzt lernte auch sie die Macht dieser Töne kennen, die so oft schon Freund und Feind bezwungen hatten und selbst die Gegner zur Bewunderung hinrissen, und der Eindruck war überwältigend. Halb vorgebeugt in atemlosem Lauschen folgte die junge Frau jedem Tone der Musik; war sie jetzt doch fähig, neben all den Schönheiten, welche sich ihr entschleierten, auch in die dunkeln Tiefen zu blicken, die sich darin aufthaten. Zum erstenmal verstand sie ganz und voll den Charakter ihres Gatten, diese glühende Künstlernatur mit all ihren Widersprüchen, mit ihrem Stürmen, Wogen und Drängen; zum erstenmal begriff sie, was die tief verletzte Frau bisher nicht hatte begreifen wollen, die innere Naturnotwendigkeit, die Reinhold zwang, sich aus den beengenden Fesseln des kleinbürgerlichen Alltagslebens loszureißen und dem Rufe seines Genius zu folgen, die die Katastrophe für ihn zu einem Kampfe um Leben und Tod machte.

Daß er dabei auch jene Bande zerriß, die ihm unter allen Umständen hätten heilig bleiben sollen, daß er der freien berechtigten Selbstbestimmung des Mannes die Schuld des Gatten und Vaters hinzufügte, der die Seinigen verließ, davon freilich sprach ihn auch der Genius nicht frei; aber in dem Innern Ellas tauchte jetzt leise mahnend die Frage auf: was sie selbst denn damals ihrem Gatten gewesen sei, um zu verlangen, er solle der Versuchung standhalten, die in Gestalt einer Beatrice Biancona vor ihn hintrat, und was sie bieten konnte gegen eine Leidenschaft, deren glühende Romantik von jeher viel mehr den Künstler als den Mann beherrscht hatte. Die ihm angetraute Frau stand damals noch viel zu sehr unter dem Drucke ihrer Erziehung und Umgebung, um sich auch nur einigermaßen zu seiner Höhe erheben zu können; – statt ihrer stand eine andre da, im vollsten Glanze ihrer Schönheit und ihres Talentes, und diese andre zeigte dem jungen Künstler die Bahn der Freiheit und des Ruhmes – er war unterlegen! Ella aber fühlte tief im innersten Herzen, daß er es nicht wäre, hätte sie ihm damals sein können, was sie heute war.

Zum letztenmal hob sich der Vorhang, und bis zur letzten Note zeigte Rinaldo, daß er sich treu geblieben war. Der Schluß stand durchaus auf der Höhe des Ganzen und war von hinreißender Wirkung. Und dennoch fehlte dem Werke das Eine, Höchste, das all diese flammenden Blitze des Genies nicht zu ersetzen vermochten, die Versöhnung mit sich selber. Es hatte keinen Frieden und weckte keinen in der Seele der Zuhörer. Der Komponist schien den Konflikt, der ungelöst in seinem eigenen Innern lag, auch auf seine Schöpfung übertragen zu haben; es war doch schließlich nur ein Verzweifeln an dem Leben, an dem Glücke, an sich selber. Wenn die Sturmnacht ausgetobt hatte, schimmerte kein verklärendes Morgenrot, das einen neuen, besseren Tag verhieß; auf der weiten öden Wasserwüste trieben nur Trümmer umher, und an sie geklammert, erreicht der Schiffbrüchige endlich wieder die Heimatküste – zu spät zur Rettung. Und wie er todesmüde und todeswund dort niedersinkt, da klingt noch einmal, wie mit Geisterlauten, aus weiter, unnahbarer Ferne jene Traummelodie zu ihm hernieder, zum erstenmal vollendet, zum erstenmal voll und ganz austönend – im Tode. Und die Klänge verwehen und ersterben leise, wie das Leben sich verblutet.

Die Aufnahme der Oper von seiten der Zuhörer ließ alles hinter sich zurück, was Rinaldo je an Erfolgen errungen hatte. Bei einem Publikum des Südens freilich waren diese Musik und diese Darstellung des Triumphes sicher. Da zündete jeder Funke; da flammte ein Feuer in das andre. Man hätte meinen sollen, der Beifall müsse sich doch endlich einmal erschöpfen, der Jubel sich endlich einmal mäßigen, aber heute schien selbst der glühendste Enthusiasmus noch einer Steigerung fähig zu sein. Nach jedem Aktschlusse, nach jeder Szene brach er von neuem hervor und endete schließlich in einem wahren Aufstande, mit dem das ganze Haus stürmisch das Erscheinen des Komponisten forderte.

Signor Rinaldo ließ lange auf sich warten, ehe er diesem Verlangen Folge leistete; er ließ, trotz all der stürmischen Rufe, die ihm galten, Signora Biancona immer wieder allein vortreten. Erst am Schlusse der Oper, als das Rufen in ein Toben ausartete und der Ansturm der Begeisterung nicht länger zu bändigen war, erst da zeigte er sich und wurde nun vom Publikum in einer Weise begrüßt, die selbst den maßlosesten Ehrgeiz befriedigt hätte. Stolz und ruhig trat Rinaldo auf die Bühne; fast unbewegt stand er inmitten all der begeisterten Huldigungen. Er hatte es längst gelernt, Triumphe als etwas ihm Gebührendes hinzunehmen, und so ungemessen der heutige war, er raubte ihm nicht einen Moment lang die Fassung. Seine dunklen Augen glitten langsam an den Logenreihen hin, plötzlich aber blieben sie gefesselt an einem Punkte haften. Es war, als ob ein elektrischer Schlag auf einmal das ganze Wesen des Mannes durchzucke, so schreckte er empor, und jetzt flammte sein Blick auf – jener Blick leidenschaftlichen Entzückens, für den Beatrice heute vergebens alle Macht ihres Talentes eingesetzt hatte – und wenn das blonde Haupt, das nur einen Augenblick sichtbar geworden war, auch im nächsten schon wieder verschwand, er wußte jetzt doch, wer sich hinter den Vorhängen jener Loge barg, wer Zeuge seines Triumphes wurde.

»Eleonore, das war unvorsichtig!« sagte Erlau, der gleichfalls von der Brüstung zurücktrat. »Du beugtest dich zu weit vor. Du bist gesehen worden.«

Die junge Frau gab keine Antwort; sie stand aufrecht, mit beiden Händen die Lehne des Sessels umfassend, von dem sie sich in völliger Selbstvergessenheit erhoben hatte. Die thränenvollen Augen waren noch unverwandt auf die Bühne gerichtet, wo Reinhold soeben nochmals vortrat, um dem Publikum zu danken, dieser jubelnden, stürmisch erregten Menge, deren einziger Mittelpunkt er jetzt war. All diese tausend Augen waren auf ihn allein gerichtet; all diese Lippen und Hände verkündeten ihm seinen Sieg, und während Lorbeerkränze und Lorbeerzweige zu seinen Füßen sanken, hallte sein Name, wie von einer brausenden Woge hoch emporgetragen, in tausendstimmigem Echo zurück.

*

Bei dem –schen Gesandten fand eine große Soiree statt, die erste derartige Festlichkeit in der Saison. Durch die weiten und prachtvollen Räume des Gesandtschaftshotels wogte eine zahlreiche Gesellschaft. In den lichtstrahlenden, blumendurchdufteten Salons rauschten die Schleppen und blitzten die Uniformen; neben reizenden Frauengesichtern und vornehmen Ordensträgern sah man aber auch manche ernste bedeutende Männergestalt in einfacher Ziviltracht, und unter all diesen längst bekannten Gestalten und Namen tauchten so manche fremde auf, die, je nach ihrer Erscheinung und ihrem Klange, eine größere oder geringere Aufmerksamkeit beanspruchten, um sich schließlich unter der Menge der Gäste zu verlieren.

Auch Reinhold und Kapitän Almbach befanden sich unter den Eingeladenen, und der erstere war auch hier wieder der Gegenstand allseitiger Huldigungen, wenn diese sich auch weniger ungestüm kundgaben, als neulich im Theater. Rinaldo galt längst in der Gesellschaft als eine Berühmtheit ersten Ranges. Seine neue Oper machte ihn vollends zum Löwen der Saison, und er konnte sich nicht zeigen, ohne sogleich von allen Seiten umringt und beglückwünscht zu werden.

Mit ihm teilte die geniale Darstellerin seiner Schöpfung, Signora Biancona, die allgemeine Aufmerksamkeit. Leider kam man diesmal nicht in den Fall, den Ausdruck der Bewunderung beiden gemeinschaftlich darzubringen, denn sie schienen sich eher zu meiden als zu suchen. Aufmerksame Beobachter wollten behaupten, daß so etwas wie ein Zerwürfnis zwischen beiden stattgefunden haben müsse, denn sie waren zu verschiedenen Zeiten gekommen und näherten sich fast gar nicht einander. Nichtsdestoweniger war auch die Künstlerin fortwährend von Huldigungen umgeben, an denen ihre Schönheit vielleicht einen nicht geringen Anteil hatte. Beatrice verstand es meisterhaft, sich zu »drapieren«, für den Salon nicht weniger wie für die Bühne, und wenn ihre Toilette auch gewöhnlich etwas Phantastisches zeigte, so entsprach dies so durchaus der Eigenart ihrer Erscheinung, daß sie nur um so hinreißender erschien. Die Sängerin trug, wie viele ihrer Landsmänninnen, mit Vorliebe schwarze Kleidung, und hatte diese auch heute gewählt, aber die aus Sammet, Atlas und Spitzen zusammengesetzte Robe war dennoch von einer verschwenderischen Pracht, und auf dem dunklen Grunde funkelte ein reicher Juwelenschmuck. Einzelne purpurrote Blüten, scheinbar regellos hie und da in die Locken gestreut, schienen den schwarzen Spitzenschleier zu halten, und damit bildete der dunkle Teint der Italienerin und die lodernde Glut ihrer Augen ein Ganzes, das, wenn es auf den Effekt berechnet war, wenigstens diese Wirkung im vollsten Maße erreichte.

»Ah, Mr. Almbach, finde ich Sie hier?« fragte Lord Elton, der glücklich, endlich jemand zu finden, mit dem er englisch sprechen konnte, auf den Kapitän zutrat. »Ich wollte Sie bereits in diesen Tagen aufsuchen. Die neue Oper Ihres Bruders –«

»Um Gottes willen, Mylord, fangen Sie mir nicht auch noch davon an!« unterbrach ihn Hugo mit einer Gebärde des Entsetzens. »Seit dem Tage der Aufführung werde auch ich halb tot gequält mit dieser Oper meines Bruders; alle Welt fühlt sich verpflichtet, mich gleichfalls zu beglückwünschen. Wie oft habe ich schon eine Revolution, ein Erdbeben oder doch mindestens einen kleinen Vesuvausbruch herbeigewünscht, nur damit endlich einmal in der Gesellschaft von etwas andrem gesprochen werde!«

Der Lord schüttelte halb lachend, halb mißbilligend den Kopf. »Mr. Almbach, Sie sollten das nicht so unumwunden aussprechen. Wenn ein Fremder Sie hörte, es könnte gemißdeutet werden.«

»O, ich habe mir bereits verschiedene Male das Vergnügen gemacht, mir einige der ärgsten Bewunderer mit solchen Aeußerungen vom Leibe zu halten,« versicherte Hugo ganz unbekümmert. »Ich fühle mich durchaus nicht verpflichtet, als Opferlamm für die Popularität meines Bruders jedem Rede zu stehen. Wie Reinhold diesen Triumph auf die Dauer aushält, begreife ich nicht. Künstlernaturen müssen in dieser Hinsicht wohl ganz absonderlich organisiert sein; meine Seemannsnerven wären längst unterlegen.«

Lord Elton schien auch heute wieder Vergnügen an der Laune des Kapitäns zu finden, denn er blieb beharrlich an dessen Seite und war ein zwar schweigsamer, aber sehr aufmerksamer Zuhörer bei all den Bemerkungen, die Hugo wie gewöhnlich schonungslos über alles Bekannte und Nichtbekannte ergoß.

»Wenn ich nur wüßte, weshalb Marchese Tortoni auf einmal in solch einer Kometenbahn durch den Saal bricht,« spöttelte er. »Die Thür drüben scheint der Magnet zu sein, der ihn unwiderstehlich anzieht – ah so! Ja freilich, nun kann ich mir diesen Sturmlauf erklären.«

Die letzten Worte klangen in so unverkennbarem Aerger, daß auch der Lord aufmerksam nach dem Eingange blickte. Dort erschien jetzt Konsul Erlau, der Ella am Arme führte; Marchese Tortoni befand sich bereits an ihrer Seite, und alle drei traten soeben über die Schwelle. Die junge Frau war in weißer, scheinbar sehr einfacher Toilette, aber man sah es, daß Erlau auch in Bezug auf seine Pflegetochter es liebte, sich als Millionär zu zeigen. Dieses weiße Spitzenkleid, das so duftig Ellas zarte Gestalt umwogte, ließ die meisten jener schweren Sammet- und Atlasroben, welche durch den Saal rauschten, an Kostbarkeit weit hinter sich zurück, und die Perlenschnur, die Ellas Hals schmückte, war von einem so ungeheuren Werte, daß viele der funkelnden Juwelen davor verschwanden. Das Haupt der jungen Frau trug einzig seinen natürlichen Schmuck; kein Diamant, nicht einmal eine Blume zierte die reichen blonden Flechten, deren matter Goldglanz so eigentümlich reizend mit der zartrosigen Färbung des Teints harmonierte. Diese Gestalt bedurfte keiner berechneten Toilettenkünste, um sich schön zu zeigen, sie war es, ohne alle künstliche Unterstützung, und wenn die Blicke der Damen bald genug herausgefunden hatten, welch ein Wert sich hinter dieser anscheinend so einfachen Toilette barg, so hatten die Herren nicht weniger Augen für die Poesie der Erscheinung, die an ihnen vorüberschwebte.

Die drei waren etwa bis in die Mitte des Saales gelangt, als sich zufällig eine der Gruppen, deren Mittelpunkt Reinhold gewesen war, auflöste und dieser selbst hervortrat und fast unmittelbar seiner Frau gegenüberstand. Es war nicht die erste derartige Begegnung zwischen den beiden Gatten, und sie mußten an solchem Orte immerhin auf die Möglichkeit eines Zusammentreffens gefaßt sein. Bei Ella schien dies auch der Fall; nur einen Moment lang bebte ihr Arm in dem ihres Begleiters, und eine fliegende Röte kam und ging in ihren Zügen, dann aber glitt das große Auge ruhig weiter, und sie wandte sich zu dem Marchese, der ihr soeben die Namen einiger der Anwesenden nannte. Reinhold dagegen stand so fassungslos, als habe er die ganze Umgebung vergessen. Wenn ihm die jetzige Erscheinung seiner Frau auch nicht mehr fremd war, sie sah doch anders aus bei dem matten Lampenschimmer im Gartensaal der Villa Fiorina, bei dem düstern Regenlichte der Veranda an jenem Sturmtage, und in dem halbdunklen Hintergrunde der Theaterloge. So hatte er sie noch nie gesehen, wie heute. Im blendenden Lichtmeer des Salons, im duftigen Festgewande und trotz des Ortes und der Umgebung wehte es zu ihm herüber, wie eine Erinnerung an jene traumhaft schöne Morgenstunde in Mirando, wo das Meer so tiefblau um die Terrasse des Schlosses wogte und der Blütenduft aus den Gärten herüberzog, während die weiße Gestalt drüben an der Marmorbalustrade lehnte – freilich, ihr Antlitz war auch hier abgewandt, aber jetzt wandte sie es einem andern zu. Bei dem Anblick Cesarios, der noch immer seinen Platz an ihrer Seite behauptete, zerstob Traum und Erinnerung; vor Reinhold tauchten die Worte seines Bruders auf, die ihm seit jener Unterredung alle Ruhe raubten. »Vielleicht für einen andern,« klang es in seinem Inneren. Ein heißer drohender Blick fiel auf Cesario, und mit einer heftigen Bewegung in den kaum verlassenen Kreis zurücktretend, entzog er sich dem Gruße oder der Anrede des jungen Marchese.

Dieser sah ihm betroffen nach. Er kannte nicht entfernt den Grund dieses plötzlichen Ausweichens, aber er ahnte längst schon, daß hier mehr zu Grunde lag als nur eine Feindschaft zwischen Rinaldo und Erlau, die er früher angenommen hatte. Es war ihm nicht entgangen, daß irgend eine geheime Beziehung zwischen seinem Freunde und Ella stattfand, und das heutige Zusammentreffen bestätigte nur zu sehr diese Annahme. Cesario war zu stolz, um wie Beatrice seine Zuflucht zum Spionieren zu nehmen, und so ertrug er denn eine Ungewißheit, deren Lösung von Ella oder dem Konsul zu verlangen er noch kein Recht hatte, und die Rinaldo ihm nicht lösen wollte.

Der deutsche Handelsherr war beinahe fremd in der Gesellschaft, dennoch begann die Erscheinung seiner Begleiterin bereits Aufsehen zu erregen. Erlau hatte allerdings die Stirn gerunzelt bei dem unerwarteten Anblicke Reinholds; da er aber sah, daß Ella scheinbar ganz ruhig blieb, so gewährte ihm das Zusammentreffen eher eine Genugthuung. Der Konsul war augenscheinlich sehr stolz auf seine schöne Pflegetochter und bemerkte sehr wohl die bewundernden Blicke und flüsternden Bemerkungen, welche ihr überall folgten. Er sagte sich, daß auch der einstige Gatte diese Blicke sehen, diese Bemerkungen hören müsse, und mit einem kaum verhehlten Gefühl des Triumphes schritt er an der Gruppe vorüber.

Die Menge der auf und ab wogenden Gäste und die zahlreichen Gesellschaftsräume machten es für die, welche sich nicht sehen wollten, leicht, einander auszuweichen.

Es mochte ungefähr eine Viertelstunde seit dem Erscheinen Erlaus vergangen sein, als Kapitän Almbach herantrat, um ihn zu begrüßen.

»Sind Sie denn überall, Herr Kapitän?« fragte der Konsul überrascht.

Hugo machte eine halb ironische Verbeugung. »Ich habe die Ehre. Mißfällt Ihnen das so sehr?«

»Nicht doch! Sie wissen ja, daß ich Sie immer gern sehe, aber am dritten Orte trifft man Sie leider nur in Begleitung Ihres Bruders. Es scheint, man kann keinen Schritt in die Gesellschaft thun, ohne auf Signor Rinaldo zu stoßen.«

»Er ist mit dem Herrn des Hauses befreundet,« erklärte Hugo.

»Natürlich,« grollte der Konsul. »Ich möchte einen Kreis kennen, der ihn nicht vergöttert und in dem er nicht dominiert. Ich konnte die Einladung unsres Gesandten nicht ausschlagen und wollte meiner armen Eleonore doch endlich einmal etwas andres zeigen, als nur das Krankenzimmer. Haben Sie sie schon gesprochen?«

»Allerdings,« sagte der Kapitän, nach der andern Seite des Saales hinüberblickend, wo Ella im Gespräch mit dem Marchese, dem Lord und einigen Damen stand, »das heißt, soweit Marchese Tortoni mir die Möglichkeit dazu ließ. Er beansprucht durchaus den Löwenanteil der Unterhaltung. Ich halte mich bescheiden zurück.«

»Ja, bester Kapitän, daran werden Sie sich gewöhnen müssen,« lachte Erlau. »Im Gesellschaftskreise ist Eleonore selten frei für die Unterhaltung eines einzigen. Ich wollte, Sie sähen sie einmal, wenn sie in meinen Salons die Honneurs macht. Wir sind fast gänzlich fremd hier, sonst, versichere ich Ihnen, wären Marchese Tortoni und Lord Elton nicht die einzigen, über die Sie sich in solcher Weise ärgern.«

Ella hatte inzwischen ihr Gespräch beendigt und verließ jetzt mit einer leichten Verneigung die Gruppe, um zu ihrem Pflegevater zurückzukehren. Da der Marchese zu seinem großen Mißvergnügen durch eine der Damen in der Unterhaltung festgehalten wurde, schritt die junge Frau ganz allein durch den Saal, als plötzlich in der Mitte desselben ein dunkles Sammetgewand das ihrige so nahe und heftig streifte, daß es beinahe wie Absicht aussah. Aufblickend gewahrte sie dicht vor sich das schöne, aber in diesem Augenblick fast erschreckende Antlitz Bianconas.

Ella verriet indes weder Schreck noch Verlegenheit, sie nahm langsam ihr Spitzenkleid auf und trat etwas seitwärts. In der Bewegung lag ein ruhiger, aber sehr entschiedener Protest gegen jede Berührung von dieser Seite, und Beatrice schien ihn nur zu gut zu verstehen, trotzdem trat sie noch näher. Die junge Frau fühlte einen heißen Atem dicht an ihrer Wange und vernahm die geflüsterten Worte:

»Signora, ich bitte Sie um einige Minuten Gehör!«

Ella antwortete mit einem Blick des Erstaunens und der Entrüstung. » Sie – mich?« fragte sie gleichfalls leise, aber mit einer nicht mißzuverstehenden Betonung.

»Ich bitte um einige Minuten,« wiederholte Beatrice. »Sie werden Sie mir gewähren, Signora.«

»Nein!«

»Nicht?« Die Stimme der Italienerin bebte in kaum verschleiertem Hohne. »Also fürchten Sie mich so sehr, daß Sie nicht einmal ein kurzes Alleinsein mit mir wagen?«

Signora Biancona schien die rechte Saite berührt zu haben, die bloße Möglichkeit einer solchen Annahme brach Ellas Widerstand. »Ich werde Sie anhören,« entgegnete sie rasch. »Aber wo?«

»In der kleinen Veranda zur Rechten der Galerie. Wir sind dort allein; ich werde vorangehen – Sie dürfen mir nur folgen.«

Mit einer kaum merklichen Bewegung neigte Ella das Haupt. Die wenigen Worte waren so rasch und leise gewechselt worden, daß niemand eine Silbe davon vernommen, niemand auch nur die Annäherung der beiden Frauen bemerkt hatte, die in jener Minute nur von Fremden umgeben waren; deshalb fiel es auch keinem auf, als Signora Biancona gleich darauf aus dem Saale verschwand und Ella einige Minuten später diesem Beispiele folgte.

Die mit Statuen und Gemälden geschmückte Galerie neben dem großen Empfangssaale war beinahe leer. Nur wenige der Gäste hatten den kühleren Raum aufgesucht, an dessen Ende eine Glasthür auf eine halb offene Veranda führte, die bei Tage wohl einen weiten Ausblick auf die umliegenden Gärten gestatten mochte, heute abend aber den Festräumen beigesellt zu sein schien, denn auch sie war mit hohen Blumengewächsen und Blattpflanzen geschmückt und, wenn auch nicht so glänzend wie die Säle, doch hinreichend erleuchtet. Jedenfalls war sie ganz leer, und der abgelegene, halb versteckte Raum, der den wenigsten Gästen bekannt war, bot die Möglichkeit eines ungestörten Gesprächs.

Beatrice befand sich bereits dort, als Ellas Spitzenkleid über die Schwelle rauschte, aber die junge Frau blieb in unmittelbarer Nähe derselben stehen, ohne auch nur einen einzigen Schritt weiter vorwärts zu thun. Genau mit jener unnahbar stolzen Haltung, die sie bei der ersten Begegnung in der Locanda gezeigt, erwartete sie auch hier den Beginn dieser halb erzwungenen Unterredung. Die Augen der Italienerin hingen mit einem wahrhaft verzehrenden Ausdrucke an der weißen Gestalt, die, vom Lampenlicht hell umflossen, ihr gegenüberstand, und deren Schönheit sie geradezu vernichtend berührte.

»Signora Eleonora Almbach!« begann sie endlich. »Ich bedaure, Ihnen erklären zu müssen, daß Ihr Inkognito bereits verraten ist. Vorläufig allerdings nur mir, ich glaube aber nicht, daß Sie es auf die Dauer werden behaupten können.«

»Und auf wen würde das fallen?« fragte Ella ruhig. »Ich schonte nicht mich, als ich mir dieses Inkognito auferlegte.«

»Wen denn? Vielleicht Rinaldo?«

»Ich kenne Signor Rinaldo nicht.«

Diese Worte klangen in so eisiger Bestimmtheit, daß ein Zweifel an dem, was sie ausdrücken sollten, gar nicht möglich war und Beatrice einen Moment lang davor verstummte. Sie war völlig außer stande, einen Stolz zu begreifen, der den einmal begangenen Treubruch selbst einem Rinaldo nicht verzieh.

»In der That, auf diese Verleugnung war ich nicht vorbereitet,« entgegnete sie. »Wenn Rinaldo –«

»Sie haben mich sprechen wollen,« unterbrach die junge Frau sie, »und ich versprach, Sie anzuhören. Daß mir der Entschluß nicht leicht geworden ist, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu versichern; zum mindesten erwartete ich nicht, diesen Namen von Ihnen zu vernehmen, und wünsche es auch nicht. Lassen Sie diese Unterredung so kurz wie möglich sein! Was haben Sie mir zu sagen?«

»Vor allen Dingen habe ich Sie zu bitten, daß Sie einen andern Ton für unser Gespräch wählen,« fuhr Beatrice gereizt auf. »Sie sprechen mit Beatrice Biancona, deren Name Ihnen wohl noch in andrer Weise bekannt ist, als nur durch unsre persönlichen Beziehungen zu einander, und die wohl Haß und Feindschaft von seiten einer Gegnerin erträgt, nicht aber die Verachtung, die Sie auszudrücken belieben.«

Ella blieb völlig unbewegt dieser Forderung gegenüber. Sie trat etwas seitwärts in den Schutz der hohen Blattgewächse, so daß sie von der Galerie aus nicht gesehen werden konnte, und wandte sich dann wieder zu der Sprechenden.

»Ich habe diese Unterredung nicht gesucht. Sie waren es, Signora, die mich dazu zwang, also werden Sie es wohl auch ertragen müssen, daß ich den Ton festhalte, der mir geeignet erscheint. Mir steht Ihnen gegenüber kein andrer zu Gebote.«

Ein Blick wilden, tödlichen Hasses schoß aus den Augen Beatrices, aber sie fühlte, daß, wenn sie jetzt ihrer Leidenschaftlichkeit nachgab, ihr dies alle Haltung rauben und der Gegnerin nur einen neuen Triumph bereiten würde. Sie kreuzte deshalb die Arme und erwiderte mit vernichtendem Hohne:

»Sie lassen es mich hart büßen, Signora Almbach, daß ich Siegerin blieb in einem Kampfe, dessen Preis die Liebe Ihres Gatten war.«

»Sie irren,« versetzte Ella kalt. »Ich kämpfe überhaupt nicht um die Liebe eines Mannes. Das überlasse ich den Frauen, die solch einen Preis erst mühsam erstreiten und dann ewig zittern müssen, ihn wieder zu verlieren.«

Die letzten Worte schienen eine wunde Stelle berührt zu haben. Beatrice erblaßte.

»Freilich, Sie hatten ja ein Recht, ihn kraft des Traualtars zu fordern,« sagte sie, noch immer den früheren Hohn festhaltend. »Leider nur schützt auch dieser Talisman nicht vor jedem Unglücke, zum Beispiel vor dem Verlassenwerden.«

Jetzt war sie es, die schonungslos nach einer Wunde zielte, die sie selbst geschlagen hatte, aber der Pfeil prallte machtlos zurück. Die junge Frau richtete sich hoch und stolz auf.

»Allerdings nicht vor dem Schmerze eines solchen Schicksals, aber doch mindestens vor seiner Schande. Der verlassenen Gattin bleibt die Teilnahme, die Sympathie der ganzen Welt, der verlassenen Geliebten nur die Verachtung.«

»Nur diese?« sagte Beatrice dumpf. »Sie irren, Signora; es bleibt ihr noch etwas andres – die Rache.«

»Soll das eine Drohung gegen mich sein?« fragte Ella. »Wer Ihre Rache herausfordert, mag sich davor zu schützen suchen. Ich weiß mich frei davon.«

»Gewiß, Sie stammen ja aus dem Norden, wo man die Leidenschaft nicht kennt, wie wir das Wort verstehen,« stieß die Italienerin hervor. »Bei euch stehen ja immer und ewig die Vorurteile, die Pflichten, die Meinung der Welt im Vordergrunde – die Liebe einer Frau kommt erst in zweiter Linie.«

»Allerdings erst in zweiter Linie.« Ellas Ton klang jetzt in unverschleierter Verachtung. »In der ersten steht die Ehre der Frau; wir sind gewohnt, sie unbedingt und überall voran zu setzen – ein Vorurteil freilich, dessen sich Signora Biancona längst entäußert hat.«

Die junge Frau kannte die Gegnerin nicht, welche sie reizte, sonst hätte sie es vielleicht nicht gewagt, den Stolz der tiefbeleidigten Frau in so furchtbar vernichtender Weise sprechen zu lassen; die Wirkung war eine erschreckende. Es war, als ob sich auf einmal ein Dämon in der Italienerin aufbäumte, als ob ihr ganzes Wesen wirklich »Tod und Verderben sprühte«; so loderten die dunklen Augen auf; ein halb erstickter Ausruf der Wut entrang sich ihren Lippen, und alles um sich her vergessend, that sie einige Schritte vorwärts.

Ella wich zurück bei dieser mehr als drohenden Bewegung. »Was soll das, Signora?« sagte sie fest. »Vielleicht gar ein Attentat? Sie vergessen, wo wir uns befinden. Ich sehe, daß ich unrecht that, auf diese Unterredung einzugehen; es ist die höchste Zeit, daß wir sie endigen.«

Beatrice schien wieder etwas zur Besinnung zu kommen; wenigstens blieb sie stehen, obgleich der unheimliche Ausdruck nicht aus ihren Augen wich. Die Hand zerknitterte krampfhaft den schwarzen Spitzenschleier, der über ihre Schultern hinfiel; sie bemerkte es nicht, daß dabei eine der roten Blüten sich aus ihrem Haar löste und zu Boden fiel.

»Sie sollen diese Worte und diese Stunde bereuen lernen, Signora,« zischte sie zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. »Sie kennen die Rache nicht? Nun wohl, so kenne ich sie, das werde ich Ihnen zu zeigen wissen – Ihnen und ihm.«

Sie rauschte davon und ließ die junge Frau allein zurück, die es nicht über sich vermochte, so unmittelbar nach dieser Szene wieder den Saal zu betreten und den besorgten Fragen Erlaus Rede zu stehen. Tief aufatmend ließ sie sich auf einen der Sessel nieder und stützte den Kopf in die Hand. Diese wilde Haß- und Rachedrohung erschütterte sie doch, aber sie zeigte ihr auch die Wahrheit durch alle Schleier hindurch. Man haßt nur die siegreiche Gegnerin und rächt nur das Verlorene oder doch bereits verloren Gegebene – es war zu Ende mit der Bezauberung. Aber wem galten jene drohenden Worte? Reinhold? Ella erblaßte; sie selbst hatte der Drohung kühn und fest standgehalten, aber bei diesem Gedanken ging es wie ein Hauch zitternder Angst durch ihre Seele, und wie im unbewußten Schmerze die Hand gegen die Brust pressend, flüsterte sie:

»O mein Gott, das kann ja nicht sein. Sie liebt ihn ja.«

»Eleonore!« sagte eine Stimme in ihrer unmittelbaren Nähe.

Ella schreckte auf; sie erkannte beim ersten Tone die Stimme, noch ehe sie die Gestalt sah, die jenseits der Schwelle in der Thür stand, als wage sie es nicht, diese zu überschreiten. Reinhold schien Mut zu fassen, als er keine abwehrende Bewegung sah, und trat vollends ein.

»Was ist das?« fragte er unruhig. »Ich finde dich allein hier in diesem abgelegenen Raume, und soeben sah ich eine andre von hier kommen und durch die Galerie eilen. Du sprachest –«

»Signora Biancona,« ergänzte Ella, als er innehielt.

»Hat sie dich beleidigt?« rief Reinhold aufflammend. »Ich kenne den Blick an ihr, der nichts Gutes bedeutet. Ahnte ich es doch beinahe, als sie so plötzlich aus dem Saale verschwand und auch du nicht mehr zu erblicken warst. Ich kam zu spät, wie es scheint. Hat sie dich beleidigt, Ella?«

Die junge Frau erhob sich und machte Miene, sich zu entfernen. »Wenn sie es gethan hätte, so begreifst du wohl, daß dein Schutz der letzte wäre, den ich in Anspruch nehmen möchte.«

Sie wollte an ihm vorüber nach dem Ausgange schreiten. Reinhold machte keinen Versuch, sie zurückzuhalten, aber sein Blick ruhte auf ihr mit so düsterem Vorwurfe, daß sie wie unwillkürlich innehielt.

»Eleonore,« sagte er leise, »noch eine Frage, ehe du gehst, eine einzige. Du warst in meiner Oper – wozu das leugnen? Ich habe dich ja gesehen, wie du mich. Was trieb dich dorthin?«

Ella senkte den Blick, als sei es eine Schuld, die man ihr vorhielt, und eine verräterische Glut floß ihr über Stirn und Wangen, als sie zögernd erwiderte:

»Ich wollte den Tondichter Rinaldo auch einmal in seinen Werken kennen lernen.«

»Und nun du ihn kennen gelernt hast?«

»Willst du von mir ein Urteil über deine neue Schöpfung? Die Welt sagt, es sei ein Meisterwerk.«

»Es war eine Beichte,« sagte er mit schwerer Betonung. »Ich ahnte freilich nicht, daß du sie hören würdest, da es aber dennoch geschehen ist – hast du sie verstanden?«

Die junge Frau schwieg.

»Ich sah deine Augen nur einen Moment lang,« fuhr er leidenschaftlicher fort, »aber ich sah doch, daß Thränen darin standen. Hast du mich verstanden, Ella?«

»Ich habe begriffen, daß der Schöpfer solcher Töne nicht ausdauern konnte in dem engen Kreise meines Elternhauses,« entgegnete Ella fest, »und daß er vielleicht das Beste für sich erwählte, als er sich losriß und sich hineinstürzte in ein Leben voll Glut und Leidenschaften, wie seine Töne es malen. Du hast deinem Genius alles geopfert – ich gebe dir das Zeugnis, daß dieser Genius des Opfers wert war.«

Die letzten Worte klangen in tiefer Bitterkeit; sie schienen bei Reinhold die gleiche Saite zu berühren.

»Du weißt nicht, wie grausam du bist,« sagte er in demselben Tone, »oder vielmehr, du weißt es nur zu gut, und läßt mich zehnfach büßen für jeden Schmerz, den ich dir einst zugefügt habe. Freilich, was fragst du auch danach, ob ich mich emporringe oder untergehe in einem Leben, das die Welt als ein Glück ohnegleichen preist, und das ich oft, so oft schon hätte hingeben mögen für eine einzige Stunde der Ruhe und des Friedens! Was kümmert es dich, ob dein Gatte, der Vater deines Kindes sich verzehrt in der wilden Sehnsucht nach Versöhnung mit einer Vergangenheit, die er nie ganz aus seinem Herzen zu reißen vermochte, ob er schließlich verzweifelt an allem und an sich selber! Er hat sein Schicksal ja verdient; damit ist der Stab über ihn gebrochen, und der erhabene Tugendstolz seines Weibes versagt ihm jedes Wort der Versöhnung, versagt ihm sogar den Anblick seines Kindes –«

»Um Gottes willen, Reinhold, mäßige dich!« fiel Ella angstvoll ein. »Wir sind nicht allein hier – wenn ein Fremder uns hörte!«

Er lachte bitter auf. »Nun, dann vernähme er das große Verbrechen, daß der Mann es einmal wagt, zu seiner Frau zu sprechen. Und wenn alle Welt es erfährt, mich kümmert es jetzt nicht mehr, auf wen die Entdeckung, auf wen die Verurteilung fällt. – Ella, du bleibst,« unterbrach er sich, außer sich, als er sah, daß sie sich entfernen wollte. »Einmal muß es herunter von der Brust, was ich mondenlang mit mir herumgetragen habe, und da du sonst unerreichbar für mich bist, so wirst du mich hier und jetzt anhören. Du wirst, sage ich.«

Er ergriff ihren Arm, um sie gewaltsam zurückzuhalten; in demselben Augenblicke aber erschien Marchese Tortoni in der Thür und trat fast stürmisch zwischen beide.

Reinhold ließ den Arm seiner Gattin fahren und wich zurück. Cesarios Aussehen verriet ihm, daß dieser wenigstens die letzte Szene mit angesehen haben müsse; mit finsterer Stirn und ernstem Blicke stellte sich der Marchese sofort an die Seite der jungen Frau.

»Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten, Signora?« sagte er sehr entschieden. »Ihr Herr Oheim ist bereits in Sorge wegen Ihrer Abwesenheit. Sie gestatten wohl, daß ich Sie zu ihm begleite.«

Reinhold war bereits Herr seiner Ueberraschung geworden, nicht aber Herr seiner Aufregung. Die Störung in einem solchen Augenblicke reizte ihn aufs äußerste, und der Anblick Cesarios an der Seite seiner Frau raubte ihm vollends die Fassung.

»Ich bitte, daß Sie sich entfernen, Cesario,« sagte er heftig und gebieterisch, mit jener Überlegenheit, die er von jeher über seinen jungen Freund und Bewunderer ausgeübt hatte, aber er vergaß, daß er bei diesem jetzt nicht mehr im Vordergrunde stand. Die Augen des Marchese blitzten vor Entrüstung, als er erwiderte:

»Der Ton Ihrer Bitte ist so seltsam, Rinaldo, wie die Bitte selbst; Sie werden es daher begreiflich finden, wenn ich ihr nicht nachkomme. Ich habe allerdings nicht die deutschen Worte verstanden, die Sie mit Signora Erlau wechselten, aber ich sah doch, daß sie zum Bleiben gezwungen werden sollte, wo sie zu gehen wünschte. Ich fürchte, daß sie des Schutzes bedarf – befehlen Sie über mich, Signora!«

» Sie wollen sie gegen mich schützen?« rief Reinhold auffahrend. » Ich verbiete Ihnen, sich dieser Dame zu nahen.«

»Sie scheinen zu vergessen, daß es sich hier nicht um Signora Biancona handelt,« sagte der Marchese schneidend. »Dort mögen Sie ein Recht haben, zu verbieten oder zu erlauben, hier aber –«

»Hier habe ich es mehr als jeder andre.«

»Sie lügen.«

»Cesario! Das Wort werden Sie mir bezahlen,« brauste Reinhold auf.

»Wie es Ihnen beliebt,« gab der Marchese ebenso heftig zurück.

Ella hatte es bisher vergebens versucht, die drohenden, Schlag auf Schlag fallenden Reden der wild erregten Männer zu unterbrechen; man hörte nicht auf sie, aber die letzten Worte, deren Bedeutung sie nur zu gut verstand, zeigten ihr die ganze Gefahr dieses unseligen Zusammentreffens. Rasch entschlossen trat sie dazwischen und rief mit einer Entschiedenheit, die ihr selbst in dieser Minute Gehör erzwang:

»Marchese Tortoni, gehen Sie nicht weiter! Es ist ein Mißverständnis.«

Cesario wandte sich sofort zu ihr. »Verzeihung, Signora! Wir vergaßen Ihre Gegenwart,« sagte er ruhiger. »Aber Sie übersehen, daß in den Worten Signor Rinaldos eine Beleidigung für Sie liegt, die ich nicht gesonnen bin, zu dulden. Ich kann und werde meine Worte nicht zurücknehmen, es sei denn, Sie selbst überzeugten mich, daß er sich im Rechte befindet.«

Ella rang in qualvollster Unentschlossenheit mit sich selber. Reinhold stand stumm und düster; sie sah, daß er jetzt nicht sprechen würde, daß er sie mit diesem Schweigen zwingen wollte, ihn zu verleugnen oder als Gatten anzuerkennen, aber ihn verleugnen hieß hier das Schlimmste herbeirufen. Die Beleidigung war einmal gefallen, und bei dem Charakter der beiden Männer war ein blutiger Zusammenstoß unvermeidlich, wenn sie nicht zurückgenommen wurde. Der jungen Frau blieb keine Wahl mehr.

»Signor Rinaldo geht zu weit, wenn er jetzt noch Rechte beansprucht, die er einst besaß,« entgegnete sie endlich. »Eine Beleidigung aber lag in seinen Worten nicht, er sprach – von seiner Gattin.«

Reinhold atmete tief auf – also endlich bekannte sie sich doch dazu, und das vor Cesario. Dieser aber stand wie vom Blitze getroffen. Wie oft er auch schon nach der Lösung des Rätsels gesucht haben mochte, eine solche hatte er nicht erwartet.

»Von seiner Gattin?« wiederholte er fast betäubt.

»Wir sind schon seit Jahren getrennt,« sagte Ella tonlos.

Diese Erklärung gab dem Marchese seine ganze Fassung zurück. Er erriet sofort den Grund der Trennung, kannte er doch Beatrice Biancona. Der eine Name machte ihm alles klar und ließ ihm keinen Zweifel darüber, auf wessen Seite hier die Schuld lag. Der Kapitän hatte recht mit seiner Annahme; die Entdeckung ließ Cesario, anstatt ihn zurückzuschrecken, vielmehr aufflammen in leidenschaftlicher Parteinahme für die geliebte und gekränkte Frau.

»Nun denn, Signora,« sagte er rasch, »so steht es ja nur bei Ihnen, ob Sie einen Anspruch anerkennen wollen, den Rinaldo auf eine Vergangenheit stützt, die nicht mehr existiert, und die er wohl selbst vernichtet hat. Sie allein haben darüber zu entscheiden, ob ich Ihnen noch ferner nahen, ob ich Ihnen auch in Zukunft ein Gefühl weihen darf, von dem ich offen bekenne, daß es mehr ist als nur die kalte Bewunderung eines Fremden und das Sie eines Tages werden annehmen oder verwerfen müssen.«

Er sprach mit der ganzen Glut einer lange zurückgehaltenen Empfindung, aber auch mit dem edlen unerschütterlichen Vertrauen eines Mannes, dem das Geliebte über allen Zweifel erhaben ist, und die Frage war unzweideutig genug; sie drängte unabweisbar zu einer Entscheidung, vor der die junge Frau zurückbebte.

»Jawohl, Eleonore, du wirst entscheiden,« nahm jetzt auch Reinhold das Wort. Die Stimme klang auf einmal unnatürlich ruhig, aber der Blick, der unverwandt auf dem Antlitze seiner Gattin hing, mit einem Ausdrucke, als sollte in der nächsten Minute das Urteil über Leben und Tod von ihren Lippen fallen, zeigte besser, wie es um ihn stand. Eine Sekunde lang begegneten sich die Augen der beiden und Ella hätte kein Weib sein müssen, hätte sie jetzt nicht gesehen, daß die vollste und vernichtendste Rache in ihrer Hand lag. Ein einziges Ja aus ihrem Munde rächte alles, was sie je erduldet. Langsam wandte sie sich zu Cesario.

»Marchese Tortoni – ich bitte Sie, abzustehen – ich betrachte mich noch als gebunden.«

Eine kurze, inhaltschwere Pause folgte den Worten. Ella sah, wie in den schönen Zügen des jungen Italieners ein tiefer Schmerz mit dem Stolze des Mannes kämpfte, der nicht zeigen wollte, wie tief er getroffen war; sie sah es, wie er sich, ohne ein Wort zu sprechen, vor ihr verneigte und sich zum Gehen wandte; den Blick nach der andern Seite zu richten, dazu fehlte ihr der Mut.

»Cesario!« rief Reinhold, der in aufflammender Reue einen Schritt ihm nach that. »Wir sind Freunde.«

»Wir waren es,« entgegnete der Marchese kalt. »Sie begreifen doch wohl, Rinaldo, daß diese Stunde uns trennt. Meine Beschuldigung gegen Sie muß ich allerdings zurücknehmen; die Erklärung Ihrer Gemahlin spricht Sie frei davon – leben Sie wohl, Signora!«

Er ließ die beiden Gatten allein. Keines von ihnen sprach während der nächsten Minuten. Ella beugte sich tief über eines der duftenden Blumengewächse, und ein paar Thränen fielen herab auf die breiten glänzenden Blätter. Da streifte ihr Name wie ein zitternder Hauch an ihrem Ohre vorüber – sie schien es nicht zu hören.

»Eleonore!« wiederholte Reinhold.

Sie hob das Auge zu ihm empor. Noch stand ein tiefer Schmerz in ihrem Antlitz, aber die Stimme klang schon wieder völlig beherrscht.

»Was habe ich denn gesagt? Daß ich nie von der Freiheit Gebrauch machen werde, die dein Schritt mir gab? Das stand ohnehin fest von Anbeginn. Die Erfahrungen meiner Ehe schützen mich vor jeder zweiten. Ich habe ja mein Kind und damit den Zweck und das Glück meines Lebens. Einer andern Liebe bedarf ich nicht.«

»Du freilich nicht,« sagte Reinhold mit zuckender Lippe, »und mein Schicksal ist dir ja gleichgültig. Du hast von jeher nur dein Kind geliebt, mich nie. Um seinetwillen konntest du mit allen Vorurteilen deiner Erziehung brechen und eine andre werden; für deinen Gatten hast du das nicht gekonnt.«

»Hat er mir denn je Liebe gegeben, wie ich sie bei meinem Knaben fand?« fragte Ella mit verschleierter Stimme. »Laß das, Reinhold! Du weißt, wer zwischen uns steht und ewig stehen wird.«

»Beatrice? Ich will sie nicht anklagen, obgleich sie mehr Schuld an meiner damaligen Entfernung trug, als du vielleicht glaubst. Gleichviel, ich war immer Herr meines Willens – warum unterlag ich dem Zauber! Aber wenn ich jetzt seinen Trug erkannt habe und mich davon losreiße –«

»Willst du sie verlassen, wie du mich einst verlassen hast?« unterbrach ihn die junge Frau mit vernichtendem Vorwurfe. »Meinst du, daß das uns versöhnen würde? Ich habe den Glauben an dich verloren, Reinhold, und der wird mir nicht wiedergegeben, wenn du jetzt noch eine zweite opferst. Ich habe keinen Grund, diese Biancona zu schonen oder zu achten, aber sie liebt dich; sie hat dir alles geopfert, und du selbst gabst ihr jahrelang ein unbestrittenes Recht auf deinen Besitz. Wenn du auch jetzt die selbstgeschmiedete Fessel zerreißen wolltest, uns trennt sie dennoch auf immer. Es ist zu spät; ich kann dir nicht mehr vertrauen.«

Es klang ein grenzenloses Weh aus den letzten Worten, aber zugleich eine unbeugsame Festigkeit. In der nächsten Minute hatte Ella das Zimmer verlassen. Reinhold war allein.

*

Es war am Tage, welcher der Festlichkeit folgte, schon gegen Abend, als Kapitän Almbach in das Empfangszimmer Reinholds trat.

»Ist mein Bruder noch immer nicht sichtbar?« fragte er den ihm begegnenden Diener.

Dieser zuckte die Achseln und zeigte hinüber nach der geschlossenen Thür des Arbeitszimmers.

»Sie wissen ja, Signor, daß wir nicht stören dürfen; Signor Rinaldo hat sich eingeschlossen.«

»Schon seit heute morgen,« murmelte der Kapitän. »Das fängt nachgerade an beängstigend zu werden. Ich muß durchaus wissen, was da vorgefallen ist.«

Er ging an die Thür des Arbeitszimmers und pochte in einer Weise, die nicht überhört werden konnte.

»Reinhold, öffne! Ich bin es.«

Von drinnen erfolgte keine Antwort.

»Reinhold, ich habe heute bereits zweimal vergebens Einlaß bei dir verlangt. Wenn du jetzt nicht öffnest, so nehme ich an, daß ein Unglück geschehen ist und sprenge in der nächsten Minute die Thür.«

Diese Drohung schien endlich zu fruchten; man hörte Schritte drinnen im Zimmer. Der Riegel wurde zurückgeschoben, und Reinhold stand vor dem rasch eintretenden Bruder und sagte ungeduldig:

»Wozu die Störung! Kann ich denn nie allein sein?«

»Nie?« fragte Hugo vorwurfsvoll. »Seit heute morgen bist du unzugänglich für jeden, sogar für mich, und dein Gesicht zeigt, daß du jetzt eher alles andre ertragen kannst als das Alleinsein. Diese unglückliche Soiree gestern! Der Himmel weiß, was da mit euch allen vorgegangen ist; Ella war auf einmal aus dem Saale verschwunden, und ich bin überzeugt, ihr habt euch gesprochen. Marchese Tortoni, der gleichfalls unsichtbar wurde, kommt mit einer Miene zurück, als habe er soeben sein Todesurteil vernommen und verläßt in der nächsten Minute die Gesellschaft. Dich finde ich in der Galerie in einer Aufregung ohnegleichen, und Donna Beatrice sieht aus wie das jüngste Gericht, als sie in den Wagen steigt. Ich wette darauf, sie allein hat wieder das ganze Unheil angestiftet. Was hast du mit ihr?«

Reinhold verschränkte die Arme und sah finster zu Boden. »Jetzt nichts mehr – wir sind zu Ende.«

Der Kapitän trat in jähem Erstaunen zurück. »Was soll das heißen? Du begleitetest sie ja.«

»Gewiß! sie wußte das zu ertrotzen und da kam es denn endlich zur Entscheidung zwischen uns.«

»Du hast mit ihr gebrochen?« fragte Hugo.

»Ich – nein,« versetzte Reinhold mit einem bitteren Ausdruck. »Es war mir ja deutlich genug gesagt worden, daß ich keine ›zweite‹ opfern dürfe. Beatrice war es, die den Bruch gewaltsam herbeiführte. Warum mußte sie mich auch zu einer Unterredung zwingen, so unmittelbar, nachdem mir klar geworden war, was ich um ihretwillen verloren habe. Sie stellte mich zur Rede über mein Denken und Fühlen, und ich gab ihr die Wahrheit, die sie verlangte – schonungslos vielleicht, aber wenn ich grausam war, so hat sie mich zehnfach dazu herausgefordert.«

»Ich kann es mir denken, wie ich die Biancona kenne,« sagte Hugo halblaut.

»Wie du sie kennst?« wiederholte sein Bruder. »Glaube das nicht! Habe ich selbst sie doch erst gestern abend ganz kennen gelernt. Es war eine Szene – ich sage dir, Hugo, auch du mit all deiner Energie wärest ihr nicht gewachsen gewesen. Man muß selbst etwas vom Dämon in sich haben, um solch einem Weibe standzuhalten. Die Stunde drückte das Siegel auf unsre Trennung.«

Es bebte ein dumpfer Groll in den Worten, aber ein Aufatmen, eine Erleichterung verrieten sie nicht. Der Kapitän schüttelte den Kopf.

»Ich fürchte, die Geschichte ist damit noch keineswegs zu Ende. Diese Beatrice ist keine Frau, die sich in ohnmächtigen Thränen verzehrt. Sei auf deiner Hut, Reinhold!«

»Sie drohte mir mit ihrer ganzen Rache,« sagte Reinhold finster. »Und wie ich sie kenne, wird sie das halten. Mag sie doch! Ich zittere nicht vor dem, was ich selbst heraufbeschwor – mit dem Glücke habe ich ja ohnehin abgeschlossen.«

»Und wenn jene Trennung unwiderruflich bleibt, glaubst du nicht an die Möglichkeit einer Versöhnung mit Ella?« fragte der Kapitän ernst.

»Nein, Hugo, das ist vorbei. Ich weiß, daß sie nicht vergessen kann. In ihrem Herzen spricht auch nicht eine Stimme mehr für mich, wenn sie überhaupt je gesprochen hat. Die Kluft zwischen uns ist zu weit und zu tief; es führt keine Brücke mehr hinüber. Ich habe die letzte Hoffnung aufgegeben.«

Das Gespräch der beiden Brüder wurde in diesem Augenblicke durch Jonas unterbrochen, der rasch eintrat. Reinhold sah unwillig auf, als der Diener seines Bruders sich erlaubte, sein Arbeitszimmer so ohne weiteres zu betreten, und Hugo hatte bereits einen Verweis auf den Lippen, als ein Blick auf das Gesicht des Matrosen ihn innehalten ließ.

»Was gibt es, Jonas?« fragte er unruhig. »Bringst du irgend etwas Besonderes?«

»Herr Kapitän!« – die Stimme des Matrosen hatte ganz und gar ihren sonstigen ruhigen Klang verloren; sie zitterte hörbar. – »Ich komme eben aus dem Erlauschen Hause – Sie wissen ja, daß ich jetzt oft dahin gehe – der alte Herr ist außer sich; die ganze Dienerschaft ist auf den Beinen – die Annunziata weint sich die Augen aus, obgleich sie doch wahrhaftig keine Schuld hat – und die junge Frau Erlau nun erst –«

»Was ist geschehen?« fuhr Reinhold in ahnender Angst empor. »Ein Unglück?«

»Das Kind ist fort,« sagte Jonas verzweifelt, »schon seit heute mittag. Wenn sie es nicht wiederfinden, ich glaube, das geht der Mutter ans Leben.«

»Wer? Der kleine Reinhold?« forschte Hugo, während sein Bruder keines Wortes mächtig den Unglücksboten anstarrte. »Wie konnte das geschehen? War er denn nicht unter Aufsicht?«

»Er spielte im Garten, wie gewöhnlich,« berichtete Jonas, »und die Annunziata war bei ihm. Sie geht nur auf eine Viertelstunde ins Haus – das kommt öfter vor. Als sie zurückkommt, ist die Gartenthür offen, das Kind fort, keine Spur von ihm zu finden. Sie haben schon die ganze Nachbarschaft aufgeboten, die ganze Umgegend durchsucht, aber Teiche oder Gräben, wo der Kleine verunglücken könnte, gibt es ja nicht in der Nähe, und wenn er fortgelaufen wäre, so ist er ja am Ende groß genug, sich wieder zurecht zu finden. Kein Mensch kann sich die Geschichte erklären.«

Die Blicke der Brüder begegneten sich. In beider Augen stand derselbe furchtbare Gedanke. In der nächsten Minute schon riß Reinhold, leichenblaß und an allen Gliedern bebend vor Aufregung, seinen Hut vom Tische.

»Ich werde mir die Aufklärung schaffen,« rief er. »Weiß ich doch, wo ich sie zu suchen habe. Geh du voran zu Ella, Hugo! Ich komme nach – vielleicht schon mit dem Kinde.«

Der besonnenere Kapitän ergriff rasch seinen Arm.

»Reinhold, ich bitte dich, keine Uebereilung! Noch kennen wir die näheren Umstände nicht. Das Kind kann sich in der That verirrt und, da es kein Italienisch spricht, sich noch nicht wieder zurückgefunden haben. Vielleicht wird es jetzt schon der Mutter wieder zugeführt. Was willst du thun?«

»Meinen Sohn zurückfordern,« brach Reinhold mit furchtbarer Wildheit aus. »Das also war die Rache, die diese Furie sich ausgedacht hat. Ella und mich, uns beide wollte sie mit einem einzigen tödlichen Streiche treffen, aber ich werde sie zu erreichen wissen. Laß mich, Hugo! Ich muß zu Beatrice.«

»Das nützt nichts,« rief der Kapitän, den der Ausdruck im Gesichte des Bruders erschreckte und der sich vergeblich bemühte, ihn zurückzuhalten. »Wenn dein Argwohn begründet ist, so wird sie ihre Rolle auch zu behaupten wissen. Du reizest sie nur noch mehr. Wir müssen andre Maßregeln ergreifen.«

Reinhold riß sich gewaltsam los. »Laß mich! Wenn irgend einer, so erzwinge ich von ihr die Herausgabe meines Kindes, und erzwinge ich nichts – nun, so gibt es ein Unglück.«

Er stürmte fort. Die Wohnung Beatrices lag ziemlich weit von der seinigen entfernt; dennoch legte er den Weg dahin in kaum einer Viertelstunde zurück. Sonst bedurfte er hier keiner Anmeldung; vor ihm sprangen alle Thüren auf; war man doch gewohnt, ihn auch hier als Gebieter zu betrachten. Heute versicherte der Diener, welcher ihm öffnete, sehr entschieden, Signora sei für niemand zu sprechen, auch für Signor Rinaldo nicht, sie sei heftig erkrankt und habe streng verboten –

Reinhold ließ den Mann nicht ausreden. Er stieß ihn beiseite, eilte durch das Vorzimmer und riß die Thür nach dem Salon auf. Dieser war leer, ebenso das daneben liegende Boudoir; die Thüren der übrigen Gemächer standen weit offen – nirgends die Gesuchte, nirgends eine Spur von ihr; sie hatte augenscheinlich die Wohnung verlassen.

Reinhold sah, daß er bereits zu spät kam, und in dem vernichtenden Bewußtsein dieser Entdeckung fühlte er doch dunkel, daß die Flucht Beatrices ihm ein Verbrechen erspart habe. In seiner jetzigen Stimmung wäre er der Räuberin gegenüber zu allem fähig gewesen. Sich mit Aufbietung all seiner Willenskraft zur Ruhe zwingend, kehrte er zu dem Diener zurück, der es nicht gewagt hatte, ihm zu folgen und eingeschüchtert und ungewiß im Vorzimmer stand.

»Signora ist also fort. Seit wann?«

Der Diener zögerte mit der Antwort. Das Gesicht des Fragenden schien ihm nichts Gutes zu verheißen.

»Marco, Sie werden mir antworten! Sie sehen, daß ich mich nicht durch den Vorwand zurückhalten ließ, mit dem Sie mich auf Befehl Signoras zu täuschen versuchten. Noch einmal, seit wann ist sie fort und wohin ist sie?«

Marco war augenscheinlich nicht in das Geheimnis eingeweiht, denn er war auf diese Frage durchaus nicht vorbereitet. Dagegen mochte er einen Teil der Szene belauscht haben, die gestern abend zwischen seiner Herrin und Signor Rinaldo stattgefunden hatte, und erklärte sich damit den heutigen Auftritt in seiner Weise. Dem Charakter Beatrices sah es ganz ähnlich, daß sie jetzt auf einige Tage die Stadt verließ, wäre es auch nur, um dadurch die erneuten Aufführungen der Oper Rinaldos unmöglich zu machen, und daß dieser vor Zorn darüber außer sich geriet, ließ sich leicht begreifen. Es war ja nicht das erste Zerwürfnis zwischen den beiden und alle Zwistigkeiten zwischen ihnen hatten bisher noch jedesmal mit einer Versöhnung geendigt. In der Voraussicht einer solchen Versöhnung war der Diener klug genug, es mit der doch stets herrschenden Partei nicht zu verderben und so berichtete er denn, Signora habe bereits heute morgen in aller Frühe die Wohnung mit dem gemessenen Befehle verlassen, sie jeder Nachfrage gegenüber für krank auszugeben. Sie sei in ihrem eigenen Wagen fortgefahren; weiter wisse auch er nichts.

»Und wohin fuhr sie?« fragte Reinhold atemlos. »Haben Sie nicht gehört, welche Adresse dem Kutscher zugerufen wurde?«

»Ich glaube – die Wohnung des Maestro Gianelli.«

»Gianelli! Also auch der ist im Komplott. Nun, vielleicht ist er noch zu erreichen. Marco, sobald Signora wieder eintrifft oder auch nur irgend eine Nachricht von ihr, melden Sie es mir sofort! Sofort! Ich wiege Ihnen jedes Wort mit Gold auf. Vergessen Sie das nicht!«

Mit diesem dem Diener wie im Fluge zugeworfenen Befehle eilte Reinhold fort. Marco sah ihm ganz bestürzt nach. Die heutige Szene spielte sich doch viel stürmischer ab, als all die vorhergehenden bei ähnlichen Gelegenheiten und die Aufregung Signor Rinaldos überstieg auch alles bisher Dagewesene. Was war denn nur vorgefallen? Der Maestro konnte Signora Biancona doch unmöglich entführt haben? Es sah wirklich beinahe so aus. –

In der Wohnung des Konsuls Erlau herrschte begreiflicherweise die grenzenloseste Verwirrung und Aufregung. Kapitän Almbach, der unverzüglich dorthin geeilt war, nahm sich zwar sofort mit größter Energie und Umsicht der noch im vollen Gange befindlichen Nachforschungen an, aber auch er vermochte nichts zu erreichen. Vorläufig stand nur die eine Thatsache fest, daß das Kind spurlos verschwunden war und blieb. Ob es freiwillig den Garten verlassen, ob es hinausgelockt worden war, darüber fehlte jede Vermutung. Niemand hatte etwas Ungewöhnliches bemerkt, niemand den Kleinen vermißt bis zu dem Augenblicke, wo Annunziata zurückkehrte, um ihn zu holen. Die arme kleine Italienerin löste sich fast in Thränen auf, und doch war sie völlig unschuldig an dem Vorfalle, denn ihre junge Herrin selbst hatte sie in das Haus gerufen. Der Knabe war ja alt genug, um nicht einer unausgesetzten Aufsicht zu bedürfen, und er spielte oft genug allein in dem völlig abgeschlossenen Raume. Noch hatte Hugo es nicht gewagt, dem Verdachte Worte zu leihen, den er mit seinem Bruder teilte und der mit jeder Minute lebendiger in ihm wurde. Er hatte nur leise auf die Möglichkeit eines Raubes hingedeutet und war dabei dem vollsten Unglauben begegnet. Räuber in der Mitte der Stadt, im vornehmsten Teile derselben – unmöglich! Weit eher war ein Unglück anzunehmen. Man machte sich nochmals, trotz der hereinbrechenden Dunkelheit, an die Untersuchung der Nachbargärten und der sonstigen Umgebung.

Inzwischen bemühte sich Erlau vergeblich, seine Pflegetochter zu beruhigen und ihr all die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten auszumalen, die immer noch einen glücklichen Ausgang hoffen ließen; Ella hörte ihn nicht. Stumm und totenblaß, ohne eine einzige Thräne zu vergießen, saß sie an seiner Seite, nachdem sie sich stundenlang an den fruchtlosen Nachforschungen beteiligt, sie zum Teile sogar selbst geleitet hatte. Obgleich Hugo ihr gegenüber mit keiner Silbe auf jene Möglichkeit hingedeutet hatte, nahmen die Gedanken der jungen Frau doch die gleiche Richtung, und je unerklärlicher das Verschwinden ihres Kindes blieb, desto unabweisbarer drängte sich auch ihr die Erinnerung an das gestrige Zusammentreffen auf, die Erinnerung an den wilden Haß und die glühende Rachedrohung Beatricens, und klar und immer klarer rang sich in ihr die Ahnung empor, daß es sich hier nicht um einen Zufall oder ein Unglück, daß es sich um ein Verbrechen handle.

Da kam ein Wagen im vollsten Jagen die Straße herauf und hielt vor dem Hause. Ella, die bei jedem Geräusche zusammenschreckte, in jedem Kommenden einen Boten sah, der Nachricht brachte, flog an das Fenster; sie sah ihren Gatten aussteigen und in das Haus treten. Wenige Minuten darauf stand er vor ihr.

»Reinhold, wo ist unser Kind?«

Es war ein Aufschrei der Todesangst und Verzweiflung, aber auch ein Vorwurf, wie er vernichtender nicht gedacht werden konnte. Von ihm verlangte sie das Kind zurück; trug er doch allein die wahre Schuld, daß es der Mutter entrissen wurde.

»Wo ist unser Kind?« wiederholte sie mit einem vergeblichen Versuche, in seinem Gesichte die Antwort zu lesen.

»In den Händen Beatricens,« entgegnete Reinhold fest. »Ich kam zu spät, es ihr zu entreißen; sie hat sich bereits mit ihrem Raube geflüchtet, aber die Spur wenigstens habe ich. Gianelli verriet sie mir, der Schurke war Mitwisser, wenn er nicht gar Helfershelfer war, aber er sah wohl, daß es mir ernst war mit der Drohung, ihn niederzustoßen, wenn er mir den Weg nicht nenne, den sie mit dem Kinde eingeschlagen. Sie sind ins Gebirge geflohen in der Richtung nach A. hin. Ich folge ihnen sofort. Es ist kein Augenblick zu verlieren. Nur die Nachricht wollte ich dir bringen, Ella. Leb wohl!«

Erlau, der erschreckt zugehört hatte, wollte jetzt mit Fragen und Ratschlägen dazwischen treten, aber Ella ließ ihm keine Zeit dazu. Die Gewißheit, so furchtbar sie war, gab ihr den ganzen Mut zurück; sie stand bereits an der Seite ihres Gatten.

»Reinhold, nimm mich mit!« bat sie entschlossen.

Er machte eine abwehrende Bewegung. »Unmöglich, Eleonore! Das wird eine Jagd auf Leben und Tod und, wenn ich das Ziel erreiche, vielleicht noch ein Kampf auf Leben und Tod. Da ist kein Platz für dich; das muß ich allein ausfechten. Entweder bringe ich dir deinen Sohn zurück, oder du siehst mich zum letztenmal. Sei ruhig! Die Möglichkeit der Rettung liegt ja jetzt in den Händen des Vaters.«

»Und die Mutter soll inzwischen hier verzweifeln?« fragte die junge Frau leidenschaftlich. »Nimm mich mit! Ich bin nicht schwach, du weißt es – von mir hast du keine Thränen und Ohnmachten zu fürchten, wo es Thaten gilt, und ich ertrage alles, nur nicht die furchtbare Ungewißheit und Unthätigkeit, nur nicht das angstvolle Harren auf eine Nachricht, die tagelang ausbleiben kann. Ich begleite dich.«

»Eleonore, um Gottes willen!« fiel Erlau entsetzt ein. »Welch eine Idee! Das würde dir den Tod geben.«

Reinhold sah seine Frau einige Sekunden lang schweigend an, als wolle er prüfen, wie weit ihre Kraft gehe.

»Kannst du in zehn Minuten fertig sein?« fragte er rasch. »Der Wagen wartet unten.«

»In der Hälfte dieser Zeit.«

Sie eilte in das Nebenzimmer; der Konsul wollte nochmals verbieten, bitten, beschwören, aber Reinhold schnitt ihm das Wort ab.

»Lassen Sie sie gewähren, wie ich es thue!« sagte er energisch. »Wir können jetzt nicht der kalten Ueberlegung Raum geben. – Ich sehe meinen Bruder nicht hier und mir fehlt die Zeit, ihn aufzusuchen. Sagen Sie ihm, was geschehen ist, was ich entdeckt habe. Er soll hier unverzüglich die nötigen Schritte thun, um uns die Hilfe zu sichern, die wir vielleicht brauchen, und uns dann folgen. Wir nehmen fürs erste den direkten Weg nach A. Dort wird Hugo weitere Nachrichten von uns finden.«

Er wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, nach der Thür, wo Ella bereits in Hut und Mantel erschien. Die junge Frau warf sich mit einem kurzen, stürmischen Abschiedsgruße an die Brust ihres Pflegevaters, dessen Protest nicht gehört wurde, dann folgte sie ihrem Gatten. Erlau sah vom Fenster aus, wie Reinhold sie in den Wagen hob, ihr dann nachfolgte und den Schlag zuwarf, wie der Wagen mit beiden im vollsten Galopp davonbrauste – das war zu viel für die noch immer angegriffenen Nerven des alten Herrn, zumal nach der Angst und Aufregung der letzten Stunden; fast betäubt sank er in einen Lehnstuhl.

Kaum zehn Minuten später trat Hugo ein; er hatte von einem der Diener bereits die plötzliche Ankunft seines Bruders und dessen ebenso plötzliche Abreise mit Ella erfahren; auf seine hastigen Fragen erst kam Erlau wieder etwas zu sich. Er war außer sich über den Entschluß seiner Pflegetochter, noch mehr aber über die Eigenmächtigkeit ihres Gatten, der sie so ohne weiteres mit sich genommen hatte. Ankunft, Erklärung, Abreise, das alles war ja wie im Sturmwinde geschehen; diese Handlungsweise glich einer förmlichen Entführung. Und was sollte die junge Frau auf einer solchen Reise? Was konnte da alles vorfallen, was geschehen, wenn sie nun wirklich diese entsetzliche Italienerin erreichten? Der Konsul war bei dem Gedanken an all die Möglichkeiten, denen sein Liebling ausgesetzt war, nahe daran, zu verzweifeln.

Hugo hörte schweigend den Bericht mit an, ohne besonderes Erstaunen oder Entsetzen zu verraten. Er schien so etwas erwartet zu haben, und als Erlau geendigt hatte, legte er beschwichtigend die Hand auf dessen Arm und sagte ruhig, aber doch mit einem leichten Beben in der Stimme:

»Lassen Sie es gut sein, Herr Konsul! Die Eltern sind jetzt auf der Spur ihres Kindes; da werden sie hoffentlich den Kleinen finden und – sich auch.«

*

Die steilen Windungen der Bergstraße hinauf, die durch das Gebirge nach A. führte, bewegte sich ein Wagen. Er kam trotz der vier kräftigen Pferde und der ermunternden Zurufe des Führers nur langsam vorwärts. Es war hier eine der schlimmsten Stellen des ganzen Gebirges. Die Insassen des Wagens, ein Herr und eine Dame, waren ausgestiegen und hatten einen Fußpfad eingeschlagen, der den Weg fast um die Hälfte abkürzte, sie standen bereits oben auf der Höhe, während das Gefährt sich noch in ziemlicher Entfernung von derselben befand.

»Erhole dich, Ella!« sagte der Herr, indem er die Dame in den Schatten der Felswand geleitete. »Die Anstrengung war zu groß für dich; warum bestandest du auch darauf, den Wagen zu verlassen?«

Die junge Frau hielt den starren, trostlosen Blick noch immer auf die Bergstraße gerichtet, die sich von der andern Seite in das Thal hinabsenkte und deren Windungen man zum Teil übersehen konnte.

»Wir waren doch immerhin eine Viertelstunde eher auf der Höhe,« entgegnete sie matt. »Ich wollte den Weg überblicken, vielleicht schon – den Wagen entdecken.«

Reinholds Blick verfolgte dieselbe Richtung, in der gleichwohl nichts zu entdecken war als zwei Männergestalten, dem Anscheine nach Landleute, die, rüstig berganwärts steigend, bald in den Biegungen der Straße verschwanden, bald wieder darin auftauchten.

»So nahe können wir ihnen wohl noch nicht sein,« sagte er beruhigend, »obgleich wir seit gestern abend fast geflogen sind. Du siehst wenigstens, daß wir der rechten Spur folgen. Beatrice ist überall gesehen worden und das Kind an ihrer Seite. Wir müssen sie einholen.«

»Und wenn es geschieht – was dann?« fragte Ella tonlos. »Unser Knabe ist ja schutzlos in ihren Händen. Gott weiß, welche Pläne sie mit ihm verfolgt.«

Reinhold schüttelte den Kopf. »Pläne? Beatrice handelt nie nach Plan oder Berechnung. Der Impuls des Augenblicks allein entscheidet bei ihr alles. Der Gedanke an diese Rache ist in ihr aufgeblitzt, und blitzschnell hat sie ihn auch vollführt, blitzschnell sich mit ihrem Raube geflüchtet. Wohin? Zu welchem Zwecke? Das ist ihr vielleicht selbst nicht einmal klar, und danach fragt sie auch im Augenblicke nicht. Sie hat mich und dich bis ins innerste Herz treffen wollen, und das ist ihr gelungen; weiter wollte sie ja nichts.«

Er sprach mit tiefer Bitterkeit, aber doch mit vollster Bestimmtheit. Sie standen beide allein auf der Höhe des Passes; der Wagen befand sich noch tief unter ihnen und verschwand soeben in der letzten Biegung des Weges. Das Gebirge hatte hier einen schroffen, wilden Charakter; fast nackt stiegen die starren Felsen empor, bald in mächtigen Gruppen, bald wild zerklüftet und zerrissen. Nur die Aloe wurzelte in den Spalten des gelbgrauen Gesteins, und hin und wieder verstreute ein Feigenbaum seinen dürftigen Schatten. Drüben an der andern Seite des Thales hing in schwindelnder Höhe ein Gemäuer an der Bergwand, ein Schloß oder Kloster, grau wie das Gestein selbst und in der Entfernung kaum von diesem zu unterscheiden. Weiter niederwärts hatte sich am Rande einer Schlucht ein Bergstädtchen eingenistet, das, auf und in den Fels hineingebaut, fast einen Teil desselben zu bilden schien, und dessen ödes, verfallenes Aussehen mit der Einsamkeit ringsum harmonierte. Tief unten wälzte sich der breite, reißende Strom hin, fast die ganze Weite des Thales einnehmend, so daß kaum Raum genug für die Straße an seiner Seite blieb. Ueber der ganzen Umgebung aber lag das heiße Sonnenlicht eines südlichen Herbsttages, der an Glut dem nordischen Hochsommertage nicht das Geringste nachgibt; obgleich die Sonne längst ihre Mittagshöhe verlassen hatte, flimmerte es doch noch heiß in der Luft; grell und scharf beleuchtet hob sich jeder einzelne Gegenstand, fast schmerzend für das Auge, hervor, und das erhitzte Gestein brannte förmlich unter den sengenden Strahlen, denen es unaufhörlich ausgesetzt war.

»Es wäre eine Thorheit, dem Wagen auch nur noch einen Schritt vorauszugehen,« sagte Reinhold. »Bei der Fahrt bergabwärts überholt er uns in den nächsten Minuten. Wir haben ja jetzt den vollen Ueberblick.«

Ella widersprach nicht; ihr Antlitz trug deutlich genug den Ausdruck der höchsten körperlichen und geistigen Erschöpfung. Diese zwanzigstündige ruhelose Fahrt und dazu die Todesangst im Innern, die immer erneute, qualvolle Aufregung, wenn die gesuchte Spur jetzt auftauchte, jetzt wieder verschwand – das war zu viel für das Herz einer Mutter und die Kraft einer Frau. Sie ließ sich auf ein Felsstück nieder, lehnte stumm den Kopf an die Bergwand und schloß die Augen.

Ihr Gatte stand neben ihr und blickte schweigend nieder auf das schöne, blasse Antlitz, das in seiner tödlichen Erschöpfung fast beängstigend erschien. Die scharfen Kanten des Gesteins gruben sich tief in die weiße Stirn und ließen rote Ränder dort zurück. Reinhold schob langsam seinen Arm zwischen den Fels und die blonden Flechten der jungen Frau; sie schien es nicht zu fühlen, und ermutigt dadurch, legte er den Arm vollends um sie und versuchte, ihr an seiner Schulter eine bessere Stütze zu geben.

Jetzt zuckte Ella leise zusammen und schlug das Auge auf; sie machte eine Bewegung, als wolle sie sich ihm entziehen, aber sein Blick entwaffnete sie, dieser Blick, der mit so schmerzlicher angstvoller Zärtlichkeit auf ihr ruhte; sie sah, er zitterte in diesem Augenblicke nicht weniger um sie, als er um sein Kind zitterte. Sie ließ den Kopf wieder zurücksinken und verharrte regungslos in seinen Armen.

Er beugte sich tief über sie. »Ich fürchte, Eleonore,« sagte er gepreßt, »du hast deiner Kraft allzuviel zugetraut; du brichst zusammen.«

Ella schüttelte verneinend das Haupt. »Wenn ich meinen Knaben wieder habe, dann vielleicht. Eher nicht.«

»Du wirst ihn zurückerhalten,« sagte Reinhold energisch. »Wie? Um welchen Preis? – das weiß ich freilich noch nicht, aber ich weiß, wie Beatrice zu meistern ist, wenn der Dämon sich in ihr regt. Habe ich ihr doch oft genug gegenübergestanden in Stunden, wo vielleicht jeder andre vor ihr gezittert hätte, und habe meinen Willen zu erzwingen gewußt. Noch einmal, zum letztenmal werde ich das versuchen, und sollten sie und ich die Opfer werden.«

»Du glaubst an eine Gefahr, auch für dich?« Es klang wie bebende Angst aus der Stimme der jungen Frau.

»Nicht, wenn ich ihr allein gegenübertrete, nur wenn du ihr nahst. Versprich mir, daß du auf der letzten Station zurückbleiben, daß du dich nicht zeigen willst, wenn wir sie erreichen! Bedenke, sie hat in dem Kinde einen Schild gegen jeden Angriff, jede Gewalt unsrerseits, und es steht alles auf dem Spiele, wenn sie dich an meiner Seite erblickt.«

Sie ließ sich auf ein Felsstück nieder, lehnte stumm den Kopf an die Bergwand und schloß die Augen.

»Haßt sie mich denn so sehr?« fragte Ella befremdet. »Ich reizte sie, das ist wahr, aber du warst es doch, der sie am tiefsten beleidigte.«

»Ich?« wiederholte Reinhold. »Du kennst Beatrice nicht. Wenn ich jetzt vor sie hinträte als Reuiger, als Zurückkehrender, so wäre es vorbei mit ihrem Haß und ihrer Rache. Ein einziger Schwur, daß ich und mein Weib getrennt sind und es bleiben, daß ich jeden Gedanken an Wiedervereinigung aufgebe, und sie gibt dir das Kind zurück, ohne Kampf, ohne Widerstand. Wenn ich das könnte, wäre die Gefahr zu Ende.«

Ellas Auge suchte den Boden; sie wagte es nicht, aufzublicken, als sie kaum hörbar fragte: »Und kannst du denn das nicht?«

Sein Auge flammte auf; er ließ den Arm von ihrer Schulter herabsinken und trat zurück.

»Nein, Eleonore, das kann ich nicht, und das werde ich nicht, denn es wäre Meineid. So wenig ich je zurückkehre in die Bande, von denen ich längst fühlte, daß sie mich entwürdigten, ehe ich dich wiedersah, so wenig gebe ich eine Hoffnung auf, die mir mehr ist als das Leben. O, weiche doch nicht so weit vor mir zurück! Ich weiß ja, daß ich dir nicht mit einer Empfindung nahen darf, zu der ich das Recht verwirkt habe, aber mein Fühlen kannst du mir doch nicht vorschreiben, und wenn du bisher nicht sahest, nicht sehen wolltest, so muß der glühende Haß Beatricens gegen dich, und nur gegen dich allein, dir doch zeigen, wie sehr du – gerächt bist.«

Die junge Frau machte eine heftig abwehrende Bewegung. »O mein Gott, wie kannst du in dieser Stunde –«

»Es ist vielleicht die einzige, wo du mich nicht zurückstößt,« unterbrach sie Reinhold. »Darf ich in der Stunde, wo wir beide um das Leben unsres Kindes zittern, seiner Mutter nicht sagen, was sie mir geworden ist? Schon damals, als ich den Boden Italiens betrat, lag es auf mir wie eine Ahnung dessen, was ich verloren hatte; ich konnte der neu errungenen Freiheit, der endlich erreichten Künstlerlaufbahn nicht froh werden, und je reicher und glänzender sich mein Leben nach außen gestaltete, je tiefer regte sich das Heimweh nach einer Heimat, die ich doch nie besessen hatte. Du kennst es freilich nicht, dieses dumpfe Weh, das nicht schweigen will mitten im Rausche der Leidenschaft, im Jubel des Triumphes und in der stolzesten Befriedigung des Schaffens, das in der Einsamkeit zu einer Qual wird, der man entfliehen muß, und wäre es auch um den Preis der wildesten Betäubung. Ich glaubte, es sei allein das Sehnen nach meinem Kinde, da sah ich das Kind wieder, sah dich – und da wußte ich, was dieses Sehnen gewollt hatte, da begann die Sühne für alles, was ich an dir verschuldet.«

Er sprach ruhig, ohne Vorwurf und ohne Bitterkeit, aber die Worte schienen darum nur um so mächtiger auf Ella zu wirken; sie hatte sich erhoben, als wolle sie diesem Tone und diesem Blicke entfliehen, und vermochte es doch nicht.

»Laß mich, Reinhold!« bat sie beinahe flehend. »Ich kann jetzt nichts andres denken und fühlen als nur die Gefahr meines Kindes. Wenn ich den Knaben gerettet in meinen Armen habe, dann –«

»Nun, dann –« fragte er in atemloser Spannung.

»– habe ich vielleicht nicht mehr den Mut, seinem Vater wehe zu thun,« ergänzte die junge Frau, während ein Thränenstrom aus ihren Augen stürzte.

Reinhold sagte kein Wort weiter, aber er schloß ihre Hand so fest in die seinige, als wolle er sie nie wieder loslassen. In derselben Minute erschien auch der Wagen auf der Höhe, und der Führer hielt an, um sich und den ermüdeten Tieren einige Ruhe zu gönnen.

Fast gleichzeitig kamen von der andern Seite her die beiden Landleute, die schon vorhin auf der Straße sichtbar gewesen waren. Sie musterten neugierig die schöne blasse Dame und den fremden, vornehm aussehenden Herrn, der jetzt an sie herantrat und fragte, woher sie kämen. Sie nannten eine Ortschaft, die, einige Stunden entfernt, am Ausgange des Thales lag.

»Habt Ihr keinen Wagen gesehen?« forschte Reinhold.

»Gewiß, Signor. Einen Reisewagen wie den Eurigen, aber er hatte nur zwei Pferde. Ihr habt deren vier.«

»Habt Ihr die Insassen gesehen?« fiel Ella mit bebender Stimme ein. »Wir suchen eine Dame mit einem Kinde.«

»Mit einem kleinen Knaben – ganz recht, Signora. Sie ist Euch aber schon eine ganze Strecke weit voraus. Ihr müßt scharf zufahren, wenn Ihr sie einholen wollt,« sagte der ältere der beiden Männer und trat zugleich erschrocken näher, denn es sah aus, als wolle die Dame zusammensinken bei der Nachricht; in demselben Augenblick aber schlang auch schon ihr Begleiter den Arm um sie und hielt sie aufrecht.

»Mut, Eleonore! Wir stehen vor der Entscheidung; jetzt gilt es.«

Er hob sie in den Wagen und sprang selbst nach. Die wenigen Worte, die er dem Kutscher zurief, mußten wohl ein ganz ungewöhnliches Versprechen enthalten, denn dieser schwang wie rasend seine Peitsche über die Pferde, und fort ging es, den Flüchtigen nach.

Diese hatten in der That schon einen ziemlichen Vorsprung gewonnen, und auch ihr Wagen fuhr in scharfem Trabe. Beatrice befand sich allein darin mit dem kleinen Reinhold, der, ermüdet vom Weinen und von der ruhelosen, anstrengenden Fahrt, eingeschlafen war. Das blonde Lockenköpfchen schmiegte sich tief in die Polster; die Händchen hielten instinktmäßig die Seitenlehnen umklammert, als suchten sie eine Stütze gegen das ununterbrochene Stoßen und Rütteln auf dem unebenen Wege. Das Kind schlummerte tief und fest, aber Beatrice beachtete es kaum in diesem Augenblick. Sie befand sich in jenem Zustande geistiger Ueberreizung, der auch der wildesten Leidenschaftlichkeit Halt gebietet. Es lag auf ihr wie ein schwerer, dumpfer Traum, aus dem nur eins mit furchtbarer Deutlichkeit hervortrat, die Erinnerung an jene Stunde, wo Rinaldo sich von ihr lossagte, wo er sie den Fluch und das Unglück seines Lebens genannt und ihr mit stolzem Trotz bekannt hatte, daß seine Liebe einzig seiner Gattin angehöre. Diese Worte bohrten sich immer wieder wie mit einem glühenden Stachel in das Herz der Italienerin. Was sie auch gethan, wie sie gefehlt haben mochte, diesen einen Mann hatte sie mit der ganzen Glut ihrer Seele geliebt, diesem einen war sie unverbrüchlich treu gewesen; sie hatte seine Liebe als ein Recht betrachtet, das keine Macht der Welt ihr zu entreißen vermocht, und nun verlor sie es an die Frau, die sie unter allen am letzten gefürchtet hätte, an sein Weib. Sein Weib und sein Kind! Das war ja von jeher der dunkle Schatten gewesen, der diesem Glücke drohte, und der jetzt, aus der fernen Vergangenheit hervortretend, Leben und Gestalt gewann, um es zu vernichten.

Beatrice hatte die beiden gehaßt, noch ehe sie dieselben kannte; wußte sie doch am besten, welchen Platz sie noch immer in Reinholds Erinnerung behaupteten, hatte sie es doch oft genug vergebens versucht, ihn davon loszureißen. Es mußte doch wohl etwas sein an der einst verhöhnten Macht der Ehe; sie siegte schließlich doch über die schöne geniale Biancona, über die hochgefeierte Künstlerin und ließ sie jetzt selbst die ganze Qual des Verlassenwerdens durchkosten, die sie einst so gleichgültig über eine andre verhängt hatte, ohne danach zu fragen, ob das Herz dieser andern brach unter dem unverdienten Schicksal. Die scheinbar zerrissene Fessel hatte den Flüchtling ja nie ganz losgelassen; jetzt umwand sie ihn aufs neue, und Beatrice fühlte mit verzweiflungsvoller Gewißheit, daß sie nie den Platz in seinem Herzen besessen hatte, den jetzt seine Gattin einnahm.

Die leidenschaftliche Frau handelte in der That nicht nach Plan und Berechnung, als sie zu diesem letzten, äußersten Mittel griff, um ihre Rache zu kühlen. Ihr Erscheinen in dem Garten Erlaus galt einzig der gehaßten Gegnerin. Sie fand Ella nicht, aber statt dessen fand sie den Knaben, allein, unbeaufsichtigt, und die Idee wie die Ausführung des Raubes waren das Werk eines Augenblickes. Das Kind folgte anfangs willig der schönen fremden Dame, die es schmeichelnd an sich zog, und als es ängstlich zu werden begann und nach seiner Mutter zurückverlangte, da war es bereits zu spät. Beatrice dachte gar nicht an die möglichen Folgen ihres Schrittes, als sie triumphierend ihre Beute entführte; sie fühlte nur, daß kein Dolchstoß das Herz Ellas so tief und sicher treffen konnte als der Verlust ihres Kindes, und daß dieser Verlust eine ewig trennende Scheidewand zwischen den beiden Gatten aufrichtete. Das war es, was sie gewollt hatte. Jetzt aber galt es, sich den Raub zu sichern. Gianelli mußte zu der rasch ins Werk gesetzten Flucht die Hand bieten.

Nun lag bereits mehr als eine Tagereise zwischen dem Kinde und seinen Eltern. Aber einmal mußte doch Halt gemacht werden, einmal mußte diese plan- und ziellose Flucht doch ein Ende nehmen. Die Rache war gelungen, weit über Erwarten – was nun?

Der kleine Reinhold schlief noch immer. Hätte er wenigstens die Züge seines Vaters getragen! Vielleicht hätte ihn das vor allem Bösen bewahrt, aber dieses goldblonde Haar, dieses rosige Antlitz und diese tiefblauen, im Augenblicke freilich geschlossenen Augen gehörten ja der Mutter an, der Frau, die Beatrice haßte, wie sie noch nie etwas auf der Welt gehaßt hatte, und diese Aehnlichkeit war eine furchtbare Gefahr für das schlummernde Kind. Die glühenden Augen seiner Begleiterin hafteten minutenlang starr auf seinem Gesichte, dann auf einmal zuckte sie zusammen, und wie vor ihren eigenen Gedanken erschreckend, riß sie das Auge los von dem Knaben und wandte sich ab.

Da erblickte sie oben auf der Höhe den Wagen, der dem ihrigen folgte. Ein Reisewagen war überhaupt eine Seltenheit auf diesem Wege, und er kam in der gleichen Richtung, kam in vollster Eile. Beatrice erriet sofort, um was es sich handelte. Also ihre Spur war bereits verraten, und die Verfolger waren ihr auf den Fersen – mochten sie doch! Sie fühlte sich allmächtig, solange sie das Kind in ihren Händen hatte.

Sich rasch erhebend, gab sie dem Kutscher Befehl, die Pferde zur größten Eile anzutreiben. Er gehorchte, und nun begann eine wilde Jagd zwischen den beiden Wagen. Mehr als einmal vermochten die kräftigen Tiere sie kaum zu halten, mehr als einmal drohte der Hemmschuh zu reißen und die Insassen dem Sturze preiszugeben. Keiner von ihnen achtete darauf, und das Versprechen eines überreichen Lohnes spornte auch die beiden Führer zur Verachtung der Gefahr an. Es war eine rasende, eine tollkühne Fahrt. Felsen und Schluchten schienen zu beiden Seiten vorüberzufliegen; immer höher stieg die Bergwand empor, je mehr sich die Straße senkte; immer näher brauste der Fluß herauf, doch das Viergespann war unleugbar im Vorteile. Die Wagen rollten jetzt beide im Thale dahin, aber der Raum zwischen ihnen wurde mit jeder Minute kleiner – noch einige hundert Schritte, und die Flüchtigen waren eingeholt.

Das erste Gefährt donnerte über die Brücke, die hier die beiden Ufer verband. Jenseits derselben hielt es auf einmal still. Beatrice hatte selbst den Befehl dazu gegeben; sie sah, daß hier kein Ausweichen, kein Entrinnen möglich war, daß sie auf das Aeußerste gefaßt sein mußte. Der Wagen hielt unmittelbar am Rande des Flusses, der reißend schnell dahinschoß; langsam öffnete Beatrice den Schlag, während sie mit der Linken den kleinen Reinhold umfaßte, der von der rasenden Fahrt erwacht war und jetzt ängstlich in die schäumenden, tosenden Wellen blickte, die dicht unter ihm dahinschossen. Er wußte ja nicht, wie nahe ihm die Eltern waren. Jetzt hatte auch der zweite Wagen die Brücke erreicht, und in dem Momente, wo Ella ihr Kind erblickte, war es vorbei mit Besinnung und Ueberlegung. Sie vergaß Reinholds Warnung, sich nicht zu zeigen, ihm den entscheidenden Schritt allein zu überlassen, und beugte sich weit aus dem Schlage.

»Reinhold!« hallte es hinüber – es war ein Ruf unaussprechlicher bebender Angst. Das Kind schrie auf, als es die Mutter erkannte, und streckte beide Arme nach ihr aus. Laut aufweinend wollte es hinüber zu ihr, aber dieses Wiedersehen wurde sein Verderben. Beatrice war leichenblaß geworden, als sie die Gatten nebeneinander erblickte. Also beisammen! Was sie trennen sollte, das gerade hatte sie vereinigt und wenn Reinhold in der nächsten Minute die Flüchtige erreichte und ihr seinen Sohn entriß, dann waren die beiden vereinigt für immer, und der Verlassenen blieb nur die Verachtung – oder die Rache.

Aber die Wahl war bereits getroffen. Eine einzige blitzschnelle Bewegung nach dem Strome hin entschied alles. Beatrice hatte das Kind nicht losgelassen, und mit der Kraft der Verzweiflung riß sie es mit sich hinunter in den Flutentod.

Der entsetzlichen That folgte eine Szene unbeschreiblicher Verwirrung. Die Führer der beiden Wagen waren von ihren Sitzen herabgesprungen und liefen ratlos am Ufer hin und her; sie versuchten es gar nicht einmal, eine Hilfe zu bringen, die hier nur mit Aufopferung des eigenen Lebens möglich war. Ella stand auf der Brücke; sie hatte sich nachstürzen wollen, wo sie nicht retten konnte, aber es war bereits eine bessere Hilfe zur Stelle. Die junge Frau sah die Wellen hoch aufspritzen, in denen ihr Liebstes verschwand, sah, wie diese Wellen sich im nächsten Momente auch über dem Haupte ihres Gatten schlossen. Reinhold hatte sich unverzüglich seinem Kinde nachgeworfen, das sich im Sturze von Beatrice losgerissen hatte und das nun in einiger Entfernung auftauchte. Es folgten Minuten einer Qual, gegen die alles zuvor Erduldete doch nur ein Spiel war. Für Ella drängten sich Leben und Tod zusammen in diesen schäumenden, zischenden Wogen, mit denen die beiden Körper rangen, der eine hilflos, fast widerstandlos, der andre sich mächtig emporarbeitend zu dem einen Punkte, den er endlich, endlich erreichte. Der Vater erfaßte sein Kind, riß es an sich und strebte mit ihm vereinigt dem Ufer zu. Jetzt faßte er Fuß auf dem felsigen Grunde; jetzt ergriff er die überhangenden Felszacken, um sich daran zu halten, und nun gewann auch die Mutter Kraft und Bewegung zurück. Sie stürzte den beiden entgegen. Langsam stieg Reinhold den Abhang empor. Seine Brust keuchte schwer von der furchtbaren Anstrengung; die Arme bluteten, verwundet von dem scharfen Gestein, an dem er sich gehalten, aber diese Arme umfaßten seinen Knaben, den er seit Jahren zum erstenmal wieder an seine Brust schloß, und halb ohnmächtig zusammenbrechend, legte er das Kind in die Arme der Mutter.

*

»Also das soll wirklich und unwiderruflich ein Abschiedsbesuch sein?« fragte der Konsul Erlau den Kapitän Almbach, der neben ihm saß. »Ihre Abreise kommt ja ganz plötzlich und unerwartet. Was wird Ihr Bruder, was Eleonore dazu sagen? Beide rechneten ganz bestimmt darauf, Sie noch einige Wochen hier zu behalten.«

Auf der Stirn Hugos lag heute ein Schatten, und in seinen Zügen stand ein fremder, bitterer Ausdruck, als er erwiderte: »Sie werden sich leicht genug in die Trennung finden. Reinhold wird in der steten Nähe von Weib und Kind meine Abwesenheit nicht fühlen, und Ella –« Er brach plötzlich ab. »Lassen Sie es gut sein, Herr Konsul! Die beiden haben viel zu viel mit sich selber und mit ihrem neuerworbenen Glücke zu thun, um nach mir zu fragen.«

»Jawohl,« stimmte Erlau bei, »und wer bei dieser Versöhnungsgeschichte am meisten verliert, das bin ich. Jahrelang habe ich Eleonore als mein Kind betrachtet, habe sie und den Kleinen als mein unbestreitbares Eigentum angesehen, und jetzt auf einmal macht der Herr Gemahl seine sogenannten Rechte geltend und nimmt sie mir beide, ohne daß ich Einspruch dagegen erheben darf. Ich begreife Eleonore nicht, daß sie ihm so ohne weiteres verziehen hat.«

»Nun, so ohne weiteres geschah das wohl nicht,« sagte Hugo ernst. »Er hat Widerstand genug gefunden, und ich glaube kaum, daß er ihn jemals überwunden haben würde ohne jene Katastrophe, die ihnen schließlich beiden zu Hilfe kam. Er erkaufte sich die Versöhnung mit der Rettung seines Kindes. Ella wäre keine Gattin und keine Mutter gewesen, wenn sie sich auch da noch von ihm abgewendet hätte, als er ihr den Knaben unversehrt in die Arme legte. Der Augenblick sühnte alles, und Sie wissen ja so gut wie ich, daß die Rettung des Kleinen dem Vater beinahe das Leben gekostet hat.«

»Nun ja, er konnte gar nichts Gescheiteres thun, als nach der Geschichte todkrank zu werden,« grollte Erlau, der durchaus nicht in sehr versöhnlicher Stimmung zu sein schien. »Das war genug, um Eleonore sofort an seine Seite zu rufen, von der sie dann nicht wieder wegzubringen war, und er ließ sie wohlweislich auch nicht wieder von sich. Man kennt das schon. Gefahr und Angst, Pflege und Zärtlichkeiten ohne Ende! Sie verlangen doch nicht etwa gar, daß ich mich über die Versöhnungsgeschichte freuen soll? Ich wollte, wir hätten die Reise nach Italien unterlassen, dann hätte ich meine Eleonore behalten, und Herr Reinhold hätte sein genialromantisches Künstlerleben hier fortsetzen können. Mir wäre das vollkommen recht gewesen.«

»Sie sind ungerecht,« sagte Hugo vorwurfsvoll.

»Und Sie verstimmt,« ergänzte Erlau. »Ich begreife nicht, was mit Ihnen eigentlich vorgegangen ist, Herr Kapitän. Ihr Bruder ist außer Gefahr, Ihre Schwägerin die Liebenswürdigkeit selbst; der Kleine hat sich mit vollster Zärtlichkeit an Sie angeschlossen, Ihnen aber scheint der Humor ganz und gar abhanden gekommen zu sein, seit bei uns hier alles in Versöhnung und Liebe schwimmt. Sie spielen keinem Menschen einen Streich mehr, Sie ärgern niemand mehr mit Ihren Neckereien und Einfällen; kaum daß man noch hin und wieder ein Scherzwort von Ihnen hört. Ich fürchte, Ihnen steckt auch irgend etwas im Kopf oder gar im Herzen.«

Hugo lachte laut, aber ein wenig gezwungen auf.

»Warum nicht gar! Ich halte es nur nicht aus, so lange auf dem festen Lande zu bleiben und meine See zu entbehren. Diese mondenlange Unthätigkeit peinigt mich. Gott sei Dank, daß sie endlich ein Ende nimmt! Morgen früh reise ich, und in wenigen Tagen bin ich wieder draußen auf den Wellen.«

»Nun, dann stieben wir ja recht hübsch nach allen Himmelsrichtungen auseinander,« meinte der Konsul, der noch immer nicht seiner Gereiztheit Herr zu werden vermochte. »Sie segeln nach Westindien, Ihr Bruder und Eleonore wollen gleichfalls fort; ich gehe nach H. zurück – eine allerliebste Einsamkeit, die mich dort zu Hause erwartet! Herr Reinhold hatte zwar die Gnade, mir zu versprechen, daß ich seine Frau und das Kind von Zeit zu Zeit sehen solle. Von Zeit zu Zeit! Als ob mir das genügen könnte, nachdem ich sie jahrelang jede Minute um mich gehabt habe. Freilich, jetzt hat ja der Herr Gemahl und Vater darüber zu bestimmen; ich bin überzeugt, er läßt sie keine acht Tage von sich; er ist jetzt gerade so überschwenglich in der Zärtlichkeit, wie er es einst in der Rücksichtslosigkeit war.«

Es hatte fast den Anschein, als ob der Gegenstand des Gespräches dem Kapitän peinlich sei, denn er brach es rasch ab, indem er sich erhob und sich von dem Konsul verabschiedete, zwar herzlich, aber doch etwas kurz und hastig. Erlau sah ihn sichtlich ungern scheiden; denn so groß das Vorurteil war, das er noch immer gegen Reinhold hegte, so entschieden war er für Hugo eingenommen, und wäre dieser der reuig Zurückkehrende gewesen, der Konsul hätte die Versöhnung wohl mit günstigerem Auge angesehen, als er jetzt that, wo jedes Gerechtigkeitsgefühl in dem Schmerze über die bevorstehende Trennung von seinem Lieblinge unterging. Es tröstete den alten Herrn nur wenig, daß er die wiedergewonnene Gesundheit mit nach Hause nahm; sein Haus kam ihm jetzt unendlich verödet vor, und er seufzte tief auf, als die Thür sich hinter seinem Gaste geschlossen hatte.

Hugo kehrte inzwischen in die Wohnung seines Bruders zurück, die er noch immer teilte. Sein Zimmer befand sich infolge der Vorbereitungen zur Abreise bereits in der größten Unordnung. Er hatte Jonas befohlen, einzupacken und alles für morgen früh vorzubereiten, und der Matrose war dieser Weisung auch zum Teil nachgekommen, denn die Koffer standen geöffnet auf dem Fußboden, und die Reiseeffekten lagen auf Tischen und Stühlen umher. Vom Packen aber schien vorläufig keine Rede zu sein, denn Jonas saß noch in vollster Gemütsruhe auf dem Deckel des großen Reisekoffers und neben ihm die »kleine Annunziata«, die er sich vermutlich zur Hilfe bei dem schwierigen Geschäfte herbeigeholt hatte. Die Unterhaltung zwischen den beiden war trotz der noch immer sehr mangelhaften deutschen Sprachkenntnisse der jungen Italienerin in vollem Gange, und dabei hatte Jonas ganz ungeniert den Arm um sie gelegt und war soeben im Begriff, ihr einen Kuß zu rauben, der nicht der erste zu sein schien und auch wohl nicht der letzte gewesen wäre, wenn das Erscheinen Hugos nicht der ferneren Vertraulichkeit ein Ende gemacht hätte.

Das Pärchen fuhr bei dem unvermuteten Oeffnen der Thür erschreckt in die Höhe. Annunziata faßte sich zuerst. Sie flüchtete mit einem leichten Aufschrei an dem Kapitän vorüber in das Vorgemach, wo sie verschwand, und überließ ihrem Gefährten die Aufklärung der Situation. Jonas aber stand vor Schrecken starr und steif wie eine Bildsäule und sah, ohne sich zu rühren, seinen Herrn an, der jetzt vollends eintrat und die Thür hinter sich schloß.

»Heißt das die Koffer packen?« fragte er. »Also so weit bist du nun glücklich mit deinen Mitleidsexerzitien gekommen?«

Jonas seufzte tief auf. »Ja, Herr Kapitän, ich bin so weit,« versetzte er resigniert.

Das Geständnis wurde mit einer so unendlich komischen Zerknirschung gethan, daß Hugo mühsam ein Lächeln unterdrückte; dennoch sagte er mit ernster Miene:

»Jonas, ich habe nie geglaubt, daß ich dergleichen an dir erleben würde. Es ist nur ein Glück, daß du ein Mensch von Grundsätzen bist, die dir nicht erlauben, aus solchen Thorheiten Ernst zu machen. Die Grundsätze über alles! Unsre ›Ellida‹ ist segelfertig; morgen reisen wir nach dem Hafen ab, und wenn wir aus Westindien zurückkehren, hast du dir die Liebesgeschichte aus dem Sinne geschlagen, und die Annunziata hat inzwischen einen andern genommen –«

»Das wird sie bleiben lassen,« fuhr Jonas wütend auf. »Ich bringe mich um und sie dazu, wenn sie mir so etwas anthut.«

»Willst du das Umbringen nicht auch auf mich ausdehnen?« fragte Hugo kaltblütig. »Du scheinst mir ganz in der Laune dazu. Bis zum Küssen bist du gekommen, das steht fest. Ich habe es mit diesen meinen Augen sehen müssen, wie der Matrose Wilhelm Jonas von der ›Ellida‹ ein Frauenzimmer geküßt hat, und ich dächte, mit dieser haarsträubenden Thatsache wäre alles zu Ende.«

»Bewahre,« sagte Jonas trotzig. »Damit fängt es erst an – jetzt kommt das Heiraten.«

»Heiraten willst du auch noch?« fragte der Kapitän im Ton der tiefsten Empörung. »Ein Frauenzimmer willst du heiraten? Aber so bedenke doch, Jonas, daß die Frauenzimmer an allem Schlimmen schuld sind, daß alles Unheil auf der ganzen Welt nur von ihnen stammt, daß der Mann nur Ruhe und Frieden hat, wenn er fern von ihnen ist, daß –«

»Herr Kapitän,« erwiderte ihm der Matrose, der gegen allen Respekt seinem Herrn mitten in die Rede fiel, als er seine eigenen Worte aus dessen Munde vernahm. »Herr Kapitän, ich war ein Dummkopf.«

»So? Deine Annunziata scheint dir bereits einen hohen Grad von Selbsterkenntnis beigebracht zu haben, und das ist um so bewundernswerter, als die Sprache in eurem Verkehre nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Deine Auserkorene spricht das Deutsch noch herzlich schlecht, und du hast vom Italienischen nicht viel mehr als ihren Namen begriffen. Freilich, ich habe ja vorhin gesehen, wie vortrefflich ihr euch zu helfen wißt. Eure Konjugation des › amare‹ war, wenn auch nicht gerade grammatikalisch richtig, doch äußerst verständlich.«

»Jawohl, wir wissen uns zu helfen,« sagte Jonas voll Selbstgefühl. »Wir verstehen uns überhaupt immer und in der Hauptsache haben wir uns gleich verstanden. Ich habe sie gern, sie will mich, und wir heiraten einander.«

»Punktum?« vollendete Hugo. »Und was wird unter so bewandten Umständen aus unsrer Abreise?«

»Nach Westindien gehe ich noch mit, Herr Kapitän,« versicherte Jonas eifrig. »So über Hals und Kopf können wir doch nicht heiraten, und meine Braut bleibt indes bei der jungen Frau Almbach, die versprochen hat, für sie zu sorgen. Wenn ich aber zurückkomme, dann, meint Annunziata, müßte das Seefahren ein Ende nehmen. Sie meint, wenn sie einen Mann nähme, dann müßte er auch bei ihr bleiben und nicht jahrelang auf allen möglichen Meeren umhersegeln. Wir könnten ja irgendwo eine kleine Gastwirtschaft anlegen, dann wäre ich nicht so weit von der See entfernt und hätte immer noch Verkehr mit meinen Kameraden – meint Annunziata.«

»Deine Annunziata scheint sehr viel zu meinen,« bemerkte der Kapitän. »Und du fügst dich als bekehrter Weiberfeind und gehorsamer Bräutigam natürlich unbedingt dieser ›Meinung‹ deiner Zukünftigen. Für diese Fahrt also soll die ›Ellida‹ noch die Ehre haben, dich zu ihrer Besatzung zählen zu dürfen? Später hat sie sich einen andern Matrosen zu suchen und ich mir einen andern Diener?«

»Ja, später freilich,« sagte Jonas kleinlaut. »Wenn nicht – wenn Sie nicht auch – Herr Kapitän – Sie sollten doch lieber auch heiraten.«

»Bleib mir vom Leibe mit deinen Vorschlägen!« rief Hugo, ärgerlich auffahrend. »Ich dächte, es wäre vorläufig genug, daß du unter den Pantoffel gerätst. Jetzt packe die Koffer und nimm Abschied von deiner Annunziata! Denn morgen in aller Frühe geht es fort. Ich – habe auch noch Abschied zu nehmen.«

Die letzten Worte klangen so eigentümlich gepreßt, daß Jonas verwundert aufschaute. Er wußte, daß es nicht die Art seines Herrn war, sich den Abschied irgendwo und irgendwie schwer zu machen, und doch hörte sich das an, als werde ihm das Lebewohl diesmal recht von Herzen schwer. Zum Glück befand sich der Matrose in der gleichen Lage; deshalb grübelte er nicht viel nach, sondern machte sich an das Einpacken, während Hugo nach den Zimmern hinüberging, die jetzt seine Schwägerin bewohnte. Einige Minuten stand er regungslos vor der geschlossenen Thür, als wage er es nicht einzutreten; dann auf einmal legte er wie mit einem plötzlichen Entschluß die Hand auf den Drücker und öffnete.

Ella saß am Schreibtisch. Sie war allein und im Begriff einen soeben beendeten Brief zu schließen, als ihr Schwager eintrat und sich ihr rasch näherte.

»Haben Sie sich in Deutschland angemeldet?« fragte er auf den Brief deutend. »Konsul Erlau wird ganz H. aufrührerisch machen mit seiner Verzweiflung darüber, daß er ohne Sie und den Kleinen zurückkehren muß.«

Die junge Frau legte die Feder beiseite und stand auf. »Es thut mir weh, daß der Onkel sich so unendlich schwer in die Trennung findet,« entgegnete sie. »Ich habe bereits nach Kräften für einen Ersatz gesorgt und brieflich eine seiner Verwandten gebeten, meine Stelle in seinem Hause einzunehmen, da mich jetzt andre Pflichten rufen. Seinen Wunsch, mich nach H. zu begleiten und für die erste Zeit unsern Aufenthalt dort zu nehmen, konnte ich um Reinholds willen nicht erfüllen. Wir haben der dortigen Gesellschaft schon einmal Anlaß gegeben, sich eingehend mit uns zu beschäftigen; wenn wir jetzt zurückkehren, wäre der peinigenden Neugier und Teilnahme kein Ende, und Reinhold bedarf noch so sehr der Schonung. Er erträgt noch nicht die leiseste Hindeutung an das Vergangene ohne sich gefährlich aufzureizen. Wir müssen durchaus einen andern, ruhigern Aufenthalt suchen.«

»Jedenfalls ist es ein Glück, daß Sie ihn bestimmt haben, überhaupt nach Deutschland zurückzukehren,« sagte Hugo. »Er ist der Heimat lange genug entfremdet gewesen, in seinem Leben wie in seinem künstlerischen Schaffen. Es ist Zeit, daß er endlich einmal wieder im Vaterlande Wurzel faßt.«

Ella lächelte. »Das predigen Sie mir und ihm täglich, und Sie selber sehnen sich doch wieder ruhelos ins Weite? Gestehen Sie es nur, Hugo, Sie können den Tag Ihrer Abreise kaum erwarten, und es wird Ihnen schwer genug, die wenigen Wochen noch hier bei uns auszuhalten.«

»Die Schwierigkeit ist bereits gehoben,« warf Hugo mit erkünstelter Unbefangenheit hin. »Ich reise schon morgen.«

»Morgen?« rief Ella halb verwundert, halb erschreckt. »Aber Sie versprachen ja doch bis zu unsrer eigenen Abreise hier zu bleiben.«

Der Kapitän beugte sich tief in die auf dem Tische liegenden Papiere und Briefschaften, als suche er etwas darin.

»Das – hat sich inzwischen geändert. Ich habe Nachrichten von der ›Ellida‹ erhalten, die mich sofort abrufen. Sie wissen ja, bei uns Seeleuten pflegt dergleichen schnell und unerwartet zu kommen. Ich wollte es Ihnen und Reinhold soeben mitteilen und Ihnen zugleich lebewohl sagen, denn ich muß bereits in aller Frühe fort.«

Er hatte das alles hastig hervorgestoßen, ohne aufzublicken. Die Augen der jungen Frau hafteten ernst und forschend auf seinem Antlitze.

»Hugo, das ist ein Vorwand,« sagte sie bestimmt. »Sie haben keine Nachrichten erhalten, wenigstens keine so dringenden. Was ist geschehen? Warum wollen Sie fort?«

»Sie inquirieren mich ja wie ein Kriminalrichter,« scherzte Hugo mit einem Versuche, den Ton des alten Uebermutes wiederzufinden. »Seien Sie vorsichtig, Ella! Sie haben es mit einem verstockten Sünder zu thun, der durchaus nichts eingestehen will.«

Ella war allein und im Begriff einen soeben vollendeten Brief zu schließen, als ihr Schwager eintrat.

»Ich sehe aber doch, daß irgend etwas vorgefallen ist, das Sie forttreibt,« sagte Ella unruhig. »Und ich habe längst schon bemerkt, daß etwas zwischen uns getreten ist, das Sie Reinhold und mir mit jedem Tage mehr entfremdet. Seien Sie aufrichtig, Hugo! Was haben Sie gegen uns? Weshalb wollen Sie uns jetzt verlassen?«

Sie war ihm näher getreten und hatte bittend, aber in vollster Unbefangenheit ihre Hand auf seinen Arm gelegt. Auf dem Antlitze des Kapitäns lag eine tiefe Blässe, während er stumm zu Boden blickte; jetzt endlich hob er langsam das Auge.

»Weil ich es nicht länger aushalte,« brach er plötzlich mit vollster Heftigkeit aus. »Ich habe Ihrer Versöhnung mit Reinhold so lange das Wort geredet, und nun sie da ist und ich das täglich und stündlich mit ansehen muß, nun fühle ich erst, wie wenig Talent zum Heiligen oder zum platonischen Schwärmer eigentlich in mir ist. Ich muß fort, wenn ich nicht zu Grunde gehen will. – Mein Gott, Ella, so sehen Sie mich doch nicht so an, als ob sich auf einmal ein Abgrund vor Ihnen aufthäte! Haben Sie denn wirklich keine Ahnung davon gehabt, wie es in mir aussieht, und was mich diese letzten Wochen an Ihrer Seite gekostet haben?«

Ella war schon bei den letzten Worten zurückgewichen, und ihr Erbleichen, der Ausdruck tödlichen Schreckens in ihrem Gesichte gaben bereits die Antwort, noch ehe sie die Lippen zur Erwiderung öffnete.

»Nein, Hugo, davon hatte ich keine Ahnung,« entgegnete sie mit bebender Stimme. »Ich glaubte im Anfange unsres Wiedersehens eine flüchtige Tändelei zurückweisen zu müssen. Daß es jemals Ernst bei Ihnen werden könnte, das habe ich nie für möglich gehalten.«

»Ich auch nicht,« sagte Hugo dumpf. »Ich habe im Anfange auch geglaubt, ich könnte dieses Gefühl weglachen und wegspotten wie alles andre, und nun ist es doch Ernst geworden, so bitterer Ernst, daß ich auf dem Wege war, den Bruder hassen zu lernen, der ganzen Welt zu grollen, daß mir die letzte Zeit hier zu einer Hölle wurde – vielleicht wird es da draußen auf der See besser, vielleicht auch nicht. Aber fort muß ich, je eher je lieber.«

Es lag etwas so Wildes, Leidenschaftliches in den letzten Worten, und das ganze Wesen Hugos verriet so deutlich die mühsam niedergehaltene innere Qual, daß die junge Frau nicht den Mut fand zu einer herben Erwiderung; sie wandte sich schweigend ab. – Nach einigen Minuten trat der Kapitän wieder an ihre Seite.

»Wenden Sie sich nicht von mir, Ella, wie von einem Verbrecher!« sagte er mit aufquellender Weichheit. »Ich gehe ja, vielleicht auf Nimmerwiederkehr, und die Stunde meines Geständnisses ist auch zugleich die des Abschiedes. Ich hätte es Ihnen freilich ersparen, Ihnen nicht auch noch das Herz mit dem schwer machen sollen, was mir das meinige abdrückt. Weiß Gott, ich hatte den redlichen Willen, zu schweigen und bis zum Abschiede standzuhalten; aber man ist doch am Ende auch nur ein Mensch, und als Sie mich baten zu bleiben, und mich ansahen, da war es vorbei mit der Selbstbeherrschung. Reinhold hat es mir ja selbst prophezeit, daß ich noch einmal den Augen begegnen würde, die allem Spotte und allem Leichtsinne ein Ende machen würden. Das Unglück war nur, daß ich sie gerade in dem Antlitze seines Weibes finden mußte. Wäre das nicht gewesen, ich hätte um dieser Augen willen der ganzen Freiheit und Unabhängigkeit lebewohl sagen, hätte zum ruhigen, gesetzten Ehemanne werden, hätte meine ganze Natur verleugnen können, und da wäre es doch am Ende schade gewesen um den alten Hugo Almbach – deshalb hat der Himmel wohl ein Einsehen gehabt und ›nein‹ gesprochen.«

Der Kapitän versuchte es vergebens mit der alten Spottsucht; sie wollte ihm heute nicht zu Hilfe kommen. Seine Lippen zuckten, und seine Worte klangen wie die bitterste Ironie. Ella sah, wie tief die Wunde bei dem Manne ging, den sie in dieser Beziehung für unverwundbar gehalten hatte.

»Sie hätten längst gehen sollen, Hugo,« sagte sie mit leisem Vorwurfe. »Jetzt ist es zu spät, Ihnen den Schmerz zu ersparen, aber wenn die Liebe einer Schwester –«

»Um Gottes willen, nur das nicht!« unterbrach er sie ungestüm. »Nur nichts von Achtung, Freundschaft und all den schönen Dingen, mit denen sich die Idealisten in solchem Falle trösten, und die einen gewöhnlichen Menschen umbringen, wenn sich sein heißes Herz damit zufrieden geben soll. Ich weiß es ja, daß Sie in mir von jeher nur den Bruder gesehen haben, daß Ihr Herz immer und ewig an Reinhold gehangen hat, selbst da noch, als er Sie verriet und verließ, aber ich ertrage es nicht, das jetzt aus Ihrem Munde zu hören. Freilich, es geschieht mir schon recht. Warum bin ich ihr auch untreu geworden, meiner schönen blauen Wellenbraut, der ich doch nun einmal allein angehöre! Sie läßt es mich jetzt büßen, daß ich daran denken konnte, sie zu verlassen um einer andern willen, und doch war es mir immer, als blickte ich in ihre blauen Tiefen, wenn ich in Ellas Augen sah.« Er warf mit einer halb trotzigen Bewegung den Kopf zurück. »Und mir haben sich diese Augen doch zuerst entschleiert, damals, als mein Bruder noch nicht ahnte, welchen Reichtum er sein nannte. Ich wußte besser als er, was an der Frau war, die er um einer Biancona willen aufgab, und trotzdem trägt er jetzt den Preis davon, für den ich alles hingegeben hätte. Solche dämonische Künstlernaturen siegen ja immer gegen unsereinen, der nichts einzusetzen hat, als sein warmes Herz und sein heißes, volles Lieben. Reinhold nimmt zurück, was nie auch nur einen Augenblick lang aufgehört hatte, sein Eigentum zu sein, und ich – gehe; so ist uns allen geholfen.«

Es lag eine grenzenlose Bitterkeit in den letzten Worten, die nur zu sehr verrieten, daß selbst die Liebe zu dem Bruder nicht mehr vor einer Leidenschaft standhalten wollte, welche die ganze Natur Hugos verändert zu haben schien. Er machte Miene, das Zimmer zu verlassen. Ella hielt ihn zurück.

»Nein, Hugo, so dürfen Sie nicht gehen,« sagte sie fest. »Nicht mit dieser Bitterkeit gegen Reinhold und mich im Herzen. Unser Glück hat sich schon auf den Trümmern eines fremden Lebens aufbauen müssen; es wäre zu teuer bezahlt, sollte es uns nun auch noch den Bruder kosten. Wir würden es nie überwinden, Sie in der Ferne unglücklich zu wissen, unglücklich durch uns.«

Sie hatte bittend und traurig das Auge zu ihm emporgehoben; der Kapitän blickte mit einem seltsamen Gemisch von Groll und Zärtlichkeit nieder auf die junge Frau.

»Sorgen Sie nicht um mich!« entgegnete er gepreßt. »Ich gehöre nicht zu den Männern, die sich gleich der Verzweiflung ergeben, weil sie sich von dem losreißen müssen, woran doch nun einmal ihr ganzes Herz hängt. Und wenn bei dem Losreißen auch ein Stück von dem Herzen mitgeht, nun, so lebt es sich auch so weiter. Ertragen werde ich's; ob ich es überwinde, ist eine andre Frage. – Wenn Reinhold völlig wiederhergestellt ist, so sagen Sie ihm, was mich fortgetrieben hat aus seiner und meiner Nähe! Ich mag vor dem Bruder nicht als Heuchler dastehen, und ich hätte es ihm längst selbst gebeichtet, fürchtete ich nicht jetzt noch die Aufregung eines solchen Geständnisses für ihn; er ist nur allzu reizbar in jedem Punkte geworden, der Sie betrifft. Sagen Sie ihm, Hugo hätte nicht bleiben können, nicht eine Stunde länger, und er hätte Ihnen sein Wort darauf gegeben, nicht eher wiederzukommen, bis er der Gattin seines Bruders so unter die Augen treten kann, wie er muß.«

Seine Hand, die er ihr zum Lebewohl entgegenstreckte, umschloß mit krampfhaftem Druck die ihrige, als die Thür sich öffnete und der kleine Reinhold hereinstürmte, der sich mit kindlichem Ungestüm an den Oheim hing.

»Onkel Hugo, du willst fort?« rief er atemlos. »Jonas hat deine Koffer gepackt und sagt, du wolltest morgen abreisen. Onkel Hugo, das darfst du nicht; du mußt bei uns bleiben.«

Der Kapitän hob den Knaben empor und drückte mit leidenschaftlicher Heftigkeit seine Lippen auf die des Kindes.

»Bringe deiner Mutter diesen Kuß!« flüsterte er mit halb erstickter Stimme. »Von deinen Lippen wird sie ihn ja wohl nehmen dürfen. Lebe wohl, mein Kind – Leben Sie wohl, Ella!« –

»Mama,« sagte der kleine Reinhold, indem er verwundert dem Oheim nachblickte, der ihn so stürmisch niedergesetzt und dann das Zimmer verlassen hatte, »Mama, was hat denn Onkel Hugo? Er weinte ja, als er mich küßte.«

Die junge Frau zog das Kind an sich und jetzt berührten auch ihre Lippen die Stirn desselben, die noch feucht war, wie von zwei darauf niedergefallenen Thränen.

»Es wird dem Onkel schwer, uns zu verlassen,« erwiderte sie leise. »Aber er muß fort – Gott gebe, daß er einst zu uns zurückkehrt!«

*

In der alten Hafen- und Handelsstadt H. hatte sich im Laufe der Zeit nur wenig verändert. Sie sah noch ebenso aus, wie vor zehn Jahren, als die italienische Operngesellschaft hier ihre ersten Vorstellungen gab. Das ältere Stadtviertel lag noch ebenso düster und winkelig, das neuere noch ebenso vornehm und ruhig da, wie zu jener Zeit; auf den Straßen und am Hafen herrschte noch das alte rege Leben und Treiben, und heute, an einem Frühlingsabende, lag auch wieder die alte feuchte Nebelatmosphäre über der Stadt und ihrer Umgebung.

Im Erlauschen Hause herrschte eine ungewöhnliche Aufregung. Der große, sonst mit vornehmer Ruhe und Pünktlichkeit geführte Haushalt schien heute ganz aus den Fugen gegangen zu sein. Es war ein Rennen und Laufen ohne Ende; die ganze Flucht der Zimmer war geöffnet und erleuchtet; die Dienerschaft befand sich in vollster Gala und wurde mit Befehlen bald hierhin, bald dorthin gerufen. Die Equipage war bereits vor einer Stunde nach dem Bahnhofe abgefahren, und soeben trat die Verwandte, welche jetzt dem Haushalte des Konsuls vorstand, eine schon ältere Dame, in Begleitung des Doktor Welding in den großen Salon.

»Ich versichere es Ihnen, Herr Doktor, mit meinem Cousin ist heute nicht auszukommen,« klagte sie, während sie sich mit der Miene der Erschöpfung auf einen Fauteuil niederließ. »Er bringt das ganze Haus in Aufruhr und jagt die gesamte Dienerschaft mit Befehlen und Anordnungen durcheinander. Nichts ist ihm festlich und glänzend genug. Ich freue mich gewiß auch, meine liebe Eleonore wiederzusehen, und ihren berühmten Gatten persönlich kennen zu lernen, aber der Konsul hat mich mit seiner Aufregung bereits so nervös gemacht, daß ich wünsche, die Empfangsfeierlichkeiten wären erst überstanden.«

»Es ist ja aber auch das erste Mal, daß er seine Pflegetochter wieder im eigenen Hause empfängt,« sagte Welding. Der Doktor hatte sich in dem langen Zeitraume kaum verändert; er sah nur wenig älter aus. Es war noch immer das scharf und geistreich gezeichnete Gesicht, der durchdringende Blick und der ihm eigene ironische Klang der Stimme, mit dem er jetzt fortfuhr: »Herr Reinhold Almbach scheint dem Konsul gegenüber seine Oberhoheit über seine Frau ganz entschieden zu behaupten. Er hat es, wie Sie wissen, richtig durchgesetzt, daß Erlau jedesmal zu ihnen nach der Residenz kommen mußte, und wir bekamen trotz aller Versprechungen Frau Eleonore nicht eher zu sehen, als bis der Herr Gemahl sich entschloß, sie hierher zu begleiten. Es scheint, er kann sie nicht eine einzige Woche lang entbehren.«

»Nein, gewiß nicht,« rief die Dame gerührt. »Sie sollten nur den Cousin davon erzählen hören, der erst so sehr gegen Reinhold eingenommen war, und nun mit ihm und dem Glücke Eleonorens völlig ausgesöhnt ist. Es ist eine Liebe zwischen den beiden, so rein und klar, so fest und stark, und dabei von einem so märchenhaft poetischen Hauche umwoben, daß sie fast wie eine Sage herüberklingt in unsre glückes- und liebesarme Zeit.«

Der Doktor verbeugte sich ironisch. »Vollkommen richtig, meine Gnädige. Ich sehe mit Vergnügen, welche eingehende Aufmerksamkeit Sie meinen Artikeln widmen. Genau dasselbe stand in Nr. 12 des ›Morgenblattes‹, gelegentlich einer Besprechung des Textes zu Rinaldos neuester Oper.«

»So? Steht es im ›Morgenblatt‹?« fragte die Dame in einiger Verlegenheit; es schien ihr lieb zu sein, daß in diesem Momente der Konsul eintrat, der, ohne in seiner freudigen Aufregung den Doktor zu bemerken, sofort auf sie zueilte.

»Aber beste Cousine, ich suche Sie überall. Der Wagen kann jede Minute vom Bahnhofe zurückkehren, und wir hatten ja ausgemacht, daß wir zusammen unsre lieben Gäste empfangen wollen. Ist das rote Kabinett noch nachträglich erleuchtet worden, wie ich befahl? Ist der Heinrich drunten im Vestibül bei der übrigen Dienerschaft? Haben Sie –«

»Cousin, Sie machen mich nervös mit Ihren unaufhörlichen Fragen,« rief die Dame in etwas gereiztem Tone. »Ist es denn das erste Mal, daß Sie mir die Anordnung einer Festlichkeit übertragen? Ich habe Ihnen bereits zweimal versichert, daß alles nach Ihren Wünschen geregelt ist.«

»Das ist für heute nicht genug,« mischte sich jetzt Welding in das Gespräch. »Diesmal übernimmt der Herr Konsul selbst die Rolle des Hausmeisters und inspiziert das ganze Haus vom Boden bis zum Keller. Wehe dem, der sich heute nicht im Festgewande vor ihm blicken läßt!«

»Spotten Sie nur!« lachte der Konsul. »Ich werde mir die Freude des Wiedersehens dadurch nicht stören lassen, und mit Ihnen, Doktor, bin ich überhaupt ausgesöhnt, seit Sie in Ihrem ›Morgenblatt‹ eine solche Jubelhymne über Reinholds neuestes Werk anstimmten.«

»Bitte, ich schreibe keine Jubelhymnen,« sagte der Doktor etwas pikiert. »Ich habe im Gegenteil nur zu oft die Erfahrung machen müssen, daß meine Kritiken von den Herren Künstlern mit weniger schmeichelhaften Namen belegt werden. Unser großer Mime und Heldentenor, der, wie Sie wissen, sein hochtragisches Bühnenpathos stets auch im wirklichen Leben beibehält, nannte neulich erst mein Urteil über eine seiner Hauptrollen ›den Ausfluß der schwärzesten Bosheit, die je eine schwarze Menschenseele ausgebrütet.‹ Wie finden Sie das?«

»Nun, Reinhold hatte auch genug von Ihrer Feder auszustehen,« meinte Erlau. »Ein Glück, daß er damals in Italien unser ›Morgenblatt‹ nicht zu Gesichte bekam; er hätte sonst sehr unliebsame Dinge lesen müssen, ›von der beklagenswerten Richtung eines unleugbar großen Talentes, von unverzeihlicher Verschleuderung der kostbarsten Gaben, von der Verirrung eines Genius, der zum Höchsten befähigt und dennoch auf dem Wege sei, sich und die Kunst zu ruinieren‹ – und was dergleichen Artigkeiten mehr waren.«

»Mit denen Sie damals doch völlig einverstanden waren,« ergänzte Welding. »Gewiß, ich bin ein offener Gegner Rinaldos gewesen. So unbedingt ich von jeher sein großes Talent anerkannte, so sehr ich ihn bei seinen künstlerischen Versuchen ermutigte, so entschieden verwarf ich jene Richtung, der er sich später in Italien zuwandte. Jetzt ist das anders geworden. Sein neuestes Werk zeugt von einer Umkehr, zu der man ihm und der Kunst nur Glück wünschen kann. Er hat sich durchgerungen durch die wilde Gärung zur vollsten Freiheit und Klarheit des künstlerischen Schaffens. Sein Genius scheint endlich die rechte Bahn gefunden zu haben – dieses Werk steht durchaus auf der Höhe seines Talentes.«

»Natürlich – und das ist einzig Eleonorens Verdienst,« sagte Erlau mit unerschütterlicher Zuversicht, während seine Cousine sehr andächtig den Worten des Doktors lauschte.

»Hilft Frau Almbach ihrem Gemahl bei seinen Kompositionen?« fragte Welding boshaft.

»Lassen Sie die Malice, Doktor! Sie wissen doch am besten, wie ich es meine,« rief der Konsul ärgerlich. »Nun, Heinrich, was gibt es?« wandte er sich an den rasch eintretenden Diener, der berichtete, daß der Wagen soeben vorfahre.

»Cousin! Um Gottes willen, langsamer! Die ganze Dienerschaft steht ja draußen im Vestibül!« rief die alte Dame, die sich bereit gemacht hatte, die Ankommenden feierlich und würdevoll zu empfangen, und die jetzt von dem Konsul, der ihren Arm ergriff, so stürmisch fortgezogen wurde, daß die Majestät ihrer Schleppe gar nicht zur Geltung kam. Erlau hörte nicht auf ihre Vorstellungen; sie mußte im Sturmschritt mit ihm bis zur Treppe. Doktor Welding, der zufällig gekommen war, ohne die Stunde der Ankunft zu kennen, hielt sich als Hausfreund berechtigt, der Familienszene beizuwohnen. Er blieb deshalb im Salon, während draußen die ersten Empfangs- und Bewillkommungsreden laut wurden. Der Konsul begrüßte mit voller Zärtlichkeit seine Pflegetochter und den kleinen Reinhold, der in hellem Jubel an seinem Halse hing. Die Cousine dagegen schien sich des großen Reinhold bemächtigt zu haben, den sie mit einem Strome von Komplimenten in den Saal geleitete, während die übrigen noch in dem vordern Zimmer weilten.

»Ich freue mich unendlich, in dem Gatten meiner teuren Eleonore, den ich ja auch wohl als Verwandten begrüßen darf, zugleich den gefeierten Rinaldo kennen zu lernen,« versicherte sie noch auf der Schwelle. »Und unser H. wird stolz darauf sein, seinen berühmten Sohn endlich einmal wieder in seinen Mauern zu sehen. Herr Almbach, man kann Ihnen und der Kunst nur Glück wünschen zu Ihrem neuen Werke; es steht durchaus auf der Höhe Ihres Talentes. Ihr Genius hat endlich – ja endlich –«

»Die rechte Bahn,« warf Doktor Welding, der in der Nähe stand, mit größter Artigkeit ein.

»Die rechte Bahn gefunden,« fuhr die Dame begeistert fort. »Sie haben sich durchgerungen durch die wilde Gärung zur vollsten Freiheit und zu höheren Sphären.«

»Nicht ganz wortgetreu, aber es geht auch so,« murmelte Welding vor sich hin, während Reinhold, etwas betreten über dieses Sturzbad von ästhetischen Redensarten, sich vor der Dame verneigte. Zum Glück sah diese jetzt Ella am Arme des Konsuls eintreten und eilte, sie und ihren Knaben zu umarmen, während der Doktor zu Reinhold trat.

»Darf ein alter Bekannter sich Ihnen in das Gedächtnis zurückrufen, Herr Almbach? Ich bin zwar nicht so kühn, Sie gleich mit kritischen Lobsprüchen zu empfangen, wie Ihnen eben geschah, aber ich heiße Sie deswegen nicht minder herzlich in der Heimat willkommen.«

»Die Tante meint es gewiß sehr freundlich,« sagte Reinhold halb entschuldigend. »Es war mir nur im Augenblicke etwas befremdlich –« Er hielt inne.

»Mit einer meiner Rezensionen empfangen zu werden,« ergänzte der Doktor. »O, Ihre Frau Tante erweist mir öfter die Ehre, meine Artikel zu reproduzieren, wenn auch freilich bisweilen an etwas ungeeigneter Stelle und mit eigenen Variationen, für die ich die Verantwortung nicht übernehme. Mit den ›höheren Sphären‹ zum Beispiel habe ich für gewöhnlich nichts zu thun.«

Reinhold lächelte. »An Ihnen ist die Zeit spurlos vorübergegangen, Herr Doktor. Sie bewahren noch immer den alten Ruf. Das dritte Wort, das Sie sprechen, ist eine Malice.«

»Je nachdem,« meinte Welding achselzuckend und wandte sich an Ella, die dem alten Freunde des Hauses herzlich die Hand entgegenstreckte.

»Nun, wie finden Sie unsre Eleonore?« rief der Konsul triumphierend. »Blüht sie nicht wie eine Rose? Und der ›Kleine‹ ist so groß geworden, daß wir bald eine andre Bezeichnung für ihn werden suchen müssen.«

Doktor Welding lächelte und diesmal ausnahmsweise ohne jede Malice, als er erwiderte: »Frau Eleonore ist sich gleich geblieben. Das ist das beste Kompliment, das man ihr sagen kann. Gewiß, gnädige Frau, ich bin nicht der letzte, der sich über dieses Wiedersehen freut, und nebenbei auch darüber, daß die Erlauschen Salons, für die nächsten Wochen wenigstens, wieder unter Ihrem Scepter stehen. Unter uns gesagt« – er senkte die Stimme – »es sieht bisweilen etwas bedenklich darin aus, wenn die Frau Tante bei den Kunstgesprächen den Vorsitz führt.« –

Die Aufregung und die Freude des Wiedersehens hatte die Ankömmlinge erst spät zur Ruhe gelangen lassen. Die Morgensonne schien schon klar und hell in die Fenster, als Ella in das Gemach trat, das während ihres Aufenthaltes in dem Erlauschen Hause ihr Wohn- und Arbeitszimmer gewesen war. Es zeigte noch ganz die frühere kostbare Einrichtung, mit welcher der Konsul seinen Liebling umgeben hatte. Auch Reinhold war bereits dort; er stand am Fenster und blickte auf die Straßen seiner Vaterstadt herab, die er nach mehr als zehnjähriger Abwesenheit zum erstenmal wieder betrat. Es war nicht der junge Künstler mehr, der im trotzigen Kampfe mit seiner Umgebung und seiner Familie die Fesseln wie die Pflichten zerriß, um sich in eine Laufbahn zu werfen, die ihm Ruhm und Liebe verhieß, und der beides im Sturme errang, aber auch der Rinaldo war es nicht mehr, dessen wildgeniales Leben in Italien so oft das Urteil der Welt herausgefordert hatte, der keinen andern Zügel und kein andres Gesetz zu kennen schien, als seinen eigenen Willen, und dem die Vergötterung von seiten des Publikums und seiner Umgebung so verderblich zu werden drohte. In seinem Wesen lag nichts mehr von hochmütiger Ueberhebung oder verletzender Schroffheit; es zeigte jetzt einzig das ruhige, feste Selbstbewußtsein, das dem Manne wie dem Künstler nur zum Vorteile gereichte. In seinem Auge blitzte noch immer etwas von der alten Leidenschaftlichkeit, die im Leben wie in seinen Werken doch nun einmal Rinaldos eigentliches Element bildete, aber die wilde, unstete Flamme, die einst in diesem Blicke loderte, war erloschen, und was jetzt dort leuchtete, paßte besser zu dem ruhigen, etwas düsteren Ausdrucke seiner Züge. Was auch ein wildes, überschäumendes Leben in dieses Antlitz gegraben haben mochte, es redete jetzt nur noch von Ueberwundenem, und der träumerisch nachdenkliche Blick, der in diesem Augenblicke den Giebel des alten Hauses in der Kanalstraße suchte, der deutlich aus dem Häusergewirr emportauchte – es war ganz der Blick des ehemaligen Reinhold, jenes Reinhold, der in dem engen, kleinen Gartenhause vor seinem Flügel so oft gesessen und jene Töne wachgerufen, die damals nur in der Nacht laut werden durften, wollte er nicht wegen der »unnützen Phantasterei« gescholten werden, welche die Welt jetzt die Offenbarung seines Genius nannte.

Ella näherte sich ihrem Manne. Ihr Aussehen rechtfertigte in der That den Ausspruch des Konsuls; sie blühte wie eine Rose. Die letzten drei Jahre hatten dieser reizenden Gestalt nichts von ihrer Anmut genommen, aber sie hatten ihr den Ausdruck des Glückes gegeben, der ihr einst fehlte.

»Hast du so früh schon Briefe erhalten?« fragte sie, auf zwei geöffnete Schreiben deutend, die auf dem Tische lagen.

Reinhold lächelte. »Gewiß! Sie wurden uns aus der Residenz nachgesendet, und den Absender dieses Briefes« – er nahm den einen empor – »errätst du sicher nicht. Eins wenigstens hat mir mein neuestes Werk eingetragen, das mir mehr wert ist, als all die Ovationen, mit denen man uns überschüttete – einen Brief von Cesario. Du weißt ja, wie tiefverletzt er sich damals von uns zurückzog und mir jeden Annäherungs- und Versöhnungsversuch unmöglich machte. Er konnte es dir nicht vergeben, daß du so lange gegen ihn geschwiegen hattest, und mir nicht, daß ich seinem Glücke im Wege stand; seit drei Jahren habe ich, wie du weißt, kein Lebenszeichen von ihm erhalten. Die erste Aufführung meiner Oper in Italien hat endlich das Eis gebrochen; er schreibt wieder ganz mit der alten Herzlichkeit und Begeisterung, beglückwünscht mich wegen des neuen Werkes, das er weit über sein Verdienst erhebt, und – zeigt mir zugleich seine bevorstehende Vermählung mit der Tochter des Principe Orvieto an. Sie wird in wenigen Wochen seine Gemahlin.«

Ella war an die Seite ihres Mannes getreten und las über seine Schulter hinweg den Brief, den er geöffnet in der Hand hielt und in dem ihrer auch nicht mit einem einzigen Worte Erwähnung geschah.

»Kennst du die Braut?« fragte sie endlich.

»Nur wenig! Ich sah sie ein einziges Mal im Hause ihres Vaters und erinnere mich ihrer nur als eines schönen, lebhaften Kindes. Sie wurde im Kloster erzogen und stattete damals einen flüchtigen Besuch bei den Eltern ab. Aber ich weiß, daß diese Verbindung schon in jenen Tagen ein Lieblingswunsch der beiderseitigen Familien war, dem nur Cesarios Abneigung gegen jedes Band, das ihn in Zukunft fesseln könnte, wie gegen jede Heirat überhaupt, entgegenstand. Jetzt, wo Jahre darüber hingegangen sind und die junge Prinzessin erwachsen ist, scheint man jenen Plan wieder aufgenommen zu haben – Cesario hat dem Andringen der Verwandten nachgegeben. Ob ihm diese Konvenienzheirat geben kann, was eine so glühende, schwärmerische Natur wie die seinige verlangt, das freilich ist eine andre Frage.«

Ella sah nachdenklich zu Boden. »Du sagtest ja, die Braut sei jung und schön, und Cesario ist wohl der Mann, so einem jungen Wesen, das aus der einsamen Klostererziehung eben erst in das Leben tritt, Liebe einzuflößen.«

»Wir wollen es hoffen,« sagte Reinhold ernst. »Der zweite Brief ist von Hugo und aus S. datiert.«

Ein leichtes Erröten flog über das Antlitz der jungen Frau, als sie in lebhafter Spannung fragte:

»Nun? Kommt er endlich? Dürfen wir ihn endlich erwarten?«

Reinhold schüttelte leise den Kopf. »Nein, Ella. Unser Hugo kommt nicht; wir müssen auch diesmal darauf verzichten, ihn wiederzusehen. Hier, lies selbst!«

Er reichte ihr den ziemlich umfangreichen Brief. Die ersten Seiten enthielten nur Reiseschilderungen, die ganz in der kecken, von Uebermut und Laune sprühenden Art des Kapitäns hingeworfen waren, erst ganz am Schlusse wurden die persönlichen Verhältnisse berührt.

»Ich habe meinen Aufenthalt in S. benutzt,« schrieb Hugo, »um dem Jonas einen Besuch abzustatten, der sich nun schon seit Jahr und Tag mit seiner Annunziata hier niedergelassen hat. Ihr habt die Kleine so überreich ausgestattet, daß aus der bescheidenen Wirtschaft, die sie sich einrichten wollten, ein recht hübscher Gasthof geworden ist, mit dem es auch schon tüchtig vorwärts geht. Die junge Frau hat endlich Deutsch gelernt und ist überhaupt eine ganz allerliebste Wirtin, den Jonas aber habe ich mir ernstlich vornehmen müssen, denn es ist förmlich haarsträubend, wie das winzige Ding, die Annunziata, diesen Bären von einem Seemanne nach allen Regeln der Kunst kommandiert. Ich habe ihm in das Gewissen geredet, ihn an seine Manneswürde erinnert, ihm prophezeit, daß er rettungslos unter den Pantoffel geraten würde, wenn das so fortginge – was gibt mir der Mensch zur Antwort? ›Ja, Herr Kapitän, man ist aber doch so unmenschlich glücklich dabei!‹ Da blieb denn freilich nichts übrig, als ihn seinem unmenschlichen Glücke und seinem Pantoffelregimente zu überlassen.

»Noch eine Nachricht habe ich für Dich und auch für Ella. Mir geriet gestern zufällig eine italienische Zeitung in die Hand, in der ich der Notiz begegnete, daß eine Verschwägerung der Häuser Tortoni und Orvieto bevorstehe. Marchese Cesario werde sich in kurzem mit der einzigen Tochter des Principe vermählen. Du siehst, auch ein Idealist stirbt heutzutage nicht mehr an unglücklicher Liebe: er tröstet sich statt dessen nach Jahr und Tag mit einer jungen und vermutlich auch schönen Frau aus fürstlichem Geblüte. Nur der Leichtsinnige, der ›Abenteurer‹ kann es noch immer nicht verwinden, daß er zu tief in ein Paar blaue Augen geblickt hat. Ich kann nicht kommen, Reinhold! Du kennst das Wort, das ich Deiner Frau gab; es verbannt mich noch immer von eurer Schwelle. Der Himmel weiß es, wie lange ich mich noch auf dem Meere herumtreiben muß, ohne euch wiederzusehen, aber wenn mir die Erinnerung auch nicht mehr das Herz abdrückt, wie im Anfange, loslassen will sie mich noch immer nicht. Meine ›Ellida‹ liegt wieder einmal segelfertig im Hafen, und morgen fliegt sie mit ihrem Kapitän wieder einmal hinaus ins Weite – also leb wohl, Reinhold! Küsse Deinen Knaben in meinem Namen. An Ella werde ich doch wohl einen Gruß senden dürfen, da Du ihn ihr bringst? – Vielleicht sehen wir uns wieder.«

Ella faltete den Brief zusammen und legte ihn schweigend nieder. »Ich hoffte doch, er würde wenigstens diesmal zu uns zurückkehren,« sagte sie endlich, – es bebte wie Wehmut in ihrer Stimme.

»Ich habe es nicht erwartet,« entgegnete Reinhold ernst, »denn ich kenne Hugo. An seinem Charakter scheint vieles so leicht und spurlos abzugleiten, und gleitet vielleicht auch wirklich ab, hat er aber einmal etwas mit voller Seele erfaßt, dann läßt er es auch für das ganze Leben nicht wieder los. Er bewahrt seine Liebe treuer und besser, als – ich es that!«

»Liebtest du mich denn, als ich dir angetraut wurde?« fragte Ella mit sanftem Vorwurf. »Konntest du die Frau lieben, die damals dich und sich selbst noch nicht verstand? Wir mußten erst getrennt werden, um uns so voll, so ganz wiederzufinden, und mich würde nichts mehr an die Trennung erinnern, sähe ich nicht auf deiner Stirn immer wieder den Schatten, den die eine Erinnerung wachruft.«

Reinhold fuhr mit der Hand über die Stirn. »Du meinst den Tod Beatricens? Ich weiß es ja, daß sie sich mit eigener Hand ihr Schicksal bereitete, und doch kann ich nicht immer die Stimme zum Schweigen bringen, die mich der Mitschuld daran zeiht. Daß ich sie verließ, das trieb sie zur Verzweiflung, zum Wahnsinn; sie wollte uns vernichtend treffen und traf sich selber.«

»Und aus den Wellen, die ihr den Tod gaben, rettetest du dir und mir das Höchste, unser Kind und unsre Liebe,« sagte die junge Frau leise. »Sieh, da kommt unser Reinhold. Willst du auch dem Kinde diese schwer umdüsterte Stirn zeigen?«

Der kleine Reinhold steckte den Kopf zur Thür herein, und als er die Eltern im Zimmer sah, kam er vollends hereingesprungen, so rosig und frisch, so voll Leben und Uebermut, daß die Düsterheit des Vaters und der Ernst der Mutter nicht standhalten wollten vor seinem Schmeicheln und Tollen. Ella küßte zärtlich die Stirn ihres Knaben, während Reinhold sie und ihr Kind zärtlich an sich zog. Sie hatten ihn doch unlösbar festgehalten, diese Fesseln, die er einst in jugendlicher Verblendung gesprengt und zerrissen hatte, bis er draußen in dem so heiß ersehnten Leben, unter all den erträumten Schätzen fühlen lernte, daß er doch das Beste daheim gelassen, bis die Sehnsucht nach der Vergangenheit erwachte, und sich mächtig und unwiderstehlich Bahn brach, bis er sich durch Schuld und Todesgrauen das zurückerkämpfen mußte, was er einst von sich gestoßen hatte, sein Weib und sein Kind – und in dem Blicke, mit dem er jetzt auf die beiden niedersah, stand deutlich und klar das Geständnis, welches die Lippen nicht aussprachen, daß er das so lange und ruhelos gesuchte und immer versagte Glück endlich hier gefunden.


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