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Fünftes Kapitel

Den Ghibellinen Guelfe, den Guelfen Ghibelline

I

Eine tiefe Herzenskränkung konnte der Senator, sosehr er sich auch selbst zuredete, nicht unterdrücken: Verdi, der Freund, kümmerte sich nicht um ihn.

War es ihm im Leben nicht immer so ergangen? Allen, allen, Frauen und Freunden hatte er dieses ungeduldige durstige Gefühl liebenden Überschwangs entgegengebracht. Man nahm dieses Gefühl an, mit spitzen Fingern oder gutmütiger Nachsicht, man ließ es sich gefallen. Längst hatte der Senator eines der Gleichgewichts-Gesetze des Lebens erkannt:

›Bin ich oben, bist du unten; bin ich unten, bist du oben!‹ In den letzten Jahren des großen Kampfes, als die Wogen hoch gingen und der Staat sich zu kristallisieren begann, wollten sie ihn zum Minister machen. Er wußte es wohl, sie hielten ihn für unbrauchbar und fahrig, aber in diesem Augenblick hätte sein guter Name, sein freistirniger Kopf, seine bedeutende Rednergabe gut gewirkt. Stolz und mit der Skrupelhaftigkeit aller wahren Revolutionäre hatte er nein gesagt in dem Gefühl, die Entwicklung der Dinge sei nicht so blendend rein, wie seine Gesinnung es fordere.

Mit großer Geste wurde später die Senatorswürde abgelegt. Auf keinen Menschen wirkte diese Tat. Was wußte man heute von ihm?

Nur die Freunde blieben noch, da die eigenen Kinder ja fremder sind als Antipoden und Papuaner. So viele Häupter hatte der Novembersturm fortgeblasen. Nach dem Tode des Lehrers Mazzini stand nur mehr Verdis treuliche Gestalt aufrecht da. Aber auch er, der geliebte Freund, dessen Weg der Senator Schritt für Schritt nachgewandelt, dessen Sänge in seiner Brust wie in keiner andern atmeten, er, der Sakrosankte, dem er sogar (das Schwerste!) politische Andersmeinung vergab, auch Verdi duldete nur diese Liebe und erwiderte sie nicht. Hatte er denn die Zartheit dieser Zuneigung nie bemerkt? Nie bemerkt, daß der Senator ihn niemals unter Menschen suchte, bei feierlichen Anlässen in Mailand oder anderswo stets zurücktrat, nirgends den Freund zu mimen liebte, die Einsamkeit des schöpferischen Menschen ehrte, wenn er auch immer wieder seine eigene Freude zum Opfer bringen mußte. So erlebte er es stets von neuem, daß die frechen Belästiger im Recht waren, denn trotz aller Abweisung, sie erbeuteten ihren Anteil an dem Menschen, während er, der Ebenbürtigere, der Mann eigener Verdienste, leer ausging. – Oh, diese Leute, mit denen Verdi umging! Ungerechtfertigt und leidenschaftlich bohrte die Eifersucht gegen alle andern Freunde des Maestro. Wer war dieser Conte Arrivabene, den Verdi so bereitwillig zum Vertrauten machte? Ein Zudringlicher, ein Journalist, nicht mehr! Und der Senator Piroli? Ein politischer Biedermann, der seine Mittelmäßigkeit als Bürde zum besten gab! Und Clarina Maffei mit ihrem berühmten Salon, wo sich schon Balzac gelangweilt haben soll? Eine alte Literaten- und Künstlertante, die ihre verkümmerte Mütterlichkeit in blaustrümpfigen Protektionen anlegte, um dann mit dem Ruhm des Geförderten selber berühmt zu werden. Wie er diese ganze Gesellschaft haßte! Er lief dem Maestro nicht nach, er schrieb nicht allwöchentlich verlogene Briefe, er war, trotz mancher Einladung niemals noch Frühjahrsgast von Sant Agata gewesen. Fühlte Verdi nicht die Zurückhaltung, war er nicht dankbar für sie? Wie konnte er nur so herzensträge, so kalt, so gleichgültig sein, jetzt, da er nach Venedig (aus welchem Grunde nur?) gekommen war, seinen einzigen, seinen heißesten Freund zu vernachlässigen: Drei oder vier Tage war er schon hier und hatte ihm noch keine Stunde geschenkt.

Der Senator, der an seinem großen Arbeitstische saß, schob empört zwei ausgiebige Wörterbücher von sich. Die Folianten stöhnten. Seit zwanzig Jahren schon arbeitete er an einem sehr wenig zum Wachstum geneigten Manuskript: ›Textvergleichende Studien zu den Tragödien des Euripides.‹ Auch andere Arbeiten waren begonnen: ›Konjekturen zu den Fragmenten des Menander‹ und eine neue Ausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles.

Diese haarspalterische Kleinarbeit, die sich der Senator aufgebürdet hatte, war einer von jenen überraschenden Widersprüchen, in denen der menschliche Charakter sich gefällt. Die brandrote Farbe seines Temperaments und das weißliche Blau der Philologie, wie reimte sich das? Vielleicht wollte er durch diese nervenlose Arbeit den selbstzerstörenden Kräften der Musikalität begegnen, die er in sich trug.

Jetzt allerdings schickte er den Wust von numerierten Versen, Fußnoten, Lesarten mit einem Fluch zum Teufel, riß den Schlapphut, dieses klassische Wahrzeichen des Risorgimento, vom Nagel und eilte aus dem Haus.

Auf dem Campo San Luca vor einem politischen Kannegießercafé fand er sich zu einer Gruppe ähnlicher Schlapphüte. Um diese morsche Insel der Verbitterung trubelte lüstern und geschäftefroh das Leben. Nach zehn Minuten ward dem Senator das Gerede der steifnackigen Greise unerträglich, das besserwissend um Personalien, Fehler und Schachzüge verwirkter Jahrzehnte kreiste. ›Ausrangierte Lokomotiven‹, stellte er fest. ›Ihre ganze Tugend ist, daß sie keinen Dampf mehr haben ... Höchstwahrscheinlich bin ich nichts anderes.‹

Nach dieser Betrachtung machte er sich schwermütig wieder auf den Heimweg.

Bei der Fähre nächst dem Palazzo Grimani sah er, wie sein Sohn Italo sich von einer sehr schlanken jungen und einer älteren Dame verabschiedete. ›Könnte fast eine Engländerin sein‹, urteilte der Senator, ›wenn ihre italienischen Gesten nicht wären.‹ Italo war ein wenig verwirrt, als er zu seinem Vater trat.

»In meiner unüberwindlichen Neigung zur Indiskretion frage ich dich hiemit, mein Sohn: Wer ist dieses luftige Wesen, das dich eben verlassen hat?«

»Das ist Margherita Dezorzi, Papa! Du weißt von ihr?«

»Oh weh! Leider bin ich nicht mehr in dem Alter, um das vollständige Register der Schönheiten zu führen.«

»Margherita ist die Protagonistin der Opernstagione im Teatro Rossini. Die Truppe ist sonst recht mittelmäßig; sie aber ist die größte Künstlerin, die Italien, vielleicht Europa heut besitzt. Und dabei erst dreiundzwanzig Jahre alt.«

»Ist ihre Stimme so wunderbar?«

»Die Stimme ist schön. Aber, Papa, auf die Stimme kommt es doch heute nicht mehr an.«

»So?! Also die Sänger werden jetzt nur mehr zum Geldverdienen verpflichtet?«

»Wenn du sie auf der Bühne sähest, würde dir gewiß die Ironie vergehen. Sie ist so seelenhaft, so nervös, so neu ... Und dabei nichts von Theaterweib. Das reinste, unnahbarste Wesen, das es gibt. Niemals sieht man sie ohne Mutter!«

»Ei, das ist unangenehm. Doch erinnere ich mich, einmal wo gehört zu haben, daß man beim Theater nicht nur Kostüme, sondern auch Mütter leihweise beziehen kann!«

»Nun, du hast wieder deine bittere Laune, Papa! Sie ist ein prachtvoller Mensch! Und dabei der Verstand eines Mathematikers! Ich wünschte mir, daß unter meinen Freunden ein solcher Kerl wäre!«

Der Senator lüftete den Hut:

»Teufel! Vor deinen Wünschen, lieber Sohn, muß man eine anerkennende Verbeugung machen ... Jetzt dekliniert ihr die Frauen als Masculina. Das ist neu. Und ein prächtiger Ausblick! Männer gibt es schon längst nicht mehr. Du wirst im neuen Jahrhundert leben. Da wirds mit den Frauen auch vorbei sein. Eine entzückende Annäherung der Geschlechter! Und den Kindern gratuliere ich. Glückliches Europa!«

Der Senator winkte seinem Sohn, ließ sich in der Fähre über den Kanal setzen und eilte heim. An der Tür wartete schon der junge Diener:

»Der Signor Maestro ist hier gewesen. Kaum, daß Sie aus dem Haus fort waren, ist er gekommen. Hier die Karte!«

Der Senator las diese ihm so liebe, wilde Schrift mit den ungleichen Lettern:

»Verzeih mir! Ich habe in diesen drei Tagen manches zu ordnen gehabt. Jetzt will ich Dich sehen! Komm zum Speisen! Komm sofort!«

Ohne dem Burschen ein Wort zu sagen, machte der Gute kehrt, um so schnell wie möglich beim Freunde zu sein. Keine Spur der Herzenskränkung mehr trübte seine Freude. Dies war die Kraft und Schwäche, durch die er heiteren Mutes so viele Enttäuschungen ertragen hatte: Vergessen können!

Wie wenig war der Maestro mit dieser glückseligen Eigenschaft gesegnet.

II

 ... und daß ich zu alledem noch ein Nachahmer Wagners bin. Ein schönes Ergebnis, wenn man nach 35 Jahren als Nachahmer enden muß!!

Aus einem Brief Verdis an Giulio Ricordi

 

Verdi liebte es nicht, im Restaurant zu speisen. Schon mit dreißig Jahren war er in seinem Vaterland so berühmt, daß er sich nirgends zeigen konnte, ohne erkannt zu werden. Schrecklich wars ihm, zur Lüge gezwungen zu sein. Und lügen hieß es, wenn man mit unnatürlicher Miene dasaß, wie juckende Wunden die Neugier vieler Blicke im Rücken. Er haßte alle körperliche Berührung. Und Angesehenwerden war körperliche Berührung.

Einmal in Parma auf dem großen Platz hatte ihn die Menge erkannt. Schon fingen einige Leute an, Evviva zu rufen. Er floh entsetzt vor der Kundgebung in ein Haus und hielt sich fast eine Stunde lang im letzten Stockwerk versteckt, bis er sicher sein konnte, ungeschoren davonzukommen.

Auch heute, da er den Senator erwartete, hatte er wie immer in seinem Zimmer decken lassen. Bedienung durch den Kellner ließ er nicht zu. Sein eigener Diener war mitgekommen. Dieser Diener war ein braver mittelmäßiger Beppo, nicht jener berühmte Luigi, der vom Kutschbock der Reggianer Droschke gestiegen war, um seinem geliebten Melodienhelden zu folgen. Neben dem Senator war Luigi gewiß der trefflichste Verdi-Kenner. Aus dem schwersten Mitternachts-, ja aus dem Todesschlaf geweckt, hätte er jede Cantilene seines Maestro in der richtigen Tonart zu singen vermocht. Und nicht nur die populären Weisen »Quando la sera placida«, »Eri tu, che macchiavi«, »Ai nostri monti ritorneremo«, sondern auch irgendeine unbekanntere Arie aus ›Due Foscari‹, ›Giovanna d'Arco‹, ›Macbeth‹.

In den zwei Tagen, die seit dem Erlebnis von Marios Gesang verflossen waren, hatte der Maestro wieder mit unablässiger Energie den Kampf gegen Lear aufgenommen. Ein zusammenhängendes Stück war sogar geschrieben worden, aber er sah es nicht an aus Furcht vor Enttäuschung und jenem schrecklichen Widerwillen, den jetzt die eigene Musik in ihm erzeugte.

Die kurze Tröstung, die des Krüppels Improvisation ihm gebracht, jener plötzliche Glaube an die alte ewige italische Melodie war wieder verflogen. Hingegen beunruhigte der roteingebundene Klavierauszug im versperrten Kasten unaufhörlich die Nerven. Er hatte schon daran gedacht, wenn nicht die Teufelsgabe selbst, so doch den Schlüssel, der sie gefangen hielt, in die winterlich dunkle Lagune zu werfen.

Dabei war jene Stimme nicht zu besänftigen, die vor dem Palazzo Vendramin ihm scharf und kalt befohlen hatte: ›Besuche den Deutschen!‹ Immer, wenn sie sich erhob, schüttelte den Stolzen schmerzhaft Empörung. Neuerdings war ihm eine Geschichte eingefallen, die er irgendwo einmal gelesen hatte.

Rossini, bei seiner Anwesenheit in Wien, hatte Beethoven verehrungsvoll seine Aufwartung gemacht. Dieser Besuch war von dem deutschen Meister in Gleichgültigkeit oder aus unverhüllter Mißachtung nicht erwidert worden. Mit Rossini, dem ihm so wenig Ähnlichen, der ihm selber niemals wohlgewollt hatte, identifizierte sich Verdi nun, sowie er Wagner mit Beethoven identifizierte. Wie haßte er diesen Beethoven für seine ganz unmenschliche Grobheit und Überhebung. Seine Nation, seine Ehre fühlte er durch diese überlieferte Ungezogenheit verletzt. War das langversunkene Geschehnis nicht ein Sinnbild für das Heutige? – Und er sollte Wagner besuchen? Was für die Jugend und gleichgültige Wesensart Rossinis erträglich war, er würde eine Ablehnung nicht verwinden.

So trieb die Krisis ihrem Höhepunkt zu. Wie jeder Kranke fühlte der Maestro vielleicht das erstemal im Leben, daß in seiner Natur Todessucht und Lebenstrieb sich die Schlacht lieferten und er auf keiner Seite Feldherr war.

Der Senator kam, umarmte und küßte Verdi. Der Maestro mußte einen leichten und unbegründeten Ärger verbeißen: ›Dieser Ärger wird die Vorzeichnung unseres heutigen Zusammenseins werden‹, wußte er sofort. Nach Tisch, als die beiden die Havanna, diesmal aus des Maestro Kistchen, probierten, und der beglückend-ausgleichende Rauch die Luft durchblaute, machte der Senator Anstalten, das Gespräch auf ein ihm herzensnahes Thema zu bringen:

»Verdi! Du weißt beiläufig, wie es mit mir steht.«

»Nun?«

»Ich bin passé. Ich lebe nicht mehr mit der Zeit.«

»Das meint man so. Und früh geht die Sonne auf, oder wie Shakespeare sagt: Der Regen regnet jeglichen Tag.«

»Nicht um mich geht es. Hörst du? Ich habe mich so ziemlich abgefunden. Es ist merkwürdig. Sei nicht böse, es mag eine unerwünschte Zudringlichkeit sein. Aber ich habe meine Sache auf dich gestellt. In meinen Träumen bist du mein Rächer.«

»Du bist ein klassischer Philologe. Ich habe es bei meinem Lehrer Seletti kaum zu den unregelmäßigen Verben gebracht. Habe also ein wenig Nachsicht mit meiner Fassungskraft!«

»Freund! Auch bei dir ist nicht alles so wie ich es mir wünsche, wie ich es brauche!«

Der Maestro warf einen sehr unzugänglich-feindlichen Blick auf den Senator. Er mochte es nicht, daß jemand sich mit seiner Seele beschäftigte. Aber er hatte sich geirrt. Dies am wenigsten war des Freundes Absicht:

»Verdi! Ich fühle, daß es nicht mehr so ist wie früher, daß du nicht mehr nur ein paar offene und grobe, sondern sehr viele heimliche und hämische Feinde hast. Es liegt etwas Unfaßbares in der Luft gegen dich, etwas geradezu Beleidigendes, eben weil es so unausgesprochen ist.«

»Ah! Das spürst du nun auch? Mich beschäftigt die Sache schon über ein Jahrzehnt. Mit der ›Aida‹ und früher schon hat es begonnen. Vor Jahren habe ich bei der Probe in der Scala auch nicht ein Glas Wasser serviert bekommen, während man zur selben Zeit allen möglichen ausländischen Musik-Größen Feste und Bankette gab. Aber es ist weniger Feindschaft als ... nennen wirs ... gedämpfte Mißachtung.«

»Und selbst hier in Italien hat sich diese Frechheit eingeschlichen. Oh, diese Undankbaren, diese Hunde! Daß die Jugend von dir abfällt, das liegt vielleicht in der Natur. Daß aber die Stadtvertretung von Bologna den Herrn Wagner zum Ehrenbürger gemacht hat, das ist ungeheuerlich, Freund, ungeheuerlich! Man müßte sich expatriieren lassen.«

Der Maestro lachte ein wenig boshaft:

»Und was, wenn sie recht hätten?«

»Recht hätten?! Recht hätten?! Verdi! Die Stunde ist da. Die größte Stunde deines Lebens. Du mußt herrlich beweisen, wer du bist, in den Staub donnern mußt du diese Canaillen von schöngeistigen Schwindlern und Gecken. Ich habe mir alles überlegt. Wenn wir beide auch fast gleichaltrig sind, du bist doch viel jünger, du hast die Kraft, Kraft zu zwanzig Werken. Mit einer neuen ungeahnten Tat mußt du sie erschrecken, lähmen, beschämen! Unsere göttliche Welt mußt du wiederherstellen. Das ist deine schreckliche Schuldigkeit!«

Die fleischigen Wangen des Senators zitterten. Verdi blieb ganz kalt bei seiner Antwort:

»Erstens, mein Lieber, schafft kein Künstler eine gute Sache, wenn er es darauf anlegt, zu erschrecken, zu lähmen, zu beschämen. Die geringste Eitelkeit, das kleinste Zurseiteschielen ist ein Verwesungswurm im Körper des Werkes. Und zweitens! Soviel kann auch ich noch Latein: Tempora mutantur und leider nicht immer, Nos mutamur in illis. Höchstwahrscheinlich hat diese allgemeine Haltung gegen mich einen guten Grund. Wir beide, schau, werden stehengeblieben sein, ohne es mit der ganzen Schwere selbst zu empfinden. Und darum, törichterweise, leisten wir Widerstand gegen ein Naturgesetz, gegen den sehr praktischen Brauch, daß ein rostiges Werkzeug fortgeworfen wird.«

»Das glaubst du nie und nimmer, was du da sagst, Verdi! Du wärst kein Künstler sonst, kein Krieger, sondern ein Feigling. Nein, nein! Wehre dich nicht! Du mußt schreiben! Du weißt es ja selbst am besten.«

»Soll ich schreiben, um ihnen Recht zu geben, um deutlich zu beweisen, daß ich nicht mehr bin, der ich war, oder vielleicht niemals gewesen. Es gibt im Leben Korrekturen nach rückwärts, Richtigstellungen der Vergangenheit, und das sind die schrecklichsten!«

»Das sagt der Autor des ›Rigoletto‹?«

»Glaubst du noch immer an Wert und Beständigkeit in Kunstdingen? Hat dich die Sammlung deines Hausherrn Gritti nicht eines Bessern belehrt? Jeder hat seinen Tag, merk dirs, nur einen Tag, ob dieser nun früher oder später tagt!«

»Nun, du hast schon mehrere Tage gehabt, Verdi! Schaff dir einen neuen!«

Der Maestro sagte eine Weile nichts, dann mit leis-gleichgültigem Ton:

»Und was, wenn ich an einer neuen Oper arbeite?«

Der Senator sprang auf und begann durchs Zimmer zu laufen:

»Er schreibt! Ich hab es gewußt, daß die Umarbeitung nur Ausrede war! Er schreibt.«

»So bestimmt will ichs nicht sagen. Auch fängt es an, mir mit den Jahren immer peinlicher zu werden, daß man aus solch einem Ding von Papier, wie es eine Partitur ist, soviel Aufhebens macht.«

»Du schreibst! Oh, ich bin glücklich, Verdi! Jetzt wirst du es diesem Barbaren und all seinen Schwächlingen beweisen, wer du bist! Vertrau mir! Ich schweige auf der Folter. Ist es die ›Maria Delorme‹, von der du mir einst erzählt hast? Ah, wenn du nicht willst, so sage mir nichts!«

Verdi stand plötzlich auf:

»Hör', ich will dir sogar zwei Stücke dieser Oper zeigen. Es interessiert mich sehr, wie sie auf dich wirken werden. Bitte, sag mir aber dein Urteil erst nach dem zweiten Stück!«

Der Maestro nahm aus der Notenmappe des ›Lear‹ zwei geheftete Teile, von denen man merkte, daß sie schon vollendet waren. Der erste: Der Monolog des Schurken Edmund aus dem ersten Akt, eine mit allen Finessen modernen Ausdrucks komponierte Musik, von der er wohl einiges hielt und die ihm dennoch in diesen Tagen manches Unbehagen verursacht hatte. Der zweite: Das Duett zwischen Lear und Cordelia, eine Nummer, die aus der ersten Zeit der Entwürfe stammte und mehr als zwanzig Jahre alt war.

Er legte die Blätter auf das Klavierpult.

Dann setzte er sich hin und begann mit jener dramatischen Bewegung in Gesang und Vortrag, die alle Sänger, mit denen er arbeitete, hinriß, den Monolog Edmunds zu rezitieren und zu begleiten. Der Senator, von der Kraft der Wiedergabe benommen, wußte mit der Musik dieser Arie doch nichts anzufangen. Es kam ihm vor, als ob Verdi, von seinem Weg abweichend, sich bemühe, der Melodie zu entgehen und an ihre Stelle dissonierende Akkorde, fremde Übergänge und verletzende Intervallsprünge zu setzen.

Als das Stück beendet war, sah der Maestro seinen Gast nicht an und begann mit der zweiten Nummer.

Sogleich hob ein beispielloses Wohlgefühl den Senator von seinem Sitz, lustig wie immer seit ›Nabucco‹ begann sein Blut unterm Rhythmus des Vergötterten zu tanzen, leicht wurde sein Körper, und der Atem verkrampfte sich wonnevoll wie ein Muskel.

Melodie auf Melodie schenkte die schöne leise Stimme des Maestro aus. Lieblich umschlangen sich, reizend wandelten die süßen Wendungen. Zum Schluß gerieten sie ins Laufen, und eine der stürzenden Presto-Kabaletten Verdis nahm wie ein Wildbach die keuchende Verzückung des Freundes mit sich.

Der Senator sprang auf:

»Ewig, Verdi, ewig! Das Höchste, was du je gemacht hast! Sieg, Sieg!!«

Der Maestro klappte ruhig das Klavier zu.

»Und wie hat dir das erste Stück gefallen?«

In der Tiefe des Bewußtseins fühlte der Senator, daß ihm eine Falle gelegt wurde. Einen Augenblick lang hätte er sich retten können. Aber er war zu ehrlich:

»Das erste Stück? Oh, alles, was du machst, ist groß. Doch, vielleicht verstehe ichs noch nicht. Es ist schwer. Verzeih, es ist nicht ganz italienisch. Hol mich der Teufel, ich hab an diesen verdammten Wagner denken müssen. Aber das Duett, mein Verdi, das Duett ist von Gott!«

Der Maestro stand steif und fremd da. Haar und Bart, Wahrzeichen ergrauter Güte, schienen dunkel geworden zu sein, das blaue Auge auch, alle Züge versperrten sich. Man konnte jetzt wohl verstehen, daß dieser Mann sein Besitztum nur durch eine Zugbrücke mit der Welt verbunden hielt. Sehr beleidigt und so, daß sein »Du« wie Unnatur klang, sagte er:

»Das erste Stück, der Monolog, ist sehr gut, sogar ausgezeichnet. Das Duett ist eine Lächerlichkeit, eine Stümperei, ältester Publikumsfang. Jetzt weiß ich wenigstens, daß du so viel verstehst, wie das Publikum vor dreißig Jahren verstanden hat. – Und du willst, daß ich ein neues Werk schreibe? Wenn ich es täte, würdest du mir am allerwenigsten folgen. Habe ich nichts als Feinde von links, so bist du nun mein Feind von rechts!«

Diese unsinnige und krankhafte Beschimpfung kam aus dem Munde des Maestro, ohne daß er sie hätte zurückhalten können. Betäubt faßte er selber nicht, was er tat. Der Senator schaute ihn zwanzig Sekunden stier und reglos an. Dann begann sein Kinn zu zittern, besorgniserregend schwoll der dicke Hals, er tastete mit erledigten Händen nach seinem Hut. Dann sah er wiederum, schwer atmend, sehr lange den Maestro an:

»Damit ich nicht dein Feind sein muß, gehe ich, Verdi!« Er konnte mit schwer gewordener Stimme nichts anderes mehr sagen und ging, ohne vorher seinen Überrock anzuziehen. Der Maestro sah ihm noch immer steif nach. Tiefe Scham und tieferes Leid wuchsen, wollten das Zwerchfell zerreißen:

Welcher Teufel hatte das getan? Er? Diesen treuesten selbstlosesten Menschen sinnlos verwundet?! Weil er von einem gequälten Musikstück nicht begeistert schien, von einer Sache, die ihm selbst nicht im geringsten genügte? Welche Verzerrung!! Wohin ging es? Jetzt hatte er auch noch diese Seele verloren! Seine Zähne knirschten. Er hätte schreien mögen vor Erbitterung.

Lange noch blieb er starr, wie ein Mensch, der sich peinlich vergangen hat, und in den Boden versinken möchte. Dann begann er gehetzt um das Zimmer zu kreisen. Als er vorbei kam, schlug er mit ganzer Faust gegen den Kasten, in dem der Auszug des ›Tristan‹ wartete.

III

Aber wissen Sie, daß es für einen Künstler ein Glück ist, wenn ihn die Presse haßt?

Aus einem Brief Verdis, den C. Bragagnolo zitiert

 

Am selben Abend hatte der ganz zerknirschte Maestro den Senator aufgesucht und beteuert, er wisse nicht, warum er diese törichten und empörenden Worte gesprochen habe, die ihn nicht weniger entsetzten als den Beleidigten. Der Senator war nicht etwa böse, nur erschüttert. Viel tiefer als an dem Ausbruch seiner feindseligen Laune litt er an der Erkenntnis: Verdi ist krank. Sein Geist, sein Genie sind in Gefahr. Eine schwere Vergiftung ist in sein Leben eingedrungen. Er ist daran, sich zu verlieren. Ich möchte ihm helfen. Aber wie? Es heißt unendlich vorsichtig sein! Ich habe die Katastrophe tölpelhaft selbst heraufbeschworen, weil ich in meiner unseligen Antwort den gefährlichen Punkt berührte. – Wer hätte es denken können, daß dieser Mensch der Gesundheit, der Ruhe, der Selbstsicherheit von solcher Verwirrung befallen ist? Was bin ich doch für ein einfacher Charakter! Meine Schmerzen merkt mir jeder sogleich an. Aber er?? Immer überlegen, immer voll richtiger Entscheidung, voll unbeirrbaren Wertgefühls, – und auch er zerbrochen! Verdi zerbrochen!! Es ist nicht zu fassen! Seine schwere, tödlich schwere Krankheit ist es, daß er dieses echte, inspirierte Duett zwischen Lear und Cordelia verachtet. In dieser Verachtung vernichtet er seine Person, hebt er sein Ich auf. Man muß ihm wahrlich helfen. Wie ein Kind braucht er eine Mutter, die sein schwerverwundetes Selbstbewußtsein streichelt. Darum Vorsicht!‹

An diesem Abend, da Verdi vor ihm Buße tat, schien der Senator wie ausgewechselt. Sein bitterer Humor war fort, sein ewig-anklägerischer Rückblick auf große Zeiten, diese Unzufriedenheit, die leicht auch seine Umgebung unfroh machte. Für die Entschuldigung des Maestro hatte er ein liebes Lachen: Er habe keinen Grund, er gerade nicht, über eine unbeherrschte Grobheit böse zu sein. Mehr Pferde als irgendwem andern seien ihm im Leben durchgegangen. Darin liege, wie man ja weiß, das Alpha und Omega all seiner Mißerfolge. Übrigens sei er selbst soviel Künstler, um nachfühlen zu können, wie sehr ein verwerfliches Urteil wie das seine über Edmunds Monolog kränken müsse. Diese Musik schmeichle sich gewiß nicht ins Ohr, nun ja, dafür aber verfolge sie einen über die Gassen, um die Ecken, bis ins dunkle Zimmer vermummt und drohend wie ein Bandit, ein Bravo. Das nenne er wohl Charakteristik, daß dieser Hundsfott von Edmund nach all dem doch nicht abzuschütteln sei!

Traurig versuchte Verdi mit einem Schein von Heiterkeit solchen Bemühungen des guten Freundes entgegenzukommen.

Der Senator wurde immer ausgelassener. Er lenkte das Gespräch vom heiklen Gegenstand zu beruhigenden Alltäglichkeiten, die uns nach jeder Spiegelfechterei mit Gespenstern das beruhigende Gefühl geben, daß nur sie allein in Wahrheit Leben sind. Er verstand es zu komischen Beschreibungen, lustigen Anekdoten und gar zu entspannendem Klatsch überzugehn und hatte es in einer Stunde fertiggebracht, daß ihn Verdi recht fröhlich und, wie es schien, im alten Gleichgewicht verließ. Auf die Straße noch rief er ihm nach:

»Ehrwürdiger Greis von Sant Agata, ich glaube, du schläfst zu wenig. Leg dich heute gleich hin! Ich will dasselbe tun!«

Der Maestro kehrte mit dem Vaporetto nach San Zaccaria zurück. Es war merkwürdig, wie wenig Menschen ihn hier kannten. Was in Mailand, in Genua, in Parma unmöglich war, hier konnte er ruhig auf der Bank des Schiffleins sitzen, und die Bäuerin mit dem Bündel, die zwei schwatzenden Herren ihm gegenüber sahen ihn gar nicht an. Ganz unbeachtet freilich fühlte er sich nicht. Seit ein paar Tagen merkte er, daß sehr oft die lange Gestalt eines Mannes seinen Weg kreuzte, mit ungleichem Schritt sich hinter ihm hielt, vorlief, ihn anstarrte, verschwand und wieder auftauchte. Diese Erscheinung strich in ihrer windigen Art auch jetzt über das dunkle Deck des kleinen Dampfers und stieß irgendwo einen Korb mit Flaschen um, worauf ein Zank sich erhob, bei dem die Stimme des Missetäters dreist aufbegehrte. Endlich drängte der Mann sich zu des Maestro Platz hin, geradeaus und unmittelbar, als wolle er ihn stellen. Knapp vor Verdi aber stoppte er, schlenkerte mit den Armen, wackelte mit dem langen Oberkörper und ließ sich auf der gegenüberliegenden Bank nieder, gerade unter dem kurzen Mast mit der Petroleum-Laterne. In dem Schein dieser Laterne sah nun der Maestro eines der widerwärtig-lebendigsten Gesichter, das ihm je begegnet war. Nur die Augen hatten die Majestät eines höheren Wesens, was einen mesquinen Widerspruch zu dem wie im Selbstekel halboffenen Mund ergab, in dessen schwarzer Höhle ein großer Zahn hing, der durch seine widernatürliche Form den Blick zu bannen wußte.

Der Maestro konnte darüber nicht klar werden, ob der Mann wahnsinnig sei oder eine verdächtige Annäherung an ihn suche, denn er zwinkerte immerfort, sandte zweideutige Blicke zu ihm hin, machte auffordernde Gesten mit dem Kopf, murmelte, zischte, lachte in sich hinein, war von unheimlich aufreibender Tätigkeit jedes Gliedes, jeder Miene besessen. Nur wenn der Maestro einen dieser irrend-zudringlichen Blicke auffing und festhielt, schlug der Fremde die Augen nieder und duckte sich wie ein Geprügelter. Als ob er genau wisse, wohin der Weg Verdis führe, stand er knapp vor der Landungsstation auf und drängte sich auf dem Ponton dicht an sein Opfer, so daß der Maestro Kleider und Leib scharf zusammenfassen mußte, um das häßliche Wesen nicht zu berühren. Erst vor dem Tor des Hotels ließ der Lange von dem Verfolgten ab, der die Lust nicht bezwingen konnte, sich umzusehen. Da aber stand der Mensch auf weitgegrätschten Beinen und hielt mit ausgestreckten Armen etwas Unsichtbares in der Luft gepackt.

Verdi sah dieses Bild und mit überklarer Schärfe stand für einen Augenblick in seinem Bewußtsein die Unsinnigkeit dessen, daß er hierhergekommen war und ein ihm widersprechendes, fast chaotisches Leben führte. Warum war er nicht in Genua geblieben, warum hatte er nicht seiner Frau gehorcht?

Auf der Schwelle des Zimmers empfing ihn sein Diener. Er hatte eben im Kamin Feuer gemacht, das nun durch den lauschenden Raum sein verschwörerhaftes Selbstgespräch flüsterte.

»Signor Maestro, ein Herr ist dagewesen und hat dies hier abgegeben.«

Verdi hielt ein Druckheft in der Hand, irgendeine Broschüre oder Revue, die sich widrig anfühlte.

»Was für ein Herr? Wer weiß denn, daß ich hier bin?«

»Den Namen hat er nicht genannt, nur gesagt: Gibs deinem Herrn!«

Als Beppo fort war, las der Maestro die Aufschrift:

Der musikalische Alchimist

Zeitschrift zur Bekämpfung der Korruption im Reiche des Lyrischen Theaters, des Musikalienverlags und der kritischen Presse Italiens – herausgegeben im Namen und zum Heile der wahren Kunst von Maestro V. Sassaroli.

Darunter stand als winzig gedrucktes Motto:

»Gold wird im Tiegel bleiben,
Bist du so kühn, mit scharfen Essenzen
Das Echte zu binden, die Lüge zum Teufel zu treiben.«

Das Ganze war auf unappetitlich grau-welkem Papier mit jener blassen Schrift gedruckt, die seit jeher zur Veröffentlichung giftiger Pamphlete dient.

›Sassaroli?‹ dachte der Maestro ohne feste Vorstellung. Dieser Name schien mehr närrisch als boshaft. Dann schlug er das Heft auf. Steil wie im orientalischen Märchen fuhr der unreine Geist aus der Flasche.

Es waren eigentlich zwei unreine Geister. Der eine: Ein groteskes Selbstgefühl. Der andere: Ein nicht minder grotesker Haß gegen ihn, Verdi!

Dieses Selbstgefühl gab sich in einer Menge dummeitler Notizen, abgedruckter Briefe, weit zurückliegender Rezensionen, im geschwollenen Einleitungsaufsatz und außerdem darin kund, daß beim Zitat seiner eigenen Person des Autors Name immer gesperrt gedruckt war. Man konnte unter anderem solche Dinge lesen:

»Im Jahre 1840, als unser Maestro und Herausgeber noch Lieblingsschüler des berühmten Saverio Mercadante war, schrieb ihm dieser hochverehrte Mann nachstehenden sehr anerkennenden Brief über seine Kompositionen.« Und jetzt folgte ein gleichgültiges Schreiben, dessen ganzes Lob in solchen Worten etwa gipfelte: »Wenn du es zu etwas bringen willst, spare auch fürderhin keinen Fleiß!« An diese Anerkennung allerdings schloß sich eine lange Ergießung des also Belobten: »Wie wir wissen, war Mercadante ein sehr strenger Kunstrichter. Seine Zustimmung traf niemals einen Unwürdigen. Er hat unserm Maestro, der niemals den Lärm des Erfolges gesucht hat, eine herrliche Laufbahn prophezeit. – Aber anders urteilt ein großer Mann, anders die verblendete Menge. Sie jauchzt, durch käufliche Journalisten, geschäftstüchtige Verleger und den Fusel trivialer Musikmache berauscht, einem Herrn Verdi zu, während Maestro Sassaroli im Dunkel bleibt. Allein zu stolz, die Praktiken erfolgshungriger, schmutziger Seelen nachzuahmen, ist es sein eigener fester Wille, im Schatten zu bleiben, solange der Tag dieser finsteren Zeit durch jenes Gelichter erhellt wird, das in die Dämmerung der Diebe und Gelegenheitsmacher gehört.«

An anderer Stelle war in verschiedenen Schriftgraden mit durchtrieben journalistischer Hand folgende Notiz geschickt hergerichtet:

»Wie uns ein dortiger Leser des ›Alchimisten‹ mitteilt, hat an einem vergangenen Sonntag die Banda municipale von Orvieto die Ouvertüre der Oper ›Riccardo, duca di York‹ von Maestro V. Sassaroli unter enthusiastischem Beifall des auf dem Platze zahlreich versammelten Publikums aufgeführt.

Diese Tatsache ist darum besonders bemerkenswert, weil unser Herausgeber nicht weiß, auf welche Weise der Kapellmeister dieses höchst vortrefflichen Orchesters, einer seiner Getreuen, sich das Notenmaterial verschaffen konnte. Ein Zeichen der Zeit! Unsere Leser wissen, daß dieses Werk, in dem der Komponist unter allen italienischen Maestri als erster und einziger selber die Dichtung zu seiner Musik schrieb, am Doria-Theater in Genua einen ungeheuren orkanartigen Beifall fand. Trotz wütendem Widerspruch des Volkes von Ligurien wagte es aber die Impresa nicht, diesen Erfolg auszunützen. Warum? Herr G. Verdi, der in Genua residiert, voll Angst um seine erpreßte Alleinherrschaft, hatte sogleich die Meute derer, die von ihm leben, und von denen er lebt, mobilisiert. Die Hatz ging los. Kritisierende Hunde, deren Freßnapf im Hause Ricordi steht, wurden auf das arme Wild losgelassen, Dirigent, Sänger, Musiker, ja selbst die Theaterarbeiter in ihrer Existenz bedroht. Schon nach der ersten glorreichen Aufführung war die Beute erlegt. Und so ist bis auf den heutigen Tag dieses einzigartige Werk, das unabhängig und originell die Reform Richard Wagners vorwegnahm, ungedruckt geblieben und nicht wieder aufgeführt worden.

Die stolze Tat des Stadtkapellmeisters von Orvieto in Ehren! Dennoch hat sich Maestro Sassaroli im Vollbewußtsein der schmählichen nationalen Verhältnisse entschlossen, nie und nirgends zu seinen Lebzeiten die Aufführung dieser Partitur zu gestatten. Die Richtlinien ihrer Belebung nach seinem Tode sind längst testamentarisch festgelegt.«

Verdi überflog all diese kranken Ausbrüche ohne jede Spur von Zorn und Erregung. Einzig Leid zog durch seinen Sinn, wie weit es mit einem Menschen kommen konnte. Ein besonderes Leid, weil seine unschuldige Existenz daran schuld war, daß ein Mensch, der vielleicht seine Kunst recht wohl verstand und auch zu schreiben wußte, in diesen Fieberzustand von Haß und Verfolgungswahn geraten war.

Eines noch fiel ihm auf: Er wurde in dieser Schmähschrift immer »Herr Verdi« genannt. Die polemischen Sitten bleiben sich lächerlich gleich. Überall und immer bedeutet das dem Namen vorausgesetzte »Herr« die allertiefste Verachtung.

Jetzt fiel sein Auge auf einen ganzen Rubrikentitel:

»Wahre Urteile der von Ricordi noch nicht bestochenen Presse über Herrn Verdi.«

Dieser Mann mußte ein gigantischer Zeitungsleser sein. Denn aus kleinsten Winkelblättchen, größten Zeitungen, Revuen, ausländischen Journalen, wo sich nur ein abfälliges Wort über den Maestro fand, wars herausgeklaubt und hier zusammengetragen. Gespreizte Klagen stammelnder Tintenkleckser aus dem Süden, daß er in den letzten Werken die italienische Manier mit der deutschen vertauscht habe; Vorwürfe über mangelnde Melodien-Erfindung im neubearbeiteten ›Boccanegra‹, Verweise über gesuchte Harmonik, Neuerungs-Ehrgeiz in demselben Werk usw.

Sein geübtes Auge las das alles, diese altgewohnten Weisen, ohne sie recht in sein Hirn bringen zu lassen. Jeder Einwand war längst schon in ihm selbst vom eigenen Geiste wie ein Messer geschliffen worden.

Nur einen der Auszüge, der aus dem Feuilleton einer großen norddeutschen Zeitung übersetzt war, las er genau. Vielleicht deshalb, weil der sympathische Spender dieser Blätter ihn Zeile für Zeile mit dem Lineal rot unterstrichen hatte: »E. Hanslick hat recht, wenn er Verdi eine vulgäre Natur nennt. In der neueren Theatergeschichte gibt es nichts Unbegründeteres als den Erfolg dieses Mannes.

Seine Sujets sind teils von babylonisch-dilettantischer Wirre (›Trovatore‹), teils von abgeschmackter Dirnen-Sentimentalität (›Traviata‹), teils von Hintertreppen-Dramatik (›Rigoletto‹). Und das sind noch die besseren. Denn wenn man an ›Ernani‹ oder ›Macht des Schicksals‹ denkt, wirds einem schwarz vor den Augen. Diese Ungeheuer werden aber von der Musik noch weit übertroffen. Die Melodien sind öde-symmetrisch, langweilig und gleichartig bis zur Erschlaffung. Ein kalt-erklügeltes Brio, eine rohe Vorhalttechnik, die man jeweils vorausberechnen kann, will ihnen auf die Beine helfen. Die schrecklichen Unisonochöre im Polonäsenrhythmus haben die einfältige und geschickte Absicht, die Nerven des Publikums aufzureizen. Über die Harmonie ist kein Wort zu verlieren, denn sie ist nicht vorhanden. Der Satz ist aber wie ein Pistonsolo. Die Instrumentation plärrt und drischt ihre prompt eintreffenden Blechdreiklänge mit unerträglicher Überraschungslosigkeit.

Rossini, Bellini, Donizetti hatten noch die Grandseigneurhaltung, zu der ja wie zum wirklichen Aristokraten die Banalität der Rede gehört. Verdi hat mit der Faust des Plebejers das Erbe zerschlagen. Er ist ein ganz gewöhnlicher Kohlweißling. Und das deutsche Publikum, das die Werke von Weber, Marschner, Spohr, die neuen Taten Richard Wagners unter den Tisch fallen läßt, läuft dauernd in diese Verdi-Opern und erhebt sie zu Stützen des Spielplans. Früher waren die Deutschen, und das mochte noch halbwegs verständlich sein, dem welschen Tand verfallen, jetzt aber wälzen sie sich im welschen Schmutz.«

Nach dieser Lektüre fühlte der Maestro eine Übelkeit im Zwerchfell, als hätte er einen furchtbar schweren Stein gehoben. Nun aber lag der Zentnerblock im Gehirn, und alle Säfte des Denkens versuchten vergeblich ihn aufzulösen:

›Wie ist das. Ich habe doch nie eine böse Absicht gehabt?! Mein Leben ist ja fast ungelebt, da ich nichts getan habe als Noten geschrieben. Noten, Noten zu jeder Stunde des Tages und der Nacht. Gräßliche Stunden meist, denn selten blitzt es, und alles andere ist Arbeit.

Und jetzt nach fünfzig Jahren Galeerendienstes muß ich das hinnehmen? Habe ich denn keine Ehre? Darf ich keine haben? Jeder Offizier, Kaufmann, Handwerker, Bauer, Arbeiter ist vom Gesetz geschützt. Wage es doch einer, ihn zu beleidigen! – Nur ich bin schutzlos. Jeder Hämling darf mich kränken bis ins Mark!‹

In starker Bewegung erhob sich der Maestro. Das häßliche Heft fiel zu Boden:

›Die Italiener werfen mir Deutschtum vor. Die Deutschen verwerfen mein Werk als italienischen Schund. Wo also bin ich zu Hause, wo ist meine Heimat?‹

Ihm fiel ein Wort ein, das er einmal in einem Buch zitiert gefunden hatte:

»Den Ghibellinen war ich Guelfe, den Guelfen aber Ghibelline!«

Nun rührte ihn mit großer Macht dieser Satz eines Einsamen und Verurteilten an. Sein Gesicht war alt und grau, als er die böse Schrift vom Boden aufhob.

Er las auf dem Umschlag:

»Die Auflage dieser Nummer beträgt zweihundert Exemplare.«

Zweihundert Leser also, zweihundert Sassaroli, zweihundert Haßverzerrte, zweihundert Rivalen! ... Und ich? Auch ich bin der Rivale eines anderen! ... Was wollen nur die Menschen voneinander! ... Was ist dieses Leid, dieses Irrsinnsleid, das sie sich bereiten? ... Es liegt ja nicht in der Natur ... Unsere Seele ist auf einem falschen Weg, einem schrecklichen Weg! ... Unser armes Ich! ... Wir mißhandeln es selbst ... Wir lassen es von anderen mißhandeln ... Oh falscher Weg!‹

Der Maestro erinnerte sich plötzlich, daß er wegen seines Halsleidens einmal längere Zeit nicht hatte rauchen dürfen, als er aber den Rauch einer Zigarre wieder im Munde spürte, entsetzt und angewidert von dem sonst doch so geliebten Tabak war:

›Es ist dasselbe! Unsere Freuden sind ein giftiges Narkotikum, und unsere Leiden sind es deshalb auch. Gift, Gift! Nur kennen wir nicht mehr den wahren Geschmack! Mein Gott, zu spät schon ist es zum Erwachen!‹

›Sassaroli? ...‹

Verdi legte die schmutziggelbe Broschüre vor sich auf den Tisch, damit er sie nur ja sehen müsse!

›Sassaroli, aber das ist doch dieser Sassaroli ...‹

Jetzt fiel ihm alles ein.

Obgleich es schon ziemlich spät geworden war, bereitete der Maestro die Arbeit vor. Der ›Lear‹ lag aufgeschlagen. Mit nüchterner Heldenhaftigkeit, die nichts mehr erhofft, nichts mehr für sich erstrebt, alle eigenen Verdienste längst von der Tafel gelöscht hat, kein Glück mehr vor sich sieht, sondern nur die letzte fruchtlose Pflicht, ging er ans Werk.

IV

Das Wort löst auf, entnervt und vernichtet.

Aus einem Brief Verdis, den C. Bragagnolo zitiert

 

Es ist heute, vierzig Jahre nach diesen Begebenheiten, wahrhaftig nicht leicht, sich Aufschluß über Leben und Wirken jenes Mannes zu verschaffen, der in so unangenehmer Weise den Maestro Verdi bei seinem geheimen Aufenthalt in Venedig auf Schritt und Tritt verfolgte und ihm das Revolverblättchen ›Der musikalische Alchimist‹ in die Hände gespielt hatte. Gäbe es einen Narren, ähnlich Gritti, der es sich zur Aufgabe machte, die Annalen der gesamten italienischen Opernproduktion im neunzehnten Jahrhundert zu restituieren, und wäre dieser Narr mit außergewöhnlicher Forscherkraft begabt, so würde in besagten Annalen der langbeinige Mensch mit dem fast zahnlosen Mund, Vincenzo Sassaroli, als Verfasser einer ein einziges Mal dargestellten und durchgefallenen Oper figurieren. Daß dieser Musiker außerdem eine opera buffa ›Santa Lucia‹, ferner ein Tantum-ergo und eine einmal aufgeführte Messe für Chor und großes Orchester komponiert hat, Pianist, Organist, Kontrapunktlehrer, Journalist und Pamphletist war, das zu wissen, kann man auch von diesem allwissenden Narren nicht verlangen.

In einem längst schon vergriffenen Buche ist Vincenzo Sassaroli dennoch auf die Nachwelt gekommen. Allerdings nicht, wie er in redlicher oder unredlicher Zuversicht verkündete, als posthumer Besieger Verdis, sondern als trauriger Nachtschmetterling des reinen Lichts. Dieses Buch, das den »Neffen und Lieblingsschüler des berühmten Mercadante« aufspießt, ist Arthur Pougins ›Leben und Werk G. Verdis‹.

In welchem Makulaturmagazin die wenigen Nummern des ›Musikalischen Alchimisten‹ oder der Kampfbroschüre ›Betrachtungen zum gegenwärtigen Stand der musikalischen Kunst Italiens, insonderheit mit Hinblick auf die künstlerische Bedeutung von Verdis "Aida" und "Messe"‹, wo dieses Papier heute modert, weiß niemand.

Nur Pougin bewahrt zwei Briefe Vincenzo Sassarolis auf, die den tragischen Höhepunkt dieses Lebens bedeuten.

Der erste dieser Briefe, an Tito Ricordi gerichtet, stellt im römischen Tugendton eines Gracchus an den Verleger die Forderung, er möge, nach Rücksprache mit Verdi, ihm, Sassaroli, das Recht erteilen, den unveränderten Text der ›Aida‹ neu zu komponieren. Nachdem er des weltberühmten Maestro ägyptische Festoper gelesen und gehört habe, sei er entschlossen, mit diesem ein Duell zu wagen. Von beiden Parteien solle ein Preisrichterkollegium von sechs Maestri gewählt werden, mit einem Siebenten an der Spitze, der von den sechs anderen zu bestimmen sei. Falle ihm nach Richterspruch der Preis zu, habe Ricordi für die neue ›Aida‹ ein Honorar von zwanzigtausend Franken zu zahlen, das schon bei Annahme des Wettkampfes in die Hände einer Vertrauensperson gelegt werden müsse. Lehne aber die Jury seine Partitur ab, so möge das Geld an den Deponenten zurückfallen. Da er aber durch die Arbeit an der ›Aida‹ seine übrigen Verdienstmöglichkeiten einbüßen werde, so fordere er von der Honorarsumme einen Vorschuß, der ihn der Sorge um das tägliche Brot enthebe.

»Wie Sie sehen«, schließt der Brief, »ist dies eine Herausforderung, die ich Verdi und Ihnen, seinem Verleger, zugehen lasse und bezüglich derer ich Ihrer baldigen Antwort entgegensehe. Die einzige Gefahr, der Sie sich bei diesem Kampf aussetzen, ist der Verlust des erwähnten Vorschusses, den ich Ihnen aber, sollten Sie es wünschen, noch immer sicherstellen lassen kann.

Ich andererseits werde sehen, ob Sie sich nach all diesen Vorschlägen die Gelegenheit werden entschlüpfen lassen, mich zu zerschmettern, ob Sie mich zum Schweigen bringen und fürderhin noch triumphieren können: Alle Zeitungstelegramme aus Kairo, Paris, Neapel, die Verdi als unbesiegbar preisen, sind von den Korrespondenten sämtlich freiwillig und ohne Beeinflussung unsererseits depeschiert worden.«

 

Der Verleger druckte diesen einzigartigen Brief in der humoristischen Rubrik seiner ›Gazzetta musicale‹, mit einer kurzen spaßhaften Glosse erläutert, wörtlich ab. Aber ist das die Art, einen verzweifelten Kämpfer zurückzuweisen? Eingeschrieben und expreß lag bald ein zweiter Brief auf dem Chef-Schreibtisch der mächtigen Firma.

»Genua, im Februar 1876

Sehr geehrter Herr!

Im humoristischen Glossarium Ihrer Gazzetta finde ich meinen Brief vom dritten Januar abgedruckt. In diesem Brief hatte ich Sie und Herrn Verdi herausgefordert. Diese Herausforderung hatte den Zweck, der Kunstwelt zu zeigen, daß seine Oper ›Aida‹ unvergleichlich besser hätte gemacht werden können.

Den Kampfruf erließ ich deshalb, weil ich sah, wie eine korrupte Presse diese ›Aida‹ nicht nur als das Meisterstück Verdis, sondern auch als unermeßlichen Fortschritt auf dem Wege der Kunst verkündete.

Ich, der die Kunst heute wie immer mit Liebe übt, der sie mit aller Kraft gegen Schädlinge verteidigt, wie hätte ich es ruhig ansehen können, daß man die Bewunderung von Künstlern und Kennern für ein Werk in Anspruch nahm, für das die Zensur mittelmäßig mir als durchaus nachsichtig erscheint.

Sie haben in meiner Herausforderung nichts als einen schlechten Witz gesehen und zu meinem Schaden den sehr ernsthaften Brief höhnisch veröffentlicht, um so die Lachlust Ihres Publikums zu bedienen.

Herr! Wenn es mir beliebt zu scherzen, wende ich mich an andere Figuren als Sie und Herrn Verdi. Im übrigen verstehe ich dann am allerwenigsten Spaß, wenn es sich darum handelt, der Korruption in der Kunst die Stirne zu bieten. – Die Art Ihres Vorgehens aber zeigt dennoch klar, wie sehr es mir gelungen ist, durch meinen Fehderuf Sie ernsthaft zu treffen.

Wollen Sie die Wahrheit wissen? Sie haben Furcht!

Furcht, weil es sich hier nicht um das Urteil eines vorher wohlbearbeiteten Publikums handelt.

Furcht, weil keine bezahlte Presse bei den von mir gestellten Bedingungen einen Druck auf das Preisrichterkollegium ausüben kann.

Furcht, weil es sich um das Urteil von Meistern handelt, die man weder mit langen Trompeten, noch mit Doppelbühnen, Negerknaben, Kriegswagen, Triumphochsen, Korrespondenten, Kairo, Khedive und Pharaonenzepter dumm machen kann.

Furcht, weil die gewählten Maestri vielleicht in ihrer Weisheit nach den unverrückbaren Gesetzen des Schönen urteilen könnten.

Furcht endlich, weil ein Künstler zur Diskussion gestellt würde, dessen Verdienst durch unermüdliche Reklame, Preß- und Verlagsintrige der Welt als unermeßlich aufgezwungen wird.

All diese Furcht wird noch dadurch verdoppelt, daß es ja nicht das erstemal wäre, daß die Musik Herrn Verdis den Vergleich mit der meinigen zu ertragen hätte. Und wehe ihr, wenn es dem Autor ›Aidas‹ nicht besser ergehen würde als früher.

Denn wahrlich, er ist nicht der einzige, der zwei Noten kombinieren kann, wie wohlhonorierte Herrschaften uns täglich weismachen möchten.

Wenn Herr Verdi, wie man sagt, mit seiner ›Aida‹ die Verschmelzung der deutschen und italienischen Schule vollzogen hat (worüber sich gewaltig streiten läßt), so muß ich doch hinzufügen, daß er beileibe nicht der erste ist, dem solches gelang. Denn im Jahre 1846, als Verdi sich noch wacker auf dem Gemeinplatz der Kabaletten tummelte (tut er heute etwas anderes?), hat mir auf Grund meiner sehr kontrapunktischen Partituren eine unbestochene Kritik dieses Lob begeistert erteilt. Tatsache ist, daß diese Partituren, die sich im Einlauf des Welthauses Ricordi befanden, von mir zurückgezogen wurden und der Öffentlichkeit vorenthalten bleiben.

Ist das alles ›humoristisch‹, Herr Tito Ricordi? Wenn es aber nicht humoristisch ist, so hüten Sie sich wohl, Dinge so zu heißen, die schwerwiegender sind, als Sie ahnen können.

Den Dummköpfen ist nun genug Sand in die Augen gestreut! Ihr unfehlbarer Verdi und Sie, sein allmächtiger Verleger, sind von einem Mann herausgefordert, der Ihnen gegenüber ohnmächtig ist. Sie haben mit Lachen geantwortet. Unwiderruflich zeigt mir diese Antwort, daß Sie Furcht haben!«

Sodann kam Sassaroli auf die Honorarforderung von zwanzigtausend Francs zu sprechen. Dies wäre, meinte er, für das Haus Ricordi nicht viel, das ja Werke, die längst den ewigen Todesschlaf schlafen, viel höher bezahlt habe. Mit dem bitteren Stolz des Ewigzurückgewiesenen fügte er hinzu:

»Ich habe diese Summe verlangt, weil ich Ihnen vor vier Jahren, im Oktober 1871, durch den berühmten Maestro Mazzucato eine opera semiseria gratis anbieten ließ und unter der einzigen Bedingung, daß Sie mir zur Aufführung dieses Werkes verhelfen sollten ... Sie haben großmütig Verzicht geleistet ... Ich konnte Ihnen daher meine neue Partitur nicht noch einmal gratis anbieten, weil ich befürchten mußte, Sie würden sie schon aus diesem Grunde wieder ablehnen. Und noch ein letztes Wort. Sie werden in bekannter Unparteilichkeit diesen meinen zweiten Brief ebenfalls abdrucken. Wenn Sie nicht wollen, daß ich laut den Vorwurf der Feigheit erhebe, tun Sie es nicht in der humoristischen Rubrik!«

Als dieser Brief trotz der Drohung im Glossarium der ›Gazzetta‹ erschien, war niemand damit mehr zufrieden als Vincenzo Sassaroli. Mit dieser Veröffentlichung hatte seine große Stunde geschlagen. Was keinem seiner Werke gelungen war, diese beiden Briefe hatten Erfolg, und nicht nur den ihres Humors.

Man muß bedenken, daß, anders als heute, in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts Italien noch immer von Maestri wimmelte. Ein Erbe der Vielstaaterei war es, daß jedes Dorf, jeder Flecken, jeder Stadtbezirk seine Notenschreiber hatte.

In früherer Zeit war die Erscheinung darin begründet, daß all die Musikverfertiger ihre Heimatorte mit Opern und Messen bedienen mußten. Diese noch im mittelalterlichen Städtewesen ruhende Einrichtung fiel allmählich, die partikularistischen Aufgaben verschwanden, und was übrigblieb, war ein enttäuschtes, lichtscheues, gehässiges Volk von Musikparias. Noch zur besten Zeit Rossinis fand jeder dieser Melodienmacher Leben und Auskommen, denn »der Schwan von Pesaro«, wie man ihn nannte, der Hausbesitzer von Bologna, Gourmet und Börsenspekulant von Paris, war ein Mann der königlichen Faulheit, das Genie der Unehrgeizigkeit selbst, hatte das Seine in fünfzehn Jahren geleistet, und sein Sonnenruhm schadete den armen Brüderchen in Apoll nicht nur nicht, sondern, wenn sie sich bloß recht bestrahlen ließen, half er ihnen sogar.

Welch ein angenehmer Kamerad war dieser boshafteste aller Feinschmecker, dieses lüsternste Lästermaul, dieser Weltbesieger Gioacchino Rossini?!

Ganz anders der Bauernlümmel, der Maestrino von Busseto, den niemand je hatte lachen sehen, denn so ehrgeizig war dieser blauäugige Satan!

Ihrer eigenen Gilde entsprossen, ja noch unterm Durchschnittsniveau beginnend, hatte er sie alle schon mit den ersten Opern erschreckt. Oh, wie sie ihn haßten, diesen Ernst, diese ganz unlateinische Trauer, diese aufstampfende Rauheit. Das war ein Fremder, er gehörte nicht zu ihnen, er mischte sich niemals unter sie, er war gemein, formlos, barock und hatte nichts gelernt. Trotzdem! Sie entgingen nicht dem Schicksal, das Verdi ihnen, den Söhnen des göttergleichen Rossini, bereitete.

Nach zwanzig Jahren waren ihrer die Besten verdrängt, nach dreißig waren sie alle ausgestrichen und nach vierzig herrschte der Bussetaner allein auf beiden Hälften des Globus. Überall schrien die Völker unter der Peitsche des ›Trovatore‹ wohlig auf. Meyerbeer und die ältere Oper begann zu versinken und nur die letzte Jugend der höheren Stände taumelte mondsüchtig den Ekstasen Wagners entgegen.

Die tausend Maestri saßen jahrzehntelang betäubt in ihren Kaffee- und Wirtshäusern. Diesem Manne konnte man durch nichts beikommen, er vergab sich nichts, keine zweifelhafte Anekdote, kein pikanter Skandal zog ihn herab, selbst die Revolution, zu der er seine unwiderstehlich-voranhetzenden Chöre und Märsche machte, betrieb er mit der menschlich unnahbaren Klugheit und Ruhe eines Cavour. Und dann: Er hatte das Publikum durch und durch verwandelt. Das Volk war für ihn.

Der Haß an allen Stammtischen wurde verschluckt, denn was half die Wichtigtuerei gegen diesen kalten Dämon, der sich nirgend zeigte, keines Freund, keines Feind war und niemanden je in sein Vertrauen zog. Am besten: Man schwieg.

Aber es kamen diese zehn Jahre, wo auch Verdi schwieg und nur ein einziges Mal die Unvorsichtigkeit beging, die unsichere Bearbeitung einer alten Partitur aufführen zu lassen. Der schwere Bann, der über den Zirkeln der gescheiterten Musikplebs lastete, begann sich zu heben.

Der Alte ist nun endgültig fertig!

Der zurückgedrängte Haß, die Rachsucht gegen den Maestro schwoll in dem Augenblick seiner Schwäche an, und wenn auch niemand einen wirklichen Angriff wagte, so trafen doch von überallher Eselstritte den scheintoten Löwen.

Dies war der psychologische Moment, in dem Sassaroli seinen Brief an Ricordi losließ, der als Statthalter des Maestro, Monopolträger und unbeschränkter Musikalien-König Italiens nicht minder verhaßt war.

Sassaroli hatte das getan, was niemand bisher gewagt hätte: In frecher Anschuldigung einem Helden Korruption, Erfolgsmache, Unfähigkeit vorgeworfen und ihn zum Kampf herausgefordert. So bizarr dies alles war, so sehr die Kollegen auch den Autor des ›Duca di York‹ für eine lächerliche Figur hielten, im gegebenen Augenblick war er um seines törichten Mutes willen ein gemachter Mann. In den Kaffeehäusern wurde der alte Querulant, von dem bisher nur in geduldiger Nachsicht Notiz genommen worden war, plötzlich als aufrechter Kämpfer begrüßt. Er konnte im Nu einen eigenen Stammtisch aufschlagen und selbst die Jugend, ironisch und arrogant wie immer, gab ihm die Ehre, da sie Verdi, das heißt die Autorität des Ruhmes und die Technik von gestern haßte. Das Wesen des alternden Menschen, dieses langen Schattens, den man immer nur mit der geduckten Rückenlinie des Hinausgeworfenen hatte vorbeischleichen sehen, schwoll an. Nun präsidierte er und konnte seiner Stimme nicht satt werden, wenn er nächtelang mit dem spitzfindigen Verdammungswillen eines Staatsanwaltes Verhandlungen gegen den niedrigen, talentlosen, doppelzüngigen Erzverbrecher Verdi abführte. Die lebensleeren Nachtvögel der Kaffeehäuser überließen sich gern dem leidenschaftlichen Redestrom, da Herabsetzung am besten die Zeit vertreibt und das bohrende Gefühl der eigenen Nichtigkeit angenehm beruhigt. Im Morgengrauen begleitete dann der unermüdliche Mann seine neuen Freunde nach Hause, einen nach dem andern. Keineswegs duldete er's, daß man ihn zu seiner Wohnung bringe. Er konnte es nicht ertragen, daß die Gesellschaft, nachdem er allein geblieben war, Urteil und Meinung über ihn tauschend, in der aufmerksamen Nacht noch weiter sich unterhielt. Mit dem letzten Mann mußte der letzte Einwand, die letzte Möglichkeit des Durchschautwerdens in den Schlaf geschickt sein. Nur wenn das letzte Haustor sich geschlossen hatte, konnte er frei und angstlos an die eigene Ruhe denken.

Aber solche Erfolge, wie die Sassarolis, die von Druckerschwärze und Schadenfreude stammen, wollen immer wieder erneuert werden. – Seine große Zeit währte nur zwei Nummern der ›Gazzetta musicale‹ lang und schon bei der dritten hatte ihn sein Schicksal erreicht. Der Verleger Ricordi druckte nämlich die neu heranflutenden Tugendbriefe des Lieblingsschülers von Mercadante nicht mehr ab.

Der Untergang Sassarolis begann.

Die Geste des Ruhmbekämpfers, Preßfeindes, Korruptionstöters war allzusehr vom Gifte der Ich-Krankheit durchsetzt, als daß sie jemand anderem als ein paar Knaben hätte wahr erscheinen können. In zwei Monaten war der Haß Sassarolis, der ja kein wirksames Kriegsmittel war, den anderen Maestri und ihrem Anhang langweilig geworden.

Auch fehlte ihm weiter die Tribüne, die ihm das lachende Überlegenheitsgefühl des bekämpften Verlegers gewährt hatte. Sassaroli schrieb, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren, eine Broschüre gegen Verdi und fand auch einen Verlag, der sich von der Sensation einen Erfolg versprach. Das Büchlein schloß mit dem antiken Satz:

»Ich bin in die Arena hinabgestiegen und warte!«

Das war aber selbst den Neidischesten und Mißratensten zu dumm. Von den tausend Exemplaren der Broschüre wurden nur achtunddreißig verkauft. Sassaroli mußte sich vor Gram fiebernd zu Bette legen. Nach drei Wochen stand er als ein Halbverrückter auf.

Seine Erscheinung hatte sich außerordentlich verändert, die letzten Haare und Zähne waren ihm ausgefallen, der Mund krümmte sich im Widerwillen abwärts wie bei Magenkranken, die vor ihrem eigenen Innern Abscheu empfinden. Er hielt auf der Straße kreischende Selbstgespräche, stolperte stets über die eigenen langen Beine, fuchtelte mit den Fäusten zum Himmel, verwechselte die Gesichter und fand oft die eigene Wohnung nicht. Niemand wollte mehr mit ihm sprechen. Seine früheren Genossen übersiedelten von Lokal zu Lokal, um ihn loszuwerden, seine Schüler gaben die Stunden auf, weil der Mann ihnen unheimlich wurde. Er fing in jedem Sinne zu verarmen an.

Nur in seinen Augen lebte der Rest geistiger Hoheit, der ihm geblieben war, ein irres eingekerkertes Leben.

Von allen Sterblichen am meisten ist der Querulant dem Teufel verfallen, seine blinde zudringliche Stirn, seine schlaffen Wangen tragen immer und überall das Satansmal, das die Teufelsbeschwörer des Mittelalters sehr wohl gekannt haben. Haß und Kränkung trugen Sassarolis Natur wie ein Haus ab. Aber da der Haß eine Verneinung, also keine Wirklichkeit ist, bleibt er immer von geheimer Bejahung, von verborgenen Liebesströmen abhängig. Nachdem nämlich Vincenzo Sassaroli von seiner Krankheit genesen war, blieb sein nun gänzlich vereinsamtes Wesen an den Gegenstand des furchtbaren Hasses, an Verdis Person gebunden.

Er begann in Genua den Maestro abzupassen, patrouillierte stundenlang vor seinen Fenstern im Palazzo Doria und folgte auf zwanzig Schritt dem einsamen Spaziergänger, der die Straße mit dem Blick übers Meer vor allem liebte. Der Versonnenheit und Träumerei Verdis hatte er es zu danken, daß er trotz Selbstgespräch und Armeschwingen noch nicht bemerkt worden war.

Dabei brannte sein ganzes Wesen darauf (wenn er auch nicht wußte, wie es geschehen könnte), von dem ruhmgekrönten Feinde bemerkt zu werden. All seine Gedanken, jeder Atemzug, jede Bewegung, jeder Traum, selbst der Schlaf hießen: Verdi!

Mit den letzten Franken seines Kapitals hatte Sassaroli einige Jahre nach den berühmten Briefen an Ricordi den ›Musikalischen Alchimisten‹ gegründet. Außer einigen ehrgeizbesessenen Knaben, denen jede Hinrichtung eines berühmten Namens schmeichelt, las niemand das gelbliche Heft. Obwohl nicht mehr als zwanzig Exemplare von jeder Nummer (drei gab es bisher) abgesetzt worden waren, hatte der Herausgeber eine höhere Auflageziffer der Zeitschrift vorangedruckt.

Dieser ›Alchimist‹ in seiner unfruchtbaren Öde fraß Sassarolis ganze Zeit. Mit Entsetzen fühlte er in klaren Momenten, wenn er seine Musik aus dem Kasten zog oder das verstaubte Piano öffnete, wohin ihn sein Haß verschlagen hatte.

War er nicht ein Musiker? War er denn zum Tintensudler und Schwätzer geboren? Oh, wenn nur einmal, ehe es zu spät ist, seine Musik sprechen dürfte! Alles, alles würde sich dann ändern! Und er hatte – daran zweifelte er von Tag zu Tag weniger – Schätze von hinreißender Neuheit, kühnster Handschrift, sternhafter Größe in seiner Lade. Das war ihm so klar bewußt, daß er gar nicht daran dachte, den Wert dieser Schätze nachzuprüfen. Hatte er sich oder die Welt zur Rechenschaft zu ziehen? Waren seine Noten nicht dazu verdammt, stumm zu bleiben, weil ein Intrigant und Presseknecht es so befahl? Konnte es einen anderen Grund geben? Durfte er je so schwach werden, einen anderen Grund für das Mißgeschick seiner Kunst anzuerkennen?

Keine Angst! Was den unerschütterlichen Glauben an den Wert seiner Werke anbelangt, war Sassaroli durchaus verschieden von dem Opfer seines Hasses. Für ihn stand ihre Unvergleichlichkeit fest. Nie hatte auch nur das leiseste Mißtrauen ihm eine Stunde vergällt. Die Welt trug die Schuld, er war im Recht und darum Ankläger und Richter. Ich bin in die Arena hinabgestiegen und warte.

Und immer wieder lauerte er vor dem Tor des Palastes der Doria. Immer wieder schluckte er Flüche, Herzklopfen, Mordgedanken hinunter, wenn in seinem dunkelbraunen Rock, den großen Hut auf dem grauväterlichen Schädel, der Maestro aus dem Haus trat und mit gütig-verkniffenem Blick in die Sonne blinzelte.

Eines Morgens, als er hinter seinem Opfer den Bahnhof betrat, drängte er sich dicht an Verdi an den Schalter. Der Maestro löste ein Billett erster Klasse über Mailand nach Venedig.

Sassaroli lief nach Hause, zog die allerletzten Louisdors seines Muttererbes aus der Lade, packte seine ungepflegten Sachen in die räudige Ledertasche, legte ein paar Hefte des ›Alchimisten‹ dazu und reiste mit dem nächsten Personenzug in einem Coupé dritter Klasse nach Venedig. Begeisterte Hoffnung erfüllte ihn. Er ahnte, daß der Feind eine schwache Stellung bezogen hatte.

V

Mit dem fast übersinnlichen Instinkt seiner Feindschaft machte Sassaroli binnen wenigen Tagen die Wohnung des Maestro in Venedig ausfindig. Derselbe Instinkt hatte ihm ja gesagt, daß Verdi eine Zeit der Trübung erlebe, schutzloser als in Genua, und daß hier einzig der Ort sei, den Verhaßten endlich, endlich zu stellen.

Gaßauf und -ab, durch die Sottoportici, über die Brücklein, Kirchplätze, Märkte, überallhin lief er erregt hinter dem Maestro und hatte sogar den Mut gefunden, ihm ein einziges Mal eine halbe Sekunde lang in die erstaunten Augen zu sehen. Es war klar, er mußte mit ihm sprechen, ihm die ganze Last seines Fluches entgegenschleudern, um dann leicht und erlöst zu sein.

Gewisse Umstände stärkten den Mut Sassarolis.

Hier in Venedig hatte er alte Freunde vorgefunden: Einen früheren Schüler, der Organist einer kleinen Kirche war, und irgendeinen verspießerten Zeitgenossen seiner Jugend. Diesen beiden galt er noch, sie sahen in ihm den Musiker hoher Art, und als er ihnen gar den ›Alchimisten‹ überreichte, wurde er als Schriftsteller und kühner Draufgänger bewundert. Die Verehrung dieser mäßigen Geister machte ihn vollends närrisch. Trotzdem verriet er aus Aberglauben nichts von seinen unklaren Absichten. Wie eine zertretene Pflanze aber begann er sich aufzurichten, seine Wangen bekamen Farbe, er faßte sogar den Entschluß, seinen entstellten Mund durch ein falsches Gebiß zu verschönern, das heißt, wenn all die Riesenhonorare, mit denen er nun sicher rechnen konnte, eingetroffen sein würden. Wofür und woher Bezahlung kommen sollte, wußte er zwar nicht, aber in seinem finstersten Gefühl machte er die glückliche Zukunft von seiner Aussprache mit Verdi abhängig.

Er wollte vor ihm stehn, in seiner ganzen Länge ihn überragen, mit einem Blick seiner Augen den alten Erfolgsjäger vernichten. Vor ihm knien sollte dieser Nichtskönner, Pressesklave und Verlagssöldner, knien vor ihm, weinen, um Gnade betteln, die Hände ringen! Denn er kannte Geheimnisse, daß die Menschheit erschauern würde. Schrieb denn dieser Herr Verdi seine Opern selbst? Lebte nicht im Land, in einer verschollenen Diözese ein armer Pfarrer, der mehr verstand als das Messelesen. Es galt nur, mit Ausdauer und Geschick den wahren Schöpfer der Verdischen Musik namhaft zu machen.

Tag und Nacht träumte Sassaroli von der großen Begegnung mit dem Feinde, und stündlich wuchs seine Kühnheit.

 

Der Maestro Verdi hatte diesmal gut geschlafen und erwachte mit gestähltem, lebenshungrigem Gefühl des ganzen Körpers. Als wenn in dieser Morgenstunde alle Pein vergessen wäre, kleidete er sich heiter an. Dann trank er seine Tasse schwarzen Kaffees. Mehr pflegte er am Vormittag nicht zu sich zu nehmen.

Sogleich nach diesem Frühstück setzte er sich an den Schreibtisch. Da lag vor ihm der ›Alchimist‹, dieser niederträchtige Unrat. Der Maestro ließ ihn, wie er lag, liegen. Vielleicht tat er das, um sich noch mehr gegen den Lebensschmutz abzuhärten. Inzwischen war ihm die Geschichte mit den ›Aida‹-Briefen Sassarolis eingefallen. Er kannte sie in keiner andern Form als jeder Leser der ›Gazzetta musicale‹. Ricordi hatte, ohne ihn mit dieser Posse zu behelligen, auf eigene Faust gehandelt. Er besah jetzt noch einmal bei Tageslicht das gelb-armselige Titelblatt.

Da wurde plötzlich das Druckbild des Namens zum lebendigen Bild einer Person, und vor dem Auge des Maestro stand die lange Erscheinung, wie sie vor dem Tor des Hotels gestern die Luft mit Händen würgte. Dies war Sassaroli. Keinen Augenblick mehr zweifelte Verdi. Und zugleich auch wußte er, daß dieser Mann es selbst gewesen, der die Schmähschrift seinem Diener zugesteckt hatte. Und mit dem innersten Sinn wußte der Maestro noch mehr: ›Der Freche wird hierherkommen, bald, in ein oder zwei Stunden, und ich werde ihn empfangen. Warum? Ich lerne vielleicht etwas für meinen Schurken Edmund.‹

Dann machte er sich in seltsamer Kampflust an die ›Lear‹-Arbeit.

 

Unterdessen strich Sassaroli schon längere Zeit um das Haus. Zu schnell, allzuschnell flogen ihm die Sekunden und bald mußte die Stunde des Zweikampfes schlagen. Er hatte keine Angst. Nur lange wollte er die erregte Spannung genießen. Er sah, ohne etwas zu sehn, auf der Landungsbrücke den Vaporetti zu und den kleinen Seglern von Chioggia, wie sie beladen wurden, er setzte sich auf eine halbe Stunde in die nächste Bar, dann kaufte er eine Zeitung, die er aber nicht zu lesen vermochte. Obwohl er seines Sieges sicher war, überraschte er sich dabei, daß seine Hände wie zwei gänzlich fremde Körper auf der Marmorplatte des Tischchens zitterten.

Dunkel spürte er, daß ganz Italien starren Auges dieser großen Stunde der entlarvten Wahrheit entgegenstaune. Jedenfalls schien es ihm gut zu sein, daß er einen Revolver zu sich gesteckt hatte. Er war zu allem entschlossen.

 

Maestro Verdi hatte in dieser Stunde das erstemal seit langer Zeit gute Arbeit gehabt. Die kleine Szene des teufelsbesessenen Pilgers gewann entschieden an Gestalt. Heute war ein kurzes Andantino entstanden, das in dichtbewegter Vierstimmigkeit die Tonleiter abwärts sich drängte und dabei seltsam dumpfe Harmonien bildete.

Es war gewiß keine Inspiration darin, aber die Hand schien wieder brauchbar zu werden. Vielleicht war es doch gut, daß er diesen verteufelten Ausflug nach Venedig gemacht hatte.

Der Maestro unterbrach die Arbeit, denn er hörte seinen Diener kommen. Ehe aber Beppo noch den Mund aufgetan hatte, wußte Verdi schon, daß sich Vincenzo Sassaroli anmelden ließ.

Der Mann stand im Zimmer. Der Maestro blickte ihm mit seinen ruhigen blauen Augen, die immer etwas übers Ziel hinaus sahen, ins Gesicht und wartete auf einen Gruß.

Sassaroli spürte sofort, daß er vergessen hatte, mit der Wirkung zu rechnen, die von der gewichtigen Gegenwart seines Gegners ausging. Einen Augenblick lang fühlte er sich von der nachlässig gestrafften Gestalt Verdis und von diesem ruhmbedeckten Haupt gebeugt. Da ärgerte er sich und konnte nicht verhindern, daß seine Unterlippe herabsank und der ungepflegte zahnlose Mund weit klaffte, was ihm als ein erster schwerer Nachteil erschien.

Verdi wartete noch immer. Mit Erstaunen sah er, wie die Augen dieses Menschen sich mit einem unbeschreiblich gemischten Ausdruck füllten: Bettelei, Frechheit, Hohn, zwinkernde Vertraulichkeit, Mut, hinterhältiges Mehrwissen, und all das als einheitliche Miene.

Trotz seinem Abscheu konnte der Maestro ein Mitleid mit dem kranken alten Aussehen des Besuchers nicht verwinden. Er unterbrach gegen seine eigentliche Absicht das Schweigen mit freundlicher Stimme:

»Setzen Sie sich, Maestro Sassaroli!«

Was? Verdi, der tödlich Gehaßte, nannte ihn »Maestro«, welch süßer Titel ihm schon seit langem nicht mehr zuteil geworden war! Und nun aus diesem, aus diesem Mund! Der liebende Gegenstrom, den jeder Haß bedingt, wallte in Sassarolis Herzen empor. Gehorsam und ziemlich schüchtern ließ er sich am Schreibtisch nieder. Mit einem Blick sah er die noch feuchte Notenskizze in der bekannten wilden Schrift des Maestro. Er fühlte sein bestes Argument hinschmelzen. Aber es hieß sich rasch fassen! Gewiß war es die Schrift Verdis. Aber wer sagt denn, daß er die Partitur des Landpfarrers nicht in seiner eigenen Schrift zum Druck gibt. Das fordert ja schon die Vorsicht. Mit einem kleinen engkehligen Lachen bestätigte Sassaroli diesen seinen Einfall und zwang sich sofort, daran zu glauben.

In seiner behaglich-kräftigen Haltung stand der Maestro vor dem Sitzenden, der, sich zur Pein, emporblicken mußte.

Im Gespräch mit seinen Gegnern, zu denen Verdi Theaterdirektoren, Verleger, Sänger, Pächter und Advokaten rechnete, pflegte er immer zu stehn, während der andere sitzen mußte. Es war dies eine unbeabsichtigte Kriegslist der Überlegenheit. Der Maestro ertrug es nicht, daß sein Haupt in gleicher Höhe mit diesen Partnern stand.

»Was führt Sie zu mir, Maestro Sassaroli?«

»Ich ...«

Der Besucher begann zu stammeln. Der Verfluchte hatte ihn eingeschüchtert.

»Sie haben mir, Maestro Sassaroli, hier dieses Ding zukommen lassen! Sie sind doch der Herausgeber, nicht wahr?«

»Warum fragen Sie?«

»Nun, ich dachte, Sie seien Komponist?«

»Ich bin Komponist! Ich bin Komponist!«

Der Sitzende kratzte mit den Fingern den Sessel und stampfte auf. Der Stehende sprach ruhig und ohne besondere Betonung:

»Dann ist aber diese Art abscheulicher Schriftstellerei eines wahren Musikers unwürdig.«

»Sie, Sie, Sie reden von Unwürdigkeit?«

Sassaroli, der endlich Gelegenheit fand, seine Befangenheit durch einen Wutausbruch loszuwerden, sprang auf und krähte:

»Ich werde mir durch keinen Mächtigen den Mund verbinden lassen. Ich werde die Wahrheit ans Licht bringen. Ihnen vor allem werde ich die Maske vom Gesicht reißen. Dazu wird meine abscheuliche Schriftstellerei würdig genug sein. Ich will den Augiasstall der Musik reinigen.«

Verdi wurde immer freundlicher:

»Und was werfen Sie mir vor, Maestro Sassaroli?«

»Sie haben vom ersten Augenblick an die Presse bestochen. Schon Ihr ›Nabucco‹ war ein gemachter Erfolg. Ihr reicher Schwiegervater Barezzi, den Sie sich wohl ausgesucht haben, hat zu all Ihren Wühlereien das Geld hergegeben. Sie haben Tag und Nacht mit Kritikern gezecht, mit Ihren Preisforderungen andere Maestri unterboten, sich überall vorgedrängt, jahrelang den Impresario Merelli mit einer Mauer abgeschlossen, fremde Partituren wegintrigiert, die Operngewaltigen von Paris hartnäckig belagert und auf diese vornehme Art sich Ihren sogenannten Weltruhm erschlichen. Und das ist wahrlich nicht alles. Aber es lebt ein Rächer und vielleicht nicht nur ein Rächer ...«

Sassaroli mußte seine knatternde Anklage unterbrechen, um eine Flut von Speichel, die in dicken Fäden ihm von den Lippen hing, zurückzuschlürfen. Außerordentlich höflich übersah der Maestro diesen komischen Unfall seines Verfolgers. Er wartete sogar eine Weile mit seiner Antwort:

»Ein Teil dieser Beschuldigungen ist mir ja seit gestern abends, da ich dieses Heft hier las, bekannt. Darf ich Sie fragen, Maestro Sassaroli, wie es mit Ihren Beweisen steht?«

»Geduld, mein Herr, die meisten der Beweise sind in meiner Hand, schöne Beweise, ausgezeichnete Beweise! Ich warte nur, bis das Mosaik dieser Beweise vollkommen sein wird!«

»Dann allerdings ist es sehr unvorsichtig von Ihnen, mich durch Ihren Besuch zu warnen.«

»Die Warnung wird Ihnen nichts helfen. Ach! Wie wohl tut es mir, Ihnen, Glückskind, einmal die Wahrheit sagen zu können.«

»Es ist nicht die ganze Wahrheit. Denn ein Motiv Ihres Zornes enthalten Sie mir vor.«

»Sie schreiben Ihre Werke nicht selber!!«

»Oh, Maestro Sassaroli, ich werde Ihnen nicht zutrauen, daß Sie seinerzeit einen Plagiator in die Arena gefordert haben.«

»Der Beweis wird kommen!«

»Mag sein! Aber in Ihrem ›Alchimisten‹ ist von einer Tatsache außerordentlich viel die Rede, von der Sie zu schweigen belieben. Sie werfen mir dort auf jeder Seite vor, daß ich durch meine Intrigen Ihnen die Bühnen versperre!«

»Ah! Nur durch Intrigen, nicht etwa durch den Wert Ihrer Werke, versperren Sie meinen Opern den Weg. Durch Gewalt, durch Hinterlist, durch die Praktiken der Herren Ricordi, Ihrer Musikverschleißer. Sie haben Angst vor meinem sicheren Erfolg.«

»Und wenn ich keine Note Ihrer Musik kenne?«

»Mein Herr Verdi, man weiß, wer der Lieblingsschüler Saverio Mercadantes ist!«

»Hm! Und Sie glauben, daß meine außerkünstlerische Macht dazu hinreicht, Ihre Karriere verhindert zu haben?«

»An nichts anderes als an diese Macht glaube ich.«

»Wenn ich Ihnen so mächtig scheine, warum haben Sie nicht versucht, diese Macht zum Heil Ihrer Opern zu verwenden?«

»Was bedeutet das?«

»Warum, statt mich zu hassen und anzugreifen, sind Sie nicht zu mir gekommen und haben gesagt: Maestro Verdi! Helfen Sie mir!«

»Sie, Sie bitten?!«

Auf dem Gesichte Verdis zeigte sich eine ernsthafte Erwägung.

»Da meine Musik schuld daran ist, daß die Ihre nicht ihr Publikum findet, könnte es mich fast reizen, die Aufführung einer Ihrer Partituren durchzusetzen.«

Sassaroli starrte wortlos. Er verstand noch nicht die Wendung der Dinge. Der Maestro machte einige Schritte, als ob er weiter mit sich zu Rate ginge:

»Schließlich habe ich mir durch die Taten eines langen Lebens das Recht erworben, die gute Oper eines begabten Komponisten an die Mailänder Scala zu empfehlen.«

 

Als Sassaroli das Wort »Scala« hörte, durchfuhr ein Frostfieber seine Knochen. Scala: Das letzte, höchste Ziel jedes Melodrams. Scala: Die einzige weltgültige Quelle musikalischen Ruhms nächst der Pariser Opéra. Die Welt des Zimmers und die Welt vor dem Fenster schwankte in stürmischer Schiffahrt. Wie ein im rasenden Saus mit allen Bremsen zum Stehen gebrachter Blitzzug bäumte sich in jedem Nerv die Querulantennatur. Ein überlegener Geist hatte unmerklich die Situation nach seinem Willen gemeistert. Alles Unwirkliche, Überhitzte, Kranke muß nun vergehen. Unerbittlich wird sich die Wahrheit des andern entblößen. Der Gutsbesitzer von Sant Agata, Mann schwieriger Verträge, weitsichtiger Entwürfe, hielt mit dem ersten Griff sein Opfer in den Fängen:

»Nun, Maestro Sassaroli, haben Sie eine neue Oper?«

Der Winkelkomponist gab keine Antwort. Der Maestro war höflich nach wie vor:

»Wollen Sie nicht jetzt wieder Platz nehmen?«

Ohne Widerstand sank der Mann in die gewünschte Lage der Ergebenheit. Der Maestro trat näher:

»Wie ich aus diesem gedruckten Zeug da weiß, haben Sie eine Oper, Maestro Sassaroli, die der Aufführung wartet.«

Sassaroli hatte sich gefaßt. Er sandte zu dem Stehenden einen dunklen Blick asketischer Verachtung empor:

»Ich habe nicht nur eine, ich habe viele Opern, die so eigenartig sind, daß ihr Schicksal verständlich ist. Im übrigen habe ich mich entschlossen, sie der Welt von heute nicht auszusetzen. Ich habe die Aufführung untersagt.«

»Dann ist diese Frage ja erledigt!«

Der Maestro riß mit einem Ruck seine Gedanken ab. Körperlich spiegelte sich dieser Vorgang, den Sassaroli leidenschaftlich verfolgte. Jetzt fragte er, ohne das Wort recht herauszubekommen:

»Erledigt? Was?«

»Ich hätte mich unter gewissen Bedingungen vielleicht für Sie eingesetzt.«

»Ein-ge-setzt?«

»Ja! Dafür eingesetzt, daß man an der Scala, wenn möglich, Ihr letztes Bühnenwerk inszeniert.«

 

Das Haupt Sassarolis fiel in merkwürdiger Art auf seine linke Schulter. Der Mund preßte sich fest zusammen. Ein Ausdruck von leidender Schwärmerei spielte über das Gesicht, der den Maestro mit mehr Grauen erfüllte als aller Haß vorhin. Unnachsichtig mußte die Sache zu Ende geführt werden. Mit der letzten Klarheit seines betörten Sinnes fühlte Sassaroli plötzlich Gefahr und flüsterte:

»Blague!«

»Nein! Ich schwöre es, unter gewissen Bedingungen hätte ich Ihnen geholfen. Der Grund dafür ist nebensächlich. Sie haben es nicht gewollt! Gut!«

Sassarolis Hände fuhren an den Hals. Er schrie kurz:

»Nein!«

Dann aber flehte eine unbekannte Kinderstimme aus seinem verwüsteten Mund:

»Helfen Sie mir, Maestro Verdi!«

»Wie soll ich Ihnen helfen, da Sie mich in Wort und Schrift einen Halunken heißen, da Sie Beweise haben, die Sie gegen mich gebrauchen können, wann Sie wollen!«

Der Kopf Sassarolis sank vornüber. Er dachte nichts als »Scala«. Seine Seele keuchte wie ein halbtotes Pferd, das noch einmal angetrieben wird.

»Sehen Sie, Maestro Sassaroli, wohin törichter Haß und Teufelei einen Menschen führen kann? Sie hätten das alles leichter haben können. Jetzt müssen wir beide miteinander einen Vertrag schließen. Hier auf meine Visitenkarte schreibe ich einige Worte. Sie öffnen Ihnen nicht nur die unzugänglichen Bureaus der Scala, sondern sichern Ihrer Partitur dazu das wohlwollendste, genaueste Studium durch Kapellmeister, Dramaturg und Impresa. Wenn nur fünfzig Takte für Ihre Musik sprechen, ist sie angenommen. Sehen Sie! Ich lege diese Visitenkarte zwischen uns hierher auf den Tisch!«

Sassarolis Hände zitterten, als er das Papier von entscheidendem Werte sah.

Verdi machte eine Pause, ehe er mit scharfer Betonung fortsetzte:

»Merken Sie gut auf, Maestro Sassaroli! Jetzt kommt Ihre Gegenleistung. Sind Sie bereit, die gemeinen Anschuldigungen, die Sie gegen mich erhoben haben, zu widerrufen?«

Der Feind, durch das Zauberwort »Scala« vollkommen entkräftet, fing zu stammeln an.

Kalt betrachtete ihn der Maestro:

»Nun?«

»Ich will alles tun, was der Wahrheit entspricht.«

Verdis freundlich-gedämpfte Stimme war auf einmal sehr laut geworden!

»Ich schwöre Ihnen, daß ich Sie zu nichts anderem zwingen werde als zur Wahrheit! Schreiben Sie!«

Sassaroli, den Blick immer auf die Visitenkarte gerichtet, schluchzte auf. Verdi rückte ihm ein Stück Papier vor und gab ihm eine Feder in die Hand:

»Schreiben Sie!«

Um neuer Ruhmeshoffnung willen war der Mensch zu allem entschlossen. Dies war stärker als aller Haß. Der Maestro diktierte. Widerspenstige Schriftzüge malend, gehorchte Sassaroli:

»Ich erklärte hiemit, daß alle Beschuldigungen, Anwürfe, Herabsetzungen, die ich in meinen Worten und Schriften gegen den Maestro Verdi erhoben habe, frei erfundene, niederträchtige Lügen sind, zu denen mich kein realer Anlaß, sondern Neid, Haß und Rachsucht verführt haben.«

»Unterschreiben Sie, bitte, dieses Papier, wie ich das meinige unterschrieben habe.«

›Scala‹, dachte der Bedrängte, zuckte plötzlich zusammen, schob die Papiere weg und stand langsam auf. Verdi verfolgte seine Bewegungen mit aufmerksamen Augen, die hell wurden und scharf eingestellt sich einer lang erwarteten Gefahr männlich zu freuen schienen. Der große Sassaroli überragte den Maestro gewaltig. Er schien immer weiter zu wachsen, die Decke berühren zu wollen. Langsam griff er in seine Tasche. Verdis Augen lockten. Der Lange klappte aber zusammen, fiel auf den Sessel, grinste blöde und unterschrieb die Erklärung.

Verdi ließ nach diesem Geschehnis schweigend und regungslos einige Sekunden verstreichen, dann nahm er das Blatt und die Visitenkarte, zerriß beide vollständig und warf die Fetzen in den Papierkorb.

Sassaroli fuhr empor.

Ohne zu zucken, kalten Gesichts, stand der starke andere vor ihm:

» Herr Sassaroli, habe ich Ihnen nun bewiesen, daß Sie bestechlicher sind als die angebliche Korruption, der Ihre Wichtigtuerei gilt?«

Gegen diese Stimme, die gar nicht sehr laut wurde, war nichts zu machen. Sassaroli stand wie ein degradierter Soldat. Die Stimme ließ nicht von ihm:

»Ich habe Sie, ehe Sie kamen, für einen verleumderischen Schurken gehalten. Hätten Sie einen Revolver auf mich gerichtet, wären Sie wenigstens ein männlicher Schurke gewesen und ich hätte Ihnen trotzdem geholfen. Sie sind aber nur ein subalterner, elender, charakterloser Schwächling. Ihre Eitelkeit ist Ihr Mißerfolg. Gehn Sie!«

Sassaroli hatte nur einen Wunsch, dem Orte seiner Niederlage, dem schrecklichen Gesicht seines Feindes zu entrinnen, um in gesicherter Ferne neue, wirksamere Rachepläne schmieden zu können. Er wollte zur Tür. Ein Blick riß ihn zurück.

»Herr! Ich nehme die Menschen verdammt ernst. Ich spiele nicht mit den Menschen, Herr! Ich habe Sie mit meinem Antrag, Ihren Opern den Weg zu ebnen, sehr schnell aus Ihrem lächerlichen Geleise geworfen. Das war eine Bosheit von mir, auf die ich ebensowenig stolz sein muß wie Sie auf die Bereitschaft, in die Falle zu gehn. Ein Schriftstück bekommen Sie von mir nicht in die Hand. Reichen Sie Ihre Partitur der Scala ein und melden Sie sich beim Kapellmeister Franco Faccio! Er wird von mir beauftragt werden, Ihre Musik allersorgfältigst zu prüfen. – Beppo, Beppo! Begleite den Herrn hinunter.«

Als Sassaroli nach unwillkürlicher Bittstellerverbeugung verschwunden war, setzte sich Verdi müde und von grenzenlosem Mißmut verstört an den Tisch. Die Tatsache, daß die Menschen sich aneinander messen, um Glück, Talent, Größe, Ruhm, Geld hündisch beneiden, war entwürdigend bis zum Äußersten. Nein, er wird Richard Wagner keinen Besuch machen.

Sogleich aber schrieb er folgenden Brief an den ersten Kapellmeister des Teatro alla Scala:

 

»Mein lieber Franco Faccio!

Ein Maestro Vincenzo Sassaroli wird Dir seine Oper einreichen. Ich bitte Dich: Lies sie um meinetwillen mit der allergrößten Aufmerksamkeit. Dieser Komponist behauptet nämlich, daß ich, beziehungsweise meine Musik, daran schuld ist, daß er es selbst zu nichts gebracht hat. Alles ist in dieser absurdesten aller Welten möglich.

Aber höre: Ich will nicht, daß auch nur ein Wesen durch mich Schaden leidet oder zu leiden glaubt. Darum prüfe diese Oper, als wäre sie von Dir selbst oder von mir.

Ich bitte Dich um Nachsicht in dieser Angelegenheit, bis du meine ständige Adresse erfahren wirst.

In Eile! Addio, addio!
Dein G. V.«

 

Diesen Brief warf der Maestro selbst in den Kasten. Dann machte er sich auf, seinen todkranken Freund Vigna zu besuchen.

 

Sassaroli reiste noch am selben Tag nach Genua zurück. Der Besuch bei Verdi hatte ihn so sehr zerstört, daß er es sogar vermied, seine beiden Freunde, den Organisten und den Spießbürger, noch einmal zu sehn.

Ihn marterte das Dilemma, ob er der Güte des Maestro gehorchen und seine Partitur der Scala anbieten, oder seinen Haß erneuern und noch haltbarer aufbauen solle. Wie dieser innere Kampf geendet hat, ob der ›Musikalische Alchimist‹ mit seinen unsinnigen Wutausbrüchen fortgesetzt worden ist, das kann heute niemand mehr entscheiden.

Am besten wird man einen Ausgleich zwischen Ehrgeiz und Haß in der Brust des alten Musikers vermuten dürfen. Er wird sowohl die Partitur eingereicht als auch den wüsten Kampf weiterbetrieben haben. Viel Mühe hat es ihn gewiß nicht gekostet, die Niederlage im Hotelzimmer Verdis zu seinen eigenen Gunsten zu deuten. Glück und Schmutz auf der einen, Armut und Reinheit auf der andern Seite. Gegen den Schmutz kann die Reinheit natürlich nicht aufkommen. Das Gleichgewicht ist wiederhergestellt. Und schon hat die gekränkte Reinheit vergessen, daß sie nach dem erstbesten schmutzigen Glückszipfel griff, der sich ihr bot. Ach, es ist sehr traurig, daß nichts in der Welt einen Sassaroli dazu zwingen kann, zu wissen, wer er ist.

Wenn man die Jahres-Cartellini der Scala in Mailand vom Jahre 1883 bis 1900 durchsieht, ist eine Oper von Vincenzo Sassaroli weder im Verzeichnis der Aufführung noch auch in dem der Annahmen zu finden.

VI

Das Befinden Dott. Cesare Vignas hatte sich insoweit verschlimmert, als das Interesse des Kranken an seinem eigenen Leben, an Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft vollkommen dahingeschwunden war. So wurde der Besuch des Maestro nicht wie sonst als Auszeichnung empfangen. Die weltferne egoistische Gleichgültigkeit des Krankenzimmers umnebelte Verdi mit ihren Arzeneigerüchen der Auflösung noch peinigender als das erstemal.

Er war froh, daß er nicht allein am Bette des gelb-abgemagerten Freundes sitzen mußte, der ohne Brille, ohne Haare in seinem Nachthemdchen daliegend, den erbarmungswürdigen Eindruck von etwas Entlarvtem und erschreckend Nacktem machte. So klein, so eingeschmolzen sehen nach der Vorstellung die abgeschminkten Sänger in der Garderobe aus, die sich noch knapp vorher mit lodernden Perücken, brokatenen Überwürfen auf mächtigen Absätzen in falscher Größe und falschem Licht gespreizt haben.

Doktor Carvagno machte eben seinen Besuch bei dem Kranken. Es war ein ausreichender Beweis für die Vorzüge dieses Arztes, daß nicht nur Marchese Andrea Gritti, dessen Beruf (nicht Trieb) das Leben war, seinen Beistand suchte, sondern auch die eigenen Kollegen ihn riefen, wenn es schlimm um sie stand.

Carvagno war das Gegenteil jener Herren, die man als ärztliches Handbuch aufschlagen kann, um darin für jede Krankheit den einschlägigen Artikel zu finden.

Gänzlich ohne Voraussetzung, Bezweifler alles Gedruckten, aller zusammengetragenen Erfahrung, hatte er nichts als einen mächtigen Glauben an seine intuitive, von keinem Papier-Vertrauen gebeugte Kraft.

Jeder Fall war ihm eine eigene, mit nichts anderm vergleichbare Welt, und in dieser Welt kämpfte er wie ein Entdecker, ein Urwaldforscher gegen die Listen und Schliche der Verwesung. – Mit selig geschlossenen Augen überließen sich die Kranken dieser Kraft, denn sie fühlten, aus dem breit über sie gebeugten Leib des Arztes strömte vollatmendes Leben in ihre eigene hüstelnde Existenz über. Sie vertrauten sich sogar widerstandslos seinen immer überraschenden, oft gewagten Versuchen an und liebten ihn trotz der kühlen Unpersönlichkeit, mit der er sie behandelte.

Das war ein Mann, wie er dem Maestro gefallen mußte, der Menschen liebte, die sich wild einer Sache entgegenwarfen und nicht Ruhe vor Beendigung des Kampfes fanden. Der sympathische Strom schloß sich sogleich, nicht zuletzt deshalb weil Carvagno, als er Verdis Namen und sein Antlitz erkannte, drollig erstaunte und außer sich geriet.

Wie unerbittlich auch der Maestro alle Regungen der Eitelkeit in sich niederkämpfte, ganz unabhängig von den Wohlgefühlen einer starken Wirkung war er nicht.

Als die beiden Herren den Kranken verlassen hatten und nun die Treppe hinabstiegen, fragte der Maestro den Arzt, was seine Meinung über Vignas Schicksal sei. Ganz im Gegensatz zu den Magiern seines Standes wurde Carvagno aufrichtig verlegen.

»Verehrtester Signor Maestro! Ihnen muß ich es ja gewiß nicht erst sagen, daß unsere Prophezeiungen zumeist leerer Schwindel sind. Mir sind schon Leute aus der Agonie aufgewacht. Nur Esel glauben nicht an Wunder. In meiner Praxis sind Wunder das Alltägliche. Das einzig Dumme bei Vigna ist: Er will mir nicht mehr helfen. Und wenn der Patient sich mit seiner Krankheit gegen den eigenen Lebenswillen zu verschwören beginnt, wirds gefährlich. Zu allem gehört Talent, auch zum Kranksein. Ich habe nur einen wahrhaft genialen Patienten, und der ist ein Hundertjähriger!«

»Marchese Gritti?«

»Ja, Gritti! Er ist ein Koloß, ein Prometheus des Patiententums.«

Die beiden traten auf die Gasse. Sehr freundlich wendete sich der Maestro zu dem Arzt:

»Wohin führt Sie Ihr Weg, Doktor Carvagno?«

»Krankenbesuche! Doch wenn ich es mir erlauben darf und Sie nicht störe, begleitete ich Sie, Signor Maestro Verdi! Ein solches Glück erlebe ich nicht wieder.«

»Das nehme ich keineswegs an. Ihre Kranken warten. Ich bin jetzt nur ein Müßiggänger. Wenn es Ihnen recht ist, gehe ich mit Ihnen.«

Als der bescheidene Carvagno diese Ehre abzuwehren versuchte, zerstreute der Maestro all seine Bedenken:

»Oh, es ist für mich eine Art Abenteuer, Sie zu begleiten!«

 

Von dem Bezirk der inneren Stadt, wo sie das Haus Vignas verlassen hatten, gingen die Herren über lange Zeilen und kurzgebogene Brücken dem Nord-Osten zu, und zwar in der Richtung auf die neuen Fondamente. Der Maestro hielt die Hände auf dem Rücken und schritt ein wenig voraus, das heißt, Carvagno ließ einen kleinen Abstand der Ehrfurcht zwischen sich und dem verehrten Mann. Sein Gefühl wollte es so.

Alle Menschen, mit denen er ein Gespräch führte, liebte der Maestro nach den Geheimnissen ihres Berufes auszuholen. Immer war der Trieb zu lernen in ihm, und durch überraschende und scharfsinnige Fragen verstand er es, die Leute zu eingehenden Darstellungen ihres Handwerks aufzumuntern. Niemals aber fing er von sich selbst zu sprechen an.

Carvagno benützte eine Pause der Unterhaltung, das Thema zu wechseln:

»Wir Ärzte alle leiden an einer mehr oder weniger unglücklichen Liebe zur Musik. So habe ich denn eine Frage auf dem Herzen, Maestro!«

»Bitte! Auch ich war, was Ihre Kunst betrifft, neugierig.«

»Vielleicht ist es Ihnen bekannt, daß die Herbststagione von La Fenice die ›Traviata‹ aufgeführt hat. Ich habe diese beseligende Musik nach langer Zeit wieder gehört, und es sind mir dabei einige Gedanken gekommen, die ich gerne aussprechen würde. Höchstwahrscheinlich aber sind sie sehr dumm und werden Sie langweilen.«

»Nur Mut!«

»Sie haben, Signor Maestro, in Ihren Dramen fast durchwegs ein und denselben Frauentypus dargestellt. Die Liebende, die vom Manne aufgeopfert wird, oder sich selbst für ihn aufopfert. Ist es nicht so?«

»Das ist mir noch nie eingefallen. Ich muß darüber nachdenken.«

»Erlauben Sie, daß ich einige Beispiele nenne: Gilda, die Verführte, die freiwillig den Dolchstoß empfängt, der ihrem Verführer zugedacht ist. Violetta, die auf die große reine Liebe ihres flatterhaften Lebens verzichten muß, damit ein Bürgersöhnchen nicht anrüchig werde, und die diesen Verzicht nicht überleben kann. Leonore im ›Trovatore‹, die Selbstmord verübt, um den Geliebten zu retten. Luisa Miller, die dem Standesvorurteil zum Opfer fällt, Aida, die schon gerettet, dennoch das Felsengrab des Radames teilt.«

»Für diese Frauen stimmt, was Sie sagen.«

»Im Weibe stellen Sie, Signor Maestro, das Phänomen des Opfers und Leidens dar. Und diesem Phänomen werden die erschütterndsten Melodien gesungen.

– Wie anders sieht doch jener berühmte Bizet das Weib! Als gnadenlose, als teuflische Naturkraft!«

Mit seinen blauen, etwas weitsichtigen Augen blickte der Maestro den Arzt an:

»Kennen Sie Paris?«

»Nein!«

»Nur von Paris aus kann man ›Carmen‹ ganz verstehen. Als ich – es ist nun schon eine Ewigkeit her – das erstemal auf dem Pflaster dieser liebens- und hassenswürdigsten aller Städte stand, konnte ich eine unheimliche Empfindung nicht loswerden, denn der Boden unter mir zitterte. Es schien mir, als wären diese schönen Avenuen und Boulevards von riesigen Maschinenräumen unterkellert, in denen die Treibriemen Tag und Nacht arbeiteten. Das war natürlich nur eine nervöse Einbildung. Aber ich erkannte bald, daß etwas Wahres dahintersteckt. Paris, ganz Frankreich arbeitet mit Vollkraft. Aber wofür? Nur für die Frau, nur für das Weib! – Hekatomben von Modewaren, Kleidern, Hüten, Schuhen, im Frühjahr geboren, im Herbst verwelkt wie die Blumen, werden dem Weib dargebracht. Bedenken Sie nur all die Nebenindustrien, die zur Konfektion gehören, die Fabriken, die all die hundert Schönheits-Artikel herstellen, die Galanteriewaren, diesen überflüssigsten Zweig der Wirtschaft. Ja, alle Manneskraft und -arbeit von Paris scheint ins Boudoir zu münden. Carmen, in Verkleidung spanisch-wüster Naturwüchsigkeit, ist dieses Paris, das den Mann aussaugt und ihn herunterbringt. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehn?«

»Es scheint mir sehr wahr zu sein, was Sie hier sagen, Signor Maestro!«

»Wir Italiener sind, Gott sei Dank, noch nicht so weit. Das barbarische Blut unserer Mischung hilft uns. Wir wollen noch Kinder bekommen. Das gallische Weib macht Verzweiflungsversuche, die zeugungsträge Rasse durch pikante Reizmittel zu retten. Dies ist ihr männermordender Luxus, mit dem sie sich zugleich am Manne für seine Unfruchtbarkeit rächt und für seine dekadente Unlust, eine größere Familie zu ernähren. Jeder Krieg ist für Frankreich ein Schicksalsschlag, der nicht wieder gutzumachen ist. Sehen Sie: Bei uns in Italien gibt es noch immer Eltern, die fünfzehn und mehr Kinder haben. Ich selbst kenne in meiner Gegend mehrere solcher Riesenfamilien. Mögen die Fremden nur auf uns schimpfen, uns verlotterte, kulturlose Erben nennen! Der Norden ist augenblicklich in Mode. Wir aber stehen am Anfang. Solange noch ein Volk in seinen Frauen die Mütter will, muß es nicht absterben.«

»Und Ihre Frauengestalten, Maestro?«

»Wenn man im Weibe nicht nur die Lustbringerin sieht, sondern das von den Wehen hingestreckte, wimmernde Menschenwesen, dann wird man dieses Gefühl von Verehrung, Schüchternheit, Mitleid nicht los, das man als Knabe so gut gekannt hat. Vielleicht habe ich aus diesem Gefühl zu den unglücklichen Mädchenfiguren gegriffen, die in den erwähnten Opern dargestellt werden. Dies ist natürlich nur Vermutung, denn ich habe mir nie Gedanken über solche Fragen gemacht.«

Carvagno sagte langsam:

»Mitleid mit der Frau! Ja, das ist das Wort für Ihre Musik, Maestro. Mitleid mit der Frau!«

Eine Sekunde lang blieb Verdi stehen und horchte mit seltsam gesenktem Haupt. Dann nahm er den Weg wieder auf:

»Ich will Ihnen eine kleine Begebenheit aus meiner ersten Jugend erzählen, Doktor Carvagno!

Ich war damals vierzehn Jahre alt und obgleich ich mich schon Organist unserer Dorfkirche nannte, mußte ich meinem Vater im Geschäft helfen. In unserem Kramladen wurden nicht nur Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände des Alltags verkauft, sondern auch die wenigen allergebräuchlichsten Arzneien, von denen die Bauern in ihrer Einfalt sich Hilfe versprechen. Alle vierzehn Tage erschien bei uns eine höchst erheiternde Figur, auf die ich mich die ganze Zeit immer schon freute. Das war Betteloni, der wandernde Dorfbader, der bei uns seine Vorräte an harmlosen Mittelchen aufzufrischen pflegte. Betteloni war noch Quacksalber und Marktschreier alten Stils, wie aus jener so köstlichen komischen Oper vom ›Liebestrank‹ von der Bühne geholt ... Oh, wie volkstümlich gut und wahr ist dieses Stück, wie Unrecht tut die moderne Welt diesem unglücklichen Donizetti! ... Betteloni, der ein Maulheld, Witzbold, Lügner ohnegleichen war, eine Zigeunererscheinung wochentags, welcher der ländliche Pharisäer nicht recht traute, verwandelte sich sonntags in einen würdig-wohlgekleideten Künstler. Er blies nämlich in einer der Dorfkapellen ( banda di campagna), die ein Segen des alten Italiens waren, begeistert die Posaune. Da ich damals in diesen ›philharmonischen Gesellschaftern‹ schon meine ersten Märsche aufführen ließ, hatte ich die Sympathie des Tinkturenmischers und Musikers gewonnen. Wenn er zu uns kam, bat er stets meinen Vater, daß ich ihn auf seinem Streifzug begleiten dürfe, und ich bekam auch manchmal für einen halben oder ganzen Tag Urlaub. Das waren für mich wahre Feste, wenn ich neben oder auf seinem Eselwagen durch die Ortschaften zog, und er auf dem Hauptplatz die Leute um sich versammelte, Gelehrter, Schauspieler, Politiker, Stratege, Journalist, Propagandist, Imitator, Wetterprophet und Satiriker in einer Person.

Meist wurde er von den Angehörigen in die Wohnungen der Kranken gebeten, setzte sein todernstes Berufsgesicht und die schwarze Hornbrille des Buffone auf, winkte den Parteien, voranzugehen und mir, wie einem für Kost, Quartier und Lohn gehaltenen Famulus, ihm zu folgen.

Einmal kamen wir in ein Haus, wo mir befohlen wurde, im Vorraum zu warten und den Wagen mit dem Eselchen vor dem Tor im Auge zu behalten. Ehe die anderen aber noch im Nebenzimmer verschwunden waren, schrillten so gräßlich-unnatürliche Schreie einer Frauenstimme durch die Luft, daß mir das Herz stehen blieb, wie niemals nachher im Leben mehr. Diese Schreie vermehrten, verstärkten sich zu einem heulenden Schmerzensgesang, als der Bader da drinnen seine Kur begann ...«

Der Maestro, den das Reden während des Gehens anzustrengen begann, schwieg einen Augenblick und holte Atem:

»Ich weiß heute noch nicht, wie ich diese Stunde überstand, diese leidzerfetzte Menschenstimme, die nicht heiser und müde wurde, ertragen konnte. Nein, ich übertreibe nicht. Jetzt, in dieser Sekunde, hab ich die Stimme im Ohr ...

Ich kleiner Bursche betete, machte Gelübde, damit Gott nur Gnade haben möge und diese Qual beende. Ich weiß nicht, ob die Schreie aufgehört hatten, ich war ganz schweißbedeckt, schlaff, als Betteloni mit mir fortging und sich im nächsten Brunnenwasser die Hände wusch.

›Das war schwer, mein Junge‹, sagte er. ›Siehst du, so kommen Kinder auf die Welt. Die armen Weiber!‹

Wochenlang nach diesem Erlebnis war ich verstört, das Essen ekelte mich an, ich hatte schauerliche Träume. Meine Mutter war ganz außer sich, denn sie sah, daß ich binnen kurzer Zeit zum Schwindsüchtigen abmagerte. Mein Herz hatte einen ungeheuren Stoß erlitten, die Kindheit, die ruhige Träumerei war dahin. Ich konnte damit nicht fertig werden. Meine armen schwachen Gedanken fieberten, um diese langen Schreie aus dem Hirn zu treiben! Vergeblich! Das schmerzhafte Lebenswunder blieb wie eine Krankheit darin.

Ich schwor mir zu, daß ich niemals diesen Mord begehen wolle, eine Frau zu berühren, daß ich Mönch werden würde, ... Gott weiß, was ich noch alles schwor.

Es war nicht einfach und hat manches Jahr gedauert, bis ich die Erinnerung an diese Schreie überwunden hatte.

So, lieber Doktor Carvagno, jetzt habe ich Ihnen eine lange Geschichte erzählt. Sie wird mir aber nicht grundlos eingefallen sein. Nein! Eine ›Carmen‹ hätte ich niemals komponieren wollen. Ich sage damit nichts gegen diese Oper. Ein Urteil kommt mir nicht zu. Das Ganze war nur ein Versuch, auf Ihre schwierige Frage zu antworten. Mit Musik hat es freilich wenig zu tun ... Welche Wichtigkeit, weil es ein paar kalte, gewinnsüchtige Dirnen gibt. Und die Millionen, Millionen Weiber, die so oft im Leben diese grauenvollen Schreie ausstoßen?! Was müßten wir Männer um unserer Schuld willen ihnen nicht alles verzeihen!«

Nachdem der Maestro geendet hatte, blieb Carvagno, als ob er zuviel denken müßte, noch einen größeren Raum hinter dem ruhig Vorwärtsschreitenden zurück. Beide schwiegen lange Zeit. Endlich sah Verdi leicht über die Schulter:

»Aber, lieber Doktor, Sie müssen führen. Sonst bringe ich Sie, was ich längst schon fürchte, von Ihrem Weg ab.«

Carvagno blieb stehn:

»Ich bin unglücklich, Signor Maestro. Aber hier bin ich am Ziel!«

Verdi sah auf. Dies war ein ziemlich öder Stadtteil, der nur durch die Enge der Gasse verriet, daß er zu Venedig gehörte. Kalt-sparsame, nicht alte, aber bis in die letzten Winkel zu Wohnungen ausgenützte Häuser.

Vor einer der Türen stand eine gutgekleidete junge Frau mit einem auffällig blonden Kind und schien zu warten. Als die Frau den Arzt erkannte, wurde ihr Gesicht sehr fröhlich, sie wollte sofort auf ihn zueilen, erschrak aber, da sie den fremden Herrn bemerkte, und blieb stehen. Carvagno winkte ihr freundschaftlich. Dann sagte er:

»Patienten von mir! Das heißt der Mann! Deutsche! Er ist übrigens Musiker. In dem soll sich der Teufel auskennen.«

»Das Kind ist sehr schön.«

Der Maestro, wie jeder andere, war gebannt von dem reizenden Gesicht des kleinen Hans. Überdies erfüllte ihn der Anblick von Kindern so oft mit einer liebevollen Melancholie, er wußte selbst nicht warum. Er mußte den Kleinen immer ansehen. Carvagno bestätigte:

»Auch ich habe niemals einen schöneren Knaben gesehen. Schwierige Leute übrigens, die in Not geraten sind und es sich nicht anmerken lassen.«

»Gehen Sie, lieber Doktor, an Ihre Arbeit. Zu lange schon halte ich Sie auf.«

»Ich mache mir schwere Vorwürfe darüber, daß Sie, Signor Maestro, jetzt unbegleitet einen so langen Weg werden machen müssen.«

»Einsame Spaziergänge sind mir Lust und Gewohnheit.«

Der Arzt verabschiedete sich mit einer ehrfürchtigen Freundlichkeit, die den Maestro, ebenso wie das ganze Wesen des neuen Bekannten, angenehm berührte. Während er ihm noch stark die Hand drückte, bat er:

»Sie dürfen niemandem sagen, daß ich hier bin, daß Sie mich gesprochen haben. Das würde für mich eine Folge von Unbequemlichkeiten hervorrufen. Sie versprechen es mir, Doktor Carvagno!«

»Sie haben befohlen, Signor Maestro!«

Der Arzt begrüßte die Frau, streichelte die Wangen des Kindes und alle drei verschwanden nach einer Weile im gleichgültigen Haus.

Der Maestro, die Hände auf dem Rücken, weiten Blicks die herrlichen Augen vorwärts richtend, kehrte um und machte vielleicht zwanzig Schritte.

Dann blieb er stehen, als könne er eine geheime Lust nicht mehr bezwingen, und wandte den Kopf zurück.

Aber das blondlockige Kind war schon fort.


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