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Drittes Kapitel

›König Lear‹ im Koffer

I

Bianca Carvagno war vor einigen Wochen zweiunddreißig Jahre alt geworden. Sie stand demnach in dem Alter, wo vom Weibe die letzte Verschleierung des Mädchenreizes abfällt und die Frau, sie selbst geworden, die zweite und eigentliche Schönheit erlebt! Nichts an ihr neigte zum Abstieg. Wenn sie in den Spiegel sah, erfaßte sie nicht dieser Schreck der Frauen, die morgens nach der Auflösung des Schlafes entdecken, daß hier und dort schon eine Linie sich abwärts verzogen hat. Dennoch sah sie oft voll Mißtrauen in den Spiegel, und fuhr, als wäre sie böse und müßte etwas vertuschen, mit der Puderquaste resolut über die Wangen.

Das Unruhegefühl, das sie quälte, kam daher, daß, obgleich sie selbst jung und auf ihrer Höhe, Italo doch um so viele, um unersetzliche Jahre jünger war. Konnte er denn ihre Schönheit verstehn? War diese Schönheit für seinen eigenen schmalen, leichtsinnigen Körper nicht zu laut, zu erblüht, zu menschlich-sonnenhaft?

Wie es bei derartigen Beziehungen zu sein pflegt. Die Frau trug allein die Last der Gefahren, Sorgen, Ängste des täglichen Glücksspiels.

Die Menschen, ob Mann oder Frau, sind in der ersten Hälfte der Zwanzig voll überheblicher Grausamkeit gegen alle, die älter sind als sie selbst. Sie empfinden die Jugend als Auszeichnung und Verdienst. Dies ist eine Parallele zum Hochmut jenes hundertjährigen Gritti, der um seines Alters willen Anbetung forderte. – Auch Italo, voll jener stolzen Einbildung, sich jung zu wissen, hielt es für selbstverständlich, daß Bianca, die um neun Jahre ältere, klügere, lebenserfahrenere, alles allein auf ihren Schultern zu tragen habe. Seine Rolle war es einzig, zu beglücken, täglich und nächtlich aus der Herzenstiefe des Weibes den Jubelruf des Lebens zu wecken, und die Gefahren, die Abenteuer, die ihm begegnen sollten, männlich zu bestehen. Er dachte an nichts und sein Gemüt war noch frei.

Je freier aber der Geliebte sich fühlte, um so mehr litt Bianca. Bergschwer war dieses Schicksal. Sie durfte seiner sich gar nicht bewußt werden, sonst wäre sie zusammengebrochen, sie mußte sich selbst in einer hochgespannten Stimmung halten, damit sie die Verwirrungen ertrüge. Wenn Italo da war, bei ihr war, flog die erlöste Stunde über den Abgrund, ohne hineinzublicken. War er aber fort, so würgte sie die Zukunft, der sie nicht entweichen konnte.

Carvagno schien kein Mann des Mißtrauens zu sein.

In den letzten Jahren war sein Ruf nicht nur als praktischer Arzt, sondern auch als Primarius und klinischer Organisator ungemein gewachsen. Die ersten Universitäten des Landes boten ihm Stellungen an. Er lehnte ab, weil er nicht allzufrüh durch ein allzu würdevolles Amt seine Tatkraft binden wollte. Dieser Tätigkeitsheißhunger nahm allerdings schon die Form einer krankhaften Leidenschaft an. Der Privatmann Carvagno war untergegangen. Bianca fiel es sehr leicht, ihn zu betrügen. Sie haßte ihn nicht. Er wurde nur immer fremder, unbegreiflicher, rückte von Tag zu Tag weiter fort mit seinem ewigen Spitalskittel, seiner hastigen Verlorenheit und der bitteren Berufs-Ironie aller Arzte.

Um so schrecklicher die Hand, die sie gepackt hielt! Bianca war seit einigen Monaten schwanger. Zum erstenmal, denn sie hatte bisher noch kein Kind gehabt.

Niemals bewirkt die Schwangerschaft nach den ersten Monaten ein solches Glück, wie bei Frauen um das dreißigste Jahr. Der bewußtere Körper, die klarere Naturseele genießt das innere Blühen, wie es der wissende Geist des Erdsterns, wenns ihn gibt, zur Zeit des Frühlings genießen muß. Auch Bianca genoß dumpf dieses Sprießen und Treiben jeder Zelle. Aber was war dies gegen die Angst, gegen den Höllenschreck, mit dem sie allmorgens erwachte, und sich immer wieder fragen mußte, von wem dieses Kind sei, dessen Blut in ihr so rasch, so erregt klopfte.

All diese Gründe, besonders aber die Leichtigkeit, mit der Italo die furchtbare Verantwortung ahnungslos trug, flossen zusammen, um sie bis zum Irrsinn eifersüchtig zu machen. Italo verstand ebensowenig wie seine eigene Verantwortung Biancas Eifersucht. Zu jung, um einer Leidenschaft wirklich zu erliegen, waren ihm die Menschen, Geliebte, Vater, Freunde, nur Anlaß, zu leben, Zärtlichkeit, Haß und Spannung zu empfinden. Die Schwerkraft, die jeden beugt, der einmal ins Auge der Wahrheit geblickt hat, seiner war sie noch nicht Herrin geworden. So einzig erklärt es sich, daß in der Zeit schwersten persönlichen Erlebens Italo von einer anderen Seite sich mächtig binden ließ.

Durch den Maler Wolkow, der seinerseits mit Joukowsky befreundet, in die Nähe Wagners gezogen wurde, war Italo dem Meister eines Tages vorgestellt worden. Unauslöschlich blieb dieser Tag in seine Erinnerung gebannt, die Heiterkeit, Güte Wagners, sein weiser Witz.

Reife Menschen, Menschen von eigener Triebkraft haben sich der zaubrischen Lebendigkeit Richard Wagners nicht entziehen können. Man denke an Peter Cornelius, der immer wieder aus der »schwülen Atmosphäre dieses Menschen« floh, um ihr von neuem zu verfallen. Und ein Knabe, dessen Bewußtsein von verwirrenden unerledigten Trieben vollgesogen war, er sollte nicht erliegen?

Wagner – dies sein Geheimnis – wirkte nicht nur als der große Mensch, der er war, als der immer überraschend zupackende Geist, als der in jeder Sekunde gesteigerte und durchtönte Künstler, über diese Gaben hinaus wirkte er, man kann es nicht anders nennen, als Weib! Wie von einem Weibe höchster Art, das trotz leidvollsten Erlebnissen doch niemals eine Niederlage, einen Mißerfolg, eine Einbuße erlebt hatte, ging von ihm ungebrochen erotische Strahlung aus, jener hochgespannte Strom der Anziehung und Abstoßung, der alle Formen von unglücklicher Liebe erzeugt. Je älter er wurde, je mehr seiner sicher, je mehr die unerträgliche Notwendigkeit von ihm abfiel, sein Auge auf andere richten zu müssen, die mächtiger, gleichgültiger waren als er, und die er noch nicht unterworfen hatte, – um so reiner strömte aus ihm die bezaubernde Kraft. In diesen Tagen gar schien es, daß das herrliche Weib seines Wesens am sichersten regierte, und es ist mehr als ein Zufall, daß er zur Zeit an einer Schrift arbeitete, die den Titel trug: ›Über das Weibliche im Menschen.‹

Seit Monaten tat Italo nichts anderes, als die deutsche Sprache studieren oder in den Klavierauszügen von ›Tristan‹ und ›Walküre‹ schwelgen. Wenn er vom Klavier aufstand, hatte er einen benommenen Kopf, zerschlagene Glieder wie nach ausschweifender Liebesnacht, und seine Augen waren trübe umrändert.

Wie anders wirkte doch auf seinen Vater eine Verdische Melodie. Er mußte sie nur vor sich hinpfeifen, damit ihm die Augen hell wurden und irgendein unternehmender kriegerischer Geist durch seinen Körper fuhr.

Italo war durch seine Leidenschaft für Wagner, ohne daß er sich es selbst eingestand, in den letzten Wochen lauer gegen Bianca geworden! Hatte er früher jeden möglichen Augenblick dazu verwandt, bei ihr zu sein, so verbrachte er seine Nachmittage jetzt auf der Piazza. Wagner pflegte nämlich sehr oft in eines der Cafés einzutreten. Noch heute gibt im Café Lavena eine Gedenktafel Kunde davon, daß hier der Meister plaudernd, meditierend, ja arbeitend manche Stunde verbracht hatte.

Erregten Herzens wie ein schüchterner Bursche, der an einer Straßenecke patrouilliert, um einen Augenblick lang die Erscheinung der vorüberwandelnden Angebeteten erleben zu dürfen, durchquerte Italo wohl hundertmal den Platz. Und wenn das Glück ihm lachte und Wagner langsam, verlorenen Gesichts und heftig mit sich selber sprechend in das Kaffeehaus ging, folgte ihm Italo von ferne und trat nach einigen Minuten, wie zufällig, ein. Er tat, als wisse er nichts, erkannte den Meister plötzlich, riß den Hut vom Kopf, wurde tiefrot, verbeugte sich übermäßig und schlich zu einem Tisch, der nicht allzuweit entfernt war.

Manchmal rief dann Wagner den hübschen Jungen zu sich, auf dessen Gesicht jetzt keine Spur koketten Selbstbewußtseins mehr zu finden war. Italo wurde dies und jenes gefragt. Er versuchte deutsch Rede zu stehn, war aber in schwerer Bannung einsilbig, wenn auch aus jedem Blick Verehrungsflammen schlugen. Mit freundlichem Kopfnicken wurde er entlassen und schlich erschöpft vor Glück und Qual davon. Richard Wagner hatte eine Schwäche für das italienische Temperament. Nichts schmeichelte dem Opernmeister so sehr, wie die tiefe Wirkung, die seine Schöpfungen bei der Elite dieser musikalischen Urrasse zur Zeit immer stärker übten.

Es war selbstverständlich, daß alle Eifersucht Biancas sich auf Wagner konzentrierte.

Eines Morgens – es waren mehr als zwei Wochen seit dem historischen Konzert in La Fenice und dem kurzen Aufenthalt Maestro Giuseppe Verdis in Venedig vergangen – saß Italo bei seiner Geliebten. Bianca hatte sich ausgestreckt. Sie fühlte sich heute nicht wohl. Italo hielt die Hand der Frau und zitterte mit den Knien, wie er es immer tat, wenn er ungeduldig war.

»Heute nachmittag ist er bis vier Uhr hier. Dann muß er zu einer Kommission. Du wirst bei mir sein, mein Italo! Wirst du's?«

»Heute nachmittag?«

Italo sagte das vor sich hin und schaute zum Fenster. In Biancas Augen blitzte es auf. Sie schwieg. Er zog ihre Hand an sich:

»Heute nachmittag? Gewiß! Um vier Uhr werde ich hier sein. Ich passe ihn unten ab. Dann bleibe ich ...«

»Dann bleibst du, dann bleibst du!!«

»Ja, ich kann dann drei Viertelstunden bleiben. Um fünf Uhr habe ich leider diese verfluchte Verabredung wegen des Quartettspiels ...«

»Ah, wegen des Quartetts?!«

Bianca war sehr gelassen, schaute gleichgültig drein, um ihn zu täuschen. Glücklich, daß er der Szene vielleicht doch entrinnen könne, nahm Italo die Sache sehr eifrig auf:

»Ja, wir probieren bei Corteccia. Der Prätendent, weißt du, hat uns eingeladen, am nächsten Sonntag zu spielen. Wir machen ein sehr interessantes Programm.«

Italo verstummte, denn Bianca hatte sich erhoben und sah ihn ruhig, ernst an.

»Was ist dir? Was hast du? Meine Süße, meine Bianca?«

Sie sah ihn weiter reg- und wortlos an.

»Bianchina!« Er wollte sie küssen. Mit Widerwillen wich sie aus.

»Aber was habe ich dir denn getan, Bianchina?«

Sie sagte nur: »Quartett!«

Und dann brach er los, dieser fassungslose hysterische Lachkrampf, den er so gut kannte und mehr fürchtete als alles auf der Welt: »Geh nur zu deinem Quartett! Du schwacher, schwacher Lügner! Geh zu deinem Wagner, zu diesem Alten, in den du vernarrt bist, mit dem du mich betrügst, du eitler, diebischer, böser Laffe!«

In Schluchzen schlug das Lachen um. Italo beteuerte:

»Bianca, Bianchina! Ich schwöre, ich belüge dich nicht. Es ist nicht Wagner, zu dem ich will. Das Quartett ...«

»Geh zu deinem Wagner, zu deinem Wagner ...«

Sie ließ sich nicht beirren:

»Betrüge mich nur!«

»Aber Bianchina! Wie soll ich dich mit einem Mann, einem alten Mann betrügen? Was für ein Wahnsinn?! Dies ist doch etwas ganz anderes, etwas Geistiges, worüber du nicht böse sein kannst.«

Das letzte Wort brachte sie nun ganz von Sinnen:

»Etwas Geistiges? Ah! Du mit deinem Geist!! Wie hast du mich zugerichtet! Aber geh nur! Komm nie mehr wieder! Ich werde es allein tragen! Niemals mehr sollst du wiederkommen! Du junger Teufel! Bleib bei deinem Deutschen! Ich will dich nicht. Geh! geh!!«

»Bianca, was du redest, ist sündiger Unsinn. Sei ruhig! Ich werde den ganzen Nachmittag bei dir bleiben!«

»Aber ich will nicht, daß du bleibst!! Geh! Jetzt, sogleich!! Ich könnte dich töten, hüte dich!!«

Sie packte einen Briefbeschwerer und hielt ihn hoch. Die große unverwandelte Weibgestalt streckte sich wunderschön. Der Zorn, der in ihm aufwallte, erleichterte Italo die Situation. Er stellte sich straff auf, und mit nachlässigem Ton, die Hände in den Taschen, sagte er:

»Wirf!!«

Die ganze Schwere ihrer Leiden schleuderte die Frau nieder. Totenblaß lag sie auf dem Diwan. Der Atem stockte, das Herz blieb aus.

Er aber stürzte zu Boden, bat um Verzeihung, beschuldigte sich selbst, schwor und schluchzte. Das Ende dieses Auftritts war wie immer wonnige Versöhnung. Weich geworden und unendlich kampfesmüde, mütterlich sein Haar liebkosend, gab sie ihn, wie so oft schon, für den Nachmittag frei.

 

Auf der Straße peinigte den Jüngling kurze Zeit noch ein Gefühl der Zerknitterung im Zwerchfell und der moralische Zweifel, ob er das Geschenk des Nachmittags annehmen solle. Dann aber und sehr bald wich das Unbehagen, und als gebe es keine Geliebte mehr, die vielleicht sein Kind trug, als warte keine Zukunft voll Verwicklung und Gefahr, ging er lustig und fast wie nach einem Sieg durch die lauten rhythmischen Gassen seiner Vaterstadt nach Hause.

 

Eine Stunde später, nachdem die letzte Spur der Aufregung von Biancas Gesicht verschwunden war, kehrte Dr. Carvagno heim. Dem abgehetzten Menschen, der halb blind durch seinen allzu lauten Tag ging, fiel etwas Ungewohntes auf. Er wollte darüber nicht nachdenken. Für feine atmosphärische Erlebnisse hatte sein stets nachschallendes Hirn allzu wenig Zeit. Dennoch geschah es, daß er sich mit einem fernen Unbehagen, ja fast mit einem ganz leisen Schmerz neben die Frau setzte, die ihn heute deutlicher ansah (so glaubte er) als sonst. Eine fremde, merkwürdig kleine Stimme fragte:

»Was ist dir, mein Lieber, du siehst recht traurig aus!« Carvagno dachte nach, warum er wohl traurig aussehe, und ein Erlebnis seiner heutigen Praxis stand vor ihm: »Dumme Geschichte das!«

Bianca fragte noch einmal. Da erzählte er unzusammenhängend, müde und mit einem gewissen Bedauern darüber, daß einen abgebrühten Arzt von Vierzig das Unsachliche noch bedrängen solle, eine Geschichte von irgendeinem schönen blonden Kind.

»Die Eltern!? Junge Deutsche! Poveretti! Hungerleider! Diese kindische Gesellschaft, die sich, Gott weiß warum, Künstler nennt. Er?? Ich bin ratlos: Eine Phthisis ist es nicht, zumindest keine gewöhnliche. Der Mann macht dabei den Eindruck von Euphorie oder Größenwahn! Aber das Kind! Ganz goldene Haare. Ein Engel!«

Der Arzt stand auf und küßte seine Frau leicht aufs Haar. Sie rührte sich nicht, und der kleine Kuß wurde dadurch seltsam unwahr und erzwungen. Carvagno fühlte die Peinlichkeit, schämte sich und ging zu seinem Schreibtisch. Die fremdartige Antwort seiner Nerven war ihm unangenehm. Er begann in sinnlosen Papieren zu kramen.

II

Renzo war längst wieder nach Rom zurückgekehrt, und Italo hielt sich weniger denn je zu Hause auf. So lebte der Senator allein mit seinen Texten in den Räumen der Wohnung. Nicht mehr wie früher war er in der Art echter Venezianer viel auf dem Platz zu sehen, in dem, in jenem Kaffeehaus, oder gar in Gesellschaft anzutreffen. Ganz selten tauchte sein riesiger weißer Kopf mit dem Demokraten-Schlapphut in einer kleinen Gruppe von gleich alten und gleich unzufriedenen Gesinnungsgenossen auf. Von Tag zu Tag wurden diese Gesinnungsgenossen immer weniger. Denn da Aufstieg, Erfolg und Wohlergehen ringsum im Bürgertum herrschten, verlor die alte Freiheitsgeste immer mehr an Wirklichkeit, die großen Überzeugungen der Heldenzeit wurden wie alles, das sein Leben hinter sich hat, zur Phrase, und ohne daß der Senator es merkte, in der veränderten Zeit nahm auch seine unbeugsame Haltung das ihm so verhaßte Gesicht hochmütigen Selbstbetrugs an.

Wie alle aufbrausenden Menschen schwach und ohne letzten Halt, war der Senator so ganz anders als Verdi, der Wirkliche und Starke. Hätte er des Maestro Gabe besessen, die Musik wäre lange vor ›Rigoletto‹ stehengeblieben, gekränkt und trotzig Jahrzehnte lang auf die alten, einst errungenen Formen pochend. Verdi, der solch einen langen Kampf gegen Menschen und Epochen kämpfen mußte, war niemals unterworfen worden; immer, welche Zeit die große Uhr auch schlug, immer blieb er der Mensch seiner Zeit, niemals ein Mann von Gestern, niemals ein Mann von Morgen, stets der Mann von Heute, und als solcher frei und einsam auf dem Gipfel des Tages.

Der Senator war der Mann seiner Zeit lange nicht mehr. Dies war die dumpfe, halbeingestandene Trauer seiner Tage und Nächte. – In den letzten Jahren, einer nach dem andern waren die Heroen der wiedererwachten Nation hingegangen, und die Strahlen der Sonne, die sie mit sich genommen hatten, gaben seiner Gestalt keinen Glanz mehr. Von immer dichteren Schatten umwoben, streckte er sehnsüchtig grollend die Arme nach der abgeschiedenen Lichtquelle aus.

Als Italo von jenem wilden Auftritt mit Bianca nach Hause kam, fand er zu seinem Erstaunen den Vater lustig und aufgeräumt. Er wurde mit einer rollenden Tirade begrüßt. Ein gutes Zeichen:

»Da bist du ja, Sohn deiner Zeit mehr als deines Vaters! Große Freundschaften mußt du haben, die dein Leben verschlingen, denn man sieht dich nicht. Aber ich lobe dich darum. Lebe! lebe! lebe! Ich werde dir keine Tugend predigen. Da alles Irrtum ist, wie einige Philosophen uns lehren, scheint die Kalokagathia des Sokrates der größte aller Irrtümer zu sein. Man muß nicht als Wahrheitsheld im Gefängnis gesessen haben, um sich des Lebens wert zu fühlen. Den Schierlingsbecher trinken, ist eine Eitelkeit, die keine Zinsen trägt. Und was das Kreuz anbetrifft, so scheinen einzig die im Rechte zu sein, die darunter Geschäfte gemacht haben. Ein Dandy übrigens hat alle Gesinnung zu verachten. Hab ich deine Gedanken erraten? Wie? Im Grunde, mein Junge, kommt es auf Melodie an. Keine Heimat im Himmel, keine Heimat auf Erden! Es lebe die Melodie! Da habe ich etwas gefunden ...«

Der Alte warf den Klavierauszug des ›Rheingold‹ auf den Tisch: »Wenn du mir auf diesem Notenschlachtfeld eine Melodie zeigst, bekommst du Finderlohn!«

Italo überhörte prinzipiell diesen Satz. Er sah nur verwundert auf den Vater, der hastig seinen Überrock anzog und den Hut suchte.

»Du gehst fort, Papa?«

»Wie du siehst. Und ich habe Eile.«

»Kann ich dir mit etwas helfen?«

Italo hatte das Bedürfnis empfunden, dem Senator eine Freundlichkeit zu zeigen. Einen Augenblick lang sah der nicht sehr verwöhnte Vater ihn belustigt an:

»Du brauchst Geld, mein Sohn! Sag nichts! Ich weiß es! Du brauchst den Finderlohn im voraus. Plötzlich kommt das Leben über den Menschen, und er sitzt da. Weiß der Teufel, warum mir das gerade jetzt einfällt ...«

Er drückte seinem Sohn ein paar Goldstücke in die Hand und ging.

Der Grund seiner Fröhlichkeit war aber folgender Brief, den der Senator am Morgen erhalten hatte:

 

»Mein lieber Freund!

Als ich nach dem unverzeihlichen Überfall am Weihnachtsabend von Dir Abschied nahm, hatte ich die aufrichtige Sehnsucht, allen Städten der Welt und ihren Aufregungen entfliehen zu können, um sobald wie nur möglich in Sant Agata mit seinen Pflichten und Interessen zu mir zu kommen.

Aber nun ist alles weit hinausgeschoben. Schnee ist gefallen, überall liegt Schnee, dieser Schnee, den ich fürchte, der, soweit ich nur zurückdenken kann, immer die trübsten Zeiten meines Lebens beherrscht hat.

Also, auf mein Gut, in diese Einsamkeit will und kann ich nicht gehn. Früher hätte ich es vielleicht zusammengebracht, jetzt nicht mehr. Genua, das ich sonst liebe, tut mir diesmal nicht wohl. Es sind noch immer zuviel Menschen hier, die nicht verstehen wollen, daß ich Unruhiger Ruhe brauche. Höre! Mir ist die närrische Idee gekommen, daß Euer Venedig mir helfen könnte. Ich habe früher nicht viel Zutrauen zu dieser Stadt gehabt. – Aufrichtig! Sie hat mich bedrückt. – Aber jetzt sagt mir ein (höchstwahrscheinlich falsches, unsinniges) Gefühl immer wieder: In Venedig könnte ich arbeiten! Arbeiten? Dieses große Wort darfst Du nicht mißverstehn. Es handelt sich natürlich um nichts Neues, sondern um Reparatur und Kürzung einer uralten Sache. Aber auch zu solcher Flickschusterei habe ich nicht Kopf und Muße hier!

Es ist schon meine Art, Du weißt es ja, nichts unversucht zu lassen, auch einen Fehler zu machen, vielleicht nur um mir zu beweisen, daß es ein Fehler war.

Also auf! Erfüll mir meine Bitte! Beeil dich, denn ich telegraphiere vielleicht schon heute meine Ankunft.

Nimm mir ein großes Zimmer in dem Albergo auf der Riva, wo ich das letzte Mal gewohnt habe. Es ist freier und mir lieber als ›L'Europe‹, wo mich in früherer Zeit der arme Piave immer angesiedelt hat. Sorge dafür, daß man mir ein halbwegs gestimmtes Klavier ins Zimmer stellt. Und dann! Das Wichtigste! Niemand darf erfahren, daß ich in Venedig bin, hörst Du, niemand! Ich überlasse diesen allerwichtigsten Punkt Deiner Fürsorge. Ich will und muß unbelästigt bleiben! Das ist alles! Welche Freude ich darüber empfinde, Dich einmal im Leben recht genießen zu dürfen, kannst Du Dir denken.

Addio, addio.
Dein G. Verdi

 

Peppina, die über mein Vorhaben sehr böse ist, grüßt Dich innigst.«

Lange Jahre schon hatte der Senator für niemanden gelebt. Drum wurde jetzt doppelt in ihm all seine gebundene und versickernde Zärtlichkeit wach. Mit der begeisterten Fahrigkeit eines Anfängers, der sein Zimmer zum ersten Liebesempfang schmückt, machte er sich sogleich ans Werk.

Er stürzte in das vom Maestro angegebene Hotel, zog den Wirt beiseite, meldete ihm, eine glänzende Persönlichkeit, die er nicht nennen dürfe, werde seinen Gasthof beehren. Er ließ den Wirt schwören, daß er sich nicht anmerken lassen wolle, er wisse von dieser glänzenden Persönlichkeit, daß sie sei, was sie sei, eine glänzende Persönlichkeit. Dann fuhr er, die erregte Suite der Hoteldienerschaft vom obersten Oberkellner bis zum Laufburschen hinter sich, wie ein Sturm durch die Zimmer, warf mit den Türen, stieß Fensterläden auf, rückte Möbel, fegte im Ungestüm auch eine Vase zu Boden, schrie, tadelte, lobte, seufzte und fand eine ganze Stunde lang nicht das Richtige. Erst als der Wirt unter allen möglichen Beteuerungen und Vorbehalten sich entschlossen hatte, sein großes Mittelzimmer im ersten Stock, das sogenannte Fürstenappartement, aufzuschließen, gab sich der Senator zufrieden und zwang dem Mann mit unwiderstehlichem Feuer einen bürgerlichen Preis ab. – Weiter traf er Anordnung über Anordnung. Der Schreibtisch mußte gut vor dem Fenster stehn, eine vorzügliche Arbeitslampe herbeigeschafft, und auf den kleinen Balkon, der auf die Lagune bis San Giorgio hinüberblickt, sollte ein Fauteuil hinausgerückt werden. Heizung wurde bestellt, eine freizügige Pension abgemacht, jeder Einwand mit der einzigartigen Prachterscheinung, die Gast dieses Hauses werden sollte, niedergetrumpft, so daß am Ende der wunschüberhäufte Besitzer ganz hilflos und kleinlaut zurückblieb. Noch zwanzig kaum verständliche Aufträge auf den Lippen, eilte der Senator davon.

Unter den Procuratien gab es zu damaliger Zeit ein Musikaliengeschäft, das einst jenem berühmten Gallo gehört hatte, der selbst ausgezeichneter Musiker, noch ausgezeichneterer Impresario, und eins der vortrefflichsten Originale gewesen war, die Verdi und Venedig je gekannt hatten. Nach seinem Tode schleppte sich dieses Geschäft, in dem auch Klaviere verliehen wurden, eine Zeitlang fort.

Der Senator trat in den Laden ein und probierte etwa sechs Instrumente. Die Zigarre im Mund, donnerte er, wie es Klavierstimmer zu tun pflegen, eine pathetische Folge von Dreiklängen, Septakkorden und chromatischen Passagen auf die Tasten. Keines der Pianos gefiel ihm. Dieselbe Prozedur wiederholte sich noch in zwei anderen Musikalienhandlungen, bis schließlich in einer auf der Merceria San Salvador das Richtige gefunden, gewählt und bestellt ward. Der Senator ließ gleichzeitig noch die ganze Serie der Klavierauszüge weltlicher und geistlicher Musik, die es von Verdi gab, mitsenden. Wozu? Das hätte er nicht sagen können. Es war dies ein Akt zielloser Leidenschaft und unsinniger Freigebigkeit. Wofür dem Maestro diese vielen Bände der eigenen Musik dienlich sein sollten, darüber gab sich der Senator weiter keine Rechenschaft. Ein Gruß der Liebe, nichts andres. Ihm fiel nicht ein, daß dieser Gruß bitter wirken könnte. Der alte Freund war im Kerne seines Wesens übertrieben. Das mochte auch der Grund sein, warum sein Leben niemals zu einem nachhaltigen Erfolg geführt hatte.

Mit diesen Besorgungen war aber noch lange nicht die ganze Fülle seiner rührenden Fürsorge ausgeschöpft. Ein Blumenhändler wurde angewiesen, jetzt in dieser toten Jahreszeit das Unmögliche möglich zu machen, Likörflaschen wurden ins Hotel dirigiert und vieles andere noch.

Zu Tode ermattet kam am späten Nachmittag der Senator nach Hause. Aber es ließ ihm noch immer keine Ruhe. Er befaßte sich damit, für den geliebten Freund Lektüre auszuwählen. Er forschte nach spannenden und gebärdenreichen Romanen. Dies würde vielleicht das Richtige sein, um den Maestro nach langer Arbeit auf andre Gedanken zu bringen und ihm zu ruhigem Schlafe zu verhelfen. Es fand sich nicht viel vor. Immerhin ein paar Bände Victor Hugo und Zola konnten genügen.

Mehr aber als Arbeit und Eile hatte den Senator der Zwang erschöpft, den er sich auferlegen mußte. Niemandem konnte er von diesem Glück erzählen. Und er hätte es doch jedem Bekannten laut entgegenrufen mögen:

›Verdi kommt hierher!‹

III

Wie traurig, einen Menschen zu sehen, wie ihn, dem man keine sechzig Jahre geben würde, der niemals an Kopfschmerz leidet, mit dem Appetit eines Jünglings ißt, der drei oder vier Stunden lang, nur den großen Strohhut auf dem Kopf, in brennender Sonne wirtschaftet ... und dieser Mann weigert sich widerspenstig, auch nur eine Note mehr zu schreiben!

Ausspruch Giulio Ricordis um 1880, von Bragagnolo zitiert

Sich selbst zur Verwunderung stand zwei Tage später der Maestro in dem prunkvollen Hotelzimmer mit der schönen Aussicht auf die Lagune. Mit großer Selbstüberwindung, doch in der sicheren Erkenntnis, der einsilbige, mit fernen Gedanken beschäftigte Freund will allein bleiben, hatte der Senator ihn verlassen, ohne seine Einladung zur Mahlzeit auszusprechen.

Es war nicht sehr oft in seinem Leben geschehn, daß Giuseppe Verdi etwas getan hatte, was nicht vorher nüchterner Prüfung unterworfen worden war. Gewohnt, sein Leben streng und rein dem Willen zu beugen, hatte er in den Tagen seit seiner Rückkehr nach Genua beobachten können, daß gegen diesen Willen immer deutlicher ein Wunsch emporwuchs, der unbegreifliche Wunsch, in Venedig zu sein!

Das Ganze erschien ihm peinlich, unheimlich, ja fast schandbar.

Als es dann doch zum Entschluß gekommen war, hatte er Mühe gehabt, vor seiner Frau das Wort »Venedig« auszusprechen.

Lange mußte er darüber nachgrübeln. Was konnte ihm diese Stadt bieten? Warum sollte er sie gerade dort finden? Arbeitsstimmung? Er wußte sehr wohl, daß sein Arbeitstrieb, unabhängig von Ort und Landschaft, keiner Eindrücke bedurfte, sondern innen erzeugt, innen ernährt, plötzlich an die Oberfläche stieg.

Doch herrschte in seinem Leben ein Gebot, dem er sich von einem Augenblick des Kampfes an ergab.

Er wußte genau, daß gewisse Schicksalsentscheidungen dadurch herbeigeführt worden waren, daß er bewußt, doch wie betäubt einen »Unsinn« begangen hatte. Ein solcher Unsinn zum Beispiel war die Tat, der er das erste und somit wesentliche Glück seiner öffentlichen Laufbahn verdankte. Er hatte dem Impresario, der über Leben und Tod seiner eingereichten Oper Richter war, einen groben tiefbeleidigenden Brief geschrieben. Jeden anderen Menschen hätte dieser Brief ins Nichts zurückgeworfen. Und er selbst hatte, nachdem der Brief aus seinen Händen war, nichts anderes erwartet.

Aber gerade dieser Brief stimmte Merelli, den allmächtigen Direktor der Scala, um, ›Nabucco‹ wurde angesetzt und ein schon fast verlorenes Leben gerettet.

Wer und was hatte ihn gezwungen, den widersinnigen Brief zu schreiben und auch später noch ein oder die andere Tat zu begehen, wider die sein wacher Sinn sich sträubte? Wenn der Maestro auch niemals über die Geheimnisse sprach, so quälten sie ihn doch von Jugend an, und so mancher, der wohlwollend vom blutvoll-animalischen Schöpfer des ›Trovatore‹ spricht, würde über die Bibliothek von Sant Agata in Staunen geraten sein.

Der Maestro hatte erkannt, daß in ganz seltenen Augenblicken des Lebens ein Wille in uns wirkt, der außerhalb unser bestehen muß, da er, der sinnlichen Beschränkung enthoben, hellsichtig, unabhängig von uns, Zeit und Raum schon durchforscht hat, während wir noch mühsam an der erbärmlichen Leiter der Schlüsse emporklettern. Wenn er diese Dinge sich auch nicht also klar bewußt machte, in seinem Gefühl herrschten sie religiös. Solche Erkenntnisse hatte ihm Manzoni nähergebracht, dessen katholische Konversion ihn solange geärgert hatte, als er, der Mensch der Befreiung, Religion noch mit Pfäfferei verwechselte. Denn er haßte die Priester, obgleich er in heimlicher Seele die Kirche liebte, die ja die einzige Schönheit, die holde Musikheimat seiner armen Kindheit gewesen war.

So kam er denn nach Venedig in der verborgenen Hoffnung, daß nicht er selbst einem wirren Wunsch unterlegen sei, sondern in diesem Wunsch eine lenkende Stimme laut werde. Wohlgemerkt: Niemals hätte er sich diese Hoffnung klar eingestanden, denn immer wieder pflegte er, alles Überstiegene abwehrend, zu behaupten: »Wir sind Skeptiker! Wir sind Skeptiker!«

Aber er mußte ja nach jeder Hoffnung, ob verborgen, ob offenbar, greifen. Denn der Zustand, länger täuschte er sich darüber nicht, war grauenvoll, war unhaltbar.

Die Maske des großen Bauern, des trefflichen Gutsbesitzers stand ihm wohl zu Gesicht. Ja! Er liebte seine Felder, er liebte sein Gestüt, seine Tiere, ja selbst die Straßenbauten, Wasseranlagen, all die Unruhe, die er in die simple altmodische Gegend gebracht hatte. – Aber Maske blieb es doch. Er war kein Bauer mehr. Diese romantisch verlogenen Städter mochten sich an dem sensationellen, von den Zeitungen ausgebeuteten Widerspruch ergötzen, wonach der weltberühmte Komponist vom Pfluge weggeholt werden könne, – die alten, schwerhändigen Bauern seines Bezirkes wußten es besser. Er war kein Bauer, nicht einmal ein richtiger Gutsbesitzer, denn trotz aller ehrlichen Strenge seines Betriebes, er lebte ja nicht davon.

Die einzige und unverbrüchliche Wahrheit war: Zehn Jahre hatte er bis auf Kleinigkeiten keine wirkliche, keine erfüllte Note geschrieben. Das Requiem, sein letztes Werk, war ihm selbst die Totenmesse geworden.

Zehn Jahre nichts!

Immer wieder, und schon seit vielen Monaten, pflegte er wie benommen diese Worte vor sich hinzudenken. Die Hölle des schöpferischen Menschen lag in ihnen, der Tag um Tag kostbarstes Gnadengut vorüberfliegen fühlt.

Arbeiten! Das heißt, dieses Fieber fühlen, aus dem man sich zugleich fortsehnt! Arbeiten! Das heißt dieses Wachstum sehen, das eine Beglückung bis zur Tollheit ist. Aber, wenn man es recht bedenkt, die Willensqual ist größer als die Freude ...

Und dennoch! Was für ein Parasit ist der Mensch, welch gewissenskranker Tagedieb, wenn er nicht mehr arbeiten kann. Tausend Anläufe und kein Sprung! Tausend Sturmangriffe und alle abgeschlagen! Ist es das Mißgefühl des Alters, das weichlich und schwächend nach solchen Anstrengungen in die Glieder fährt, ist es die Ermattung der endgültigen Niederlage? Und das Erreichte? Der Ruhm so vieler Taten? Die hat ja ein anderer getan, ein ganz anderer, der darob fast hassenswert ist.

›Zehn Jahre! Zehn Jahre!‹

 

Der Maestro trat auf den Balkon. Des Januarnachmittags frühe Dämmerung war schon hereingebrochen. Unten auf der Riva degli Schiavoni wälzte sich in abendlicher Reibungslust das Volk über die beiden Brücken. Ein dichter schwirrender Ton, ein aus zehntausend Stimmen geflochtenes Seil schwang über der Stadt. Vor der Landungsbrücke San Zaccaria lagen die Dampfer, die den Verkehr mit den Inseln besorgen. Auf dem Heck der Schiffe wie auch auf der Brücke schwankten schon die ersten Laternen. Eilig watschelten die spärlichen altmodischen Raddampferchen durchs Wasser, die zwischen den beiden Mündungen des großen Kanals pendeln mußten.

Der erste Monat des Jahres 1883, wenn auch unnatürlich warm, war doch voll verfärbter Trübnis. Nebel glitten von der Lagune auf wie Staubwolken einer Sommerstraße. Die Farbe dieser Nebel, die dem Dampf nicht glichen, war stumpf, stumpf wie die Farbe der Lagune, die nicht der Adria, der purpurn und azurnen Mutter der Gesänge zu entstammen schien, sondern irgendeinem Wattenmeer oder dem Finnischen Meerbusen.

San Giorgio war hinter den Schwaden längst zusammengestürzt, die Dogana und Maria della Salute schwammen wie ein betrübt-nordisches Vorgebirge auf der dunklen Fläche. In rasch geschwungenem Gleitflug fuhr die Bora herab. Tausend spitze Wellchen sprangen lüstern aus dem alten blindäugigen Wasser, wirr tanzende Ungezogenheit. Und alle Landungsbrücken, all die vertrauten Gondeln der Piazzetta, die Gondeln auch weit draußen, selbst die schweren Chioggiabarken erfaßte der Tanz, jener wiegende Wassertanz, der diese Stadt seit je zur Stadt der Liebe bestimmt.

Aber dem Übermut war nur eine Minute vergönnt. Denn die Nacht machte Schluß. Doch in dem Augenblick, da sie sich vollenden wollte, durchbrach ein großes, langsames Seeschiff den Schwall von Finsternis, Nebel, Wind und Bewegung und zog mit toten Lenden, mit sparsam-lebendigen Lichtern dahin. Langanwachsend, eine furchtbare Beklagung des Todes, heulte das Nebelhorn auf.

 

Der Maestro schloß die Balkontür und zündete so viel Licht an, wie sich nur vorfand. Dann durchquerte er gleichmäßigen Schrittes, wie es seine Art war, hundertmal das große Zimmer, umwanderte immer wieder den Mitteltisch, trat endlich zum Klavier und fuhr mit der rechten Hand kurz über die Tasten. Die ersten zwei Takte des ›Rigoletto‹-Quartetts sprangen unwillig auf. Als hätte er etwas Abscheuliches berührt, schlug Verdi den Deckel zu.

›Ich bin hiehergekommen ... Warum? Wozu? ... Aber hier muß es doch gelingen! Nur hier ... Wer ist denn an all dem schuld, wenn nicht er? ... Wäre er nicht, könnte ich arbeiten ... Es ist wie eine Verzauberung. Bisher habe ich mich gefürchtet! ... Ja, Teufel, gefürchtet! ... Aber jetzt stelle ich mich ... Jetzt stelle ich mich zum Kampf ... Es ist verrückt ... Aber ich habe das deutliche Gefühl, daß es ein Kampf sein wird ... Warum? ... Ach! ... Er kennt mich nicht! Vielleicht könnten wir Freunde werden! ... Mit ihm allein würde ich reden können! ... Welch kindische Gefühle! ... Sein Gesicht habe ich mir in jedem Zuge gemerkt! ... Fast zieht mich etwas zu diesem Menschen! ... Kämpfen! Ja, kämpfen!‹

Über die Bedeutung dieses Wortes »kämpfen«, das in seinen Gedanken stets wiederkehrte, war sich der Maestro nicht im mindesten klar. Er wußte ja überhaupt nichts von seinem Denken, das immerfort um eine trübe Stelle kreiste, wie er jetzt selbst um den großen Tisch dieses Zimmers. Manchmal stieß er ein leeres Wort hervor. Es hatte gar keinen Zusammenhang mit dem, was in ihm dachte und gedacht wurde. Plötzlich aber blieb er stehn, biß die Zähne zusammen, eine wilde und böse Natur fuhr in sein Gesicht, daß jeder, der ihn jetzt gesehen hätte, vor solcher Gefährlichkeit erschrocken wäre. Mit ausholendem Ruck hob er einen Handkoffer auf den Tisch. Er öffnete mit einem Schlüsselchen das Gepäckstück und nahm eine mächtige Mappe mit Notenblättern heraus. Auf dem Titelblatt stand mit großen Lettern geschrieben:

›Re Lear, opera di G. Verdi.‹

IV

Zur selbigen Stunde, da der Maestro sein Hotelzimmer bezog, hatte Italo zu ungezählten Malen, fast laufenden Schrittes, kreuz und quer die Piazza durchmessen. Auf der Seite der Procuratien, auf der Seite der Bibliothek, oben beim Empirepalast, unten bei der Kirche, immer wieder Posto fassend, immer wieder Posto verlassend, hielt er Auslug nach seinem Abgott. Endlich sah er die kleine schöne Gestalt des Meisters von der Ascensione her näherkommen.

Wagner ging mit einem Herrn, der nicht größer war als er selbst. Dieser Fremde, feingliedrig, mit schwarzem Bart, hohlen Wangen, überfeinert zugespitzter Nase, machte den Eindruck eines gelehrt-kabbalistischen Juden. – Doch auch er zeigte die vollkommene Ausgelöschtheit der Person, welche die Erscheinung aller Menschen ausdrückte, die mit Wagner umgingen.

Der große Mann sprach unaufhörlich in der stark gebärdenden Art, die ihm eigen war. Der andere neigte das Ohr und sah verzückt lächelnd zu Boden, als sähe er dort ein süßes Bild. Trat eine kurze Pause in der Rede ein und erließ Wagner die nur formale Aufforderung zur Antwort, so spielte auf den Lippen des Fremden der stumme Hauch eines Wortes, dem die Ehrfurcht verbot, Wort zu werden. Wozu denn reden, da alles schon vollauf erledigt ist?

Zweimal versuchte der Herr, vielleicht nur um einen Schein von Ebenbürtigkeit herzustellen, das Wort zur Entgegnung zu ergreifen. Aber in der ersten Hälfte des Satzes stockte schon die Stimme, denn Wagner nahm seine Rede wieder auf. Er sprach erregt, bohrend, hastig, wie ein Mann, der eine langwierige Unterredung abzuwickeln hat und den die Zeit drängt. Der Gegenstand des Gesprächs mußte dem Meister sehr nahe gehen, denn immer ungeduldiger, ja leidender wurde seine Haltung. Der Fremde, nicht weil ihm Vorwürfe gemacht wurden, sondern weil er unterm großen Lebensleid des Vielverfolgten selbst litt, sank in sich zusammen, wurde ganz durchsichtig. Für diese feinen Schultern wars zu schwer.

Immer lauter wurde die Stimme Richard Wagners. Er schüttelte gepeinigt das Haupt, als umsumme ihn eine Wespe, er stampfte mit dem Fuß auf, obgleich der Bärtige ihm nicht nur nicht den geringsten Widerstand entgegensetzte, sondern jetzt sogar die Augen geschlossen hielt. Aber vielleicht reizte den Meister gerade diese Schwäche, diese ungemute und gestaltlose Weichheit, denn jetzt ballte er die Fäuste gegen den Ganzerstorbenen. Plötzlich aber warf er den Kopf zurück wie ein Wild, das den Jäger spürt, seine Augen weiteten sich, als vernähme er in großer Ferne einen Zuruf, und ohne ihn anzuschauen, winkte er dem Begleiter kraftlos, voranzugehen und ihn allein zu lassen. Der gehorchte sofort, blickte in heiliger Scheu nicht zurück und ging haltlos schwankend weiter.

Wagners Züge aber fielen schrecklich zusammen, er verfärbte sich, rang nach Luft, seine Linke fuhr zum Herzen und umkrampfte es. Italo sah dies emporgedrehte Haupt voll schönster Altersjugend plötzlich greisenhaft-arm und menschlich-elend werden. Der allzuschwere Kopf mit flatternden Seidenhärchen schwankte unter den grauen Angriffen des Windes und der Dämmerung.

Dieser Herzkrampf, einer der harmlosen und sanften, die Wagner rasch überwand, hatte keine fünfzig Sekunden gewährt. Der Meister stieß auf einmal stark die Luft aus, raffte sich zusammen und rief den Herrn heran, der sich nicht weit entfernt hatte.

Das Gespräch, jetzt aber gelöst und frohgemut, von vielfachem Gelächter durchflochten, wurde wieder aufgenommen. Der Fremde war ganz verwandelt. Er schien, witzig und ohne die alte Ehrfurcht, Silben zu stechen und krähte unangenehm. So traten die beiden Männer in den Säulengang der Procuratien.

Italo war nicht imstande zu folgen.

Das plötzliche Elend, das erschreckende Leiden, die irdische Armut dieses Menschen, der für ihn göttlich war, hatten ihn bis zum Grund erschüttert. Ein Gefühl, dem eitlen und verhätschelten Knaben bisher fremd, würgte seine Kehle:

Erbarmen mit der todverfallenen Kreatur, mit Wagner, mit Bianca.

Er eilte, seiner selbst nicht mächtig, zu ihr. Auf dem Wege schluchzte er, schrie auf, betete, machte Gelübde und Schwüre.

Sie saß vor einem kleinen Tischchen. Es schien ihm, als lege sie eine Arbeit weg. Sie trug ein sehr dunkles Kleid und ihr Haar auch verschwamm im finstern Raum, so daß nur dieses Gesicht bleich und voll römischer Schwermut hervortrat. Ein ganz fremder Todesernst lag über ihr, – und obgleich sie mit tausend Widerstreiten, hoffend, hassend, verzweifelnd, mordplanend, verzeihend, und immer unselig seiner gewartet hatte, jetzt, da er unverhofft gekommen war, jetzt lächelte sie kaum.

Wie ein Schwerverwundeter stürzte er zusammen, und ohne sie zu berühren, weinte Italo das erstemal im Leben nicht nur über sich selbst.

Sie regte sich nicht, sie ergriff nicht seine Hände, sie betastete nicht sein Haar. Mit der lieblichen Majestät der Schwangeren, die nur für gereifte Seelen sichtbar wird, saß sie da und betrachtete ruhig den Weinenden. Dann, seine Tränen verstehend und nicht verstehend, sagte sie nichts als die Worte:

»Fühlst du's jetzt?«

Einige Minuten später trat Carvagno ins Zimmer. Die Liebenden hatten gerade noch Zeit, sich zu fassen. Der Arzt vermochte wiederum nicht jener ungeklärt peinlichen Empfindung Herr zu werden. Er betrachtete Italo. Selbstgefällige Gesichter gingen ihm auf die Nerven. Dennoch war er diesem Gecken (dafür hielt er ihn) dankbar, daß er der vereinsamten Bianca Gesellschaft leiste. Eine flüchtige Ahnung verwies er in einem komplizierten Egoismus sofort aus dem Bewußtsein.

Italo, ganz gelähmt, blieb stumm und lehnte die Einladung zum Abendessen ab.

Ist es nicht so, als ob Gott, solange wir dem Leben mit leichten Gefühlen begegnen, uns, selber leichtsinnig, schonen würde, wenn aber die erste schwere Empfindung den Menschen ergreift, unnachsichtlich seine Ordnung walten läßt?

V

»Ich, der ich im Grunde keinerlei Anstrengung liebe, arbeite wütend. Einsamkeit und Studium: Dies mein Leben!«

Verdi an den Bildhauer Luccardi

 

Vor dreißig Jahren etwa hatte Giuseppe Verdi mit dem venezianischen Schriftsteller Somma das Libretto des ›König Lear‹ vereinbart.

Somma, noch sehr abhängig von der Form des italienischen Melodrams, wie es sich von Metastasio zu Felice Romani hinüber entwickelt hatte, drängte Shakespeares Tragödie auf drei Akte zusammen, das heißt auf die großen Steigerungs-Szenen, die durch jene flüchtige, mit grober Hand gefügte Bauart verbunden wurden, die solchen Texten eben den Charakter des Opernhaften gab. Das Vorgehen dieser Librettisten war gar nicht so unweise, wie die ästhetische Schulmeisterei uns beibringen will, denn das Drama der Musik spielt auf einer ganz anderen Ebene als das Drama der handelnden Leidenschaften, und nimmer können die beiden Sphären sich berühren.

Das sogenannte Musikdrama ist die Rationalisierung einer über der Vernunft stehenden Form, deren Reiz in dem Augenblick verlorengeht, wo das Vorrecht der Musik bestritten und der psychologisch-literarische Sinn des Stücks in den Vordergrund gedrängt wird.

Ein echtes Kind des neunzehnten Jahrhunderts, ist dieses Musikdrama eine Frucht seiner biologischen, materialistischen, seiner kausalisierenden Tendenzen. Die Absage an den »Unsinn der Oper« ist zugleich die Absage an jeden Sinn, der nicht rein logisch erfaßbar ist.

Die Sendung Verdis war es, die traditionelle Oper, die Oper an sich, das Werk des Gesanges zu retten und ihre Entwicklung für die Zukunft zu sichern. Seinem Genius hatte die Geschichte die schwere Doppelaufgabe anvertraut, die alte leergewordene Form zu wahren, sie der Menschen-Wahrheit zu versöhnen und dennoch nicht an das musikalische Drama des Nordens zu verraten. Natürlich war ihm diese Aufgabe kein Programm, aber bis in die Nervenenden erfüllte sie ihn als Leben.

Die gesamte Musikkritik Europas hatte es sich angewöhnt gehabt, Verdis Werk an dem Wagners zu messen. Aber selbst die ärgsten Feinde Wagners sahen den Maestro über die Schulter an als einen, dessen Anstrengung, dessen Ziel nicht mit dem des andern, wie sehr sie es auch haßten, zu vergleichen sei. Der Journalismus, der trotz so mancher pathetischer Verfluchung nichts anderes ist, als die allgemeine menschliche Gewöhnlichkeit im Druckbild, war auch in diesem Fall der Oberfläche erlegen.

Gewiß ist das Wagner-Werk ein tausendfältiges dichterisch-musikalisch-philosophisches Kompendium. Aber der Meister dieses Werkes hat ja von vornherein keine Grenzen anerkannt, er hat seine Gaben, gleichsam außerhalb der Welt, ausgewirkt. Dies seine unvergleichbare Größe! In einem Ätherraum, befreit von allen Bedingungen, allen niederziehenden Kräften praktischer Überlegung, nur dem Gesetz seiner selbst unterworfen, hatte das Werk diese maßlose Gestalt angenommen.

Im Grunde versuchte Wagner niemals den wirklichen Kampf um die Menschenwelt, wenn er sich auch aufrieb für die Wirkung seines Werkes. Denn während er schrieb, machte er keine Anstrengung, für ein reales Volk zu schreiben. Er war ein Deutscher. Und deutsch sein heißt: ›Dir ist alles gewährt, weil keine Form, keine Vergangenheit, keine Beziehung dich bindet.‹ Ein Freibrief voll Großartigkeit und voll Gefahr. Wohl hatte auch Wagner sich eine ungeheure Gemeinde geschaffen. Aber diese Gemeinde bestand nicht, wie er es hoffte und wollte, aus der eigenen Nation, sondern aus den verfeinertesten Seelen aller Nationen, aus den Übergebildeten und Neuerungssüchtigen, deren Treffort Bayreuth wurde.

Allerdings, hätte er diese Elemente nicht gebunden, vielleicht gäbe es heute keine Kunst mehr. So sehr hat diese Schicht alle nachfolgende nacheifernde Produktion ermöglicht, indem sie sie zugleich verdarb.

Für den jungen Verdi, einen Opernkomponisten, der sich verpflichten mußte, für Saison und Truppe zu schreiben, besaß das Wort »Kunst« (dessen scheinheilige Betonung er zeitlebens haßte) nicht den romantischen Sinn von Auserwähltheit, Dachkammer-Idealismus, Sendung, Über-den-Menschen-stehn, diesen so papiernen Sinn, der ihr zum Unheil werden mußte.

Kunst war ein Ding, das im Lebensgefüge des Menschen seinen Platz hat, weil es die höhere Lust befriedigt. Er selbst war eingeordnet in dieses Gefüge, dem er dienen mußte, nicht anders als die Maler der stärksten Zeiten, die auch nicht malten, um Probleme des Lichts oder der Form zu lösen, sondern weil die Frommen Bilder für Aug und Herz brauchten. Verdi schrieb für Menschen, nicht für aufgewühlte Geister, für ganz bestimmte Menschen, die sich in den Theatersälen Italiens drängten.

Aber auch er wurde in die Mühle des Jahrhunderts geworfen, die alle Rassen und Stände so durcheinander mahlte, daß alle volksgebundene Kunst unterging. Mochte er sich zuerst in den begeisterten Revolutionsaufruf des jungen Italiens retten. Bald war auch dies vorbei und er stand allein. Aber ungebrochen und immer noch sprach Volk aus ihm, von allen Menschen seiner Zeit aus ihm am stärksten. Und er ging an seine Tat. Ohne das Alte, Heilig-gebundene umzuwerfen, ohne dem Gewohnheits- oder Fortschritts-Pöbel Zugeständnisse zu machen, schuf er in den enthusiastischen Formen, die verspottet wurden, eine Menschenwelt. Wagner, ohne Wurzel, war frei zum Flug. Verdi, ein Gefangener, Kette und Kugel am Fuß, mit einer kleinen Eisenfeile in der Hand, durchbrach seinen Kerker.

Wer diese langwierige Ausführung liest, wird vielleicht den Schluß nicht begreifen, wonach im Werke Giuseppe Verdis soviel Kraft verbraucht worden sei. Wenn er aber an jenem Januarabend den Maestro vor seinem Manuskript hätte beobachten können, würde er vieles besser verstehn.

 

Verdi saß an dem großen Tisch, auf dem die schöne Arbeitslampe stand, die der Senator dem Wirt abgefordert hatte. Das graue Haupt in die breiten Hände gestützt, starrte er aufs Papier. Noch immer war die bösgespannte Entschlossenheit nicht von ihm gewichen, jenes Kampfgesicht, wie es die wenigsten Freunde kannten.

Vor ihm lag das Libretto des ›Lear‹.

Oh die Geschichte dieses Heftes! Siebenmal hatte es Somma neu verfassen müssen, jeder Vers war in einer endlosen Korrespondenz, ja jede Silbe war verworfen, neugeschaffen, wieder verworfen worden, ehe sie dastand. Und als zum siebenten Mal der bis aufs Blut gequälte Dichter mit dem Buch fertig war, hatte sich Verdi wieder nicht zufrieden gegeben, sondern nun selbständig und unabhängig die Dramaturgie umgestoßen, eine ausgeschiedene Figur in anderer Gestalt eingefügt, alte Verse gestrichen, neue geschmiedet, nicht geruht, bis jede Szene umgepflügt und nach dreißig Versuchen die Dichtung in seiner kritzligen Reinschrift zur Komposition bereit lag. Von Natur mehr als wortkarg, kannte er keine größere Schwierigkeit als das Versemachen. Aber er zwang sich mit der ganzen Härte gegen sich selbst, die ihm zur Verfügung stand, unerbittlich bis zur Erschöpfung dazu. Ach, alles drängte in ihm zum Ausruf, zum Aufschrei, zur Kürze! Wäre es möglich gewesen, hätte er Opern komponiert, deren Text nur Jubelrufe, Freudenlaute, Seufzer, Schmerz- und Racheschreie hätten sein müssen. Wozu Sätze aus vielen Worten, die doch niemand verstehn konnte, wenn Musik sie trug. Die musikalische Rede hat eine andere Logik als die des Wortes. Wozu also diese langen, seitenlangen Auseinandersetzungen mythologischer Götter, die begriffliche Unterhaltungen miteinander führen, und nur zu dem Zweck, daß ein nervös gewordenes Orchester diese Langeweile zu ertränken versucht. Nein! Darin lag eine Unwahrheit! Menschliche Erschütterung, Handlung, Charakter, Konflikt können Musik werden, niemals aber das philosophierende Wort.

Dennoch war nichts anderes möglich, als daß er selbst recht viele Verse seiner ›Lear‹-Musik dichten mußte. Diese Verse aber hatten nur die Aufgabe, mit Einbeziehung schönster Originalstellen die Handlung mächtig weiterzuhetzen oder das Wortmaterial für die Ruhepunkte musikalischer Bildungen herzugeben. Vorlaut sollten sie nicht sein. Dafür war aber das Metrum mit großem Feinsinn durchdacht. Nicht mehr wie in den Texten der Solera, Cammarano und Piave herrschte der regelmäßige sieben-, acht-, neun-, elfsilbige Vers vor. Alle Arten und Silbenzahlen, unregelmäßige Formen und strenggebaute Strophen, alles war nach dem Augenblick und der rhythmischen Notwendigkeit verteilt.

Jahrzehntelange Versuche, Mühen, Verzweiflung steckten in dieser Arbeit, von der, sollte sie jemals fertig werden, die Welt wiederum behaupten würde, daß sie ein Gemisch von alter Leichtfertigkeit, neuem Ehrgeiz und hilfloser Nachahmung sei.

Der Maestro hatte eine Szene in der Mitte des Heftes aufgeschlagen. Dann entnahm er der Noten-Mappe einen Stoß zerarbeiteter Partiturseiten und stellte ein Metronom auf den Tisch.

Dieses Metronom war ihm keineswegs ein notwendiger Behelf. Er war imstande, jedes Taktmaß frei anzugeben.

Aber was für andere Künstler Wein, Kognak, schwarzer Kaffee oder verbotene Drogen sein mochten, bedeutete für ihn dieses aufregende Gerät. Wenn es im Presto seine schnellen Schläge durch die Nacht pulste, fühlte er sich herrlich beflügelt, als treibe ihn ein Kriegsmarsch zum Sturm an. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß durch das laute Taktieren die Arbeit wie gejagt fortschreite und die Nummer dadurch, daß sie ihm nicht ganz selbst überlassen sei, an logischem Wurf gewinne.

Die Blätter wurden gesichtet und ausgebreitet. Es war der größte Moment der Tragödie: Der zu Tode gekränkte Lear im Sturm! Aus folgenden drei Bildern des Originals: ›Eine Heide‹ – ›ein anderer Teil der Heide vor einer Hütte‹ – ›ein Zimmer in einer Farm‹ war ein Bild gewonnen worden: ›Zerfallene Hütte! Die Mauer des Hintergrundes ist halb eingestürzt. Rechts eine Holzpritsche. Sturm und Gewitter toben.‹

Die Personen dieser Szene waren: Lear, der Narr, Kent und eine Figur, deren Erfindung von Verdi stammte: Ein wahnsinniger Pilger, der sich vom Teufel besessen glaubt. Der Unglückliche war natürlich niemand anderer als Edgar, des schuftigen Edmund Glosters Bruder, der, um sich zu retten, den Wahnsinnigen spielt. – Der Maestro aber wollte die Oper nicht mit einer zweiten Handlung, wie sie Shakespeare liebt, belasten, und so hatte er die Tragödie der Gloster gestrichen und die Figur des armen Besessenen eingefügt, der für die Gerichtsszene ihm notwendig schien.

Dies der Ablauf der Geschehnisse: Auftritt Lears und des Narren. Lear ruft Götter und Natur zur Rache gegen seine verworfenen Töchter auf. Der treue Kent kommt, findet seinen Herrn (der ihn als König ungerecht verstoßen hat) und will ihn überreden, ein sicheres Dach in dieser Schreckensnacht aufzusuchen. Der bittere Narr macht seine Späße und Sentenzen. Lear kommt immer mehr von Sinnen. Eine Stimme ertönt plötzlich aus dem Dunkel, es ist der besessene Pilger, der seine Gebete und Beschwörungen leiert. Lear, nun vollends im Delirium, fordert das Gericht gegen seine Töchter, macht den Wahnsinnigen zum Richter, den Narren und den verkleideten Kent zu Schöffen des Gerichts. Die grausige Tollheit in der Hütte, der Orkan draußen erreichen ihren Höhepunkt. Lear, von seinen Kräften verlassen, sinkt zusammen, schläft lallend ein. Die drei anderen tragen ihn auf die Holzpritsche und decken ihn wortlos zu. Vorhang.

Dieser Akt war eine große Kühnheit für die Opernbühne der damaligen Zeit. Drei Viertelstunden lang nur vier Männer auf der Szene, alle elend über die Maßen. Der Held ein verstoßener, mißhandelter Vater, der vor Wut und Gram wahnsinnig wird. Der Zweite ein entsprungener Irrer, der gepreßte Schreie ausstößt und schreckliche Formeln betet. Der Dritte einer, der den Narren machen muß, weil Lebensnot und ein überempfindliches Herz keinen anderen Ausweg lassen. Der Vierte eine herrliche Seele, die bitter gekränkt wie ein Erzengel sich durch Großmut rächt. Aber auch er nimmt das närrische Gehaben seiner Partner an.

Praktisch gesprochen: Drei tiefe Männerstimmen (Lear, Kent, Narr) und ein Tenor (Pilger), der aber die beglückenden Vorzüge seiner Stimmlage nicht verwenden kann. Ferner: Ein ganzer Akt ohne Gelegenheit zum wahrhaft lyrischen Cantabile, zur Chorentwicklung, zum Strettaeffekt.

Im Gegensatz zu allen Künstlern, die aus städtischem Bildungskreis herkommen, war Originalität etwas, was sich Verdi abrang, weil er keine originellen Einfälle hatte, sondern weil er mit Hinblick auf die Realität seiner Aufgabe sich sie nicht vollkommen gestatten durfte. Originalität, ist sie denn oft etwas anderes als die Verzweiflung der Bodenlosen? Je unverwurzelter eine Kunst ist, um so mehr strebt sie nach den Ränken des Nochnicht-Dagewesenen. Verdi kannte dieses Fieber nicht. Mit seinem antiken Gerechtigkeitssinn, abhold aller Ich-Übertreibung, erkannte er die tiefe Berechtigung, den edlen Wert der Konvention. Er konnte sie nicht aus dem bloßen Paria-Haß gegen alles Herrschende verletzen. Ehe er es tat, wog er genau ab, obs möglich und nötig war. Bisher wenigstens hatte er es so gehalten.

Musikalisch war der Akt folgendermaßen eingeteilt:

I. Rezitativ-Monolog Lears, ähnlich wie der berühmte Monolog Rigolettos im zweiten Akt.

II. Duettino: Lear und Narr, wobei der Narr (dieser Part war für eine Contr'alto-Stimme geschrieben) ein kleines ironisches Lied hat.

III. Auftritt Kents: Ganz kurzes, rasch hineilendes Terzett der Überredung, daß Lear ein schützendes Haus aufsuchen möge. Seine Weigerung.

IV. Gebet und Exorzismus des besessenen Pilgers. Belebung des Sturmes als kurzes Orchesterstück, Summchor von Frauenstimmen in den höheren Registern. Entwicklung eines kleinen schnellabreißenden A-cappella-Quartetts aus dem Pilgergebet und den Einwürfen der anderen.

V. Höchststeigerung des Unwetters. Beginnende Tobsucht Lears in abgerissen-selbstvergeßnen Melodieteilchen. Aus den einzelnen Phasen des Gerichts fließt das große Finalquartett zusammen, vom ersten Andante grandioso eines durch die Situation schaurigen Chorals bis zum letzten Velocissimo, das der rasende König anführt. Die Nummer bricht ungewohnt mitten in sich selbst ab. Vor dem stammelnd zusammengesunkenen Lear kniet der Narr. Das Englischhorn gibt solo als Erinnerung die ersten zwei Takte seines Liedchens wieder. Der König wird auf die Pritsche gelegt, während das Orchester mit einem melodischen Nachspiel der tiefen Instrumente die erlöschende Szene begleitet.

Dies war der Plan im großen. Dazu kam noch eine Menge notierter Einfälle. Die Kontrabässe sollten nicht nur von Pause zu Pause den Baß schrummen, sondern auch sie bekamen ihre Soli und Erregungen. Wenn der Narr sang, zeigte der Part der begleitenden Instrumente Vorschläge von oft zwölf Noten. Einmal hatte das ganze Orchester zu einem Fluch Lears einen gewaltigen Unisono-Triller zu vollführen. Häufige Taktwechsel waren ebensowenig vermieden wie bösartige Rhythmen und heikle Harmonien.

Vor allem anderen aber lag dem Maestro ein Prinzip auf dem Herzen, das er unbewußt schon im ›Rigoletto‹-Quartett befolgt hatte. Einmal, im Gespräch mit Boito, fand er folgende Worte dafür: »Es kommt nicht auf Polyphonie an, sondern auf Polyvokalität. Alle Stimmen müssen aus dem Gesang geboren, also im Sinne des Gesanges wirkliche Stimmen sein!«

Und ein andermal:

»Das ist das Wunder der Musik, daß sie viele Dinge auf einmal sagen kann. Aber das größte Ziel bleibt, daß aus den vielen einzelnen Stimmen im Zusammenklang eine einzige neue wird, aus der Vielfalt eine höhere Homophonie, das heißt Melodie. Nicht anders wird aus der Polyphonie der sieben Farben die Homophonie des einen Lichts. Hierin stehen Palestrina, Luca Marenzio und die Künstler des A-cappella-Stils bei weitem höher als Bach, der in unerbittlicher Strenge die süße Zusammenfassung des Stimmgefüges in eine höhere Homophonie vernachlässigt. Polyphonie mag gut sein, aber sie darf nicht zu Bewußtsein kommen.«

Der Plan war fertig, die Absichten geprüft, die Skizzen lagen vor ihm. Aber wie der Maestro auf das Gewirre der Noten starrte, auf all die halben Sätzchen, Themen, Rezitative, Begleitungsformen, erfaßte ihn wieder dieser Ekel, diese Lähmung, die seit einem Jahrzehnt sein Leben verbitterte. Dies also war das Material, das zur neuen Tat genügen sollte? Aber all diese Dinge hatten er und andere ja schon hundertmal gesagt.

War ihm wirklich nicht mehr eingefallen als dieses Akkordgestampf, das Schrecken bedeutete, diese Getragenheit der Notenfolge, mit der er schon zwanzig andere Väterrollen bedacht hatte, dieses großmäulige Sostenuto religioso, das schon Donizetti und Rossini zu verwenden liebten, wenn sie Gott in ihr leichtfertiges Spiel zogen? War das nicht schon alles bis zur Schamlosigkeit abgebraucht? Verdiente er nicht schon längst in der Modersammlung Grittis einen untergeordneten Platz? War er wert, auch nur Epigone Richard Wagners genannt zu werden, da er ja nie etwas Neues geschaffen hatte und höchstwahrscheinlich zu Unrecht sich über die Mercadante, Pacini, Ricci, Petrella, Mabellini erhob, die ja nur weniger glücklich gewesen waren als er? Einst hatte er sich dieser Sentenz vermessen: »Erfolg ist niemals Glück, sondern eine geheimnisvolle Kraft des Erfolgreichen.« Oh, das war gewiß nur eine dumme hochfahrende Prahlerei. In diesen Dingen herrscht Unsinn und eitler Zufall.

Wie durfte er sich mit Wagner messen, der mit seiner ersten Note schon das getan hatte, was er noch immer nicht zu tun verstand?

In freundlichen, in trunkenen Augenblicken, wenn er sich in seiner Einsamkeit, auf den Spazierwegen des Parks von Sant Agata, irgendeiner Melodie besann und sie vor sich hinsang, da schien sie ihm oft herrlich und voll Wonne. Jetzt aber, da vor ihm diese Noten lagen, ohne allen Klang, in ihrer nackten Bedeutung, glichen sie eklen erschlagenen Insekten.

Sollte er nicht auf und davon? ... Was suchte er denn in dieser Stadt? ... War solche Unruhe, solches Abenteuern eines alten Mannes würdig? ... War er wirklich alt? ... Aber er fühlte sich ja nicht anders als vor vierzig Jahren ... Und doch, er war alt ... Bald siebzig! ... Vielleicht schon in diesem Jahr mußte er sterben  ... Das würde niemanden verwundern ... Vor zwei Jahren den umgearbeiteten ›Boccanegra‹ hatte man schon als senilen Abschluß einer glorreichen Laufbahn angesehen ... Und nun dieser verfluchte ›Lear‹? ... Der herrliche Stoff, sollte er liegenbleiben?! ... Nein, nein! ... Er mußte zeigen, was er vermochte ... Ah, welche Eitelkeit! ... Sagte er nicht so oft den Freunden, wenn er je schriebe, würde er es nur mehr für sich selbst tun! ... Und jetzt dachte er wieder daran, zu prahlen, für den Wahn zu schaffen ... Ist dieser Teufel nicht zu töten, dieser Ehrgeizteufel, der alles verdirbt, jeden stillen Genuß tötet, der die Sekunden des Tages mit törichtem Lärm vor sich herjagt, daß keine zu sich kommen kann? ... Wie viele Sekunden hat denn der Satan noch zu jagen? ... All die Vögel, diese Wachteln (mit der Jagd bei Busseto ist auch nichts mehr) liegen schon erschossen im Feld, nur ein paar noch fliegen durch die Dämmerung ... Und für wen das alles? ... Wenn er noch Kinder hätte! ... Aber er hatte keine Kinder mehr! ... Nur manchmal noch, tief im Traum, zeigte sich das sterbende Gesicht des kleinen Icilio. Warum fiel ihm dieser wehmütige Name ein? ... Nie hatte er es verwunden, dieses Kind.

Kam das vom Alter, daß seine Gedanken immer wieder abschweiften, daß er nicht mehr konzentrationsfähig war? Früher, im Lärm der Straßen, im Tollhaus von Paris, konnte es aus ihm hervorbrechen, dieses Rasende, diese Lust aller Lust, diese süße Drosselung der Kehle, dieses Glück in jedem Muskel, die Melodie! ... Aber jetzt? ... Wenn es auch nahen wollte, alles andere war stärker: Der Zweifel, die Besinnung, die Verwerfung!

Nein, nein! ... Er wollte nicht nachgeben ... Es mußte versucht werden, jetzt und hier!

Wieder starrte der Maestro in die Partiturskizze, wiederum las er diese Gebilde, wieder krampfte sich alles in ihm zusammen vor Widerwillen:

Nein, das war nicht möglich! ... So schlecht hatte er es nicht in Erinnerung gehabt ... Es ist ein Irrtum ... Sein Blick mußte verwirrt sein.

Und er stand auf. In plötzlicher Ruhe fragte er sich selbst:

›Wie ist das geschehn, daß ich an all das nicht mehr glauben kann? Wer hat mir das getan?‹

Nur eine Antwort gab es da, unsinnig und tausend Mal schon eingeholt: ›Wagner!‹

 

Weinerlich fast und wie ein Knabe begann der harte feurige Mann zu rechten:

Warum denn mußte er in die Welt treten? – Es war alles so schön vorher. – Nun quält er mich. – Ich habe ihm nichts Böses getan. – Er aber sinnt nur darauf, mich zu vernichten. In seinem ungeheuren Hochmut tut er so, als würde er mich nicht und keine Note von mir kennen – (oh, hoffentlich kennt er keine) –; dennoch, alles was er tut, tut er nur mir zu Leide.‹

Verdi kam plötzlich zu sich und war erstaunt, zu welchem Fieberwahnsinn die Pein der langen Unfruchtbarkeit ihn verwirren konnte.

Was wollte er denn von Wagner? – War er neidisch? – Der Deutsche ging glänzend, selbstsicher und schöpferisch in jeder Minute, von Knaben umschart, seinen grellbeleuchteten Weg.

Der Maestro senkte krampfhaft den Kopf über sein Werk. Der Entschluß war felsenfest:

›Ich werde den ›Lear‹ machen!!‹

 

Er begann zu arbeiten, schrieb auch wirklich einige neue Takte. Dann aber kamen all die Vertröstungen über ihn, die listigen Feinde des Künstlers: ›Es ist schon spät ... Ich bin nicht gelaunt ... Morgen wird es besser gehn.‹

Langsam räumte er die Blätter zusammen und trat wieder seinen hartnäckigen Rundgang durchs Zimmer an. Bei einem Bücherbord blieb er stehn.

Welch ein Spaßvogel hatte ihm seine sämtlichen Werke wie zum Hohn vor die Nase gestellt? ... Nur der Senator konnte es gewesen sein ... Wie quälen uns doch diese Freunde mit dem Gestern, mit dem ewigen, blödsinnigen Gestern.

Da sah der Maestro einen großen roten Einband. Er griff danach und las:

›Tristan und Isolde, in drei Handlungen von Richard Wagner.‹

Fassungslos hielt er den Auszug in der Hand. Wer hatte das getan? Der Senator? ... Nein! ... Ein Feind? Wußte denn jemand von seiner Anwesenheit in Venedig?

Lange Zeit wie betäubt, rührte sich Verdi nicht. Aber auf einmal wandelte ihn eine schreckliche Lust an, das zu tun, wovor er sich bisher gehütet hatte: Diese Musik zu lesen, zu spielen! Schon drangen seine Finger in die kühlen Blätter, aber im letzten Augenblick riß er sich los, öffnete heftig die Balkontür, trat in die Nacht und überlegte, wie er sich von diesem schrecklichen Geschenk befreien könne. Das Wasser war zwar einige Meter weit entfernt. Aber die Nacht machte alles nah. Ein starker Schwung würde den ›Tristan‹ ertränkt haben.

Sehr schnell aber, mit dem betretenen Gefühl eines Menschen, der etwas Schändliches geplant hat, kehrte Verdi ins Zimmer zurück:

›Über jeden scheint das Schicksal eine Geißel zu verhängen‹, dachte es in ihm, und:

›Wagner?‹

Dann sperrte er mit Behutsamkeit das Werk in einen Kasten und steckte den Schlüssel zu sich.

VI

Es ist nicht weiter verwunderlich, daß es Italo gewesen, der diesen Klavierauszug in das Zimmer des Maestro gepascht hatte.

Nach langen Kämpfen mit sich selbst war das volle Herz des Senators übergelaufen. Er hatte Italo in das Geheimnis eingeweiht und ihm den schärfsten Vaterfluch in Aussicht gestellt, sollte ein anderer davon erfahren. Überdies bekam der Sohn den ehrenden Auftrag, mit seinem gerühmten Geschmack dem Zimmer des hohen Freundes den letzten Schliff der Schönheit und Bequemlichkeit zu geben.

Dabei unterließ es der junge Wagnerianer in seiner Bekehrungswut und Neugier nicht, den ›Tristan‹ zu den Werken Verdis zu legen.


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