Josef Wenter
Tiergeschichten
Josef Wenter

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Eine Storchengeschichte

Es geht in den Mai. Die Paarungsflüge und Nestkämpfe, die Eifersüchte und Leidenschaften wesen wie eh und je unter der Vogelwelt in den Schilfwäldern und Sümpfen am blauen Nil. Ibisse und Flamingos, Pelikane und ägyptische Störche, Gänse, Sumpfhühner, Enten haben ihre jahrlangen Brutplätze bezogen und verteidigen diese und sich selber hartnäckig. Die großen einträchtigen Sippen haben sich in einzelne Familien zerlöst, und die treiben eifersüchtig ihr Eigendasein.

Anders die Wanderstörche. Unrast der Reise hat sie überfallen, und was die andern Vögel veruneint, treibt diese zu großen Verbänden zusammen.

Allmorgendlich und früh an den Abenden steigen sie in den dunstigen Himmel auf und ziehen, lautklappernd, riesige Richtungskreise, üben Segelflüge unterm Wind, mit dem Wind, kreuzen auf, lavieren und erfüllen die einsamen Lüfte mit dem Gesaus ihrer schönen Schwingen. Sie formen spielerisch das uralte Triangel, das doch ein großer Ernst ist auf der weiten Sommerfahrt, begrüßen sich mit Kranichen und Reihern, mit Wildgänsen und Schwarzstörchen, die das gleiche schöne uralte Siegel ihrem Wandertrieb aufgeprägt halten: den Keil, das Triangel, das Himmelstrigon glückbringender Scheine.

Dann hat ein Ältester eines Abends sehr hoch droben den Richtungskreis verlassen, hat das Zeichen kurz gegeben und 22 die strenge Richtung gegen Norden genommen. Sogleich begreifen seine nächsten Sippen, daß der große Ernst da ist, dem sie seit Wochen sich leidenschaftlich näherten, und sie rücken in den Keil. Triangel um Triangel ziehen sausend im Nachtwind hin, kehren aus dem hohen Himmel nicht mehr in die Sümpfe nieder. Schwach und schwächer hallt das Geklapper der reisenden Störche zurück in die Heimat, fadendünn schwimmen die genauen Keile am verbleichenden Horizont. Wo sie aber überhin kommen, antwortet aus Lagunen und Schilfwildnissen in die hallende Nacht das Geschnatter und Gekreisch heimischer Vögel, die jährlich die Züge der Störche bestaunen, aus schiefen Köpfen hinaufstarren zu den Wanderern und es nie begreifen, daß man die nahrhafte Heimat verlassen mag, um ins Ungewisse zu fahren; denn hinter den uralten Jagdgründen beginnt das Ungewisse und natürlich die Lebensgefahr.

Wann der Morgen über dem blauen Nil steht, oh, dann haben die Störche das blaue Meer unter sich, und die Schiffer grüßen sie als Glücksboten und Bürgen sicheren Frühlings. Oder auch hört der Muezzin in Palästina das Geklapper und Gesaus in seinen Morgenruf, und gewahrt die fadendünnen Keile ostwärts reisender Sippen über den Nadeln ferner Minarete.

Es kann sein, daß sie über den Alpen in Schneestürme geraten. Die alten erfahrenen Flieger kennen sie. Sie staunen immer wieder über die Flocken und haben Mühe, im Gestöber das Dreieck zu halten. Sie schicken die Erfahrensten und Kräftigsten an Spitze und Enden des Keils; und wenn sie sonst seltene Flügelschläge tun und, Meister des Segelflugs, den Wind für sich arbeiten lassen, so müssen sie jetzt öfter die Schwingen schütteln, daß die Last des Schnees sie nicht 23 niederziehe. Graupenböen, die auf Leib und Flügel prasseln, fechten sie wenig an. Ach, was sind die Hagelböen ihres Sommerlands gegen die Eisstürme später Herbstgewitter über der afrikanischen Heimat!

Dann haben sie bekannte Gegenden unter sich. Genau ist das Bild der Landschaft in ihrem Gemüt. Der große Strom ist überflogen; dann der größere; dann die Gabel zweier Ströme und das waldige Hügelland weithin gegen Sonnenuntergang. Ein Keil Schwarzstörche hat sich mittags ostwärts gewendet und ist laut klappernd im Gewölk, das über der ungarischen Tiefebene lag, verschwunden. Da und dort ist ein Triangel zurückgeblieben, hat weite Richtkreise gezogen und ist dann mit steileren Schwingen über einer Heidelandschaft niedergegangen. Andere sind westwärts davon, immer in den roten Abend hinein, daß das genaue Dreieck schimmernd im glühenden Sonnenball schwamm. Andere schoben sich in den hernächtenden dunkeldunstigen Osten; sie werden in den polnischen und masurischen Sümpfen landen.

Der letzte Keil hat sich über der märkischen Seenplatte herabgelassen. Es sind alte erfahrene Vögel und einige männliche Jungstörche. Die alten verteilen sich über die weitverstreuten umbuschten Dörfer. Jeder und jede kennen die Menschensiedlung, kennen ihre Giebel, ihre Strohdächer, oder den alten Weidenstumpf, wo ihre Nester sind, die sie im Herbst verließen. Jetzt finden sie sie, verzaust von Stürmen, vom Druck des Schnees und den Aprilregen. Es ist wie alle Jahre her. Seit Jahren hausen sie zusammen, reisen zusammen, verleben ihre Sommer in Deutschland und den Winter Afrikas, einträchtig, in strenger Ehe.

Aber da kommen einjährige Männer mit, die erst im vorigen Herbst auf einem dieser Giebel geboren sind, dann den 24 großen Flug südwärts und nun ihn zum erstenmal nordwärts getan haben.

Der erste Herbstflug war ungeheuer. Daß das Leben so unendlich ist, erfuhren diese Jungen, die im Keil zwischen den Alten heimwärts zogen, staunend und blind gehorsam ins Ungewisse segelnd. Denn immer ist ihre Heimat die große Landschaft unterm Äquator, wenn es auch der Himmel Europas ist, den sie erstmalig über sich sehen, in den hinein sie klappern und vertrauensvoll aufsteigen. Immerhin, der erste Flug ging unter mehreren Rasten vor sich, die die Alten den Jungen gewährten. Diese Nordlandsfahrt aber, in Gesellschaft der alten Paare, war anstrengend, trotzdem man wochenlang weite und hohe Flüge und Segelübungen über Lagunen und Schilfwäldern gemacht hatte.

Da waren mehrere der Jungstörche kurz hinter der Donau zurückgeblieben. Andere hatten schimmernde Teiche im böhmischen Land verlockt. Zwischen Elbe und Weser waren ein paar Jungstörche im Keil der Alten gelandet. Nur ein besonders Tauglicher, ein unentwegter Bursch hielt durch und ging fremd und erwartungsvoll über dem Strohdach eines einzeln liegenden Bauerngehöfts nieder, droben in der Mark, wo an besonderen Tagen Geruch des Meeres mit dem Winde kommt. Er hatte ein herrliches Reisigbündel überm Giebel eräugt, und wenn ihm auch nicht ganz klar war, was damit anzufangen wäre, so mutete ihn das verlassene Nest heimelig an, und er trat mitten hinein.

Da steht der Jungkerl, klappert und besieht sich die Gegend; und die gefällt ihm, ja sie scheint ihm vertraut. Er weiß nicht, daß er in dem Nest geboren und auferzogen ward. Er fühlt sich nur behaglich, und alles ist gut so wie es ist, und muß so sein. Er stochert in dem Reisigbau herum, ohne 25 rechten Ernst, nur weil es sich seit undenklichen Zeiten so gehört, und geht dann auf die Jagd. Er ist bald satt, und weil er sehr müde ist von der weiten Fahrt, landet er noch vor der Dämmerung auf dem Dach, klappert ein paarmal in die Runde, mehr so für sich, legt eins seiner hohen roten Beine flach an den Bauch, steckt den gefährlichen Schnabel unter die rechte Schwinge, lugt aus schläfrigen Augen noch eine Weile in den Abend, und dann fallen ihm die dünnen Lider über die klugen Augen.

Es hätte ihm gut gepaßt auf dem Dach. Er hat sich völlig eingelebt und ist wie zu Haus. Da erlebt er nach wenigen Tagen eine böse Überraschung. Er war gegen Abend auf die sauere Wiese hinausgesegelt und hatte sich ordentlich angefuttert. Wie er heimkommt, steht eine Störchin neben dem Nest. Sie steht auf einem Bein und nimmt das andere nicht vom Bauch vor dem Jungkerl. Sie beäugt ihn bloß aus sehr kalten Augen und zischt dünn. Sie klappert nicht einmal. Sie ist müde von der Wanderschaft und will sich ausrasten.

Eine Frau? Oh, warum nicht! Die hat ja wahrscheinlich bisher gefehlt zu dem Nest. Der Jungstorch, der sich in den wenigen Tagen bereits in beste Kondition gebracht hat und aus der weiten Fahrt im Triangel ein großes Selbstbewußtsein und beträchtliche Kräfte fühlt, stellt sich in einiger Entfernung vor der Störchin auf und fragt sie, was sie bei seinem Nest suche. Daß sie eine Frau ist, hat er ihr gleich angemerkt und jetzt ist er unsicher, ob sie allein gekommen ist. Denn soviel ist ihm schon klar geworden. daß das Nest anderen Besitzern gehört, daß es wahrscheinlich nicht auf ihn gewartet hat. Keinen Deut weiß der Bursch, daß er da seine leibliche Mutter anredet. Wie auch? Nach dem großen 26 Jungfernflug im Herbst landete man am Nil, und bald war jeder seines Weges gegangen. Die Alten hatten ihre Pflicht getan, hatten Kinder gezeugt und großgezogen und sie in die Heimat gebracht. Damit hatten sie genug getan und kümmerten sich nicht mehr um das Geflügel, das froh seiner Selbständigkeit, eigene Kreise zu tun anhub.

Der Störchin geht es dunkel auf, daß der hochfahrende Kerl vor ihr da möglicherweise ein Sohn von ihr sein könne. Aber was geht er sie an? Sie lebt seit einigen Jahren in ungestörter Eintracht mit ihrem Manne. Sie ist noch jung. Auch ihr Mann ist nicht alt. Sie wird wieder Söhne und Töchter haben. Mit ihrem Mann. In diesem Nest da. Es gibt keine anderen Männer.

Pack dich, zischt sie.

Ja, der Junge denkt nicht daran. Sie gefällt ihm. Oh, wie sie ihm gefällt, weil sie so behütlich neben dem großen Nest steht. Er kennt gleich, daß sie da schon ein bißchen Ordnung gemacht hat. Es hatte ihr wenig gepaßt, was er mit seinem Junggesellenschnabel daran gebosselt hatte. Mehr aus Langeweile eigentlich. Jetzt freilich sah es schon fein aus, und es wäre herrlich, wenn sie samt dem Nest ihm gehörte. Warum nicht? Er sieht keinen Mann, soweit er auch äugt. Und weil er weiß, daß manche Frauen zurückgeblieben sind, – – – vielleicht ist sie eine verspätete Reisende? Die keinen Mann hat?

Zweifelnd tritt er von einem Bein aufs andere, wobei er immer näher an die Störchin herankommt, oh, nur um Zehenlänge jedesmal, aber immerhin. Und er klappert vertrauensvoll und schüchtern zugleich.

Die Störchin zischt nicht mehr. Sie hat noch keinmal geklappert. Sie hat den Schnabel unter der Schwinge und 27 betrachtet klug und ernsthaft den jungen schönen Ritter. Das andere würde ihr Mann besorgen.

Immer mehr gerät der Werber in Zweifel, weil die Störchin seinem beredten und ausdrucksvollen Geklapper wirklich zuhört. So muß er es doch auffassen, denn sie versteht natürlich genau, was er sagt und will. Aber, Gott befohlen, er ist ihr nur langweilig und nicht der Mühe wert, zu antworten. Der Ritter wird kühner. Er tritt hart neben sie, stelzt zwei zierliche Schritte zurück, lüftet ein wenig die Schwingen, verbeugt sich ein paarmal, tritt wieder auf sie zu, benimmt sich äußerst verliebt und glaubt an gewonnenes Spiel.

Da fährt ihm eine sausende Schwinge über Kopf und Hals, daß er das Gleichgewicht verliert und aufflügelnd das Strohdach hinabrutscht. Er ist so verdutzt, daß er im Augenblick nicht weiß, was geschah. Hat sie plötzlich zugeschlagen? Sonst war niemand da! Auch hatte er niemand herankommen gehört. Natürlich hatte er nichts gehört. Sein verliebtes Geklapper hat ihn taub gemacht. Jetzt bekommt er einen brennenden Stoß in die Schulter und kann die linke Schwinge nicht freibekommen. Die hängt irgendwo. Natürlich hängt sie! Der Mann der Störchin hat sie unterm Gelenk in den Schnabel gekriegt und da hängt sie eben fest. Der riesige Federknäul, aus dem vier rote Stelzen nach allen Seiten hin sich recken, flattert lärmend die Wiese hinaus. Dort nimmt das Turnier seinen Fortgang. Bald in den Lüften, bald im Gras hauen und stoßen die erbitterten Männer aufeinander los. Federn stieben; lautes Geklapper mehrerer Sekundanten, die herbeigekommen waren; Gelächter der Menschen, die das nicht sehr ernst nehmen und sich freuen, daß es in der Welt dieser Ausländer um kein Haar 28 friedlicher und wohlwollender zugeht, als bei ihnen; Hunde bellen und beginnen zu raufen, wahrscheinlich aus Eifersucht auf die Vögel, die im Mittelpunkt sind: kurzum es ist ein Spektakel und dabei eine überaus ernste Angelegenheit. Hin und her wogt der Kampf und verzieht sich weiter ins Land hinaus, gegen den großen Weiher. Dann hebt der eine sich auf und landet auf dem Giebel. Wie sah er aus! Abgekämpft, erschöpft, aber siegreich. Ein Held.

Der andere sucht sein bißchen Dasein, das verbeult und schäbig und blutend ist, am Rand des Weihers zusammen. Eigentlich begreift er nicht. War er nicht im Recht? Hatte er nicht die Frau und das Nest und den Giebel und eine mehrjährige Ehe tapfer verteidigt? Woher hatte der Jungkerl solche Kräfte und Künste im Turnieren? War es in der Ordnung, daß er, immerhin ein gereifter älterer Mann, neue Lebenswege gehen sollte, eine neue Frau, vielleicht gar in einer anderen Gegend sich suchen müßte? Nein! Er würde morgen wieder angreifen! Heute gehorchte die rechte Schwinge nicht, und es war auch sonst besser, auf morgen zu warten. Er flügelt auf. Aber weil die Schwinge nicht mittut, verliert er nur das Gleichgewicht auf den hohen Ständern und überschlägt sich. Etwas ist gebrochen, verstaucht. Der Jungkerl hat einen Teufelsschnabel und versteht sich auf solche Praktiken, scheint es. Die Stelzen tragen wohl und treten willig in den weichen Schlamm. Wenigstens das also! Klappern wird er nicht. Kein Grund dazu! Aber der Schnabel gehorcht. Der Frosch fing sich ja; zwar nicht so gut wie sonst, aber immerhin. Schwach ist er, oh gewiß. Im Oberschenkel ist ein klaffender Biß und der Hals blutet stark. Mehr stört es, daß die Welt sich schief darstellt. Wie ist das? Ja, es ist eben so! Die Welt steht schief im Gesicht. Es brennt ihn 29 auch im Gesicht. Er weiß nicht, daß der Schnabel des Jungkerls ins linke Auge fuhr. Nicht absichtlich. Aber man trifft eben, wohin es will. Und es wollte bös. Man wird also mit schiefem Kopf von nun an Frösche und Mäuse belauern; man wird in den nächsten Stunden öfter nebenhin schnappen und es nicht begreifen, daß die Maus davonsprang und der Frosch noch Zeit hatte, wegzuplumpsen. Aber man ist weder wehleidig, noch hat man gar Mitleid mit sich selber, wie etwa die Hofhunde, die heulen, wenn man ihnen mit dem Schnabel eins überzieht. Man wird morgen mit dem frühesten aufs Dach zurückkehren und wird dann geschickter angreifen. Man klappert jetzt ein wenig nach der Frau, ziemlich dünn, weil sie ja doch nicht mehr um die Wege sein wird. Man fühlt es nicht behaglich, in der Wiese nächtigen zu sollen. Man ist nicht in der Heimat. Man kennt die Nächte der Sommerwelt nur vom hohen Nestplatz aus. Vielleicht sind sie gefährlich auf dem Erdboden? Man versucht es wieder, aber die Schwinge hängt ohne Verstand und Teilnahme, sie schmerzt nur, wenn man von ihr etwas will. Man stelzt eine Weile ziellos umher, futtert ein wenig, stochert so herum; man zieht endlich ein Bein ein, wie man es gewöhnt ist in der tiefen Dämmerung. Aber man verliert das Gleichgewicht. Wie ist das? Die Halswunde blutet aus der Schlagader. Es ist schon ganz finster. Man klappert nochmals, aber ganz ohne Freude. Es ist vielleicht besser, man tut sich nieder? Oh, man sitzt und sieht nicht mehr über das Gehalm hinweg. Das stört einen nicht. In der Heimat ist man immer kleiner als das Papyrusschilf. Man döst, und die Augen fallen einem zu. Dann springt etwas an die Brust, und es brennt sehr. Man fährt in die Höhe und will fliegen. Oh, die Schwinge! Man schlägt mit 30 dem Schnabel nach dem Biß. Aber das nützt nichts, es beißt gleich ärger. Man sieht nichts, man hört nur ein Fauchen und es beißt, beißt, oh! und zerrt und hängt schwer an der Brust. Man hat zu laufen versucht, aber es ist dunkel und man flattert so hin, strauchelt im Gras und fällt; und da verbeißt der Marder sich tief in die große Herzader. Es hat wohl keinen Sinn mehr? Nein, gewiß nicht! Man liegt schon flügelnd mit den roten Ständern um sich schlagend im Gras.

Die Störchin stand nicht mehr neben dem Nest, als der siegreiche Ritter heimkehrte. Sie hatte den turnierenden Männern eine Weile nachgeäugt. Dann war sie die andere Seite des Daches abgestrichen, in die dämmernden Felder hinaus. Mochten die Männer allein zurechtkommen, sie jedenfalls hatte Hunger. Daß alles beim alten bleiben würde, daran zweifelte sie keinen Augenblick. Es war nicht der erste Werber, den ihr Mann abgekämpft hatte. Sie kröpfte ordentlich und behaglich, stelzte den viele Sommer begangenen Mäusewechsel mehrmals ab, nahm einen Frosch und mehrere Schnecken dabei mit; hatte das Glück, eine frisch gehäutete Ringelnatter anzutreffen, eine junge zwar, aber um so schmackhafter; und segelte dann satt und zufrieden zu ihrem Giebel heim.

Natürlich, da stand ja der Mann! Von weitem sah sie ihn, und daß er das Gefieder strählte. Es war also wieder einmal erledigt. Sie klapperte vertraut und froh im Flug. Aber als sie Antwort bekam, machte sie eine scharfe Kehre, daß es ordentlich Wirbel gab, schraubte sich ein wenig in die Höhe und kreiste mehrmals in weiten Bogen um das Dach, äugte hinab und in die Runde und klapperte erstaunt und nicht mehr froh.

Der Jungkerl hatte sich aufgehoben, segelte hinter der 31 Störchin her und warb mit allen Registern, die sein Schnabel und seine Seele hergaben. Was denn? Ja, was sollte sie tun? Auf der Wiese nächtigen? Es ist gegen jedes Herkommen, auf der Erde zu schlafen, wenn man in den Lüften ein Nest hat. Es dunkelte stark. Sie ging auf dem Giebel nieder. Sie beachtete den Ritter nicht. Wenn der geglaubt hatte, sich etwa Rechte erkämpft zu haben, täuschte er sich. Sie hatte jetzt keinen Mann mehr, sie mußte sich selber schützen. Als er kurz hinter ihr gelandet war, trat sie ihn heftig klappernd an und zischte. Seine kühne Tat hatte ihm keinen Schein verliehen in ihrem Gemüt. Er staunte und begriff nicht.

Oh, Jüngling! Erstmaliger Liebhaber! Bursch mit den ersten Sporen! Das uralte Gesetz deiner Sippe, das heißt: Treue auf Lebenszeit!, woher solltest du es wissen? Du Jährling hast es noch nicht beobachten können, daß die Sippen auch in der Heimat in strengen Paaren leben. Du bist ins Leben getapst, und die Zäune und Zäume werden dir erst angelegt. Habe erst eine Frau! Dann ist das Gesetz augenblicklich in deinem Gemüt lebendig. Jetzt sieh, wie du zurechtkommst!

Sie duldete ihn nicht auf dem Giebel. Er nächtigte auf dem Dach des Heustadels. Er betrachtete sich zwar keineswegs als abgeschlagen . . . . aber immerhin, er hatte es sich anders vorgestellt. Im ungewissen Licht sah er die Störchin drüben stehen. Sie gab keinen Laut. Einmal wechselte sie das Standbein. Vielleicht, wahrscheinlich schlief sie. Er schlief lange nicht. Er grübelte. Ho, morgen gab es einen langen Tag! In der frühesten Dämmerung wollte er sich wieder heranmachen. Jetzt hörte er sie am Nest herumstochern. Er horchte auf. Dann war es still. Er nahm den Schnabel unter die Schwinge. 32

Ach, er hatte sich zuviel vorgenommen, in aller Frühe auf die Suche zu gehen. Sie hatte nicht verschlafen. Es war kaum grau, als sie sich aufhob und ins taunasse Land hinaussegelte. Sie flog sehr tief, und ihr Klappern verhallte zeitweise in weißen Nebeln. Dann traf sie den und jenen Verwandten, die über die Wiesen stelzten und den Morgenimbiß sich fingen. Sie kannte sie alle, und alle kannten sie. Mehrere waren Zeugen des gestrigen Turniers gewesen. Keiner hatte ihren Mann, der auf der Reise ihr guter Führer und Vorstoß des Keils gewesen war, gesehen. Sie wußten gleich, warum die Störchin nach ein paar Schritten sich immer wieder aufhob und klappernd wieder niederging, suchend, stelzend. Aber sie sahen auch, daß sie keinen Deut sich um Mäuse oder Frösche kümmerte. Kibitze umgaukelten ärgerlich eine Krähenschar, drüben am Weiher. Sie haßten diese Nesträuber und machten ein großes Geschrei. Natürlich sind diese Gaukler auch den Störchen nicht grün. Denen schmecken Kibitznestlinge sehr gut.

Die Störchin hatte sich aufgehoben und segelte über der Krähenwolke hin. Da gewahrt sie, wie die Schwarzröcke sich um den Balg eines Storches raufen. Sie geht nieder und stelzt ein, zwei Schritte nahe hinzu. Die Krähen tuen den Kriegsruf und steigen lärmend auf. Sie würden von oben angreifen, wenn man ihnen die Beute strittig machte. Die Kibitze umgaukeln schreiend die Störchin. Die beäugt ernsthaft den Leichnam und muß wohl erkannt haben, daß es ihr Mann ist, um den die Krähen sich gebalgt hatten. Sie flügelt klatschend auf. Ein Stück weit verfolgen sie die Kibitze. Sie landet auf dem Giebel. Dort stellt sie sich neben das Nest hin, legt ein Bein wagrecht an den Bauch und steckt den schönen roten Schnabel unter die Schwinge. Sie 33 klappert kein einzigesmal. Sie schaut nur aus ernsthaften Augen unbeweglich ins Land hinaus, über dem jetzt die Sonne aufgeht.

Dann kam der Ritter. Oh, welch einfältiges Herz! Eine große Maus legt er behutsam vor die Verlassene und klappert schüchtern. In seinem Gemüt verwirrten sich die Ströme von Liebesleidenschaft und Hegnis um die Brut. Er flügelt im Stand und macht zärtliche Verrenkungen mit Hals und Leib, klappert laut und leise und benimmt sich so leidenschaftlich und schüchtern zugleich, daß die Störchin, die ihn keinen Nu aus ihren ernsthaften Augen läßt, endlich langsam den Schnabel aus dem Gefieder tut. Das war wohl ein kleines Entgegenkommen? Der Ritter jedenfalls faßt es so auf; und daß sie nicht zischt, freut ihn so, daß er sich aufhebt und laut klappernd einen sausenden Kreis über dem Dach tut. Wie er landet, steht die Störchin auf beiden Beinen, und die Maus ist weg. Hallo! Immerhin, wie er kühner werden will, läßt sie sich vom Giebel fallen und segelt in die Wiese hinaus. Er hinter ihr. Sie ist hungrig, das hat ihr die Maus deutlich gemacht. Sie stelzt die Wechsel ab, und der Ritter staunt über ihre Landeskenntnis. Er schreitet hinter ihr her und überfrißt sich fast aus Zutunlichkeit, und weil er den Drang hat, es ihr gleichzutun. Er hatte ja schon gefrühstückt.

Gegen Mittag erst hob das Paar sich auf und erschien auf dem Dach. Durch die heißen Stunden döste man, putzte dann umständlich und genau Schwingen und Gefieder und die roten Füße, und machte nicht viel Wesens. Gegen Abend aber war kein Zweifel mehr. Sie hatten sich gefunden. Das Geklapper des Ritters war männlich und stolz, und auch die Störchin redete zutunlich mit ihm. 34

Als nach einigen Tagen ein Triangel heranrauschte, unter dem sich ein paar junge ledige Leute befanden; als es einen Storch wunderte, wer die Giebelleute wohl wären, und er mehrmals, keineswegs zudringlich, enge Kreise um das Dach zog; da stob der Jungvermählte zornig klappernd und sausend auf und verfolgte den Neuling weit ins Land hinaus. Wie ein Alter! Die Störchin hatte dabei ihre eigenen Gedanken.

Dann nahm das Sommerleben seinen Verlauf wie eh und je, und wie seit Jahrtausenden. Die Störchin bosselte noch stundenlang am Nest herum und eines Tages blieb sie auf ihm sitzen. Dann ging der Mann allein auf Jagd und brachte wohl diesen und jenen Leckerbissen mit. Gegen Abend aber und in der ersten Frühe hob auch sie sich auf und pirschte die Wechsel ab; dann hielt der Ritter Wache beim Nest. Nach Tagen ward es dort sehr lebendig, und die nackten Jungen benahmen sich äußerst hungrig. Es war ein fortwährendes Zu- und Abfliegen auf dem Giebel, und der Vater dieser täglich sich verschönernden Kinder mußte auf seinen Nachmittagsspaziergang im Hof des Anwesens verzichten. Das war wirklich ein Verzicht. Er kannte den Hofhund und die Katze, Hahn und Hühner, Enten und Gänse, lauter Leute fast, die er zum erstenmal im Leben gesehen hatte; und er spielte mit allen. Nur mit der Katze kam er in kein Verhältnis. Vor den Menschenkindern blieb er mißtrauisch. Oh, hätte er gewußt, was die von ihm glauben! Mit dem Dackel spielte er besonders gerne. Ja, das war ein Spaß, wenn das Vieh heulend vor dem großen Schnabel davonlief! Natürlich hatte der Dackel den Storch zum besten. Es freute den Schlaukopf nur, diesen an seine Angst glauben zu lassen. Ein verflixter Kerl, dieser Dackel! Er 35 könnte dem Langbein ja von hinten an die große Stelze! Das tat er aber beileibe nicht. Er wußte gut, in welchem Ansehen dieser Ausländer, dieser Stromer, dieser Wanderbursch, der so ernsthafte Augen hat, die nie lachen, beim Menschen stand. Oh er, der Dackel, er lachte aus seinen Schwarzkirschenaugen den Stelzenmann weidlich aus.

Kurz und gut: mit diesem Vergnügen hatte es einstweilen sein Ende. Des Ritters Junge hatten kein Einsehen, und abends war man oft so müde, daß man beinahe vergaß, den Schnabel einzustecken. Man schlief einfach so ein, wie man geschaffen war. Aber die Zärtlichkeit nahm zu, je mehr die Jungen zunahmen. Es war doch ein schönes glückliches Leben, trotz allem.

Da geriet zum Beispiel eines Nachts die Katze auf den Giebel. Sie wollte wohl nicht sterngucken, aber reiner Zufall war es auch nicht. Sie bekam alljährlich um diese Zeit Sehnsucht nach dem Hausdach. Die Rittersleutchen waren nun so groß, daß die Mutter nicht mehr auf ihnen saß. Sie hatten sich Flausche angeschafft, die ihnen gut standen, und sie froren nicht mehr. Übrigens waren Schnäbel und Ständer schon hübsch aussichtsreich. Ja, da kam sie also herangeschnürt, Pfote vor Pfote, über den Giebelrand. Verfluchte Leisetreterei! Groß standen die beiden Störche vor der leeren Wand der Nacht. Neidische Leute! Sie hatten sich so aufgestellt, daß über dem Schmalrand des Daches vor dem Nest der Mann stand, und hinter dem Nest die Frau. Man mußte also ein wenig auf das abfallende Strohdach hinausbiegen und von der Flanke herankommen. Kein Kunststück für zwanzig messerscharfe Kletterhaken! Keineswegs! Aber lautlos bleiben, das ist das Kunststück! Ja, bleibe einer in uraltem brüchigem Stroh leise! Gott befohlen! Was glaubt 36 diese Europäerin? Die afrikanischen Einleger hören jeden Papyrushalm wispern und sind sogleich bei der Sache! . . . . Ja, das war ein verdammt kurzer Heimweg, nach solch mühseliger Gipfeltour! Was haben diese Rotfüße für eine Gewalt in den Schnäbeln! Sprang man überhaupt das Dach hinab? Nein, wahrscheinlich rollte man ein Stück nach dem scharfen Stich in die Weiche und nach der fürchterlichen Ohrfeige. Für mehrere Minuten war man stocktaub von der riesigen Schwinge. Trotzdem, im nächsten Jahre wird man wieder antauchen. . . . Wenn die Katze später im Hof der Störchin begegnet, kneift sie die Augen zu und wedelt mit dem Schweif; aber nicht aus Sympathie. Auch die Störchin zischt nicht aus guter Meinung. Sie weichen einander aus.

Ja, und dann kam der Nestflug der jungen Störche. Das war ein Freudentag und ein Geklapper und Gesaus, und die Menschen schrien Hallo und gute Fahrt, und die Hunde bellten, und der Dackel schoß wie wahnsinnig auf dem Hof herum, Enten und Gänse schnatterten, und der Hahn flügelte und krähte, daß die älteste Henne sich jung fühlte. Die Katze äugte blinzelnd und vielwissend.

Es war aber auch feierlich, wie die beiden Alten mit den vier Jungen dahinsegelten. Den Kleinen hingen die Ständer noch kerzengerade abwärts; sie trugen sie noch nicht schön waagrecht hinter dem Steuer. Wahrscheinlich dachten sie, bald zu landen. Sicher ist sicher. Ja, und dann landeten sie auch in der saueren Wiese und erhielten Unterricht in den Praktiken der Jagd; was und wie man es jagte und wie man tötete und wie man pirschte und gegen den Wind sich vor das Mausloch stellte, und vor allem gegen den Schatten und überhaupt zum Leben. Und man begriff leicht und wuchs und 37 hatte Freude am Leben, und es würde unendlich so fort gehen . . .

Regen ist im Sommer schön, weil dann die Frösche besonders behaglich sind und am besten schmecken. Auch ist er warm und spült einem das schöne Gefieder durch. Er erinnert auch an die Heimat, denn man lebt im Gemüt in einem schönen und freundlichen Zwielicht zweier Lebenskreise, zweier herrlicher Landschaften, zweier Erdteile.

Regen gegen Sommersende ist nicht so schön. Erstlich ist er kalt und verstellt fast das ganze Land, weil er nicht aufhören will; und dann ist einem, als ob die Sommerwelt feindselig, mindestens gleichgültig zu einem würde.

Die Alten wissen es: es ist Wanderzeit. Sie horchen auf, wenn nächtens die Wildgänse durch den hohen hallenden Himmel kommen. Oh, die treffen sie wieder in der Heimat. Es ist still geworden in den Breiten. Schwärme kleiner Schwirren sind tagelang rastlos, wie verwirrt über das Land gefahren. Die Schwalben und Stare sind fort. Man hört die Kibitze nicht mehr schreien. Lange ist der Kuckuck weg, und nach ihm die goldenen Flöten der Pirole. Drosseln fallen scharenweise in den Holunderbusch am Gehöft, und der Rauch von Kartoffelkraut geht in blaugrauen Fahnen über das Land. Die Tage sind gar rasch aus, und man wird mit seinem Lebenslauf in ihnen kaum fertig.

Den Verwandten geht es gleich. Je und je tauchen aus Morgen- und Abendnebeln Storchenpaare mit ihren Jungen auf, die von weit her, von nördlichen Giebeln abgereist sind. Die große sauere Wiese ist seit langen Zeiten ein Sammelort, und es finden sich immer etwa zehn Familien ein. Da schreiten sie ernsthaft neben und hintereinander her, die Jungen seitlings oder auf eigene Faust pirschend. Sie tun Richtkreise 38 und Segelübungen, die ihnen beim einsetzenden Sommerwind große Freude machen. Sie landen nur mehr spätabends, und da hocken sie dann auf Giebeln, Städeln, Schuppen auf einem Bein und haben die Schnäbel versorgt. Es sind jetzt die klaren Herbsttage, die sich allmorgendlich golden und taufunkelnd den tiefen und weißen Nebelseen entwinden.

Eines solchen Morgens dann, wenn den Menschen die Sonne noch als bleiches Schild scheint, steigen die ältesten Männer auf. Schon am Vorabend, als sie die Richtkreise zogen und dann in schwatzender Versammlung um den Weiher standen, haben sie die Losung ausgegeben: Wanderschaft! Von Sippe zu Sippe ist das Geklapper gegangen: Wanderschaft! Die Jungen horchten und verstanden nichts. Arglos steigen sie am Morgen über den Nebel hinauf, und wundern sich, daß man keine Kreise tut über der weißen Einöde. Sie staunen über die neue Form, in der die Sippen sich zusammentun, und haben diese schöne Figur doch so tief eingeboren im Gemüt, daß sie alsogleich in das uralte Triangel, in das Gleichnis glücklichen Himmelscheins finden. Zwei, drei weite Bogen ziehen die drei Keile, und dann ergreift der mit dem ältesten Mann als Führer die schnurgerade Richtung. Sausend geht die Fahrt. Schöne Sommerwelt, ade! Schöne Welt, schöne Welt! Warm und behütlich liegt die goldene Sonne über den schlanken Leibern der ziehenden Vögel, und ihr Geklapper ist voll Frohsinn und Wanderlust und Freude auf die Heimat. Der Sommerwind legt sich freundlich in die schönen sausenden Schwingen und fächert das sichere Steuer. Da und dort steigen aus dem goldenen Land die Sippen herauf in die goldeneren Lüfte; andere ziehen noch die Richtkreise und klappern Grüße und Erkennungszeichen. Die werden in wenigen Tagen reisen. 39 Wildgänse klingeln ostwärts und westwärts heran, und dann sind gegen Abend die hohen Wälle der Alpen rot gesäumt und in großer Klarheit vor der tiefen Ferne. Aus den Sümpfen jenseits und aus dem ungarischen Tiefland kommen die Schwarzstörche und Reiher. Er begibt sich in diesen Tagen und Nächten ein gewaltiges und sehnsüchtiges Wesen über dem herbstlichen Meere, das die schönen Gestalten der heimkehrenden Vögel im ruhigen blauen oder mondscheinschimmernden Spiegel faßt. Oh, Zuversicht und Heimkehr alles Irdischen!

Dann liegt zu einer Stunde die Heimat unter den Wanderern, und sie heben ein lautes Freudengeklapper an. Von allen Revieren steigt grüßende Antwort herauf. Dann schrauben sie sich sausend hinab, die Keile zerlösen sich, die Paare streben mit ihren Jungen an die jahrelang gewöhnten Futterplätze an den Lagunen, Schilfwäldern und Sümpfen des blauen Nil. Das Winterleben unterm afrikanischen Himmel hebt an und ist nicht sehr verschieden von dem Leben unterm Himmel Europas. Langsam verblassen die Bilder des Sommers und der Wanderschaft. Man ist da und ist glücklich und wird immer da sein und war vielleicht niemals fort. . . . Oh, glücklicher Kreis des Jahrs!

Nie mehr erinnert die Störchin sich an das blutige Abenteuer droben im Norden. Der Ritter hat sich als guter Gatte und Vater erwiesen, hat auf der Reise schöne Richtung gehalten und sie auch in den Wolken nie verloren; soweit möglich hat er den Windwiderstand von den Kleinen weggekreuzt; die flogen wie in einer guten Windstille fast, hinter seinen sausenden Schwingen. Erst hinter dem Keil drehten die Wirbel sich hin. Auch hier in der Heimat überließ die Familie sich gern seiner Führung. Er wußte nahrhafte 40 Futterstellen und sichere Schlafplätze. Er hielt Frieden mit den Sippen und war tapfer in jeder Abwehr von Freibeutern. Als die Jungen sich selbständig machten, immer seltener in den Familienverband zurückkehrten und ihr Leben vergnügt und selbstbewußt auf eigene Faust vor sich herzutreiben begannen, blieb das alte Paar einträchtig beisammen. Sie beobachteten noch manchmal die jungen Leutchen in ihrem Tun und Treiben, bis die endlich in der hundertfältigen Verwandtschaft aufgingen, und die Alten sie aus den Augen verloren und aus dem Gedächtnis.

Die Alten? Oh, sie waren keineswegs alt. Manchen Frühling noch machten sie sich auf zur schönen Reise. Immer landeten sie genau auf dem Giebel in der Mark, fanden das zerzauste Nest auf dem alten Wagenrad, besserten es aus, hatten Kinder, zogen die groß, kehrten mit ihnen in die Sümpfe heim und kamen wieder.

Bis eines Tages der Ritter von seinem Morgenflug in die saure Wiese nicht mehr zurückkehrte. Die Störchin saß über den Jungen, die vor Hunger unruhig wurden unter den Daunen der Mutter. Er wurde Mittag, und sie selber hatte noch einen leeren Magen. Was tun? Die Brut allein lassen? . . . Und der Habicht? . . . Der Falke? . . . Die Katze? . . . Aber es mußte wohl sein. Die Jungen würden verhungern. Sie steht auf, klappert den Hilfruf. Nichts! Sie tritt unschlüssig von einem Bein aufs andere. Die Jungen recken die blinden Köpfe durcheinander und sperren die gelben Schnäbel stumm auf. Sie droht mit kurzem scharfem Klappern. Sogleich ducken die Köpfe sich, verschliefen sich. Sie streicht ab. In Eile würgt sie einen Frosch, noch einen. Sie kehrt zurück und hat Schnecken und Würmer im Kropf. Die Jungen werden halbwegs satt. Aber sie liegen 41 still. Wieder und wieder kommt sie mit Futter. Es wird Abend. Der Mann kommt nicht zurück. Die Störchin hockt auf der Brut und äugt starr in die Dämmerung. Manchmal klappert sie, als ob sie fragen, suchen wollte. Nicht laut. Sie versteht nichts, gar nichts. Es gab keinen Kampf. Oh, zur Brutzeit Kampf! Gegen jedes uralte Herkommen! Es gab keine Raubvögel, die größer oder stärker waren, als der Ritter. Sonst hätte man hier nicht angebaut. Der Mensch? Oh, der Mensch ist ja der freundliche Schutzherr ihres Sommerlebens!

Aber es war doch der Mensch gewesen. Ein Raubschütz hatte den Storch im Morgengrauen erschossen. Es gab Geld für den Balg. Beim Ausstopfer. Verfluchter Kerl! Pfui Teufel! Aber der Ritter war tot und kam nicht wieder. Es hatte sich fast an der nämlichen Stelle begeben, am großen Weiher, wo er vor Jahren das tödliche Turnier ausgefochten hatte. . . .

Als die Zeit der Heimreise herankam, war die Störchin mager und struppig, und auch die Jungen hatten noch nicht die Kraft für den weiten Flug. So blieb sie eine gute Woche hinter den Sippen zurück. Die verstanden es gut. Man hatte sich während der Raillierungstage alles erzählt, man hatte lange den Ritter vermißt und die einschichtige Mutter beobachtet, wie sie rastlos die Aufzucht der Jungen allein besorgte. Man konnte ihr nicht helfen, man hatte für die Eigenen zu sorgen. Aber es würden sicher noch verspätete Sippen kommen.

Ja, so war es. Als eines Morgens ein Triangel klappernd in mäßiger Höhe übers Land segelte, stieg die Störchin mit den Kindern hinauf und schloß sich dem Keil an. Die Menschen wünschten der vaterlosen Familie laut alles Glück auf 42 die Reise und schämten sich, daß diese Sünde in ihren Reihen aufgestanden war. Sie waren sehr neugierig, was wohl im kommenden Mai aus dem schönen Nest werden würde, und besserten das schadhaft und morsch gewordene Wagenrad aus.

Mai kam wieder, und die Störche kamen, und auf dem gewohnten Giebel landete die Störchin. Ja, wahrhaftig sie war es. Alle am Hofe kannten ihr Gesicht, ihre Gestalt und den Ton ihres Geklappers. Was würde werden? Eine neue Familie natürlich!

In der ersten Woche und noch etwas später landeten fahrende Ritter auf dem Giebel, zogen verliebte und klappernde Kreise um die Störchin, die ihr Nest ausbesserte und sich benahm wie eine verheiratete Frau. Aber sie erhörte keinen Werber. Sie verteidigte ihr Nest eifersüchtig und tapfer. Das redete sich natürlich in der Sippe herum. Es kamen keine Männer mehr. Die Störchin trieb ihre Tage still und zufrieden vor sich hin. Sie hielt sich gerne im Hof, bei den Menschen und den Tieren auf. Sie hatte dort ihre Bevorzugten, denen sie nachlief, sie irgendwo zerrte zum Spaß und die Genasführten dann aus ernsthaften und freundlichen Augen anblickte, dabei ein wenig höhnisch und lustig klapperte. Abends und morgens klapperte sie, auf einem Bein neben dem Nest stehend, ihr heiteres und einsames Dasein in die still aufhorchende Landschaft. Manchmal saß sie stundenlang über dem leeren Nest und starrte vor sich hin. Dann hob sie sich auf und strich ab. Es hatte keinen Zweck. Gegen Sommerende dann traf sie in den Wiesen und Lüften Väter und Mütter mit den Jungen. Sie schloß sich an. Sie war nicht neidisch, sie war nicht trübselig. Sie kannte das alles. Sie wollte nicht mehr. Sie hatte viel erlebt und hatte genug. Sie zog die Richtkreise mit, und als das Triangel sich formte, 43 nahm sie den hintersten Platz bei einer vielköpfigen Familie. Mit freundlichem Klappern munterte sie die Jungen auf der weiten Fahrt.

Das ging so durch manche Jahre. Die Sippen ließen die alte Störchin in schönem Frieden. Man liebte sie am blauen Nil und in den sauren Wiesen, oben in der Mark. Die Menschen nannten sie: den Einsiedler. Manchen warmen Sommerabend, wenn die Bauersleute unter der großen Buche vesperten, futterte der Einsiedler schöne Innereien aus einem tiefen Teller. Vom Bauern ließ er sich streicheln.

Eines Sommers warteten die Leute vergeblich auf die Störchin. Als es gegen Mitte Mai ging, landete ein junges Storchenpaar auf dem Giebel und begann das Nest herzurichten. Da sagte die Bäuerin: Unser Einsiedler kommt nimmer wieder. Und so war es. 44

 


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