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Erstes Kapitel
Ugh-lomi und Uya

Diese Geschichte reicht in die Zeit vor Menschengedenken zurück, in Zeiten, da man noch trockenen Fußes von Frankreich (wie wir es jetzt nennen) nach England hätte gehen können, und da die Themse breit und träge durch ihr Sumpfland floß, um Vater Rhein zu begegnen, der durch ein weites, ebenes Land strömte, das in unseren Tagen unter Wasser steht und unter dem Namen Nordsee bekannt ist. In jenen Zeiten bestand das Tal, das sich am Fuße der Downs entlang zieht, noch nicht, und den Süden von Surrey bildete eine Reihe von Hügeln, deren mittlere Hänge fichtenbewachsen und die den größten Teil des Jahres schneegekrönt waren. An den unteren Hängen der Kette, unterhalb der grasbewachsenen Plätze, wo die wilden Pferde weideten, waren Wälder von Eichen, Ulmen und Edelkastanien, und in den Dickichten und finsteren Verstecken verbargen sich der Grizzlybär und die Hyänen, und graue Affen kletterten in den Zweigen. Und noch tiefer, zwischen Sumpfland, Waldungen und offenen Wiesen, längs der Wey, spielte sich dieses kleine Drama, das ich erzählen will, vom Anfang bis zum Ende ab. Fünfzigtausend Jahre sind es her, fünfzigtausend Jahre – wenn man sich auf die Rechnung der Geologen verlassen kann.

Und der Frühling war in jenen Tagen ebenso fröhlich wie jetzt und jagte das Blut schneller um, genau so wie heute. Der Himmel war blau am Nachmittag, weiße Haufenwolken segelten über ihn, und der Südwestwind kam wie eine sanfte Liebkosung. Die jüngst heimgekehrten Schwalben strichen hin und her. Die Ufer des Flusses waren mit weißen Ranunkeln besät und die sumpfigen Stellen starrten von Wiesenkresse, und Samtpappeln leuchteten hervor, wo die Schwerter des Riedgrases es zuließen. Die nordwärts ziehenden Flußpferde, glänzend schwarze Ungeheuer, trieben plump ihr Spiel und kamen daher in einem dunkeln Gefühl der Freude, überall herumpatschend und -klatschend, und nur von dem einen klaren Gedanken besessen, das Wasser des Flusses trübe zu spritzen.

Flußaufwärts, und nicht weit von den Flußpferden, plantschten eine Menge kleine, ledergelbe Tiere im Wasser. Da gab's weder Angst noch Feindschaft zwischen ihnen und den Flußpferden. Wenn die großen Ungetüme durch das Schilf dahergetrampelt kamen und den Wasserspiegel in Silbersplitter zerschlugen, schrieen und tobten diese kleinen Geschöpfe vor Lust. Es war das sicherste Zeichen des vollen Frühlings. »Buluh!« riefen sie. »Baajah! Buluh!« Es waren die Kinder des Menschenvolks, von dessen Lagerplatze auf dem Hügel am Flußknie der Rauch aufstieg. Wildäugige Burschen waren es, mit verfilztem Haar und kleinen, breitnasigen Koboldgesichtern, die (wie manche Kinder sogar heutzutage noch) mit einem zarten Flaum kleiner Härchen bedeckt waren. Sie waren schmal in den Hüften und hatten lange Arme. Ihre Ohren hatten keine Läppchen, sondern kleine spitzige Zipfel, etwas, das auch jetzt noch manchmal vorkommt. Splitternackte, ausgelassene kleine Zigeuner, beweglich wie Affen und wie diese voll Geschnatter, obwohl es ihnen ein wenig an Worten mangelte.

Die Älteren des Stammes waren den sich wälzenden Flußpferden durch den Hügelkamm verborgen. Der Siedlungsplatz der Menschen war niedergestampfter Boden inmitten der toten braunen Zweige der Königsfarne, zwischen denen die neuen Blüten des Bischofsstabes sich in dem Lichte und der Wärme entrollten. Das Feuer war ein rauchender, kohlender Haufen, hellgrau und schwarz, den die alten Frauen von Zeit zu Zeit mit braunen Blättern neu anfachten. Die meisten Männer schliefen – sie schliefen sitzend, die Stirne auf den Knien. Sie hatten diesen Morgen auf der Jagd gute Beute gemacht, ein Wild, das von jagenden Hunden verwundet worden war, für alle genug; so gab's denn keinen Streit unter ihnen, und einige Frauen nagten noch an den Knochen, die verstreut worden waren. Andere machten aus Blättern und Ästen einen Haufen, um »Bruder Feuer« zu füttern, damit er davon groß und stark werde, wenn die Dunkelheit wiederkäme, und sie vor den wilden Tieren schütze. Und zwei stapelten Kieselsteine auf, die sie vom Ufer des Flusses, wo die Kinder spielten, herbeitrugen, einen ganzen Arm voll auf einmal.

Keiner von diesen lederhäutigen Wilden war bekleidet, aber manche trugen rohe Gürtel aus Schlangenhaut um die Hüften oder knisternde, unbearbeitete Häute, an denen kleine Beutel hingen, die aus abgerissenen Tierpfoten gemacht waren. Darin trugen sie die roh behauenen Feuersteine – die damals die Hauptwaffen und -werkzeuge der Menschen waren. Und eine Frau, die Gefährtin Uyas, des »Schlauen Mannes«, trug eine wundervolle Halskette von aufgereihten Steinen – die schon andere vor ihr getragen hatten. Neben einigen der schlafenden Männer lagen die großen Geweihe des Elches, deren Zacken an den Kanten scharf gemacht, und lange Stöcke, deren Enden mit Steinen zu scharfen Spitzen gehauen waren. Außer diesen Dingen und dem rauchenden Feuer gab es wenig, was die menschlichen Geschöpfe von den wilden Tieren unterschied, die rings das Land durchstreiften. Aber Uya der Schlaue schlief nicht; er saß da, einen Knochen in der Hand, und schabte emsig daran mit einem Feuerstein – kein Tier hätte das getan. Er war der älteste Mann des Stammes, mit buschigen Augenbrauen und dünnen, langen Armen. Er hatte einen Bart und seine Wangen waren haarig, und seine Brust und Arme waren schwarz vor dichtem Haarwuchs. Sowohl um seiner Stärke wie um seiner Schlauheit willen war er Herr des Stammes, und sein Anteil war stets der größte und der beste.

Judina hatte sich zwischen den Erlen versteckt, denn sie fürchtete sich vor Uya. Sie war noch ein Mädchen, ihre Augen waren hell, und ihr Lächeln war lieblich anzusehen. Er hatte ihr ein Stück von der Leber gegeben, ein Stück für Männer, eine gar herrliche Mahlzeit für ein Mädchen. Aber als sie es genommen hatte, sah die andere Frau, die mit der Halskette, sie mit einem bösen Blick an, und Ugh-lomi ließ einen gurgelnden Laut hören. Daraufhin hatte ihn Uya lang und fest angesehen und Ugh-lomis Blick hatte sich gesenkt. Dann hatte Uya sie angesehen. Sie hatte Angst bekommen und sich fortgestohlen, während die anderen weiter aßen und Uya sich emsig mit dem Mark eines Knochens beschäftigte. Hernach war er umhergegangen, als wollte er nach ihr sehen. Und jetzt hockte sie unter den Erlen und fragte sich immer wieder, was Uya wohl mit dem Stein und dem Knochen machen werde. Und Ugh-lomi war nicht zu sehen.

Plötzlich kam ein Eichhörnchen zwischen den Erlen dahergesprungen, und sie lag so still, daß der kleine Mann nur noch sechs Fuß von ihr entfernt war, ehe er sie sah. Da nahm er hastig einen Zweig auf und begann auf sie loszuschnattern und zu zanken: »Was machst du da, abseits von den anderen Menschentieren?« fragte er. »Still!« sagte Judina. Aber er schnatterte noch mehr, und da begann sie die kleinen schwarzen Tannenzapfen abzubrechen und nach ihm zu werfen. Er sprang kreuz und quer, um sie zu foppen, und forderte sie heraus, und das feuerte sie an; sie sprang auf, um besser werfen zu können, und da sah sie Uya, der den Hügel herunterkam. Er hatte die Bewegung ihres blassen Armes im Dickicht gesehen – er hatte sehr scharfe Augen.

Darüber vergaß sie das Eichhörnchen und machte sich davon, zwischen Erlen und Schilfrohr, so schnell sie nur konnte. Es war ihr gleichgültig, wohin sie kam, wenn sie nur Uya entging. Sie watete fast knietief durch eine sumpfige Stelle und sah vor sich einen Abhang voll Farnkräuter, – die dünner und grüner wurden, je weiter sie aus dem Licht in den Schatten der jungen Kastanienbäume kamen. Bald war sie inmitten der Bäume – sie hatte sehr flinke Beine und sie lief weiter und immer weiter, bis der Wald dicht wurde und die Täler tiefer; die Weinranken um die Stämme waren dort, wo das Licht einfiel, dick wie junge Bäume, und die Efeuranken stark und dicht. Und weiter lief sie und verdoppelte ihre Schritte immer von neuem, und endlich legte sie sich hin, zwischen einige Farne, in eine kleine Mulde neben einem Dickicht, und horchte, während das Herz ihr in den Ohren pochte.

Plötzlich hörte sie Schritte im welken Laube rascheln, weit weg, und dann starben sie wieder hin und alles war still, bis auf das Schwirren der Mücken – denn der Abend brach herein – und das unaufhörliche Wispern der Blätter. Heimlich lachte sie bei dem Gedanken, daß der schlaue Uya an ihr vorübergehen könnte. Sie hatte keine Angst. Schon manchesmal, wenn sie mit den anderen Knaben und Mädchen gespielt hatte, war sie in den Wald geflohen, allerdings niemals zuvor so weit wie jetzt. Es war lustig, versteckt und allein zu sein. –

Lange Zeit lag sie da und freute sich, daß sie entwischt war; dann setzte sie sich auf und horchte.

Es war ein schnelles Trampeln, das lauter wurde und auf sie zukam, und nach einer kleinen Weile konnte sie lautes Grunzen hören und das Knacken brechender Zweige. Es war eine Herde magerer scheußlicher Wildschweine. Sie drehte sich um, denn ein Eber ist ein übler Geselle, und es ist nicht gut, ihm allzu nah zu kommen, weil er mit seinen Hauern nach der Seite stößt, und sie machte sich davon, quer durch den Wald. Aber das Getrampel kam näher, sie fraßen nicht während des Marsches, sondern sie liefen schnell – sonst hätten sie sie nicht überholt – da erfaßte sie einen Baumast, schwang sich hinauf und lief den Stamm empor, mit einer affenähnlichen Geschicklichkeit.

Tief unten zogen die dürren, borstigen Rücken der Schweine eben vorbei, als sie hinabschaute. Und sie wußte, daß dieses kurze, abgerissene Grunzen Furcht bedeutete. Wovor fürchteten sie sich? Ein Mensch? Sie waren in zu großer Hast, als daß es nur ein Mensch hätte sein können.

Und dann – es geschah so plötzlich, daß sie sich unwillkürlich fester an den Ast klammerte – sprang ein Rehkalb in den Farnkräutern auf und lief hinter den Schweinen her. Noch etwas anderes ging vorbei, klein und grau, mit einem langen Körper; sie wußte nicht, was es war, wirklich, sie sah es nur einen Augenblick lang zwischen den jungen Blättern; und dann kam eine Pause.

Sie blieb starr und erwartungsvoll, fast so steif, als wäre sie ein Teil des Baumes, an den sie sich klammerte, und starrte hinunter.

Dann, weit weg, zwischen den Bäumen, einen Augenblick lang deutlich, dann wieder verdeckt, dann wieder erkennbar, knietief in den Farnkräutern, dann wieder verschwunden – lief ein Mann. Sie wußte, daß es der junge Ugh-lomi war, sie erkannte ihn an der hellen Farbe seiner Haare, und es war Rotes auf seinem Gesicht. Seine wahnsinnige Flucht und dieses scharlachrote Mal verursachten ihr irgend ein Gefühl des Unbehagens. Und dann kam, näher und näher, mühsam laufend und schwer atmend, ein zweiter Mann. Erst konnte sie nicht sehen und dann sah sie, verkürzt, aber deutlich für sie, Uya, laufend, mit großen Schritten und starren Augen. Er ging nicht hinter Ugh-lomi her. Sein Gesicht war weiß. Es war Uya – in Angst! Er lief vorbei, und man konnte ihn noch deutlich hören, als etwas anderes, etwas Großes mit grauem Fell, das sich mit weichen, schnellen Schritten vorbeischwang, raschelnd hinterher kam und ihn verfolgte.

Judina erstarrte plötzlich, hörte auf zu atmen und klammerte sich mit stieren Augen krampfhaft an den Stamm.

Sie hatte das Ding nie zuvor gesehen, sie sah es nicht einmal jetzt ganz deutlich, und doch erkannte sie es sofort: es war der »Schrecken des Waldesdunkels.« Sein Name war ein Märchen, die Kinder erschreckten einander damit, erschreckten einander mit dem bloßen Namen, und rannten schreiend zur Siedlung. Kein Mensch hatte jemals einen seines Stammes getötet. Sogar das mächtige Mammut fürchtete seinen Zorn. Es war der Grizzlybär, der Herr der Welt, jener Welt von damals.

Während des Laufens ließ er fortwährend ein zorniges Brummen hören. »Menschen sind mitten in meinem Lager! Kampf und Blut! Gerade am Eingang meines Lagers! Menschen, Menschen, Menschen! Kampf und Blut!« Denn er war der Herr des Waldes und der Höhlen.

Lange nachdem er vorbei war, blieb sie wie versteint und starrte hinunter durch die Zweige. Die ganze Freiheit ihrer Bewegung war geschwunden. Instinktiv klammerte sie sich mit Händen und Knien und Füßen fest. Es dauerte eine gute Weile, bevor sie denken konnte, und auch dann war ihr nur das eine klar bewußt, daß der »Schrecken« zwischen ihr und dem Stamme war – daß es unmöglich wäre, hinunterzusteigen.

Als jedoch ihre Furcht ein wenig nachließ, kletterte sie in eine bequemere Stellung, in die Gabelung eines großen Astes. Die Bäume erhoben sich rings um sie, so daß sie nichts vom Bruder Feuer sehen konnte, der bei Tag schwarz ist. Die Vögel begannen sich zu regen, und alles, was sich aus Angst vor ihren Bewegungen versteckt hatte, kroch wieder hervor ...

Nach einer Weile flammten die höchsten Zweige auf, von den Strahlen der untergehenden Sonne berührt. Hoch oben kehrten die Krähen, die weiser waren als die Menschen, krächzend zu ihren Sammelplätzen in den Ulmen heim. Wenn man hinuntersah, wurden die Dinge klarer und dunkler. Judina dachte daran, zur Siedlung zurückzugehen: sie glitt irgendwie herab, und dann kam die Angst vor dem »Schrecken des Waldesdunkels« wieder. Während sie zögerte, schrie ein Kaninchen ängstlich auf, und sie wagte es nicht, weiter hinunterzusteigen.

Die Schatten rückten zusammen und das Dunkel des Waldes begann sich zu regen. Judina kletterte wieder den Baum hinauf, um dem Lichte näher zu sein. Tief unten traten die Schatten aus ihren Verstecken hervor und wanderten herum. Über Judinas Haupt dunkelte das Blau des Himmels. Es kam eine furchtbare Stille, und dann begannen die Blätter zu flüstern.

Judina schauderte und dachte an Bruder Feuer.

Die Schatten sammelten sich nun in den Bäumen, sie saßen in den Zweigen und beobachteten sie. Zweige und Blätter nahmen beängstigende, ganz schwarze Gestalten an, die auf sie springen würden, falls sie sich regte. Dann kam die weiße Eule mit ihrem geräuschlosen Flattern geisterhaft durch die Schatten. Die Welt wurde dunkler und immer dunkler, bis die Blätter und Zweige schwarz waren gegen den Himmel und der Boden nicht mehr zu erkennen.

Sie blieb die ganze Nacht dort, eine lebenslange Nachtwache, horchte gespannt auf alles, was unten in der Dunkelheit vorging, und hielt sich atemlos still, damit sie von keinem Tier entdeckt werde, das sich irgendwo verborgen halten mochte. Zu jener Zeit war der Mensch niemals allein in der Dunkelheit, außer in so seltenen Fällen, wie diesem hier. In Menschenaltern und Menschenaltern hatte er seine Schrecken kennengelernt – und wir, seine armen Kinder, müssen sie heutzutage mühsam wieder vergessen lernen. Judina war, obwohl dem Alter nach ein Weib, im Herzen ein kleines Kind. Sie hielt sich so still, das arme kleine Tierchen, wie ein Hase, bevor er aufgescheucht wird.

Die Sterne sammelten sich und schauten auf sie nieder – ihr einziger kleiner Trost. Sie bildete sich ein, daß in dem einen hellen etwas wäre, das Ugh-lomi gliche. Dann meinte sie, er sei Ugh-lomi. Und neben ihm, rot und dunkler, war Uya, und wie die Nacht vorbeiging, floh Ugh-lomi vor ihm, den Himmel hinauf.

Sie bemühte sich, Bruder Feuer zu sehen, der die Siedlung vor wilden Tieren schützte, aber er war nicht zu sehen. Und in der Ferne hörte sie das Trompeten der Mammute, wie sie zur Tränke hinabstiegen, und einmal eilte etwas riesig Großes mit schweren Schritten vorbei und machte einen Lärm wie ein Kalb, aber was es war, konnte sie nicht sehen. Doch aus dem Lärm schloß sie, daß es Yaaa, das Nashorn sei, das mit seiner Nase zustößt, immer allein geht und ohne Grund tobt.

Endlich begannen die kleinen Sterne sich zu verstecken, und später die größeren. Es war, als ob alle Tiere vor dem »Schrecken« verschwanden. Die Sonne kam, die Herr des Himmels war, so wie der Grizzly Herr des Waldes war. Judina fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn ein Stern zurückbliebe. Und dann erblaßte der Himmel in der Dämmerung.

Als das Tageslicht kam, verschwand die Angst vor den lauernden Dingen, und sie konnte hinabsteigen. Sie war ganz steif, aber nicht so steif, wie Ihr, meine jungen Damen, (dank Eurer Erziehung) gewesen wäret, und da sie nicht gewohnt war, alle drei Stunden einmal wenigstens zu essen, sondern oft drei Tage gefastet hatte, fühlte sie keinen besonderen Hunger. Sie kroch sehr vorsichtig den Baum hinunter und nahm verstohlen ihren Weg durch den Wald, und kein Eichhörnchen hüpfte, kein Wild sprang auf, ohne daß die Furcht vor dem Grizzly ihr Mark erstarren ließ.

Ihr Wunsch war nun, ihre Leute wiederzufinden. Ihre Angst vor Uya dem Schlauen war durch eine größere Angst, die der Einsamkeit, verzehrt worden. Aber sie hatte die Richtung verloren. Sie war gestern abend achtlos einhergerannt und sie konnte nicht sagen, ob die Siedlung sonnenwärts lag oder wo sonst. Immer wieder hielt sie an und horchte, und endlich hörte sie weit, weit ein regelmäßiges Klappern. Es war so schwach, selbst in der Morgenstille, daß sie sich sagen mußte, es müsse sehr fern sein. Aber sie wußte, es war das Geräusch, das ein Mann beim Steineschärfen machte.

Jetzt begann der Wald sich zu lichten, und dann kam ein Heer von Nesseln, die den Weg versperrten. Sie wandte sich zur Seite und nun kam sie zu einem gefallenen Baum, den sie kannte, um den immer die Bienen summten. Und so erblickte sie plötzlich den Hügel vor sich, sehr weit weg, und den Fluß darunter und die Kinder und die Flußpferde, genau so, wie es gestern gewesen war, und die dünne Rauchsäule schlängelte sich im Morgenwind. Weit unten am Fluß sah sie den Platz mit den Erlen, wo sie sich versteckt hatte. Und als sie diese erblickte, kehrte die Angst vor Uya wieder, und sie kroch in ein Gebüsch von Farnkräutern, aus dem ein Kaninchen hervorschwänzelte, und lag eine Weile still, um die Siedlung zu beobachten.

Die Männer waren nicht zu sehen, außer Wau dem Steineklopfer; und das beruhigte sie. Sie waren fort, vermutlich auf der Jagd nach Nahrung. Auch einige von den Frauen waren unten im Fluß; laut schreiend suchten sie Muscheln, Krebse und Wasserschnecken, und erst bei diesem Anblick fühlte Judina, daß sie hungrig sei. Sie sprang auf und rannte durch die Farnkräuter, um sich den Frauen anzuschließen. Während sie lief, hörte sie aus den Farnen eine Stimme sanft rufen. Sie blieb stehen. Dann hörte sie plötzlich hinter sich ein Geräusch und, sich umwendend, erblickte sie Ugh-lomi, der sich in den Farnkräutern aufrichtete. Es waren Spuren von braunem Blut und Schmutz auf seinem Gesicht, und seine Augen waren wild, und der weiße Stein Uyas, der weiße Feuerstein, den niemand außer Uya anzurühren wagte, war in seiner Hand. Mit einem Satz war er neben ihr und ergriff ihren Arm. Er riß sie herum und stieß sie vor sich her gegen den Wald. »Uya«, sagte er und fuchtelte mit den Armen herum. Sie hörte einen Schrei, blickte sich um und sah, wie alle Frauen aufstanden und zwei aus dem Flusse wateten. Dann hörte man ein Heulen, und das alte Weib mit dem Bart, die das Feuer auf dem Hügel bewachte, schwenkte die Arme, und Wau, der Mann, der die Steine geschärft hatte, sprang auf die Füße. Auch die kleinen Kinder eilten hinzu und schrieen.

»Komm«, sagte Ugh-lomi und zog sie am Arm.

Sie verstand noch immer nicht.

»Uya hat das Todeswort gerufen«, sagte Ugh-lomi, und sie blickte zurück auf die schreienden, drängenden Gestalten und verstand.

Wau und alle Frauen und Kinder kamen auf sie zu, eine wilde, verstreute Horde nackter, ledergelber, zottelköpfiger Gestalten, heulend, springend und schreiend. Über den Hügel liefen zwei Jungen. Ganz unter den Farnkräutern, rechts, kam ein Mann, der sie vom Wald abdrängte. Ugh-lomi ließ ihren Arm aus, und die beiden begannen nebeneinander her zu laufen, sprangen über die Farne mit sicheren, großen Sätzen. Judina, ihrer und Ugh-lomis Schnelligkeit bewußt, lachte laut über die ungleiche Jagd. Für jene Zeit waren sie ein außergewöhnlich flinkes, schlankbeiniges Paar.

Sie hatten die freie Strecke bald zurückgelegt und näherten sich wieder den Kastanienbäumen, keiner von ihnen hatte jetzt Angst, da keiner allein war. Sie verlangsamten ihre nicht mehr allzu eiligen Schritte. Und plötzlich schrie Judina auf, schwenkte seitlich ab, zeigte hin und schaute auf durch die Baumstämme. Ugh-lomi sah die Füße und Beine von Männern, die auf ihn zurannten. Judina lief bereits in schräger Richtung davon. Und als auch er abbog, um ihr zu folgen, hörten sie die Stimme Uyas, der durch die Bäume kam und ihnen seine Wut zubrüllte.

Da erfaßte Schrecken ihre Herzen; nicht der Schrecken, der betäubt, sondern der Schrecken, der schweigsam macht und schnell. Sie waren jetzt auf zwei Seiten abgeschnitten. Sie waren zwischen ihren Verfolgern wie in einer Zange. Rechterhand und ganz nahe kamen schnell und schwerfällig die Männer, an der Spitze der bärtige Uya, das Geweih in der Hand; und links, verstreut wie versprengte Kornsaat, gelbe Flecken in den grünen Farnen und Gräsern, rannten Wau und die Frauen; und selbst die kleinen Kinder vom Ufer waren der wilden Jagd gefolgt. Die beiden Parteien liefen von beiden Seiten auf sie zu. Fort ging es, Judina voran.

Sie wußten: es gab keine Gnade für sie. Für die Menschen von damals war keine Jagd so süß wie die Menschenjagd. War einmal die wilde Leidenschaft der Jagd erwacht, dann war der schwache Keim von Menschlichkeit in alle Winde verstreut. Und Uya hatte in der Nacht Ugh-lomi mit dem Todeswort gezeichnet. Ugh-lomi war die Beute des Tages, er war zum Festmahl bestimmt.

Sie liefen darauf los – es war die einzige Möglichkeit einer Rettung – jeden Boden nehmend, der ihnen gerade unter die Füße kam – einen Fleck stechender Nesseln, eine offene Lichtung, ein Grasdickicht, aus dem knurrend eine Hyäne floh. Dann wieder Wälder, weite Strecken von unsicherem Laubboden und Moos unter grünen Baumstämmen. Dann ein steiler, baumbewachsener Hang, lange Baumreihen, eine Lichtung, ein saftiggrüner Platz schwarzen Schlammes, wieder ein weiter offener Raum, und dann ein Dickicht dorniger Brombeersträucher, mit Tierspuren mitten durch. Die jagende Horde hinter ihnen wurde immer länger und verstreuter, nur Uya war ihnen fortwährend knapp auf den Fersen. Judina war immer voraus – sie rannte leicht mit frischem Atem – denn Ugh-lomi trug den Feuerstein in der Hand.

Man merkte es an seinem Schritt – nicht gleich zu Anfang, aber nach einer Weile. Seine Fußtapfen blieben plötzlich weit hinter den ihren zurück. Judina sah, als sie beim Kreuzen eines anderen freien Platzes über ihre Schulter blickte, daß Ugh-lomi viele Ellen weit hinter ihr zurück und Uya knapp hinter ihm war, das Geweih bereits hoch in der Luft, um ihn niederzuschlagen. Wau und die anderen traten eben erst aus dem Schatten des Waldes.

Als Judina Ugh-lomi in Gefahr sah, rannte sie zur Seite, sah zurück, warf die Arme in die Luft und schrie laut, eben als das Geweih flog. Und der junge Ugh-lomi, der dies erwartet und ihren Schrei verstanden hatte, duckte den Kopf, so daß das Wurfgeschoß seine Kopfhaut nur leicht streifte, eine unbedeutende Wunde schlug und über ihn wegflog. Sofort drehte er sich um, den quarzigen Feuerstein in beiden Händen, schleuderte ihn geradeaus gegen Uyas Körper, lief nach dem Wurf befreit weiter. Uya schrie auf, konnte aber nicht mehr zur Seite springen. Der Stein traf ihn unterhalb der Rippen, schwer und flach; er taumelte und fiel ohne einen Laut nieder. Ugh-lomi nahm das Geweih auf – eine Zacke war von seinem eigenen Blute befleckt – und rannte wieder weiter, während ein roter Tropfen aus seinem Haar sickerte.

Uya überschlug sich zweimal und lag einen Augenblick still, bevor er wieder aufstand, und dann lief er nicht schnell. Seine Gesichtsfarbe war verändert. Wau überholte ihn und dann noch andere, seine Brust arbeitete und keuchte. Aber er lief weiter.

Endlich erreichten die beiden Flüchtlinge das Ufer des Flusses an einer Stelle, wo er schmal und tief war, und sie hatten noch fünfzig Ellen vor Wau voraus, ihrem nächsten Verfolger, dem Manne, der die Wurfsteine machte. Er trug einen in jeder Hand, große Steine in der Form von Austern, aber doppelt so groß, die Kanten scharf geschliffen.

Sie sprangen das abschüssige Ufer hinunter in den Fluß, drängten sich durch das Wasser, durchschwammen die tiefe, reißende Strömung mit zwei oder drei Schlägen, kamen watend wieder heraus, triefend und erfrischt, und kletterten das andere Ufer hinauf. Es war unterwaschen und mit Weiden dicht bewachsen, so daß sie tüchtig klettern mußten. Und während Judina noch mitten unter den silbernen Zweigen und Ugh-lomi noch im Wasser war – das Geweih hatte ihn gehemmt – erschien, gegen den Himmel, auf dem anderen Ufer die Gestalt Waus, und der Wurfstein, geschickt geschleudert, traf Judinas Knie von der Seite. Sie arbeitete sich noch bis hinauf und fiel dann hin.

Sie hörten ihre Verfolger einander zurufen, und als Ugh-lomi zu ihr kletterte, in Sprüngen sich fortbewegend, um Wau das Zielen zu erschweren, fühlte er den zweiten Wurfstein sein Ohr streifen und hörte das Wasser unter sich aufspritzen.

Da geschah es, daß Ugh-lomi, das Bürschchen, bewies, daß er zum Manne gereift war. Denn vorwärtsstürzend sah er, daß Judina zurückgefallen war und hinkte; darauf machte er kehrt, und wild schreiend, das Gesicht in plötzlicher Wut und von tropfendem Blute schrecklich entstellt, rannte er an ihr vorbei, zurück zum Ufer, das Geweih rund um seinen Kopf wirbelnd. Und Judina lief weiter, noch immer standhaft, obwohl sie bei jedem Schritte hinken mußte und der Schmerz schon stechend war.

So daß Wau, als er, sich an die schlanken Farnkräuter klammernd, über den Rand kam, Ugh-lomi sah, hoch aufgerichtet über sich, riesenhaft gegen den blauen Himmel; er sah, wie er seinen ganzen Körper herumschwang, den Griff seiner Hände am Geweih. Die Zacken des Geweihes fegten durch die Luft, und dann sah er nichts mehr. Das Wasser unter den Weiden wirbelte auf, wurde wieder glatt und färbte sich sechs Fuß weit stromabwärts blutigrot. Uya, der folgte, hielt knietief mitten im Strom an, und der Mann, der hinter ihm schwamm, wendete um.

Die anderen Männer, die hinterher kamen – es waren keine sehr kräftigen Leute unter ihnen (denn Uya war mehr schlau als stark und er duldete keine starken Rivalen) – ließen augenblicklich ab beim Anblick Ugh-lomis, der da über den Weiden stand, blutig und fürchterlich, zwischen ihnen und dem lahmen Mädchen, das riesige Geweih in den Händen schwingend. Es schien, als wäre er als Jüngling ins Wasser gegangen und als reifer Mann aus ihm herausgekommen.

Er wußte, was da hinter ihm war. Eine weite Grasfläche und dann ein Dickicht, und darin konnte Judina sich verstecken. Dies stand klar in seinem Kopf, obwohl seine Denkkraft zu schwach war, um erkennen zu können, was nachher geschehen würde. Uya stand knietief im Wasser, unentschlossen und waffenlos. Sein plumper Mund hing offen und ließ seine Hundezähne sehen, und er keuchte schwer. An der einen Seite war er unter den Haaren rot und zerschlagen. Der Mann neben ihm trug einen zugespitzten Stock. Die übrigen Jäger kamen einer nach dem andern an die Höhe des Ufers, haarige, langarmige Männer, mit Steinen und Stöcken. Zwei liefen am Ufer entlang stromabwärts und kletterten dann zum Wasser, wo Wau, mühsam ringend, an die Oberfläche gekommen war. Ehe sie ihn erreichen konnten, ging er wieder unter. Zwei andere bedrohten Ugh-lomi vom Ufer aus.

Er antwortete mit Schreien und Schimpfen und unbestimmten Gebärden. Dann brüllte Uya, der zögernd dagestanden hatte, auf in wilder Wut und tauchte, seine Fäuste ballend, ins Wasser. Seine Begleiter patschten hinter ihm her.

Ugh-lomi blickte über seine Schultern und sah, daß Judina bereits im Dickicht verschwunden war. Er hätte vielleicht auf Uya gewartet, aber Uya zog es vor, unten im Wasser zu warten, bis die anderen neben ihm wären. Die Taktik der Menschen in jenen Tagen, in jedem ernsten Kampf, war die Taktik des Packs. Wenn die Beute in Bedrängnis geraten war, dann sammelten sie sich und stürzten sich auf sie. Ugh-lomi fühlte den Ansturm kommen und, das Geweih gegen Uya schwingend, wandte er sich um und floh.

Als er im Schatten des Dickichts anhielt und zurücksah, fand er, daß nur drei seiner Gegner ihm über den Fluß gefolgt waren, und auch die gingen wieder zurück. Uya stand, mit blutendem Munde, wieder auf dem anderen Ufer des Flusses, aber tiefer unten, und hielt sich die Seite mit der Hand. Die anderen waren im Fluß und zogen etwas ans Ufer. Für eine Zeit wenigstens war die Jagd unterbrochen.

Ugh-lomi stand eine Weile abwartend still und sah zu; beim Anblick Uyas knurrte er. Dann wandte er sich um und tauchte im Dickicht unter.

Im Augenblick eilte Judina herbei, um ihm zu folgen, und sie gingen Hand in Hand weiter. Er bemerkte unwillkürlich, wie sehr sie ihr zerschnittenes, verwundetes Knie schmerzte, und wählte die leichteren Wege. Aber sie gingen diesen ganzen Tag lang weiter, Meile für Meile, durch Wald und Dickicht, bis sie endlich in das Kreideland kamen, wo freie Wiesen und wenig Buchenwälder waren, wo die Birke am Wasser wuchs, und sie die Berge deutlicher sahen, und Pferde in Rudeln zusammen weideten. Sie gingen vorsichtig umher, beobachteten alles und hielten sich immer in der Nähe von Gebüsch und Deckung; denn das war fremdes Land – sogar die Wege waren fremd. Es ging immerfort langsam bergauf, bis die Kastanienbäume sich weit und blau unter ihnen ausbreiteten und die sumpfigen Ufer der Themse silbern schimmerten, hoch und weit. Sie sahen keine Menschen, denn in jenen Tagen waren die Menschen eben erst in diesen Teil der Welt gekommen und bewegten sich nur langsam längs der Flußläufe. Gegen Abend kamen sie wieder an den Fluß, aber jetzt floß er in einer Schlucht, zwischen hohen, weißen Kreidefelsen, die ihn manchmal überhingen. Unterhalb der Felsen war ein Weidengestrüpp, und dort waren viele Vögel beisammen. Und hoch oben in den Felsen stand ein Baum auf einem kleinen Felssims und dorthin kletterten sie, um die Nacht zu verbringen.

Sie hatten kaum irgend etwas Eßbares finden können; es war nicht die Jahreszeit für Beeren, und sie hatten keine Zeit gehabt, um abseits Fallen zu legen oder aufzulauern. Sie stapften hungrig, müde und schweigend einher, und knabberten an Zweigen und Blättern. Aber auf dem Felsen waren eine Menge Schnecken und in einem Gebüsch lagen die frischgelegten Eier eines kleinen Vogels, und dann warf Ugh-lomi in einer Bucht nach einem Eichhörnchen und tötete es, so daß sie zuletzt noch fein schmausten. Ugh-lomi wachte während der Nacht, das Kinn auf den Knien; und er hörte junge Füchse ganz in der Nähe schreien und das Brüllen eines Mammuts unten in der Schlucht und die Hyänen, die in der Ferne kreischten und lachten. Es war kühl, aber sie wagten nicht, Feuer zu machen. So oft er einschlummerte, wanderte sein Geist fort und begegnete geradewegs dem Uyas, und dann kämpften sie. Und jedesmal ward Ugh-lomi gelähmt, so daß er weder schlagen noch laufen konnte, und dann fuhr er jedesmal auf aus dem Schlaf. Auch Judina träumte schlimme Dinge von Uya, so daß beide mit der Angst vor ihm im Herzen erwachten, und im Morgengrauen sahen sie ein wolliges Nashorn friedlich das Tal hinunterstapfen.

Während des Tages streichelten sie einander und freuten sich am Sonnenschein; Judinas Bein aber war so steif, daß sie den ganzen Tag am Felsrand saß. Ugh-lomi fand große Kieselsteine, die aus der Felswand hervorragten, größere als er je gesehen hatte, und er schleppte sie an den Felsrand und begann sie zu schärfen, um gegen Uya gewaffnet zu sein, wenn er wiederkommen sollte. Und über einen lachte er herzlich und Judina lachte mit, und sie warfen ihn spottend hin und her. Er hatte ein Loch mitten durch. Sie steckten die Finger hinein, es war wirklich sehr komisch. Dann guckten sie durch und sahen einander durch das Loch an. Später nahm Ugh-lomi zufällig einen Stock in die Hand und warf auf gut Glück nach diesem närrischen Stein. Der Stock flog hinein und blieb darin stecken. Er hatte ihn zu fest hineingerannt und konnte ihn nicht wieder herausziehen. Das war noch merkwürdiger – eigentlich gar nicht lustig, beinahe schrecklich, und eine Zeitlang legte Ugh-lomi keinen besonderen Wert darauf, das Ding anzurühren. Es war, als hätte der Stein zugebissen und hielte nun mit den Zähnen fest. Aber dann gewöhnte er sich an die kuriose Kombination. Er schwenkte das Ding herum und gewahrte, daß der Stock mit dem schweren Stein an der Spitze besser dazu diente, einen kräftigen Schlag zu führen, als irgend etwas, das er bisher gekannt hatte. Er ging auf und ab, schwang ihn und schlug damit herum: aber später langweilte es ihn wieder und er warf ihn beiseite. Nachmittags ging er hinauf über den Kamm des weißen Felsens und lag wartend vor einem Kaninchengehege, bis die Kaninchen herauskämen, um zu spielen. Es gab hier herum keine Menschen, und die Kaninchen waren ganz unachtsam. Er warf einen Wurfstein, den er gemacht hatte, und erschlug eines.

In dieser Nacht machten sie sich ein Feuer, sie schlugen mit Kieselsteinen Funken und fingen sie mit den Blättern der Farnkräuter auf und sprachen zusammen und liebkosten einander. Und als sie schliefen, kam Uyas Geist wieder, und plötzlich, als Ugh-lomi sich wieder vergebens bemühte, mit ihm zu kämpfen, kam ihm der närrische Stock mit dem Stein in die Hände, und er schlug Uya damit und, siehe da! er tötete ihn. Aber nachher kamen andere Träume von Uya – denn bei Geistern genügt ein Erschlagen allein nicht – und er mußte nochmals getötet werden. Dann später wollte der Stein nicht an dem Stocke halten. Ugh-lomi erwachte müde und verdrießlich und war den ganzen Vormittag über mürrisch, trotz Judinas Freundlichkeit; statt zu jagen, saß er da und schärfte die Kante des merkwürdigen Steines und sah ihn ganz sonderbar an. Dann band er den durchlöcherten Stein an den Stock mit Kaninchenhaut fest. Und hernach ging er am Felsrand auf und ab, schlug mit dem Stock herum, murmelte zu sich selbst und dachte an Uya. Das Ding fühlte sich ganz prächtig und schwer an in der Hand.

Einige Tage, mehr als man in jenen Tagen zählen konnte, fünf Tage vielleicht oder auch sechs, blieben Ugh-lomi und Judina auf diesem Felssims in der Schlucht des Flusses, und es schwand alle Angst vor den Menschen, und rot brannte ihr Feuer, die ganze Nacht hindurch. Und sie waren sehr vergnügt zusammen; sie hatten jeden Tag zu essen, hatten süßes Wasser und keine Feinde. Judinas Knie war in zwei Tagen geheilt, denn jene Wilden von damals hatten schnellheilendes Fleisch. Wirklich, sie waren sehr glücklich.

An einem jener Tage warf Ugh-lomi einen Steinklotz über den Felsen. Er sah ihn fallen und fröhlich über das Ufer in den Fluß springen, und, nachdem er ein wenig darüber gelacht und nachgedacht hatte, versuchte er es nochmals. Dieser Stein zerschlug ein Gebüsch von Haselstauden auf ganz merkwürdige Art. Sie verbrachten den ganzen Morgen damit, Steine vom Felsrand hinunterzuwerfen, und nachmittags entdeckten sie, daß dieser neue und interessante Zeitvertreib auch von der Felsspitze aus geübt werden konnte. Den nächsten Tag hatten sie diese Unterhaltung vergessen. Oder es schien wenigstens so, als hätten sie vergessen.

Aber im Traum erschien Uya und zerstörte dieses Paradies. Drei Nächte hindurch kam er, um Ugh-lomi zu bekämpfen. Am Morgen nach diesen Träumen ging Ugh-lomi immerfort auf und ab, drohte Uya und schwang seine Axt, und endlich kam, nachdem Ugh-lomi eine Fischotter erschlagen hatte und diese verspeist worden war, die Nacht. Uya war unerträglich. Ugh-lomi erwachte, zog finster seine schweren Augenbrauen zusammen, nahm seine Axt – und, Judina die Hand hinstreckend, hieß er sie, am Felsrande auf ihn warten. Dann kletterte er den weißen Abhang hinunter, sah noch einmal von dessen Fuße aus hinauf, schwang triumphierend seine Axt und ging dann, ohne nochmals zurückzusehen, weit ausschreitend das Flußufer entlang, bis der überhängende Fels an der Biegung ihn verbarg.

Zwei Tage und zwei Nächte saß Judina allein am Felsrand beim Feuer und wartete; des Nachts heulten die wilden Tiere auf den Felsen und unten im Tal, und auf dem oberen Felsen, ihr gegenüber, hoben sich die buckligen Hyänen schwarz gegen den Himmel ab. Aber nichts Böses kam ihr nahe – außer Furcht. Einmal hörte sie in der Ferne das Gebrüll eines Löwen, der den Pferden nachjagte, die mit dem Frühling nordwärts über das Weideland zogen. Die ganze Zeit hindurch wartete sie – und Warten ist endlose Pein.

Und am dritten Tag kam Ugh-lomi zurück, flußaufwärts. Rabenfedern waren in seinem Haar. An der ersten Axt waren Blutspuren, und lange, dunkle Haare klebten daran, und er trug die Halskette, die Uyas Lieblingsfrau ausgezeichnet hatte, in der Hand. Er schritt über die weichen Hänge – gemächlich, ohne Eile. Außer einem frischen Schnitt unter dem Kinnbacken war keine Wunde an ihm zu sehen. »Uya!« rief Ugh-lomi frohlockend, und Judina sah, daß alles gut war. Er legte Judina die Halskette an, und sie saßen und tranken miteinander. Und nach dem Essen begann er die ganze Geschichte vom Anfang an zu wiederholen, wie Uya seine Augen auf Judina geworfen hatte, wie Uya und Ugh-lomi im Walde miteinander gekämpft hatten und vom Bären gejagt worden waren; er ergänzte seinen knappen Wortschatz durch reichliches Gebärdenspiel, sprang auf und schwang die Axt, so oft vom Kämpfen die Rede war. Der letzte Kampf war ein besonders heißer; Trampeln und Schreien und einmal ein Schlag ins Feuer, der einen Funkenregen in die Nacht hinausschickte. Und Judina saß da, rot im Scheine des Feuers, sah ihn von der Seite an mit flammendem Antlitz und leuchtenden Augen, die Kette, die Uya gemacht hatte, um den Hals. Es war eine wundervolle Nacht, und die Sterne, die auf uns herabsehen, sahen herab auf sie, auf unsere Vorfahren – die nun tot sind, seit fünfzigtausend Jahren.


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