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Drittes Kapitel: Das Fest der Neugeburt und der Neujahrstag

 

I.

Schließlich starb meine Mutter ziemlich plötzlich. Ihr Tod traf mich wie ein Schlag. Die Diagnose war damals noch sehr unzulänglich. Die Ärzte waren sich natürlich der unglaublichen Lücken in ihrer gewöhnlichen Ausbildung vollauf bewußt, und sie taten, was sie konnten, um der Mangelhaftigkeit ihrer Kenntnisse abzuhelfen, aber sie waren noch außerordentlich unwissend. Irgendein unerkannter Faktor ihrer Krankheit machte sich geltend, sie fieberte, ein Kräfteverfall trat ein und sie starb sehr schnell. Ich weiß nicht, wie man dem Verlauf der Krankheit Einhalt zu tun suchte. Ich wußte kaum, was geschah, bis alles vorüber war.

Um diese Zeit war meine Aufmerksamkeit sehr durch das Getriebe des großen Festes in Anspruch genommen, das am Maitage im Jahr der Bauten abgehalten wurde. Es war die erste der zehn großen Müllverbrennungen, die das neue Zeitalter eröffneten. Junge Leute werden sich wohl schwerlich vorstellen können, mit wie ungeheuren Mengen bloßen Plunders und ganz sinn- und nutzloser Vorräte wir es zu tun hatten. Hätten wir nicht einen besonderen Tag und eine Jahreszeit festgesetzt, so wäre die ganze Welt ein unaufhörlicher Rauch kleiner Feuer gewesen; und ich glaube, es war ein glücklicher Gedanke, dieses alte Fest der Mai- und Novemberfeuer wieder einzuführen. Es war unvermeidlich, daß mit dem Namen der alte Begriff der Reinigung wiedererstand; man fühlte, hier wurde mehr verbrannt als lästiger Wust: zahllose Dinge sogenannten geistigen Ursprungs, Urkunden, Dokumente, Schuldscheine, Gerichtsakten flogen mit jenen großen Bränden auf. Die Leute gingen andächtig zwischen den Feuern umher, und es war ein schönes Symbol der neuen und weiseren Toleranz, die die Menschen errungen hatten, wenn die, deren Trost noch in den orthodoxen Bekenntnissen lag, freiwillig herbeikamen und beteten, das Feuer möge ihren Glauben von allem Haß läutern. Denn heute, wo die Menschen mit aller niedrigen Feindseligkeit abgeschlossen haben, kann man selbst in den Baalsfeuern noch den lebendigen Gott finden.

Schier endlos war, was wir alles bei diesen großen Reinigungsfesten zu verbrennen hatten. Zunächst all die Häuser und Gebäude der alten Zeit. Schließlich blieb in England von je fünftausend Häusern, die standen, als der Komet kam, kaum ein einziges stehen. Jahr für Jahr vertilgten wir in dem Verhältnis, wie wir unsere Häuser im Einklang mit den vernünftigeren Bedürfnissen unserer neuen sozialen Familien neu bauten, immer mehr von jenen furchtbaren Gebäuden, den alten Wohnhäusern, diesen Häusern, die früher hastig, ohne Phantasie, ohne Schönheit, ohne Sinn für Gediegenheit und selbst ohne Komfort oder Zweckmäßigkeit erbaut waren und in denen man zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Obdach gesucht hatte. Kaum eines blieb mehr; wir erhielten nur, was in all der dürren und trübseligen Fülle schön oder interessant war. Die Häuser selbst konnten wir natürlich nicht zu unseren Feuern schleppen, aber wir trugen all ihre schlecht schließenden Holztüren herbei, ihre schrecklichen Fensterrahmen, ihre die Dienstboten folternden Treppen, ihre feuchten, dunklen Schränke, die ungezieferreichen Tapeten der abbröckelnden Wände, die staub- und schmutzdurchtränkten Teppiche, die schlecht geformten und doch prätentiösen Tische und Stühle, Büfetts und Kommoden, die alten von Schmutz strotzenden Bücher, die gräulichen, verkommenen und geradezu schaudererregenden Dekorationen – sogar tote ausgestopfte Vögel waren bisweilen darunter! – alles verbrannten wir. Das mit Farbe dick überzogene Holzwerk – Schicht auf Schicht der scheußlichsten Farben – brannte besonders gut. Ich habe bereits versucht, einen Begriff von der Art der früheren Zimmereinrichtung zu geben – von Parloads Schlafzimmer, vom Zimmer meiner Mutter, von Mr. Gabbitas' Wohnzimmer – aber, Gott sei Dank! nichts aus unserem heutigen Leben vermag mehr einen Begriff davon zu geben, wie unschön das alles war. Vor allem gibt es nirgends mehr eine mangelhafte Kohlenverbrennung, oder Straßen, die wie graslose, offene Narben die Erde überziehen und beständig Staubwolken aufwirbeln. Wir verbrannten und zerstörten die meisten unserer Privathäuser und alle Holzarbeit, all unser Mobiliar, abgesehen von ein paar tausend Stücken von hervorragender, künstlerischer Schönheit, aus denen sich unsere heutigen Formen entwickelt haben, fast alle unsere Vorhänge und Teppiche; ebenso verbrannten wir fast jeden Fetzen alter Kleidung. Nur ein paar sorgfältig desinfizierte Typen und Reste sind noch in unsern Museen aufbewahrt. Man schreibt jetzt mit besonderem Grauen über die Kleidung der alten Welt. Die Männerkleider wurden, abgesehen von einem gelegentlichen, oberflächlichen Überbürsten, etwa ein Jahr lang ohne jeden Reinigungsprozeß getragen. Sie waren in dunklen, undeutlich-verschwommenen Mustern gehalten, die ihre Abgenutztheit verdecken sollten, und bestanden aus filzigen und porösen Stoffen, die sich wunderbar zur Ansammlung des aufgewirbelten Staubs und Schmutzes eigneten. Viele Frauen trugen Röcke aus ähnlichen Stoffen und von so langem und unpraktischem Schnitt, daß sie unrettbar durch all die Greuel unserer von Pferden begangenen Straßen schleiften. Es war unser Stolz in England, daß die ganze Bevölkerung Stiefel trug – die Füße waren zum größten Teil häßlich genug, um ihrer zu bedürfen! – aber heute ist es geradezu unverständlich, wie man seine Füße in die erstaunlichen Futterale aus Leder und Lederimitation einzwängen konnte, die man damals benutzte. Ich habe sagen hören, ein großer Teil des physischen Niedergangs, der sich in den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in unserem Volk bemerkbar machte, sei – wenn er auch zum Teil von der minderwertigen Nahrung herkam, die die Leute zu sich nahmen – hauptsächlich der miserablen Fußbekleidung zuzuschreiben. Die Bewegung im Freien mied man fast vollständig, weil die Stiefel sich rapide abnutzten und dabei drückten und wehtaten. Ich glaube, ich habe erwähnt, welche Rolle meine Stiefel in dem häßlichen Drama meiner ersten Jugend spielten. Und mit einem Gefühl schadenfrohen Triumphs lenkte ich Karren um Karren voll billiger Stiefel und Schuhe (unverkaufter Vorrat aus Swathinglea) nach der Halde bei den Schmelzöfen von Glanville.

»Plumps!« Und sie fielen in die Ofen ins Feuer und das Prasseln ihres Verbrennens füllte die Luft. ... Nie mehr würden die nassen, braunen Pappsohlen eine Erkältung verursachen, nie mehr infolge ihrer schlechten Fasson ein Hühnerauge entstehen, nie mehr sich einer ihrer Nägel in das schmerzende Fleisch bohren. ...

Die meisten unserer öffentlichen Gebäude zerstörten und verbrannten wir, als wir unseren Wohnungsplan umarbeiteten: unsere Theaterschuppen, unsere Banken, all die unpraktischen Magazine, die Fabriken (diese gleich im ersten Jahr), und die ganze sinnlose Anhäufung von kleinen, albernen imitiert-gotischen Kirchen und Vereinshäusern, all diese häßlichen, unschönen Schalen aus Stein und Mörtel, in denen weder Liebe, noch Schönheit, noch Erfindungsgeist wohnten, und die die Menschen ihrem geknechteten Gott ins Gesicht geworfen hatten, so wie sie ihren geknechteten Arbeitern das billige Futter vor die Füße warfen: sie alle fegten wir fort im Lauf jenes ersten Jahres. Dann mußte das ganze veraltete Eisenbahnsystem abgetragen und beseitigt werden: Bahnhöfe, Signale, Schranken, Weichen; ein ganzes Gewebe von ungeschickt ersonnenen, rauchspeienden Unfugapparaten, die unter den früheren Verhältnissen vielleicht noch ein halbes Jahrhundert lang ihr anstößiges, schwindsüchtiges, hinderliches Dasein geführt hätten. Dann kam noch eine große Ernte von Zäunen, Gerüsten, Reklameschildern, häßlichen Schuppen, von all dem Eisenwellblech der Welt, von allem, was mit Teer beschmiert war; all unsere Gaswerke und Petroleumlager, alle Pferdefuhrwerke, Rollwagen, Karren mußten ausgerottet werden. ... Aber vielleicht wird das genügen, um einen Begriff von der Art und Ausdehnung unserer großen Feuer, des Verbrennens, des Einschmelzens, der ganzen Vernichtungsarbeit zu geben, die in jenen ersten Jahren noch zu den konstruktiven Aufgaben hinzutrat. ...

Und doch waren das nur die groben, und materiellen Grundlagen der Phönixfeuer der Welt. Es waren nur die äußeren und sichtbaren Symbole für die zahllosen Ansprüche, Rechte, Schuldscheine, Gesetze, Urkunden und Verschreibungen, die ins Feuer geworfen wurden; ungeheure Haufen von Abzeichen und Uniformen, die weder merkwürdig noch schön genug waren zum Aufbewahren, nährten die Flammen, und gleicherweise (von ein paar wahrhaft glorreichen Trophäen und Erinnerungen abgesehen) all unsere Kriegssymbole, der ganze Kriegsapparat, das ganze Kriegsmaterial.

Dann wurden zahllose Triumphe unserer alten, halb kaufmännischen Bastardkunst verurteilt; große Ölgemälde, die für die halbgebildete Mittelklasse berechnet waren, flammten einen Augenblick auf und waren dahin, akademische Marmorstatuen zerfielen zu nützlichem Kalk. Eine Fülle alberner Statuetten und dekorativer Tonwaren, Stickereien, schlechte Musik und Musikinstrumente teilten dieses Schicksal. Auch Bücher, zahllose Bücher und Zeitungsballen wanderten auf die Scheiterhaufen. Allein aus den Privathäusern in Swathinglea – die ich, vielleicht nicht zu Unrecht, für völlig ungebildet gehalten hatte – sammelten wir einen ganzen Kehrichtkarren voll billiger, schlecht gedruckter Ausgaben der geringeren englischen Klassiker – zum größten Teil äußerst langweiliges Zeug und noch wenig abgegriffen – und etwa einen Lastwagen schmutziger und zerlesener Groschenromane, verwässertes, gemeines Zeug, die Wassersucht unseres nationalen Geistes. ... Mir schien, als wir diese Bücher und Hefte sammelten, wir sammelten mehr als Druck und Papier, wir sammelten krumme und verkrüppelte Ideen, ansteckende gemeine Anregungen, die Formeln stumpfsinniger Toleranz und bornierter Ungeduld, die gemeinen Erfindungen zur Verteidigung denkfauler Gewohnheiten und herzloser Ausflüchte. Ich empfand reichlich boshafte Befriedigung, als ich all das sammeln half.

Mit diesem Anteil am allgemeinen Kehraus war ich so beschäftigt, daß mir die kleinen Anzeichen einer Änderung im Befinden meiner Mutter nicht auffielen, wie es sonst wohl der Fall gewesen wäre. Ja, ich hielt sie sogar für ein wenig kräftiger; sie war leicht erregbar, redseliger. ...

Am Vorabend des Festes, als wir mit Aufräumen in Lowchester fertig waren, ging ich das Tal entlang zum anderen Ende von Swathinglea, um die Lagervorräte der Sondergruppe von Töpfereien sortieren zu helfen. Ihr Hauptprodukt waren Kaminsims-Ornamente gewesen, und ich entdeckte, daß es nur sehr wenig zu sortieren gab. Und dort machte mich Anna, die Pflegerin meiner Mutter, auf telephonischem Weg ausfindig, und teilte mir mit, meine Mutter sei morgens, ganz plötzlich und kurz, nachdem ich fortgegangen war, gestorben. Eine Weile war mir, als könne ich es nicht glauben. Dies Ereignis, das sich schon so lang vorbereitet hatte, betäubte mich, als es eintrat, als hätte ich es nie vorausgesehen. Eine Zeitlang arbeitete ich noch weiter; dann fuhr ich, fast apathisch und in einer Stimmung halb widerwilliger Neugier, nach Lowchester zurück.

Als ich hinkam, war schon alles geschehen, und man zeigte mir meiner alten Mutter friedvolles, weißes Antlitz, das still, aber in meinen Augen ein bißchen kalt und streng, ein bißchen fremd, zwischen den weißen Blumen lag. ...

Ich ging allein hinein zu ihr in das stille Zimmer und stand lang neben ihrem Lager. Dann setzte ich mich und dachte. ...

Schließlich verließ ich das Zimmer, seltsam verstummt; wie ein Abgrund tat sich meine Einsamkeit unter mir auf, und ich kehrte zurück in die Welt – eine helläugige, tätige Welt, voll Lärm und Glück und Eifer in ihren letzten Vorbereitungen für die gewaltige Verbrennung vergangener und überwundener Dinge.

 

II.

Ich entsinne mich jenes ersten Festes als der schauerlich einsamsten Nacht meines Lebens. Sie ist mir nur noch in einzelnen Momenten intensiver Empfindung gegenwärtig, zwischen denen vergessene Lücken liegen.

Sehr deutlich entsinne ich mich, wie ich auf der großen Treppe von Lowchester House stand (freilich nicht mehr, wie ich aus dem Zimmer, in dem meine Mutter lag, dorthin kam) und wie ich auf dem Treppenabsatz Anna traf, die mir entgegen heraufstieg. Sie hatte gerade gehört, daß ich zurückgekehrt sei, und wollte zu mir eilen. Sie blieb stehen und ich auch; wir hielten uns an den Händen, und sie sah mir prüfend ins Gesicht, wie Frauen es bisweilen tun. So standen wir etwa eine Sekunde. Ich konnte ihr kein Wort sagen, aber ich fühlte die Woge ihrer Empfindung. Ich zögerte, erwiderte den ernsten Druck ihrer Hand, ließ sie los, und nach einem wunderlichen Moment von Unentschlossenheit ging ich weiter, hinab zu meinen eigenen Angelegenheiten. Mir kam damals nicht einmal der Gedanke, mich zu fragen, was sie wohl denken oder empfinden mochte.

Ich entsinne mich des Korridors voll milden Abendlichtes, und wie ich mechanisch ein Paar Schritte zum Speisezimmer hin tat. Dann, als ich der kleinen Tische ansichtig wurde und ein plötzlicher Schwall redender Stimmen mein Ohr traf – als irgend jemand vor mir die Tür öffnete und schloß – fiel mir ein, daß ich kein Verlangen nach Speise hatte. ... Dann folgt der Eindruck, wie ich über den freien Rasen vor dem Hause ging, wie ich allein aufs Moor hinauswandern wollte, und wie jemand im Vorbeigehen etwas von einem Hut zu mir sagte. Ich war ohne Hut aus dem Hause gegangen.

Noch haftet in mir ein Erinnerungsbild von langen Schatten, welche die sinkende Sonne auf eine Rasenfläche warf, die von ihrem Lichte vergoldet wurde. Die Welt schien mir so sonderbar leer, jetzt, da mir beide, Nettie und meine Mutter, fehlten. Sie hatte keinerlei Sinn mehr. Nettie beschäftigte damals schon wieder meine Gedanken.

Dann war ich draußen auf dem Moor. Ich mied die Höhen, wo die Scheiterhaufen aufgerichtet wurden, und suchte die einsamen Stellen auf. ...

Ich entsinne mich sehr deutlich, wie ich in einer Erdfalte unter der Höhe, die mir das Feuer von Beacon Hill mit seiner Menschenmenge verbarg, hinter dem Park auf einem Gatter saß und dem Sonnenuntergang zuschaute und ihn bewunderte. Die goldene Erde und der Himmel waren wie eine kleine Wasserblase, die auf dem Meere menschlicher Nichtigkeit schwamm. ... Dann ging ich im Zwielicht zwischen hohen Hecken eine unbekannte, von Fledermäusen durchschwirrte Straße hin.

Ich schlief in dieser Nacht nicht unter einem Dach. Aber ich wurde hungrig und aß. Ich aß um Mitternacht in einem kleinen Gasthof drüben nach Birmingham zu, meilenweit von meiner Heimat entfernt. Unwillkürlich hatte ich die Höhen gemieden, wo sich die Menschen um die Feuer drängten, aber hier waren viele Leute, und ich mußte meinen Tisch mit einem Manne teilen, der Pfandleihurkunden zu verbrennen hatte. Ich sprach mit ihm darüber – aber meine Seele stand in weiter Ferne hinter meinen Lippen. ...

Bald trug ein jeder Hügel eine kleine Flammentulpe. Kleine schwarze Gestalten drängten sich darum und erschienen als dunkle Pünktchen am unteren Rand ihrer Blütenblätter; den Rest des Gedränges da draußen verschluckte die gütige Nacht. Dadurch, daß ich die Straßen und ausgetretenen Pfade verließ und über die Felder wanderte, war es mir möglich, allein zu bleiben, wenn mir auch der wirre Lärm der Stimmen und das Sausen und Prasseln großer Feuer stets nahe blieb.

Ich wanderte auf eine einsame Wiese, legte mich im Schutze tiefer Schatten auf die Erde und starrte die Sterne an. Im Dunkel verborgen lag ich da, hin und wieder schlug mir das Sausen und der Aufruhr der Feuer, die die Narrheiten einer verschwundenen Zeit verbrannten und das Schreien des Volks ans Ohr, das durch die Feuer sprang und um Erlösung aus dem Gefängnis seiner eigenen Vorurteile flehte. ...

Ich dachte an meine Mutter, und dann an meine neue Einsamkeit, und auch daran, wie sehr mein Herz nach Nettie verlangte.

An vieles dachte ich in jener Nacht, aber vor allem an die überströmende persönliche Liebe und Zärtlichkeit, die mich im Kielwasser der Wandlung erfaßt hatte, an das stärkere, unbefriedigte Bedürfnis nach dem Besitz dieses einen Wesens, das all mein Verlangen stillen konnte. Solange meine Mutter lebte, hatte sie gewissermaßen mein Herz zurückgehalten, hatte mir Nahrung gegeben, davon diese Empfindungen leben konnten, hatte die Geistesleere gelindert; aber jetzt hatte mich plötzlich auch noch dieser einzig mögliche Trost verlassen. Viele hatten zur Zeit der Wandlung geglaubt, die große Erweiterung der Menschheit werde die Persönliche Liebe vertilgen; aber sie hatte sie nur schöner, voller, zum Leben notwendiger gemacht. Sie hatten gedacht, da jetzt die Menschen ganz erfüllt seien von der freudigen Leidenschaft, zu schaffen und zu handeln, da sie froh, liebevoll und willig seien, all ihren Mitmenschen zu dienen, so werde die eine intime Vertrauensgemeinschaft, die im früheren Leben das Schönste gewesen war, nicht mehr nötig sein. Soweit es sich um den Vorteil und den Kampf ums Dasein handelte, hatten sie in der Tat recht. Aber wenn es sich um den Geist und die feineren Lebensempfindungen handelte, hatten sie ganz unrecht.

Wir hatten die persönliche Liebe nicht ausgeschaltet; wir hatten sie nur ihrer niederen Hüllen entkleidet, sie ihres Hochmuts, ihres Mißtrauens, ihrer eigensüchtigen und eifersüchtigen Elemente beraubt, bis sie rein, leuchtend und unbesieglich in uns erstand. Auf all den schönen, verzweigten Wegen des neuen Lebens ward es nur immer deutlicher, daß es für jeden gewisse Wesen gab, die in geheimnisvoller und unerklärlicher Weise zu ihm stimmten, deren bloße Gegenwart Genuß, deren bloßes Dasein Interesse bedeutete, deren innerste Eigenheiten sich mit den zufälligen äußeren Umständen verschmolzen, um ihre vorbestimmten Liebhaber harmonisch zu ergänzen und zu beherrschen. Sie waren das Wesentliche des Lebens. Ohne sie war das schöne, tapfere Schauspiel der verjüngten Welt ein gezähmtes Roß ohne Reiter, eine Vase ohne Blume, ein Theater ohne Spiel. ... Und in mir ward es in jener Festnacht klar, klar wie weiße Flammen, daß Nettie, Nettie allein, solche Harmonien in mir weckte. Und sie war gegangen. Ich hatte sie gehen heißen. Ich wußte nicht, wohin sie gegangen war! In einer ersten Auswallung tugendhafter Torheit hatte ich sie für immer aus meinem Leben verbannt!

So sah ich es jetzt, als ich so ungesehen im Dunkel lag und nach Nettie schrie, nach Nettie weinte, auf meinem Gesicht lag und nach ihr weinte, während fröhliche Menschen ab und zu gingen und der Rauch sich dick über die fernen Sterne wälzte und rote Reflexe, Schatten und schwanker Lichtschein über das Antlitz der Erde tanzten. ...

Nein! Die Wandlung hatte uns befreit von niedrigen Leidenschaften, von gewohnheitsmäßigem, mechanischem Begehren; von gemeinen Zielen und rohen Phantasien; aber von der Leidenschaft der Liebe hatte sie uns nicht befreit. Sie hatte nur Eros, dem Herrn des Lebens, zum Sieg verholfen .... Und während des langen Jammers jener Nacht erkannte ich, der ich ihn von mir gestoßen, in Tränen und unstillbarer Reue seine Herrschaft an .... Ich kann nicht im entferntesten mehr angeben, wann ich aufstand, noch auch von meinen irrlichternden Wanderungen durch die Täler – zwischen den Mitternachtsfeuern durch – berichten oder sagen, wie ich der lachenden, feiernden Menge auswich, die zwischen drei und vier nach Hause strömte, um, gereinigt und geschmückt, befreit und verschönt, ihr gewohntes Leben wieder aufzunehmen. Aber bei Tagesanbruch, als die Asche der Weltenfreude verglomm – es ging ein kühler Wind und mich fröstelte in meinen dünnen Sommerkleidern – kam ich über ein Feld zu einem Gebüsch voll blasser, blühender Hyazinthen. Etwas wie ein sonderbares Heimatgefühl hemmte meinen Schritt; verwirrt blieb ich stehen. Dann ging ich ein Paar Schritte vom Weg ab, und plötzlich hakte sich ein seltsam mißgestalteter Baum an meinem Gedächtnis fest. Hier war's! Hier hatte ich gestanden – dort hatte ich meinen alten Drachen aufgestellt und mit meinem Revolver geschossen, um ihn für den Tag, an dem ich Berrall begegnen würde, gebrauchen zu lernen. ...

Drache und Revolver waren fort für immer, und die letzten Spuren meiner ganzen heißen, engen Vergangenheit waren in den wirbelnden Flammen der Maifeuer zusammengeschrumpft und verschwunden. So schritt ich zurück, durch eine Welt voll grauer Asche – zurück zu dem großen Haus, in dem das tote, verlassene Bild meiner lieben Mutter lag.

 

III.

Ich kam sehr müde, sehr elend nach Lowchester zurück, von meiner fruchtlosen Sehnsucht nach Nettie erschöpft. Ich hatte keinen Gedanken für das, was vor mir lag.

Mit schmerzvollem Drang zog es mich in das große Haus, um noch einmal auf das Schweigen zu blicken, das einst meiner Mutter Antlitz gewesen war. Als ich ins Zimmer trat, stand Anna, die am offenen Fenster gesessen hatte, auf und kam mir entgegen. Sie sah aus, wie jemand, der wartet. Auch sie war blaß vor Wachen; die ganze Nacht hatte sie zwischen der Toten hier innen und den Feuern draußen gewacht und sich nach meinem Kommen gesehnt. Stumm stand ich zwischen ihr und dem Bett. ...

»Willie!« flüsterte sie, und ihre Augen, ihre ganze Gestalt schienen das verkörperte Mitleid. ...

Ein unsichtbarer Wille zog uns zueinander. Das Gesicht meiner Mutter ward entschlossen, gebieterisch .... Ich wandte mich Anna zu, wie ein Kind sich seiner Pflegerin zuwendet. Ich legte meine Hände um ihre starken Schultern, sie zog mich an sich, und mein Herz ward schwach. ... Ich barg das Gesicht an ihrer Brust, klammerte mich hilflos an sie an und brach in leidenschaftliches Weinen aus. ...

Sie hielt mich mit hungernden Armen fest. Sie flüsterte mir leise zu, wie man einem Kinde Trost zuflüstert. ... Und plötzlich küßte sie mich. Sie küßte mich mit tiefer und hungriger Leidenschaft auf Wangen und Lippen. Sie küßte meine Lippen mit Lippen, die salzig waren von Tränen. Und ich erwiderte ihre Küsse. ...

Dann plötzlich hielten wir inne, ließen einander los und blickten einander an.

 

IV.

Mir ist, als sei bei der Berührung von Annas Lippen die intensive Erinnerung an Nettie vollständig aus meiner Seele geschwunden.

Ich liebte Anna.

Wir gingen zum Rat unserer Gruppe – Gemeinde hieß sie damals noch – und Anna ward mir zum Weibe gegeben. Nach einem Jahr hatte sie mir einen Sohn geboren. Wir waren viel zusammen und kamen einander in unseren Gesprächen sehr nah. Sie ward mir eine treue Freundin und ist es stets geblieben, und eine Zeitlang waren wir leidenschaftlich verliebt. Sie hat mich immer geliebt und meine Seele war stets voll zärtlicher Dankbarkeit und Liebe für sie. So oft wir uns sahen, trafen sich unsere Hände und Blicke zu freundschaftlichem Gruß; und unser Leben lang, von jener Stunde an, ist einer des andern treue Hilfe und Zuflucht, eine nie versagende Freistatt der Ruhe, der offenen und herzlichen Aussprache gewesen. ... Und nach einiger Zeit kehrten meine Liebe und mein Verlangen nach Nettie zurück, als seien sie nie verblichen. ... Heute wird es niemand schwer fallen, das zu verstehen; aber in den schlimmen Tagen des Weltfiebers hätte man es für unmöglich gehalten. Ich hätte diese zweite Liebe aus meinen Gedanken tilgen, hätte sie vor Anna verbergen, hätte alle Welt darüber belügen müssen. Der Theorie der alten Zeit nach gab es nur eine Liebe; uns, die wir auf einem Meer von Liebe schwimmen, wird es schwer, das zu begreifen. Man nahm an, die ganze Natur eines Mannes sei erschöpft durch ein Mädchen oder eine Frau, die ihn besaß, und ihre ganze Natur sei durch ihn erschöpft. Nichts durfte übrig bleiben – es galt als unehrenhaft, einen Überschuß zurückzubehalten. Je zwei Menschen bildeten ein geheimes, abgeschlossenes System zusammen mit den Kindern, die sie ihm gebar. In allen andern Frauen durfte er keine Anmut, keine Schönheit, kein Interesse finden, und sie desgleichen in keinem andern Mann. Die Männer und Frauen der alten Welt zogen sich, wie Tiere in ihre Höhlen, in kleine Schutzhäuser zurück, die sie »Heim« nannten, und ließen sich dort nieder in der Absicht, sich zu lieben. In Wirklichkeit kamen sie bald dahin, daß sie diesen übertriebenen gegenseitigen Besitz eifersüchtig bewachten. Alle Frische schwand bald aus ihrer Liebe, und aller Stolz aus ihrem gemeinsamen Leben. Einander Freiheit zu lassen, war geradezu eine Schande. Daß Anna und ich uns liebten und nach unserer gemeinsamen Liebesreise unser getrenntes Leben fortsetzten und an den öffentlichen Tafeln saßen, bis ihre Mutterschaft nahte, wäre früher als eine furchtbare Prüfung für unsere gegenseitige Anhänglichkeit angesehen worden. Und daß ich Nettie, die auf verschiedene Art wiederum Berrall und mich liebte – weiterlieben konnte, hätte das Althergebrachte im innersten Kern verletzt.

In den alten Tagen war die Liebe eine grausame Frage des Besitzes. Aber nun konnte Anna Nettie in meiner Geisteswelt so frei leben lassen, wie eine Rose die Gegenwart einer weißen Lilie verträgt. Wenn ich Töne vernahm, die in ihrer Welt nicht erklangen, so freute sie sich, daß ich noch anderer Musik lauschte, als der ihren. Denn sie liebte mich. Sie vermochte auch zu sehen, wie schön Nettie war. Das Leben ist so reich und freigebig heut, es gewährt so viel Freundschaft und tausendfaches zärtliches Interesse, so viele Hilfe und Trost, daß niemand einen andern hindert, alle Möglichkeiten der Schönheit durchzukosten. Für mich war Nettie von Anbeginn die verkörperte Schönheit, die Form und die Farbe des göttlichen Prinzips, das die Welt erleuchtet. Für jeden gibt es bestimmte Typen, bestimmte Gesichter und Formen, Gesten, Stimmen und Tonfälle, die jenes unbestimmbare, unerklärliche Etwas enthalten. Mitten durch die Scharen freundlicher, gütiger Mitmenschen schreiten sie auf uns zu – sind unser eigen. Sie berühren uns geheimnisvoll, regen Tiefen auf, die sonst unbewegt bleiben, durchdringen und deuten uns die Welt. Diese Deutung von sich weisen, hieße die Sonne von sich weisen und das ganze Leben verdunkeln und abstumpfen. ... Ich liebte Nettie, ich liebte alle, die waren wie sie, in dem Maß, wie sie ihr nach Stimme, Blick, Form oder Lächeln glichen. Und zwischen meiner Frau und mir herrschte keine Bitterkeit, weil die große Göttin, die Lebensspenderin, Aphrodite, die Königin der lebendigen Meere, in dieser Weise meiner Phantasie erschien. Es beeinflußte unsere Liebe in nichts; denn heute, in unserer verwandelten Welt, ist Liebe ungehemmt – ein goldenes Netz um unsern Erdball, das die ganze Menschheit umfaßt.

Ich dachte viel an Nettie, und alles ergreifend Schöne führte mich stets zu ihr zurück, jede schöne Musik, jede reine tiefe Farbe, alles Zarte und Feierliche. Ihr gehörten die Sterne und das Geheimnis des Mondlichts; sie trug die Sonne in ihrem Haar, in feinen Stäubchen, die in den Strähnen und Locken ihres Haars zu Fäden und Funken von Sonnenlicht wurden. ... Dann plötzlich kam eines Tages ein Brief von ihr, der zwar ihre unveränderte klare Handschrift, aber eine neue Ausdrucksweise zeigte, und in dem sie mir mancherlei mitteilte. Sie hatte vom Tod meiner Mutter gehört, und der Gedanke an mich war so stark in ihr geworden, daß er das Schweigen, das ich ihr zur Pflicht gemacht hatte, durchbrach. Wir schrieben einander als Freunde, zuerst mit einer gewissen Zurückhaltung, und wieder erhob sich in meinem Herzen ein großes Verlangen, sie wiederzusehen. Eine Zeitlang ließ ich diesen Hunger unausgesprochen, dann trieb es mich, ihr davon zu schreiben. Und am Neujahrstag des Jahres Vier kam sie nach Lowchester und zu mir. Wie ich mich über den Abgrund von fünfzig Jahren weg dieses Kommens entsinne! Ich ging ihr durch den Park entgegen, um sie allein zu treffen. Der windstille Morgen war sehr klar und kalt, der Boden mit Schnee bedeckt und alle Bäume trugen regungslos glitzernde Spitzengewebe und Eiskristalle. Die ausgehende Sonne hatte das Weiß golden überhaucht, und mein Herz in mir pochte und sang! Ich sehe noch den schneeigen Dünenrücken, der sonnenbeglänzt vor dem hellen, blauen Himmel stand. Und dann sah ich die Frau, die ich liebte, durch die weißen, stillen Bäume kommen. ...

Ich hatte aus Nettie eine Göttin gemacht. Und siehe! Sie war ein Menschenkind wie wir alle! Sie kam, bebend, warm eingehüllt, auf mich zu, in den Augen zärtlich-verheißungsvolle Tränen, die Hände ausgestreckt, und das alte, liebe, zitternde Lächeln um die Lippen. Aus dem Traum, zu dem ich sie gemacht hatte, trat sie hervor als ein Geschöpf, voll von Wünschen, Wehmut und menschlicher Güte. Ihre Hände waren ein bißchen kalt, als ich sie faßte. Wohl leuchtete die Göttin durch sie hindurch, glühte in all ihren Gliedern – ein Andachtstempel der Liebe war sie für mich, ja! Aber wie etwas Neuentdecktes fühlte ich das Fleisch und Blut ihres Lebens, und ihre lieben, persönlichen, sterblichen Hände. ...


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