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Viertes Kapitel: Krieg

 

I.

Von dem Moment an, in dem ich die alte Frau Verrall beschimpfte, fühlte ich mich als Vertreter der ganzen Klasse der Enterbten dieser Welt. Jede Hoffnung auf Freude oder Stolz war erstorben in mir; ich tobte in Empörung gegen Gott und die Menschen. Nicht mehr unbestimmte Absichten trieben mich dorthin und hierhin; es war mir völlig klar, was ich zu tun hatte. Ich wollte der Welt den Fehdehandschuh ins Gesicht werfen und sterben.

Den Fehdehandschuh ins Gesicht werfen und sterben. Ich wollte Nettie töten, Nettie, die einem andern zugelächelt, die sich einem andern gelobt und hingegeben hatte, und die mir jetzt alles erdenkbare Entzücken verkörperte, alle verlorenen Träume meines jungen Herzens, alle unerreichbaren Freuden des Lebens. Und auch Verrall sollte sterben, Verrall, der Vertreter aller derer, die aus der unabänderlichen Ungerechtigkeit unserer sozialen Weltordnung Nutzen zogen. Und wenn es vollbracht war, wollte ich mir selber eine Kugel vor den Kopf schießen, einerlei, was meiner glatten Weigerung, weiterzuleben, nachfolgen würde.

Das war mein fester Entschluß. Ich tobte wie ein Unsinniger. Und über mir, die Sterne verdunkelnd, stieg das Riesenmeteor über dem gelben, abnehmenden Mond, der tiefer hinter ihm herschwebte, triumphierend zum Zenit empor.

»Ich will töten!« rief ich. »Töten!«

So brüllte ich laut in meiner Wut. Ich war in einem Fieber, das Hunger und Müdigkeit trotzte. Lange war ich, vertieft in Selbstgespräche, durch die Heide nach Lowchester zu gewandert; jetzt, da die Nacht mich ganz umfing, trieb es mich heimwärts, und ich wanderte die langen siebzehn Meilen nach Hause, ohne an Ruhe auch nur zu denken. Seit dem Morgen hatte ich nichts mehr gegessen.

Ich glaube, ich muß wahnsinnig gewesen sein damals, und doch kann ich mich meiner wirren Gedanken noch entsinnen.

Zeitweise wanderte ich weinend durch die Helle, die weder Tag noch Nacht war. Dann haderte ich wieder in wildem Durcheinander wider das, was ich den Geist aller Dinge nannte. Aber immer sprach ich zu dem weißen, herrlichen Wunder am Himmel.

»Weshalb bin ich hier, nur um Schmach zu erdulden?« fragte ich. »Weshalb hast du mich erschaffen mit einem Stolz, der nie befriedigt wird, mit Begierden, die sich wider mich kehren und mich zerfleischen? Ist denn die Welt ein schlechter Witz – ein Scherz, den du mit deinen Geschöpfen treibst? Ich – – selbst ich – bin besser als du!«

»Weshalb willst du nicht von mir Erbarmen lernen? Weshalb nicht lieber ganz vernichten? Habe ich je – Tag für Tag – einen elenden Wurm gefoltert – den Schmutz geschaffen, durch den er sich windet, den Kot, vor dem ihm ekelt, ihn ausgehungert, getreten, verhöhnt? Weshalb tust du das? Albern sind deine Scherze! Versuch es doch – suche doch einen minder grausamen Spaß, du da droben! Hörst du mich! Etwas, das nicht so teuflisch schmerzt!«

»Du sagst, das grade sei deine Absicht – – deine Absicht mit mir! Du machest dadurch etwas aus mir – – Geburtswehen der Seele! Ah! Wie soll ich dir glauben? Du vergißt, daß ich auch Augen habe für andere Dinge! Ich will ja nicht von mir reden – – Aber der Frosch, den ein Wagenrad zerquetscht, Gott? – – Der Vogel, den die Katze zerfleischt?«

Und nach solchen Lästerungen kam eine kleine, lächerliche Rednergeste: »Gib Antwort!«

Eine Woche zuvor hatte der Mond auf die Lichtungen des Parks geschienen, weiß und schwarz und scharf; jetzt war das Licht fahlgrün, und alles wie in Dunst gehüllt. Ein seltsamer, niedriger weißer Nebel lagerte, keine drei Fuß hoch über dem Boden, auf dem Gras, und die Bäume ragten gespenstisch aus dem Geistermeer. Gewaltig, schattenreich und unheimlich war in jener Nacht die Welt, niemand war mehr unterwegs; ich und meine kleine, gebrochene Stimme zogen einsam durch die Stille. Bisweilen haderte ich, wie ich es geschildert habe; bisweilen stolperte ich verdrossen und stumpfsinnig vorwärts, bisweilen übermannte mich plötzlich ein brennender Schmerz ...

Unvermittelt ging die stumpfe Gleichgültigkeit in einen Paroxysmus von Wut über – – wenn ich an Nettie dachte, die mich verhöhnte und verlachte, und an Verrall, an sie und an ihn, die sich in den Armen hielten ...

»Ich will nicht!« schrie ich auf. »Ich will nicht!«

Und in einem dieser rasenden Anfälle zog ich meinen Revolver aus der Tasche und feuerte in die stille Nacht hinein. Dreimal feuerte ich.

Die Kugeln zischten durch die Luft, die erschreckten Bäume erzählten einander in immer schwächer werdendem Echo, was ich getan hatte; dann senkte sich wieder die Ruhe der weiten, geduldigen Nacht über die Störung des Friedens. Meine Schüsse, meine Verwünschungen, meine Lästerungen und meine Gebete – – denn ab und zu betete ich auch – – alles verschlang die Stille.

Es war – wie soll ich es ausdrücken? – wie ein erstickter Aufschrei, der sich in der alles beherrschenden Klarheit, der überwältigenden Macht jener Helle verlor. Das Geräusch meiner Schüsse, ihres Anpralls an die Dinge, war einen Moment ganz ungeheuerlich gewesen; dann war es verhallt. Ich stand mit erhobenem Revolver, erstaunt, von einer mir selbst unverständlichen Empfindung durchdrungen. Dann schaute ich rückwärts, nach dem großen Stern, und starrte ihn eine Zeitlang an.

»Wer bist du?« fragte ich schließlich.

Ich war wie ein Mensch in einsamer Wüste, der plötzlich eine Stimme vernommen hat ...

Auch das ging vorüber.

Als ich über den Kamm des Hügels von Clayton kam, weiß ich noch, daß ich die Menge vermißte, die damals jede Nacht auf den Straßen war, um den Kometen anzustarren; auch der kleine Prediger auf dem Bauplatz hinter den Gerüsten, der die Sünder ermahnte, Buße zu tun vor dem Weltgericht, war nicht an seinem gewohnten Platz.

Mitternacht war längst vorüber, alles war nach Hause gegangen. Aber daran dachte ich zunächst nicht. Die Einsamkeit verwirrte mich und prägte sich mir auf ... Der Helle des Kometen wegen waren alle Gaslaternen gelöscht ... auch das war ungewohnt. Der kleine Zeitungsverkäufer in der stillen Hauptstraße hatte geschlossen und war zu Bett gegangen; aber eine vergessene Tafel hing noch draußen und trug ihr Plakat.

Und das Wort darauf – – es stand nur ein Wort darauf – in grellen Lettern – – lautete: Krieg!

Nichts als die leere, häßliche Straße, die meine Schritte widerhallte, keine Seele wach und zu hören, außer mir. Ich hielt vor dem Plakat. Und in der verschlafenen Stille, hastig aufs Brett gekleistert, ein bißchen schief und knittrig, aber – im kühlen, meteorischen Glanz sehr deutlich, ungeheuerlich und erschreckend der grenzenlose Jammer des Wortes ...

Krieg!

 

II.

Ich erwachte in einem Zustand des Gleichmuts, wie er so oft auf eine Gefühlsüberreizung folgt.

Es war spät, und meine Mutter stand neben meinem Bett. Sie brachte mir auf einem verbeulten Teebrett mein Frühstück.

»Bleib liegen,« sagte sie. »Du hast eben so gut geschlafen. Es war drei Uhr heut Nacht, als du heimkamst. Du mußt schrecklich müde gewesen sein!«

»Dein armes Gesicht,« fuhr sie fort, »war weiß wie ein Tuch, und deine Augen glänzten ... Ich erschrak ordentlich, als ich dir aufmachte. Und auf der Treppe bist du fast gefallen.«

Meine Augen wanderten schweigend zur Tasche meines Rockes, in der sich noch immer etwas bauschte. Sie hatte es nicht beachtet.

»Ich war in Checkshill,« sagte ich. »Du weißt ... vielleicht ...«

»Ich habe gestern abend einen Brief bekommen,« – und sie beugte sich über mich, um mir das Brett auf die Knie zu setzen und küßte mich leise aufs Haar. Einen Moment blieben wir so beide – regungslos – in Gedanken versunken. Ihre Wange lehnte leicht an meinem Kopf.

Um der Pause ein Ende zu machen, nahm ich ihr das Teebrett ab.

»Laß meine Kleider, Muttchen!« sagte ich rasch, als sie darauf zuging. »Die Kleiderbürste kann ich schon selber noch schwingen!«

Und als sie sich abwandte, überraschte ich sie mit einem: »Du gute Mutter! Ein bißchen ... versteh' ich dich schon ... Nur jetzt, Mutter ... laß mich! Laß mich!«

Und mit der Gefügigkeit einer treuen Magd ging sie hinaus. Gutes, demütiges Herz, das die Welt und ich so schlecht behandelt haben!

Mir war an jenem Morgen, als könne nie wieder ein Sturm der Leidenschaft mich mit sich reißen. Eine trauervolle, innere Festigkeit war über mich gekommen. Mein Wille war unbeugsam, wie Eisen. In mir war weder Liebe noch Haß noch Furcht; nur meine Mutter tat mir leid um alles dessen willen, was noch kommen mußte. Langsam frühstückte ich und überlegte, wo ich Auskunft über Shaphambury erlangen und wie ich es anstellen müßte, um hinzukommen. Ich besaß nämlich keine fünf Schilling mehr.

Sorgfältig zog ich mich an, wählte unter meinen Kragen den am wenigsten ausgefransten und rasierte mich sorgfältiger als gewöhnlich; dann ging ich in die öffentliche Bibliothek, um eine Landkarte zu Rate zu ziehen.

Shaphambury lag an der Küste von Essex; es war eine lange und komplizierte Reise von Clayton. Ich ging nach dem Bahnhof und machte mir ein paar Notizen aus dem Fahrplan. Die Gepäckträger, die ich fragte, wußten nicht viel von Shaphambury; aber der Schalterbeamte zeigte sich hilfreich und wir tüftelten alles heraus, was ich wissen wollte. Dann kehrte ich in die von Kohlenstaub bedeckte Straße zurück. Ich brauchte mindestens zwei Pfund. Ich ging zurück in die öffentliche Bibliothek, ins Zeitungszimmer, um meinen Plan auszuklügeln.

Eine Tatsache fiel mir auf. Man schien sich mehr als sonst um die Morgenblätter zu reißen, etwas Ungewohntes lag in der Luft, es waren mehr Menschen da und es wurde mehr geredet als sonst.

Einen Augenblick machte mich das stutzig. Dann besann ich mich.

»Natürlich – der Krieg mit Deutschland!« Man vermutete, es habe sich in der Nordsee eine Seeschlacht angesponnen. Meinetwegen. Meine eigenen Angelegenheiten lagen mir näher.

Ob Parload mir helfen würde?

Ob ich zu ihm ging, mich mit ihm versöhnte, ein bißchen Geld von ihm borgte? Ich erwog ernsthaft die Aussichten. Dann kam mir der Gedanke, etwas zu verkaufen oder zu verpfänden; aber das war schwierig. Mein Winterpaletot hatte neu noch nicht einmal ein Pfund gekostet, und für meine Uhr waren höchstens ein paar Schillinge zu haben. Immerhin war mit diesen beiden Gegenständen zu rechnen. Mit einem gewissen Widerstreben dachte ich an die kleine Summe, die meine Mutter vermutlich für die Miete aufsparte. Sie hielt sie – sehr geheim – in einem alten Teekasten in ihrem Schlafzimmer verschlossen. Ich wußte, es würde fast unmöglich sein, gutwillig einen Teil dieses Geldes von ihr zu erhalten; und obwohl ich mir sagte, hier, wo es sich um Leidenschaft und Tod handle, komme es wirklich auf eine Kleinigkeit nicht an, schlug mir doch das Gewissen, so oft ich an den Teekasten dachte. Gab es denn gar keinen andern Weg? Vielleicht konnte ich, wenn jede andere Quelle versiegt war, noch ganz offen ein paar Schilling von ihr erbetteln? »Den andern,« sagte ich mir, indem ich – dies einemal ohne Bitterkeit – an die Söhne der Gesicherten dachte – »würde es verdammt schwer fallen, ihre romantischen Abenteuer auf solch einer Leihhaus-Basis durchzuführen! Aber es muß gehen!«

Der Tag verstrich; ich regte mich nicht darüber auf. »Eile mit Weile!« pflegte Parload zu sagen; und ich war entschlossen, alles gründlich zu überlegen, langsam zu zielen, und dann blitzschnell, wie eine Kugel, zu handeln.

Auf dem Heimweg zum Mittagessen blieb ich vor einem Leihhaus stehen; aber ich beschloß, meine Uhr erst zu verpfänden, wenn ich auch meinen Paletot bei mir hatte.

Schweigend, den Kopf voller Pläne, verzehrte ich mein Mittagbrot.

 

III.

Nach dem Essen – es bestand aus einem Kartoffelauflauf mit ein paar Stückchen Kohl und Speck darin – zog ich meinen Mantel an und stahl mich, während meine Mutter hinten in der Waschküche war, aus dem Haus.

Eine Waschküche war in der alten Welt – bei Häusern, wie dem unsern – ein feuchter, übelriechender, meist unterirdischer Raum hinter der feuchten, dunklen, als Wohnstube dienenden Küche. In unserem Hause war sie noch schmutziger als üblich, weil der Kohlenkeller, ein gähnendes, schwarzes Schmutzloch, darein mündete und über den unebenen Backsteinboden kleine, unter den Sohlen knirschende Kohlenstückchen verstreute. Dort ging das »Aufwaschen« vor sich – eine feuchte, fettige Arbeit, die jeder Mahlzeit folgte; die Atmosphäre dort war immer kühl und dampfig.

Erinnerungen an gekochten Kohl, an rußige, schwarze Flecken, wo Pfannen oder Kessel einen Moment abgestellt worden waren, an Kartoffelschalen, die im Sieb des Ausgusses hängen blieben und an unbeschreiblich schauderhafte Lumpen, die man »Spüllappen« nannte, steigen beim Gedanken an diese Küche in mir auf. Der Altar des Raumes war der Ausguß, ein Steintrog, den anzurühren sich jeder verfeinerte Mensch gescheut haben würde, fettüberzogen, ekelhaft anzusehen. Darüber war ein Wasserhahn angebracht, so, daß das Wasser, wenn man es laufen ließ, jeden, der davor stand, bespritzte und durchnäßte. Durch diesen erhielten wir unser Wasser. Und in diesem Raum eine kleine, alte Frau, unbeholfen, sehr sanft, eine Seele voll Selbstlosigkeit und Aufopferung, in schmutzigen Kleidern, deren ursprüngliche Farben in ein allgemeines staubig-dunkles Grau übergegangen waren, in abgetragenen, schlecht sitzenden Schuhen, mit zerarbeiteten, verdorbenen Händen und ungepflegten, grauen Haaren – meine Mutter. Im Winter waren ihre Hände aufgesprungen und ein Husten quälte sie. Und während sie aufwäscht, stehle ich mich aus dem Haus, um Paletot und Uhr zu verkaufen, damit ich sie verlassen kann. ...

Ich kämpfte mit wunderlichen Bedenken, eh ich mich entschloß, meine beiden Wertgegenstände zu versetzen. Eine krankhafte Scheu, etwas in Clayton zu versetzen, wo mich der Pfandleiher kannte, trieb mich bis vor die Tür des Geschäftes in der Lynch Street in Swathinglea, wo ich meinen Revolver gekauft hatte. Dann überlegte ich, daß ich damit einem einzelnen Menschen doch zu viele Anhaltspunkte über mich in die Hand gab und ich kehrte schließlich wieder nach Clayton zurück. Wieviel ich dort erhielt, weiß ich nicht mehr; ich entsinne mich nur, daß es etwas weniger war, als die Summe, die ich für die einfache Fahrt nach Shaphambury benötigte. Immer noch voll ruhiger Überlegung ging ich nochmals in die öffentliche Bibliothek, um ausfindig zu machen, ob es nicht möglich war, die Fahrt abzukürzen, indem ich eine Strecke von zehn oder zwölf Meilen zu Fuß ging. Meine Stiefel waren in einem furchtbaren Zustand; jetzt wollte auch die Sohle des linken nicht mehr halten, und wohl oder übel mußte ich einsehen, daß alle meine Pläne scheitern konnten, wenn ich in dieser Krisis Schuhe anhatte, die nur ein Schlurfen zuließen. Solang ich langsam ging, mochten sie ja ausreichen; nicht aber für einen scharfen Marsch. Ich ging also zum Schuhmacher in Hacker Street, aber unter achtundvierzig Stunden wollte er mir keine Reparatur versprechen.

Kurz vor drei Uhr kam ich nach Hause, fest entschlossen, auf jeden Fall mit dem Fünfuhrzug nach Birmingham zu fahren, aber immer noch in Sorge, wo ich das nötige Geld auftreiben sollte. Ich dachte daran, ein Buch oder etwas Ähnliches zu versetzen; aber nichts von wirklichem Wert im Haus fiel mir ein. Das Silber meiner Mutter, – zwei Saucenlöffel und ein Salzfäßchen – war schon seit Wochen versetzt; seit dem letzten Quartalstag im Juni. Aber meine Phantasie war voll imaginärer Auswege.

Während ich die Staffel zur Haustür emporstieg, bemerkte ich plötzlich, daß Mr. Gabbitas mit einer gewissen aufgeregten Entschlossenheit hinter seinen mattroten Vorhängen nach mir ausschaute und dann wieder verschwand. Und als ich den Korridor entlang ging, öffnete er seine Tür und fing mich ab.

Ich wünschte, man sähe mich vor sich – einen finstern, mürrischen Lümmel in den schäbigen, billigen Kleidern von damals, die an allen Nähten glänzten, mit einer verschossenen, roten Krawatte und ausgefranster Wäsche. Meine linke Hand hielt ich hartnäckig in der Tasche, als sei dort etwas, was sie festhalten müsse. Mr. Gabbitas war kleiner als ich. Der erste Eindruck, den er auf jedermann machte, war der von etwas Leichtem, Vogelartigem. Ich glaube, er wäre auch gern vogelartig gewesen, hätte auch die Möglichkeit mancher reizvollen Vogeleigenschaft gehabt, nur daß in seinem Wesen so gar nichts von der temperamentvollen Lebendigkeit eines Vogels lag. Ein Vogel ist ja auch nie außer Atem und steht nicht mit offenem Mund da. ... Mr. Gabbitas trug das Gewand der Geistlichen jener Zeit – ein Kostüm, das uns jetzt so ziemlich als das seltsamste unter all den alten Kostümen der alten Welt erscheint. Das seinige repräsentierte die billigste Form – schwarz, aus einem ärmlichen Stoff, schlecht sitzend, von ungeschicktem Schnitt. Die langen Schöße hoben das Tonnenförmige seines Rumpfes und die Kürze seiner Beine noch ganz besonders hervor. Die weiße Binde über dem geschlossenen Kragen unter dem unschuldsvollen, groß-bebrillten Gesicht war ein bißchen schmutzig, zwischen den nicht sehr sauberen Zähnen steckte eine hölzerne Pfeife. Sein Teint war weißlich, und obgleich er erst drei- oder vierundvierzig Jahre zählte, lichtete sich das sandfarbene Haar bereits auf dem Scheitel.

Heute würde er jedem Auge als die sonderbarste aller Figuren vorkommen – schon infolge des gänzlichen Mangels an körperlicher Schönheit und Würde. Außerordentlich merkwürdig würde er einem vorkommen. Aber in der alten Welt fand er nicht nur Duldung, sondern sogar Achtung. Er hat noch bis vor zwei oder drei Jahren gelebt; aber seine Erscheinung hat sich später geändert. Wie ich ihn an jenem Nachmittag sah, war er ein ziemlich schlampiges, unscheinbares, kleines Lebewesen. Nicht nur war seine Kleidung absolut verdreht und häßlich, sondern – hätte man den Mann ausgezogen, so hätte man in dem Hängewanst, der von schlaffen Muskeln und schlaff gezügelter Eßgier herrührte, den runden Schultern und der gelblichen welken Haut denselben Mangel an ernstlichem Streben nach Reinlichkeit und Schönheit, ja, das Fehlen jeglicher Empfindung dafür gefunden. Instinktiv hätte man gefühlt, daß er von Anfang an so gewesen war. Man hätte die Empfindung gehabt, daß er nicht bloß einfach durchs Leben trieb, indem er aß, was ihm in den Weg kam, glaubte, was ihm in den Weg kam, ohne Energie und eigenen Willen tat, was ihm in den Weg lief, sondern daß er überhaupt an sich planlos ins Leben hineingetrieben war. Man konnte sich unmöglich denken, daß er ein Kind des Stolzes, der hohen Entschlüsse oder gar einer hinreißenden Leidenschaft war. Er war eben zufällig entstanden; aber wir alle waren damals Kinder des Zufalls. Weshalb schlage ich gerade bei dem armen kleinen Pastor diesen Ton an?

»Hallo!« sagte er, freundschaftliche Unbefangenheit heuchelnd. »Habe Sie ja wochenlang nicht mehr gesehen! Kommen Sie herein! Wir wollen ein bißchen plaudern!«

Eine Einladung des Mieters unserer besten Zimmer war so gut wie ein Befehl. Ich hätte sie gern ausgeschlagen; nie war eine Aufforderung mir ungelegener gekommen. Aber ich war nicht schlagfertig genug, um gleich eine gute Ausrede zu finden.

»Schön!« sagte ich verlegen, während er mir die Tür aufhielt.

»Ich würde mich sehr freuen!« fuhr er fort. »Man hat in dieser Gemeinde nicht eben viel Gelegenheit zu einem vernünftigen Gespräch.«

Was zum Teufel will er eigentlich? fragte ich mich heimlich.

Er trippelte in nervöser Gastlichkeit um mich herum, redete in sprunghaften Satzfragmenten, rieb sich die Hände und guckte mich über und neben seiner Brille hervor an. Als ich mich in seinen ledergepolsterten Lehnstuhl setzte, fiel mir wunderlicherweise der im Sprechzimmer des Zahnarztes von Clayton ein. Weshalb, weiß ich nicht.

»In der Nordsee wollen sie uns scheint's zu schaffen machen!« bemerkte er mit einer Art unschuldsvollen Wohlbehagens. »Freut mich, daß es endlich zum Kampf kommt!«

Mr. Gabbitas' Zimmer zeigte einen Anstrich von Kultur, der mich stets bedrückt hatte; selbst bei dieser Gelegenheit fühlte ich mich dadurch beengt. Der Tisch am Fenster war mit allerhand photographischem Material und den neueren Albums seiner Reiseerinnerungen aus dem Kontinent bedeckt; auf den mit amerikanischem Tuch beschlagenen Bücherständern, die die Ecken zu beiden Seiten des Kamins füllten, stand eine in jenen Tagen ganz unglaublich erscheinende Menge von Büchern – im ganzen vielleicht achthundert Bände, einschließlich der Photographiealbums und Lehrbücher aus der Schul- und Universitätszeit des hochwürdigen Herrn. Diese Anzeichen von Gelehrsamkeit wurden noch verstärkt durch ein kleines hölzernes Verbindungswappen, das über dem Spiegel hing und durch ein Bild in Oxfordrahmen an der gegenüberliegenden Wand, das Mr. Gabbitas in Talar und Barett darstellte. Mitten an dieser Wand stand sein Schreibtisch, der, wie ich wußte, inwendig eine Unmasse von Fächern hatte und ihm nicht nur einen kultivierten, sondern sogar einen literarischen Anstrich verlieh. An ihm schrieb er seine Predigten, die er selbst verfaßte!

»Ja,« sagte er und pflanzte sich auf dem Kaminteppich auf, »früher oder später mußte der Krieg ja kommen. Wenn wir jetzt ihre Flotte vernichten, dann ist die Sache ja erledigt.«

Er hob sich auf die Zehen und ließ sich dann auf die Hacken zurückfallen, wobei er durch die Brille milde auf ein Aquarell seiner Schwester – einen Veilchenstrauß – über dem Büfett blickte, welch letzteres Speisekammer, Teebüchse und Weinkeller für ihn vorstellte. »Ja, ja!« wiederholte er dabei.

Ich hustete und überlegte, wie ich loskommen könnte.

Er forderte mich auf zu rauchen – eine wunderliche alte Sitte! – und als ich ablehnte, begann er vertraulich von dieser »entsetzlichen Geschichte«, den Streiks, zu reden. » Die Aussichten wird der Krieg schwerlich verbessern!« meinte er, und schwieg einen Moment ernsthaft.

Dann sprach er davon, daß es seitens der Kohlenarbeiter ein Mangel an Rücksicht auf Frauen und Kinder sei, wenn sie einzig um der Genossenschaft willen streikten. Das reizte mich zum Widerspruch und lenkte mich etwas von meinem Vorsatz, mich davonzumachen, ab.

»Ich bin da nicht ganz Ihrer Meinung,« sagte ich und räusperte mich. »Wenn die Leute jetzt nicht für die Genossenschaft kämpfen, wenn sie sie jetzt auseinanderfallen lassen, was sollte aus ihnen werden, wenn die Lohnkürzungen beginnen?«

Worauf er antwortete, sie könnten keine Maximallöhne erwarten, wenn die Minenbesitzer die Kohle zu Minimalpreisen verkauften.

Ich erwiderte: »Das ist es nicht. Die Arbeitgeber behandeln sie nicht anständig. Sie sind darauf angewiesen, sich selber zu schützen.«

Darauf versetzte Mr. Gabbitas: »Nun, das weiß ich nicht. Ich bin nun doch schon einige Zeit in den vier Städten, und ich muß sagen, ich glaube nicht, daß der Hauptanteil an der Ungerechtigkeit den Arbeitgebern zur Last fällt.«

»Freilich fällt sie den Arbeitern zur Last!« stimmte ich bei, ihn absichtlich mißdeutend.

Und so kamen wir schließlich ins Fahrwasser einer regelrechten Diskussion. »Zum Henker mit dieser Diskussion!« dachte ich. Aber ich war zu ungeschickt, um mich ihr zu entziehen, und meine Gereiztheit kam unwillkürlich in meiner Stimme zum Ausdruck. Auf Mr. Gabbitas' Wangen und Nase zeigten sich drei kleine rote Flecken; aber seine Stimme verriet nichts von seiner Erregung.

»Sehen Sie,« sagte ich, »ich bin Sozialist. Ich glaube nicht, daß diese Welt geschaffen wurde, damit eine kleine Minorität allen andern auf der Nase herumtanzt!«

»Mein lieber, junger Mann,« sagte der hochwürdige Mr. Gabbitas, »auch ich bin Sozialist. Wer ist es nicht? Aber das führt mich nicht zum Klassenhaß.«

»Sie haben den Druck dieses verdammten Systems noch nicht empfunden. Aber ich.«

»Ah!« sagte er. Bei diesem Ausruf schnitt ihm ein Pochen an der Haustür das Wort ab, und während er erwartungsvoll schwieg, ließ meine Mutter jemand ein, der schüchtern anklopfte.

»Jetzt!« dachte ich und erhob mich entschlossen. Aber er wollte mich nicht fortlassen. »Nein, nein!« sagte er. »Es ist nur wegen des Armengelds!«

Damit legte er mir die Hand auf die Brust, wie um mich physisch zu zwingen, und rief: »Herein!«

»Unser Gespräch fängt eben an, interessant zu werden!« behauptete er, während Miß Ramell, eine kleine, ältere Dame, die eine große Rolle in der Wohltätigkeit von Clayton spielte, eintrat.

Er begrüßte sie – von mir nahm sie keine Notiz – und trat an seinen Schreibpult. Ich blieb neben meinem Stuhl stehen, war aber außerstande, das Zimmer zu verlassen. »Ich störe doch nicht?« fragte Miß Ramell.

»Durchaus nicht!« Damit öffnete Mr. Gabbitas seinen Schreibtisch und zog eine Schieblade heraus. Ich konnte nicht umhin, zu bemerken, was er tat.

Der Ärger darüber, daß ich nicht von ihm loskommen konnte, setzte mir so zu, daß ich den Anblick des Geldes, das er herausnahm, gar nicht zu meiner Suche am Morgen in Beziehung brachte. Verdrossen hörte ich seinem Gespräch mit Miß Ramell zu, und sah, gleichsam ohne zu sehen, auf das schmale, flache Schubfach, auf dessen Boden eine, wie es schien, größere Anzahl von Goldstücken zerstreut lag. »Die Leute sind so unvernünftig!« klagte Miß Ramell. Wer konnte in einer sozialen Organisation, die an Verrücktheit grenzte, anders sein?

Ich wandte mich ab, stellte den Fuß auf den Kaminvorsetzer, stützte die Ellbogen auf die mit Plüschfransen versehene Kamindecke und studierte die Photographien, Pfeifen und Aschbecher, die darauf standen. Was hatte ich doch noch alles durchzudenken, eh ich nach dem Bahnhof ging?

Natürlich! – Meine Phantasie machte wider Willen einen sonderbaren kleinen Sprung – als ob etwas sie zwinge, über einen bodenlosen Abgrund zu springen – und landete dann bei den Goldstücken, die soeben, während Mr. Gabbitas das Schubfach schloß, wieder verschwanden.

»Ich will Sie nicht länger in Ihrer Unterhaltung stören!« sagte Miß Ramell und ging zur Tür.

Mr. Gabbitas schwänzelte höflich um sie herum, öffnete ihr die Tür, begleitete sie hinaus auf den Gang. Einen Moment hatte ich das überwältigende Gefühl der Nähe jener – zehn oder zwölf mußten es sein – Goldstücke ...

Die Haustür schlug zu; er kehrte zurück. Die Möglichkeit einer Flucht war verpaßt.

 

IV.

»Ich muß fort,« sagte ich. Der Wunsch, aus diesem Zimmer zu kommen, ward immer stärker in mir.

»Mein lieber, junger Mann,« beharrte er, »das kann ich nicht gestatten! Es ruft Sie doch sicherlich nichts ab!« Dann fragte er, in dem augenscheinlichen Bestreben, den Gegenstand unseres Gesprächs zu wechseln: »Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie über das kleine Buch von Burble denken.«

Jetzt war ich, unter meiner dumpfen, geheuchelten Fügsamkeit, einfach wütend auf ihn. Und es drängte sich mir die Frage auf, weshalb ich denn eigentlich fügsam sein und ihm meine Ansichten verhehlen sollte? Weshalb sollte ich ihm denn eigentlich ein Gefühl intellektueller und sozialer Unterordnung vortäuschen? Er fragte, was ich von Burble hielt. Nun gut, ich beschloß es ihm zu sagen – im Notfall in recht hochfahrender Weise. Vielleicht, daß er mich dann losließ. Ich setzte mich nicht wieder hin, sondern blieb neben dem Kamin stehen.

»Sie meinen das kleine Buch, das Sie mir letzten Sommer geliehen haben?« sagte ich.

»Er hat eine scharfe Logik, was?« sagte er mit einem überredenden Lächeln und deutete mit der flachen Hand auf den Lehnsessel.

Ich blieb stehen. » Mir imponiert seine Logik nicht,« sagte ich.

»Er war einer der bedeutendsten Bischöfe, die London je gehabt hat!«

»Das kann sein. Aber er verficht mit Winkelzügen eine herzlich schwache Sache.«

»Sie meinen?«

»Daß er im Unrecht ist. Ich habe nicht den Eindruck, als beweise er das, was er behauptet. Ich glaube nicht, daß das Christentum wahr ist. Er ist sich im Grunde selbst bewußt, daß er die Unwahrheit behauptet. Seine Gedankengänge sind – Blech!«

Mr. Gabbitas wurde, wie ich glaube, um einen Schein blässer als gewöhnlich, und die Versöhnlichkeit verschwand aus seinem Wesen. Seine Augen, sein Mund wurden rund, selbst sein Gesicht schien rund zu werden, und seine Brauen zogen sich empor bei meiner Bemerkung.

»Es tut mir leid, daß Sie solche Ansichten haben,« sagte er schließlich mit stockender Stimme.

Er forderte mich nicht nochmals auf, mich zu setzen, sondern trat zum Fenster und wandte sich dann wieder um: »Ich denke, Sie werden zugeben,« begann er in einem aufreizenden Ton intellektueller Herablassung. ...

Ich will hier weder seine noch meine Argumente anführen. Jeder, den darnach gelüstet, kann sie in den abgelegenen Winkeln unserer Büchermuseen, in vergilbten, billigen Werken – zum Beispiel der Rationalistischen Preß-Vereinigung, auf denen meine Beweisführung sich aufbaute – finden. Eben da, unter jenem merkwürdigen alten Gerümpel, mit ihm verquickt und nicht von ihm zu unterscheiden, liegen auch die endlosen »Erwiderungen« der Orthodoxen, wie Tote hinter heiß umstrittenen Schanzen durcheinander liegen. Für all diese Dispute unserer Väter – und es waren zuweilen wütende Dispute – haben wir heutzutage kein Verständnis mehr. Die Jüngeren, das weiß ich, lesen sie mit ungeduldigem Staunen. Man kann nicht mehr begreifen, wie gesunde Menschen sich einbilden konnten, sie hätten in diesen Kontroversen etwa ausschlaggebende Worte gesprochen. All die alten Methoden systematischen Denkens, die wunderlichen Absurditäten der aristotelischen Logik sind den magischen und mystischen Zahlen und dem Rumpelstilzchen-Zauber, der mit Namen getrieben wurde, ins Dunkel des Undenkbaren gefolgt. Man versteht heute unsere früheren theologischen Leidenschaften so wenig wie die phantastischen Vorstellungen, die die alten Völker nur in Umschreibungen von ihren Göttern sprechen, die Wilde hinsiechen und sterben ließen, weil sie abgebildet worden waren, oder die einen Landmann zur Zeit der Königin Elisabeth veranlaßten, von seinem Tagewerk umzukehren, weil er drei Krähen begegnet war. Selbst mir, der ich all das mitgemacht habe, wollen, wenn ich heute daran zurückdenke, unsere Streitereien fast unglaublich erscheinen.

Den Glauben verstehen wir heute; alle Menschen leben durch den Glauben. Aber in der alten Zeit verwechselte jedermann hoffnungslos den Glauben mit einem erzwungenen, ganz unverständlichen Vertrauen auf gewisse pseudo-konkrete Behauptungen. Ich neige zu der Annahme, daß weder Gläubige noch Ungläubige einen Glauben in unserem Sinn hatten – ihre geistige Kraft war nicht genügend entwickelt hierzu. Sie vermochten nicht zu vertrauen, wenn sie nicht etwas zu sehen, zu greifen, zu reden hatten, genau wie ihre barbarischen Vorfahren, die ohne Austausch von Zeichen kein Geschäft abschließen konnten. Wenn sie auch keine Steine und Stöcke mehr anbeteten, noch ihren religiösen Bedürfnissen in Pilgerfahrten und Bildern genug taten, so hielten sie doch fanatisch an greifbaren Bildern, an gedruckten Worten und Formeln, fest.

Aber wozu das Echo all jener Wortgefechte wieder heraufrufen. Es genügt, festzustellen, daß wir auf der Suche nach Gott und der Wahrheit sehr bald die Geduld verloren und auf beiden Seiten die törichtesten Dinge sagten. Und im ganzen muß ich – von der unparteiischen Perspektive meiner dreiundsiebzig Jahre aus – sagen: wenn meine Dialektik schlecht war – die des hochwürdigen Herrn war immer noch schlechter.

Kleine rote Flecken traten auf seinen Backen hervor, ein quietschender Ton kam in seine Stimme. Wir unterbrachen uns gegenseitig immer rücksichtsloser. Wir erfanden Tatsachen und beriefen uns auf Autoritäten, deren Namen ich nicht einmal richtig aussprach. Und als ich sah, daß Mr. Gabbitas sich vor der höheren Kritik und vor den Deutschen scheute, erwähnte ich mit nicht geringer Wirkung Namen, wie die von Karl Marx und Engels, als Bibelerklärer. Ein alberner, widersinniger Streit! Unsere Stimmen wurden immer lauter und zänkischer, obgleich wir den Schein gegenseitiger Achtung aufrecht erhielten. Unterdessen stand meine Mutter ohne Zweifel draußen auf der Treppe und lauschte entsetzt, auf den Lippen die Worte: »Nur keinen Anstoß erregen, Lieber! Nur nicht Anstoß erregen! Mr. Gabbitas ist einer der Begnadeten! Versuche, so zu denken, wie Mr. Gabbitas sagt!«

Wir kamen, ich weiß nicht mehr wie, auf die ethische Überlegenheit des Christentums über andere Religionen zu sprechen und ergingen uns dabei in kühnen und phantastischen Verallgemeinerungen des Themas, weil es uns beiden an historischem Wissen fehlte. Ich kam so weit, das Christentum als die Ethik der Sklaven herabzusetzen und mich als Anhänger eines deutschen Philosophen zu bekennen, der damals nicht wenig Mode war – Nietzsche hieß er.

Für einen Anhänger war ich, das muß ich gestehen, mit den Werken des Meisters ganz ausnehmend wenig vertraut. Alles, was ich von ihm wußte, hatte ich aus einem zweispaltigen Artikel in der »Trompete« der letzten Woche. ... Aber Hochwürden Gabbitas lasen die »Trompete« nicht.

Ich bin mir wohl bewußt, daß ich der Leichtgläubigkeit der Leser viel zumute, wenn ich sage, ich zweifle heute gar nicht daran, daß Hochwürden Gabbitas Nietzsche nicht einmal dem Namen nach kannte, obgleich dieser Schriftsteller eine besondere und sehr scharfe Art des Angriffs auf den Glauben vertrat, dessen Hüter der hochwürdige Herr war.

»Ich bin ein Anhänger Nietzsches,« sagte ich mit der Miene, als gebe ich damit eine alles erschöpfende Erklärung ab.

Der Name wirkte auf Mr. Gabbitas offenbar so verblüffend, daß ich ihn sofort wiederholte.

»Wissen Sie, was Nietzsche sagt?« drängte ich boshaft.

»Jedenfalls ist er genügend widerlegt,« sagte er, immer noch bemüht, mich niederzuzwingen.

»Von wem?« warf ich hitzig ein. »Sagen Sie es mir doch!« Und ich blickte ihn, erbarmungslos auf eine Antwort wartend, an.

 

V.

Ein glücklicher Zufall erlöste Mr. Gabbitas aus der Klemme dieser Herausforderung und riß mich auf der Bahn meines Unsterns wieder einen Schritt weiter.

Kaum hatte ich meine Frage gestellt, als auf der Straße Pferdegetrappel und darauf das Knirschen und Anhalten von Wagenrädern hörbar wurde. Ich erblickte einen Kutscher im Strohhut und ein paar Grauschimmel. Es war ein für Clayton unglaublich elegantes Gefährt.

»Ah!« sagte Hochwürden Gabbitas und trat ans Fenster. »Was! Die alte Frau Verrall! Wahrhaftig! Was kann sie nur von mir wollen?«

Er wandte sich nach mir um; alle Erregung des Streits war verschwunden, sein Gesicht strahlte wie eine Sonne. Frau Verrall, das merkte ich, besuchte ihn nicht oft.

»Ich werde so oft unterbrochen,« sagte er, fast grinsend. »Sie müssen einen Augenblick entschuldigen! Nachher – nachher werd' ich Ihnen auch Bescheid sagen über Ihren Nietzsche! Aber gehen Sie ja nicht, ich bitte Sie, gehen Sie nicht! Ich kann Sie versichern ... höchst interessant ...« Damit verließ er das Zimmer, unter allerhand unbestimmten Gesten, die mein Fortgehen verhindern sollten.

»Ich muß gehen!« rief ich ihm nach.

»Nein, nein!« schallte es im Korridor. Ich glaube, er fügte noch hinzu: »ich habe meine Erwiderung – – völliger Irrtum –« und dann sah ich ihn die Treppe hinabeilen, um mit der alten Dame zu sprechen.

Ich fluchte und tat drei Schritte aufs Fenster zu, was mich dem verwünschten Schubfach bis auf einen Meter nahebrachte.

Ich warf einen Blick darauf und dann hinaus, auf die alte, unsinnig reiche Frau, und im Nu sah ich Netties und ihres Sohnes Gesicht vor mir. Die Stuarts hatten sich ohne Zweifel mit der vollendeten Tatsache abgefunden. Und ich ...

Was wollte ich hier?

Was tat ich hier, während ich Gericht zu halten hatte?

Ich war wieder ich und fühlte mich durchströmt von Energie.

Um sicher zu gehen, warf ich einen Blick auf des Pfarrers dienstbeflissenen Rücken, auf die vorspringende Nase und zitternde Hand der alten Dame; dann hatte ich auch schon mit schnellem, festem Griff das kleine Fach geöffnet, vier Goldstücke in der Tasche und die Schieblade wieder geschlossen. Ein Blick durchs Fenster – sie sprachen noch.

Das war in Ordnung. Es konnte Stunden dauern, bis er wieder in das Schubfach sah. Ich blickte nach der Uhr. Noch zwanzig Minuten bis zum Zug nach Birmingham. Zeit, ein Paar Stiefel zu kaufen und fortzukommen. Aber wie zum Bahnhof gelangen?

Ich trat kühn in den Gang und nahm Hut und Stock. ... Einfach an ihm vorbeigehen?

Ja. Das war das beste. Er konnte mich nicht aufhalten, solange eine so vornehme alte Dame ihn in Anspruch nahm. ... Ich stieg die Stufen hinab.

»Ich möchte eine Liste, Mr. Gabbitas,« sagte Frau Verrall, »eine Liste von allen, die es wirklich verdienen. ...«

Merkwürdigerweise kam mir nicht der Gedanke, daß hier eine Mutter saß, deren Sohn ich töten wollte. Dieser Gesichtspunkt kam mir überhaupt nicht zum Bewußtsein. Statt dessen wurde mir die krasse Borniertheit eines sozialen Systems klar, das dieser gichtischen alten Frau die Macht gab, Hunderten ihrer Mitgeschöpfe – ihren engherzigen, törichten und veralteten Vorstellungen von »Verdienst« gemäß – die dringende Notdurft des Lebens zu gewähren oder zu versagen.

»Wir könnten einmal provisorisch eine solche Liste aufstellen,« sagte Mr. Gabbitas und schaute sich dabei mit dem Ausdruck eines sehr in Anspruch genommenen Menschen nach mir um.

»Ich muß gehen,« erwiderte ich auf seinen fragenden Blick, und fügte hinzu: »In zwanzig Minuten bin ich wieder da.« Dann ging ich. Er wandte sich wieder seiner Gönnerin zu, als habe er mich im selben Augenblick auch schon vergessen. Vielleicht war es ihm gar nicht leid, daß ich ging.

Ich fühlte mich vollkommen kühl und tatkräftig und, soweit dieser rasche und erfolgreiche Diebstahl überhaupt einen Eindruck hinterließ, in heiterste Laune versetzt. So sollte sich mein großer Entschluß doch noch erfüllen! Die drückende Empfindung des Behindertseins war gewichen; ich fühlte, ich konnte die Gelegenheit, die sich bot, beim Schopf ergreifen und zu meinem Vorteil ausnützen. Jetzt zuerst nach der Hacker Street, zu dem kleinen Schuster, um mir ein tüchtiges Paar Stiefel zu kaufen – zehn Minuten! Dann zum Bahnhof – fünf Minuten – und dann fort! Ich fühlte mich so leistungsfähig und jenseits der Schranken der Moral, als sei ich der verkörperte Übermensch Nietzsches. Mit der Möglichkeit, daß des Pfarrers Uhr um ein beträchtliches falsch gehen könnte, rechnete ich nicht.

 

VI.

Ich versäumte den Zug.

Zum Teil lag es daran, daß des Pfarrers Uhr nachging, zum Teil an der Hartnäckigkeit des Schusters, der durchaus noch ein Paar anprobieren wollte, obwohl ich erklärte, ich habe keine Zeit mehr. Schließlich kaufte ich das letzte Paar, gab ihm eine falsche Adresse für die Zusendung der alten Stiefel, und hörte erst auf, mich als Nietzsche-Übermensch zu fühlen, als ich den Zug zum Bahnhof hinausfahren sah.

Selbst da verlor ich jedoch nicht den Kopf. Fast augenblicklich fiel mir ein, daß es im Fall einer baldigen Verfolgung sehr von Vorteil wäre, wenn ich nicht von Clayton aus fuhr. Hätte ich es getan, es wäre ein Fehler gewesen, vor dem mich mein Stern bewahrt hatte. Schon sowieso war ich in meinen Erkundigungen nach Shaphambury sehr unvorsichtig gewesen; denn einmal auf die Spur gebracht, mußte der Schalterbeamte sich meiner entsinnen. Jetzt war es nicht wahrscheinlich, daß er überhaupt in die Sache verwickelt wurde. Ich betrat also den Bahnhof gar nicht mehr, ließ mir auch nicht anmerken, daß ich den Zug versäumt hatte, und ging ruhig weiter, die Straße hinab, über den eisernen Steg für Fußgänger und auf einem Umweg über Whites Ziegelei zurück, vorüber an den Gartenparzellen zu dem Weg über Clayton Crest nach Two Mile Stone, wo ich, meiner Berechnung nach, reichlich früh genug für den Zug 6 Uhr 13 eintreffen mußte.

Ich war weder besonders aufgeregt noch ängstlich. Angenommen, sagte ich mir, der Pfarrer sieht zufällig im Schubfach sofort nach: muß er notwendig die vier Goldstücke von den zehn oder elf vermissen? Wenn ja, muß er sofort glauben, ich habe sie genommen? Wenn ja, wird er sogleich handeln, oder wird er nicht meine Rückkehr abwarten? Wenn er sogleich handelt, wird er mit meiner Mutter sprechen oder auf die Polizei gehen? Dann gab es ja ein Dutzend Straßen und Eisenbahnen, die aus dem Bereich von Clayton führten; wie sollte er erfahren, welche ich gewählt hatte? Angenommen, er ging sofort auf den richtigen Bahnhof, so konnten sie sich dort meiner Abfahrt nicht entsinnen, ganz einfach, weil ich gar nicht abgefahren war. Aber vielleicht fiel ihnen Shaphambury ein? Das war unwahrscheinlich.

Ich beschloß, von Birmingham aus nicht direkt nach Shaphambury zu fahren, sondern nach Mackshampton, von dort nach Wyvern und so von Norden her nach Shaphambury. Das konnte möglicherweise ein Übernachten auf einer Zwischenstation nötig machen, allein es mußte mich sicher vor jeder nicht allzu hartnäckigen Verfolgung schützen. Und es handelte sich ja nicht um einen Mord, sondern nur um eine Entwendung von vier Goldstücken.

Noch eh ich Clayton Crest erreichte, hatte ich mir selber jede Besorgnis ausgeredet.

Ich blickte von der Höhe zurück. Welch eine Welt! Und plötzlich ging es mir auf, daß ich zum letztenmal auf diese Welt zurückblickte. Wenn ich die Flüchtlinge einholte und meinen Vorsatz ausführte, mußte ich mit ihnen sterben – oder ich verfiel dem Galgen. Ich blieb stehen und schaute aufmerksam in das weite, häßliche Tal hinab.

Es war mein Heimattal, das ich verließ. Nie würde ich mehr zurückkehren. Und doch erschien mir bei diesem letzten Blick diese Städtelandschaft, die mich zur Welt gebracht, die mich hatte verkümmern und verkrüppeln und schließlich zu dem werden lassen, der ich war, ganz unbeschreiblich fremd. Vielleicht, daß mir der Blick von diesem weitumfassenden Aussichtspunkt mehr vertraut war, wenn ich das Bild von der Nacht verschleiert und gedämpft sah. Jetzt lag es im vollen Alltagsdunst, unter der klaren Nachmittagssonne vor mir. Das erklärt vielleicht in etwas, daß es mir so ungewohnt erschien. Und vielleicht lag auch in den Aufregungen, die ich seit einer Woche und länger durchgemacht hatte, etwas, was meine Einsicht schärfte, was mich fähig machte, das Gewohnte zu durchschauen, das Überlieferte kritisch zu prüfen. Aber damals, dessen bin ich sicher, ging es mir zum erstenmal auf, wie wirr, wie kunterbunt das Gesamtbild jenes Durcheinanders von Minen und Häusern, von Kohlen- und Tongruben, von Bahnhöfen, Kanälen, Schulen, Eisenhütten und Hochöfen, Kirchen, Kapellen, Gartenhäuschen war: eine ungeheure, regellose Anhäufung häßlicher, von Rauch eingehüllter Zufälligkeiten, in der die Menschen so glücklich lebten wie Frösche in einem Kehrichtfaß! Alles stieß und verletzte sich gegenseitig, keins nahm Rücksicht auf seine Umgebung; der Rauch des Hochofens entwertete den Ton der Tongruben, das Gerassel der Eisenbahnen störte die Andächtigen in der Kirche, die Wirtshäuser leerten die Verkommenheit vor die Tür der Schulen, elende Hütten zwängten sich zwischen die Ungetüme der industriellen Betriebe. ... Alles wirkte wie eine blindlings tastende Borniertheit. Die Menschheit erstickte inmitten ihrer Produkte, und all ihre Energie steigerte nur die Unordnung, so wie ein blindes, unseliges Geschöpf, das im Morast sich quält und ringt und schließlich um so sicherer versinkt.

All dies dachte ich an jenem Nachmittag, jedoch nicht in klaren Gedanken. Noch weniger fragte ich mich, in welcher Beziehung ich mit meinen Mordabsichten dazu stand. Wohl erwähne ich dies Gefühl des Wirrwarrs und Erstickens an dieser Stelle, als hätte ich es gedacht; aber damals war es nur Empfindung, flüchtige Empfindung, während ich in das Tal zurückschaute; und noch während ich dastand, entschlüpfte es wieder meinem Sinn.

Nie würde ich dies Stück Erde wiedersehen.

Das war der einzige Gedanke. Es tat mir das keineswegs leid. Ich hatte dafür die Aussicht, in frischer Luft, unter freiem Himmel zu sterben.

Aus dem fernen Swathinglea kam ein leiser Ton, das kaum vernehmbare Grollen einer unsichtbaren Menge; dann rasch hintereinander drei Schüsse.

Eine Weile hielt ich verwundert still. ... Nun, auf jeden Fall ließ ich all das hinter mir. Gott sei Dank, ich ließ all das hinter mir! Und dann, während ich mich zum Gehen wandte, dachte ich an meine Mutter.

Keine gute Welt war es, in der ich meine Mutter zurückließ. Einen Moment dachte ich lebhaft und ausschließlich an sie. Da unten ging sie im Nachmittagsschein noch ahnungslos, daß sie mich verloren hatte. Gebeugt tappte sie in der dunkeln, unterirdischen Küche herum oder trug vielleicht eine Lampe in den Abwaschraum, um sie zu putzen; oder auch sie saß geduldig da, starrte ins Feuer und wartete auf mich mit dem Tee. Ein inniges Mitleid mit ihr überkam mich, eine große Reue ob der noch schlimmeren Sorgen, die ihrem schuldlosen Haupt drohten. Weshalb eigentlich tat ich dies alles?

Weshalb?

Wiederum blieb ich stehen; der Kamm des Hügels stand zwischen mir und meiner Heimat. Ich hatte die größte Lust, zu meiner Mutter zurückzukehren.

Dann dachte ich an die Goldstücke des Pfarrers. Wenn er sie schon vermißt hatte – was würde mein Schicksal sein? Und auch wenn ich zurückkehrte – wie konnte ich sie wieder in sein Schubfach praktizieren?

Und die Nacht – wenn ich wirklich auf meine Rache verzichtet hätte? Und wenn dann der junge Verrall zurückkehrte?

Und Nettie?

Nein! Es mußte sein!

Aber wenigstens küssen hätte ich meine Mutter können, eh ich ging. Ihr ein Wort hinterlassen, sie wenigstens auf eine kleine Weile beruhigen. Die ganze Nacht würde sie lauschen und auf mich warten. ...

Sollte ich ihr von Two Mile Stone aus ein Telegramm schicken?

Das hatte keinen Sinn mehr. Zu spät, zu spät! Es hieß den Weg verraten, den ich eingeschlagen hatte, die Verfolgung auf mich ziehen. Eine schnelle und sichere Verfolgung. Nein! Mutter mußte leiden!

Ingrimmig wanderte ich weiter nach Two Mile Stone, aber jetzt, als treibe ein stärkerer Wille als der meine mich vorwärts.

Ich kam noch vor Anbruch der Dunkelheit nach Birmingham und erwischte gerade den letzten Zug nach Monkshampton, wo ich die Nacht zu verbringen beabsichtigte.


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