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Der gestohlene Körper

Mr. Bessel war der ältere Teilhaber der Firma Bessel, Hart und Brown, St. Pauls Churchyard, und war unter den Freunden und Förderern der Psychologischen Beobachtungsversuche seit vielen Jahren als vorurteilsloser und gewissenhafter Forscher bekannt. Er war Junggeselle und bewohnte, anstatt wie die meisten seines Standes in einem Vorort zu leben, einige Zimmer im Albany Club bei Piccadilly. Besonders interessierte er sich für die Frage der Gedankenübertragung und der Erscheinung Lebender, und im November 1896 begann er – im Verein mit Mr. Vincey, Staple Inn, eine Reihe von Experimenten, um die Behauptung, ein Mensch vermöge durch die Kraft seines Willens sich als Erscheinung im Raum zu bewegen, auf ihre Stichhaltigkeit hin zu prüfen. Diese Experimente wurden auf folgende Weise unternommen: zu einer vereinbarten Stunde schloß sich Mr. Bessel in eines seiner Zimmer in Albany und Mr. Vincey in sein Wohnzimmer in Staple Inn ein, und jeder richtete sein ganzes Denkvermögen so intensiv wie nur möglich auf den andern. Mr. Bessel hatte sich die Kunst des Selbsthypnotisierens angeeignet, und er versuchte, so weit er konnte, sich erst selbst zu hypnotisieren und sich darauf als »Phantom des Lebenden« über den dazwischen liegenden Raum von beinahe zwei Meilen in Mr. Vinceys Wohnung sichtbar zu machen. Verschiedene Abende hindurch blieben die Versuche ohne befriedigendes Resultat; aber beim fünften oder sechsten Male sah – oder glaubte Mr. Vincey tatsächlich eine Erscheinung Mr. Bessels in seinem Zimmer stehen zu sehen. Er erklärt, daß die Erscheinung, wenn auch nur flüchtig, doch durchaus deutlich und lebendig gewesen sei. Er bemerkte, daß Mr. Bessels Gesicht blaß und der Ausdruck seiner Züge angstvoll war und daß außerdem seine Haare zerzaust aussahen. Einen Moment lang war Mr. Vincey, trotzdem er die Erscheinung ja erwartet hatte, zu überrascht, um reden oder sich bewegen zu können; und im selben Moment schien es ihm auch schon, als ob die Gestalt über ihre Achsel zurückblickte und plötzlich verschwand.

Es war vereinbart gewesen, daß der Versuch gemacht werden sollte, jede etwa auftauchende phantastische Erscheinung zu photographieren; aber Mr. Vincey besaß nicht gleich die Geistesgegenwart, den Apparat, der fertiggestellt neben ihm auf dem Tisch lag, zu knipsen, und als er es schließlich tat, war es zu spät. Immerhin notierte er sich, hocherfreut schon über diesen teilweisen Erfolg, genau die Zeit, und fuhr sofort in einer Droschke nach dem Albany Club, um Mr. Bessel von dem Resultat zu benachrichtigen.

Er war erstaunt, als er bemerkte, daß Mr. Bessels äußere Tür zur Nachtzeit offen stand, und daß die Wohnung erleuchtet und in ganz außergewöhnlicher Unordnung war. Auf dem Boden lag eine zerbrochene Kognakflasche; der Hals war ihr augenscheinlich am Tintenfaß auf dem Pult abgeschlagen worden und lag daneben. Ein achteckiger, kleiner Tisch, auf dem eine Bronze und eine Anzahl wertvoller Bücher gelegen hatten, war umgestoßen, und an der zartgelben Tapete waren tintige Finger heruntergefahren, augenscheinlich aus bloßem Vergnügen an der Sache. Einer der feinen Musselinevorhänge war mit Gewalt von den Ringen gerissen und ins Kaminfeuer geworfen worden, und sein Glosten erfüllte das Zimmer mit Brandgeruch. Überall herrschte die seltsamste Verwüstung. Ein paar Minuten lang traute Mr. Vincey, der in der sicheren Überzeugung eingetreten war, Mr. Bessel würde in seinem Lehnsessel sitzen und ihn erwarten, seinen Augen kaum und starrte hilflos dies ungeahnte Schauspiel an.

Dann suchte er, in dem unbestimmten Gefühl, es müsse irgend etwas Schlimmes geschehen sein, den Portier in seiner Loge am Hauseingang auf. »Wo ist Mr. Bessel?« fragte er. »Wissen Sie, daß alles in Mr. Bessels Zimmer zertrümmert ist?« Der Mann sagte gar nichts, kam aber, auf Mr. Vinceys Wink, sofort mit nach Mr. Bessels Wohnung, um sich selbst vom Stand der Dinge zu überzeugen. »Das erklärt alles!« sagte er, das tolle Durcheinander betrachtend. »Davon hab' ich nichts gewußt. Mr. Bessel ist übergeschnappt. Verrückt geworden.«

Er erzählte darauf Mr. Vincey, vor etwa einer halben Stunde, das heißt ungefähr um die Zeit, als Mr. Bessel Mr. Vincey erschienen war, sei der Vermißte, ohne Hut, mit wirrem Haar, zu der auf Vigo Street gehenden Haustür hinausgestürzt und in der Richtung nach Bond Street zu verschwunden. »Und während er an mir vorbeikam,« sagte der Portier, »lachte er – – wie in einer Art Krampf – mit offenem Mund und aufgerissenen Augen – ich sag' Ihnen, Herr, er hat mir ordentlich einen Schreck eingejagt! – So –«

Wenn der Mann das Lachen wirklich getreu wiedergab, war es allerdings alles, nur nicht heiter gewesen. »Und mit der Hand fuchtelte er herum – alle fünf Finger gekrümmt und eingekrallt – so! Und dazu sagte er in einem grimmigen Flüsterton: ›Leben!‹ Bloß das eine Wort: ›Leben!

»Ach Gott!« sagte Mr. Vincey. »Ei, ei, ei! Ach Gott!« Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Er war natürlich ungeheuer erstaunt. In tiefster Bestürzung wandte er sich vom Zimmer zu dem Portier und vom Portier wieder zum Zimmer zurück. Er meinte, wahrscheinlich würde Mr. Bessel bald zurückkommen und das Vorgefallene erklären; aber weiter gedieh die Konversation nicht.

»Vielleicht waren es plötzliche Zahnschmerzen!« sagte der Portier, »ganz plötzliche und ganz heftige, die ihn ganz plötzlich gepackt und wild gemacht haben. Dabei hab' ich auch schon einmal allerhand zusammengeschlagen ...« Er dachte nach. »Aber wenn es das war, wieso hat er dann ›Leben!‹ zu mir gesagt im Vorbeigehen?«

Mr. Vincey wußte es nicht. Mr. Bessel kam nicht wieder, und schließlich, nachdem Mr. Vincey noch eine Weile hilflos um sich gestarrt, ein paar Worte geschrieben und sie an einem Platz auf dem Pult deponiert hatte, wo sie ins Auge fallen mußten, kehrte er in höchst verworrenem Gemütszustand in seine eigene Behausung in Staple Inn zurück. Er war ganz bestürzt über die Angelegenheit. Vermittels keiner auch nur halbwegs vernunftgemäßen Hypothese vermochte er sich Mr. Bessels Benehmen zu erklären. Er versuchte zu lesen; aber es ging nicht. Er machte einen kurzen Gang; aber er war so in Gedanken, daß er mit knapper Not noch vor einer Droschke zur Seite springen konnte, die auf der Höhe von Chancery Lane ihn fast überfahren hätte; schließlich ging er – eine volle Stunde früher als sonst – zu Bett. Lange Zeit ließ ihn die Erinnerung an die stumme Verwirrung in Mr. Bessels Zimmer nicht einschlafen, und als er endlich in einen unruhigen Schlummer fiel, ward dieser durch einen außerordentlich lebhaften und unruhigen Traum von Mr. Bessel gestört. Er sah Mr. Bessel, wild gestikulierend, mit weißem, verzerrtem Gesicht. Und, auf verworrene Weise mit seiner Erscheinung verkettet, vielleicht durch seine Gesten hervorgerufen, war ein tiefes Angstgefühl, ein heftiger Drang zu handeln. Er glaubte sogar, er habe die Stimme seines Experimentierkollegen gehört, die angstvoll und verzweifelt nach ihm rief, obgleich er dies damals für Einbildung hielt. Der lebhafte Eindruck hielt an, auch als Mr. Vincey aufwachte. Eine Weile lag er so, wach und zitternd, im Dunkeln, ganz im Bann der unbestimmten, unerklärlichen Furcht vor unbekannten Möglichkeiten, die auch im Unerschrockensten oft nach einem Traum zurückbleiben kann. Aber schließlich raffte er sich auf, drehte sich auf die andere Seite und schlief wieder ein – bloß um dasselbe mit verstärkter Lebhaftigkeit wieder zu träumen.

Er erwachte mit einer so unerschütterlichen Überzeugung, daß Mr. Bessel ein überwältigendes Unheil zugestoßen sein müsse, und daß er schleunigst Hilfe brauche, daß er unmöglich mehr an Schlaf denken konnte. Er war ganz sicher, daß sein Freund irgendeinem schrecklichen Schicksal in die Arme gelaufen sein mußte. Eine Zeitlang lag er noch da und kämpfte vergebens gegen diese seine Überzeugung an; aber endlich hielt er es nicht mehr aus. Er erhob sich – gegen alle Vernunft – machte Licht, zog sich an und wanderte durch die menschenleeren Straßen – tatsächlich menschenleer bis auf einen stummen Schutzmann oder zwei und die ersten Morgenfuhrwerke – nach Vigo Street, um nachzufragen, ob Mr. Bessel nach Hause gekommen sei.

Aber er kam überhaupt nicht so weit. Als er Long Acre hinabging, veranlaßte ein unerklärlicher Impuls ihn, aus dieser Straße abzubiegen – Covent Garden zu, das eben zu seinem nächtlichen Treiben erwachte. Er erblickte vor sich den Platz – ein seltsamer Farbeneffekt von gelbblühenden Lichtern und emsigen schwarzen Gestalten. Er hörte ein Geschrei und sah eine schwarze Gestalt um die Ecke des Hotels biegen und rasch auf sich zulaufen. Er wußte sofort, daß das Mr. Bessel war. Aber es war ein verwandelter Mr. Bessel. Ohne Hut, zerzaust, mit aufgerissenem Kragen, einen Spazierstock mit bleiernem Griff am untern Ende in der Hand schwingend und verzerrtem Mund ... Er kam gerannt, eilends, mit hastigen Schritten. Das Zusammentreffen währte nur eine Sekunde.

»Bessel!« rief Vincey.

Aber der Einherstürmende schien weder Mr. Vincey noch seinen eigenen Namen zu erkennen. Statt dessen schlug er mit dem Stock wild nach seinem Freund und hieb ihn, dicht neben dem Auge, mitten ins Gesicht. Mr. Vincey taumelte, betäubt, überrascht, nach rückwärts, glitt aus und fiel schwer zu Boden. Er hatte das Gefühl, als ob Mr. Bessel, während er fiel, über ihn weggesprungen wäre. Als er wieder aufblickte, war Mr. Bessel verschwunden, und ein Schutzmann und ein Haufe Markthallenarbeiter und -verkäufer hastete in wilder Verfolgung in der Richtung nach Long Acre an ihm vorüber.

Mit Hilfe von ein paar Vorübergehenden – denn die ganze Straße war bald voll von hastenden Menschen – richtete Mr. Vincey sich wieder auf. Sofort war er auch der Mittelpunkt einer Menge, die darauf brannte zu hören, was ihm eigentlich geschehen war. Ein Durcheinander von Stimmen versicherte ihm in allen Tönen, daß er nicht in Gefahr sei und berichteten dann, was sie von dem Verrückten – als das betrachteten sie Mr. Bessel – wußten. Er war plötzlich mitten auf dem Platz aufgetaucht – hatte – immer unter dem Ruf: »Leben! Leben!« mit einem blutbespritzten Stock nach rechts und links um sich geschlagen und bei jedem Hieb, der saß, vor Entzücken getanzt und gebrüllt. Einem jungen Burschen und zwei Frauen hatte er den Kopf zerbläut und einem Mann das Handgelenk zerschmettert; ein kleines Kind war unter seinen Schlägen bewußtlos zusammengebrochen, und eine ganze Zeitlang hatte er den ganzen Haufen vor sich hergetrieben, so wild und so entschlossen war sein Gebaren gewesen. Dann brach er in eine Kaffeebude ein, schleuderte die brennenden Kerzen, die er dort fand, durch das Fenster des Postamts und entfloh lachend, nachdem er den vordersten der zwei Schutzleute, die den Mut fanden, sich ihm in den Weg zu stellen, durch einen Hieb betäubt hatte.

Mr. Vinceys erster Impuls war natürlich, sich an der Verfolgung seines Freundes zu beteiligen, um ihn womöglich vor der Wut des empörten Pöbels zu schützen. Aber er vermochte sich nur langsam zu bewegen, der Hieb hatte ihn halb betäubt, und noch eh' er weiter gekommen war als zum Entschluß, schrien die Leute sich gegenseitig zu, Mr. Bessel sei seinen Verfolgern entkommen. Zuerst vermochte Mr. Vincey das kaum zu glauben. Aber die Einstimmigkeit, mit der die Nachricht sich wiederholte, und zwei Schutzleute, die würdevoll und mit leeren Händen zurückkamen, überzeugten ihn. Nach ein paar ziemlich zwecklosen Fragen kehrte er, das Taschentuch gegen seine jetzt doch recht schmerzhafte Nase pressend, nach Staple Inn zurück.

Er war zornig und erstaunt und verwirrt. Daß Mr. Bessel mitten in seinem Experiment auf Gedankenübertragung tobsüchtig geworden war, das stand für ihn außer allem Zweifel. Weshalb er aber dann in Mr. Vinceys Träumen mit einem so traurigen, blassen Gesicht auftauchte – das schien ein ganz unlösbares Problem. Vergebens quälte sich Mr. Vincey auf jede nur erdenkliche Weise ab, um eine Erklärung zu finden. Am Ende kam es ihm so vor, als ob nicht bloß Mr. Bessel, sondern die ganze Welt überhaupt verrückt geworden sei. Aber was sich da tun ließ, war ihm völlig unklar. Er schloß sich sorgfältig in sein Zimmer ein, zündete sich ein Feuer an – er hatte einen Gasofen aus Asbest – und weil er fürchtete, er würde wieder träumen, wenn er zu Bett ginge, blieb er auf, machte kalte Umschläge auf sein Gesicht und versuchte – vergeblich – zu lesen – – bis der Tag graute. Während dieser ganzen durchwachten Nacht hatte er immer die sonderbare Überzeugung, daß Mr. Bessel den Versuch mache, ihm etwas zu sagen; aber er wollte diesen Eindruck mit Absicht nicht in sich aufkommen lassen.

Gegen Morgen meldete sich die körperliche Übermüdung doch so stark, daß er zu Bett ging und trotz aller Träume endlich schlief. Er stand spät auf – müde, sorgenvoll und mit heftig schmerzendem Gesicht. Die Morgenzeitungen brachten noch keinen Bericht über Mr. Bessels Verschwinden und Umherirren ... es war zu spät in der Nacht gewesen. Mr. Vinceys Ängste, die ein leichtes Wundfieber noch mehr aufreizte, wurden zuletzt unerträglich, und nach einer ergebnislosen Pilgerfahrt zum Albany Club suchte er Mr. Hart, Mr. Bessels Kompagnon und, so viel er wußte, intimsten Freund, auf.

Zu seiner Überraschung hörte er, daß auch Mr. Hart, obgleich er noch nichts von der Sache wußte, von einem Traumgesicht heimgesucht worden war – demselben Traumgesicht, das Mr. Vincey gehabt hatte – Mr. Bessel, blaß, verstört, mit stummen Gebärden angstvoll um Hilfe flehend. Diesen Eindruck wenigstens hatte auch er von Mr. Bessels Gebaren. »Ich wollte eben in den Albany und nach ihm sehen,« sagte Mr. Hart. »Ich bin ganz überzeugt, daß irgendwas mit ihm nicht stimmt.«

Das Resultat der Beratung war, daß die beiden Herren beschlossen, sich in Scotland Yard nach dem vermißten Freund zu erkundigen. »Ganz sicher haben sie ihn jetzt!« sagte Mr. Hart. »So kann er's ja nicht lange treiben.« Aber die Polizei hatte Mr. Bessel nicht. Sie bestätigten Mr. Vinceys Erlebnisse von der verflossenen Nacht und fügten noch allerhand neue Belastungsmomente hinzu – schwerere noch zum Teil als die, die er kannte, – eine lange Reihe von zertrümmerten Schaufenstern, ein Angriff auf einen Schutzmann, ein scheußlicher Vergewaltigungsversuch an einer Frau ... All diese Missetaten hatte er zwischen halb eins und dreiviertel auf zwei Uhr morgens begangen, und in der dazwischenliegenden Zeit – oder schon vom Augenblick an, als Mr. Bessel – abends um halb neun Uhr – aus seiner Wohnung weggestürmt war, konnte man die Spuren seiner immer wilder und unbändiger werdenden phantastischen Irrfahrt verfolgen ... Die letzte Stunde – oder schon etwa von ein Uhr ab bis viertel vor zwei – war er einfach wie ein Tollhäusler durch ganz London gestürmt, wobei er mit erstaunlicher Behendigkeit jeden Versuch, ihn aufzuhalten oder festzunehmen, vereitelt hatte.

Aber nach dreiviertel zwei war er plötzlich verschwunden. Bis dahin gab es Mengen von Zeugen. Dutzende von Menschen hatten ihn gesehen, waren vor ihm geflohen oder hinter ihm hergelaufen. Dann auf einmal hörte es auf. Ein Viertel vor zwei hatte man ihn noch Euston Road, in der Richtung nach Baker Street, entlang stürmen sehen, mit einer brennenden Ölkanne in der Hand, aus der er rechts und links Flammen nach den Fenstern der Häuser schleuderte, an denen er vorüberkam. Aber weder die Schutzleute in Euston Road jenseits des Panoptikums noch die in den Nebenstraßen, durch die er hätte kommen müssen, wenn er aus Euston Road abgebogen wäre, hatten ihn gesehen. Ganz plötzlich war er verschwunden. Nichts von seinen ferneren Schicksalen kam zutage – trotz eifrigsten Nachforschens.

Neue Bestürzung Mr. Vinceys. Mr. Harts Versicherung: »Sie werden ihn schon bald haben!« war ihm ein großer Trost gewesen; und er hatte damit seine Angst und Verwirrung eingewiegt. Aber bei jeder Wendung, die die Sache nahm, schienen sich neue Unmöglichkeiten aufzuhäufen zu den alten, die schon an sich jegliche Glaubhaftigkeit überschritten. Er fing an zu grübeln, ob ihm nicht sein Gedächtnis etwa doch einen bösen Streich gespielt haben könnte – fing an, sich zu fragen, ob all das überhaupt in Wirklichkeit geschehen sein könnte. Und am Nachmittag suchte er wiederum Mr. Hart auf, weil er die Sorge, die auf seinem Gemüt lastete, einfach nicht mehr aushalten konnte. Mr. Hart verhandelte eben mit einem bekannten Privatdetektiv. Aber da dieser im vorliegenden Fall doch nichts auszurichten vermochte, braucht unsere Erzählung sich weiter nicht mit ihm zu befassen.

Den ganzen Tag und die ganze Nacht wurden unermüdliche Nachforschungen angestellt nach Mr. Bessels Verbleib. Und den ganzen Tag über hatte Mr. Vincey irgendwie immer den unbestimmten Eindruck, daß Mr. Bessel den Versuch mache, sich mit ihm zu verständigen; die ganze Nacht verfolgte Mr. Bessels angstvolles, tränenüberströmtes Gesicht ihn im Traum. Und so oft er Mr. Bessel im Traum sah, sah er daneben eine ganze Menge von andern Gesichtern – unbestimmt ... aber drohend ... die Mr. Bessel zu verfolgen schienen.

Am folgenden Tag – es war ein Sonntag – fielen Mr. Vincey ganz plötzlich ganz besonders seltsame Berichte ein, die er von Mrs. Bullock gehört hatte – einem Medium, das zum erstenmal die Aufmerksamkeit von London auf sich zog. Er beschloß, zu ihr zu gehen. Sie wohnte damals bei dem bekannten Forscher Dr. Wilson Paget, und Mr. Vincey wandte sich, trotzdem er ihn nicht kannte, sofort an diesen Herrn mit der Bitte, man möchte ihm eine Sitzung mit dem Medium gewähren. Aber kaum hatte er den Namen »Bessel« ausgesprochen, als Dr. Paget ihn auch schon unterbrach. »Gestern nacht,« sagte er ... »ganz zuletzt noch, hatten wir eine Mitteilung ...«

Er verließ das Zimmer und kam zurück mit einer Schiefertafel, auf der ein paar Worte geschrieben waren ... unsicher zwar ... und doch ohne Frage die Handschrift Mr. Bessels.

»Wie kommen Sie denn dazu?« fragte Mr. Vincey. »Heißt das wirklich ...?«

»Gestern nacht ist es gekommen!« erwiderte Dr. Paget. Und unter häufigen Unterbrechungen von seiten Mr. Vinceys erzählte er, wie er zu der Schrift gekommen sei. Mrs. Bullock verfällt – so erklärt er es ... in den séances in eine Trance ... verdreht die Augen ... wird ganz starr ... Darauf fängt sie an, sehr hastig zu reden ... Meist in andern Stimmen als in ihrer eigenen. Gleichzeitig fangen ihre Hände an, sich zu bewegen; und wenn Tafel und Griffel bereitliegen, schreibt sie Worte nieder, die so rasch kommen wie ihre gesprochenen und doch gänzlich unabhängig sind davon. Viele halten sie für ein weit stärkeres Medium als die berühmte Mrs. Piper. Und eine dieser Aufzeichnungen – eine, die sie mit der linken Hand geschrieben hatte, lag jetzt vor Mr. Vincey. Sie bestand aus acht zusammenhangslos geschriebenen Worten: »George Bessel ... Versuchsschacht ... Baker Street ... Hilfe ... verhungern ...« Sonderbarerweise hatten weder Dr. Paget noch die beiden anwesenden Klienten von Mr. Bessels Verschwinden gehört ... die Nachricht erschien erst im Abendblatt der Sonnabendzeitung ... und so hatten sie die Aufzeichnung beiseite geschoben wie so viele andere zweifelhafte und unenträtselbare, die Mrs. Bullock von Zeit zu Zeit lieferte ... Als Dr. Paget Mr. Vinceys Bericht gehört hatte, machte er sich sofort voller Energie daran, Mr. Bessel aufzufinden. Es hätte keinen Sinn, all die Nachfragen einzeln aufzuzählen, die er und Mr. Vincey anstellten. Hauptsache ist, daß die Spur, auf die die Aufzeichnungen des Mediums hinwiesen, die richtige war, und daß Mr. Bessel schließlich wirklich aufgefunden wurde.

Man fand ihn in der Tiefe eines verlassenen Schachts, der versuchsweise gebohrt und dann wieder verlassen worden war, als die Arbeiten für die neue elektrische Bahn bei Baker Street Station begannen. Ein Arm und ein Bein und zwei Rippen waren gebrochen. Um den Schacht geht ein fast 20 Fuß hohes Geländer, und über dies Geländer muß – so unglaublich es auch klingen mag – Mr. Bessel, der ein ziemlich korpulenter Herr in mittleren Jahren war, geklettert sein ... bloß um in den Schacht fallen zu können! Er war ganz durchtränkt von Petroleum; neben ihm lag die flachgequetschte Kanne. Die Flammen waren – vermutlich bei seinem Fall – zum Glück ausgegangen. Er zeigte auch keine Spur von Verrücktheit mehr. Bloß war er natürlicherweise furchtbar erschöpft und brach, als er seine Retter sah, in ein hysterisches Schluchzen aus ...

In Anbetracht des kläglichen Zustandes seiner eigenen Wohnung schaffte man ihn nach Dr. Hattons Haus in der oberen Baker Street. Dort unterzog man ihn einer Ruhekur; alles, was ihn auch nur im entferntesten an die heftige Krise gemahnen konnte, die er durchgemacht hatte, ward sorgfältigst vermieden. Aber am zweiten Tag versuchte er selber, eine Art Erklärung abzugeben.

Seitdem hat Mr. Bessel diese Erklärung schon öfters wiederholt – so z. B. – neben anderen – auch mir gegenüber. Die Einzelheiten waren, wie bei jedem Bericht wirklicher Tatsachen, nicht immer ganz übereinstimmend; aber in den Hauptpunkten widersprach er sich niemals. Und dieser Bericht geht etwa auf Folgendes hinaus: (Um die Sache ganz zu verstehen, muß man auf die Experimente zurückgreifen, die er – vor jenem merkwürdigen Anfall – in Gemeinschaft mit Mr. Vincey vornahm.) Mr. Bessels erste Versuche, sich Mr. Vincey als »Geist« sichtbar zu machen, waren, wie der Leser sich erinnern wird, erfolglos. Aber durch all seine Experimente hindurch konzentrierte er seine ganze Kraft, seine ganze Willensstärke auf den Versuch, »aus seinem leiblichen Körper herauszudringen.« »Er setzte ...« das sind seine eigenen Worte ... »sein vollstes Wollen daran.« Und Mr. Bessel behauptet also, daß er, bei lebendigem Leib, durch einen Willensakt tatsächlich sich von seinem Körper losgelöst und auf diese Weise sich an einen Ort oder in ein Sein außerhalb unserer Welt begeben hat ... »Die Sache ging« ... so sagt er ... »in einem Nu vor sich. Eine Sekunde lang saß ich noch in meinem Stuhl ... mit fest zugekniffenen Augen, die Hände um die Stuhllehne gekrampft ... und versuchte nach Kräften meine Gedanken auf Vincey zu konzentrieren ... Und im nächsten sah ich mich selber ... außerhalb meines leiblichen Körpers ... sah wohl diesen Körper ... ganz in der Nähe ... aber leer ... ohne mich ... mit schlaffen Händen und auf die Brust niederhängendem Kopf ...«

Nichts vermag ihn in seiner Überzeugung von diesem Losgelöstsein zu erschüttern. Ganz ruhig und nüchtern beschreibt er die neue Empfindung, die er dabei verspürte. Er fühlte, daß er körperlos geworden war – was er ja auch erwartet hatte; was er nicht erwartet hatte, war, daß er sich von riesenhafter Ausdehnung fand. Aber das war er augenscheinlich geworden. »Ich war – wenn ich mich so ausdrücken darf – eine große, an meinem Körper verankerte Wolke. Es kam mir zuerst so vor, als hätte ich ein größeres Ich entdeckt, von dem das bewußte Sein in meinem Gehirn bloß ein kleiner Teil war. Ich sah den Albany Club und Piccadilly und Regent Street und alle die Zimmer und Räume in den Häusern ganz klar und deutlich und genau unter mir liegen, wie eine kleine Stadt von einem Ballon aus gesehen. Ab und zu machten undeutliche Gebilde, ähnlich treibenden Rauchwolken, das Bild etwas verwischt; aber darauf achtete ich anfänglich wenig. Was mich am meisten wunderte, und was mich noch jetzt wundert, ist, daß ich ganz deutlich nicht nur die Straßen, sondern auch das Innere der Häuser sah – kleine Menschen, die in ihren eigenen Wohnungen aßen und plauderten, Männer und Frauen, die in Restaurants und Hotels aßen und tranken und Billard spielten, mehrere von Menschen wimmelnde große Vergnügungslokale. Es war, als beobachte man das Treiben in einem gläsernen Bienenkorb.«

Genau so lauteten Mr. Bessels Worte. Ich schrieb sie nach, während er mir seine Geschichte erzählte. Er hatte in jenem Moment Mr. Vincey vollständig vergessen und beobachtete eine ganze Weile nur alles. Schließlich, so erzählt er weiter, trieb ihn die Neugier, sich zu bücken und zu versuchen, mit seinem schattenhaften Arm einen Mann anzurühren, der durch Vigo Street ging. Aber er konnte nicht, obgleich sein Finger durch den Mann hindurchzugehen schien. Irgend etwas hinderte ihn daran, aber was, das vermag er nicht recht zu beschreiben. Er vergleicht das Hindernis mit einer Glasscheibe.

»Ich hatte ein Gefühl, etwa wie eine junge Katze es haben mag,« sagte er, »wenn sie zum erstenmal ihr eigenes Bild im Spiegel betastet.«

Immer wieder kam Mr. Bessel, als ich ihn seine Geschichte erzählen hörte, auf das Bild von der Glasscheibe zurück. Ein ganz richtiger Vergleich war es übrigens nicht, denn – wie der Leser sogleich sehen wird – es gab auch Unterbrechungen in diesem sonst so undurchdringlichen Widerstand, Mittel und Wege, durch die Schranke hindurch wieder zur körperlichen Welt zurückzukehren. Aber natürlich ist es äußerst schwierig, solche noch nie dagewesenen Eindrücke in der Sprache des Alltagslebens auszudrücken.

Etwas, was ihm sogleich auffiel und ihn während jenes ganzen Erlebnisses bedrückte, war die Stille, die um ihn her herrschte. Er war in einer Welt ohne Laut. Anfänglich empfand Mr. Bessel nichts als eine Art unbewegten Staunens. Seine Gedanken beschäftigten sich vor allem mit der Frage, wo er wohl sein mochte. Er war außerhalb seines Körpers – wenigstens seines materiellen Körpers. Aber das war nicht alles. Er glaubt – und ich meinerseits glaube es auch – daß er irgendwo außerhalb des Raums – so wie wir diesen Begriff verstehen – war. Durch eine gewaltige Willensanstrengung hatte er sich aus seinem Körper in eine Welt jenseits dieser Welt entrückt – in eine Welt, von der wir uns nichts träumen lassen, und die doch so dicht neben unserer und so wunderbar um uns her gelagert ist, daß sämtliche Dinge dieser Erde von jener Welt aus von außen und innen deutlich sichtbar sind. Lange Zeit – wenigstens so kam es ihm vor – beschäftigten sich seine Gedanken ganz ausschließlich damit, dies zu erfassen und sich klarzumachen. Dann auf einmal fiel ihm seine Abmachung mit Mr. Vincey ein, für die diese erste erstaunliche Erfahrung ja schließlich nur ein Vorspiel war.

Er wandte seine Gedanken also der Frage zu, wie es – in diesem neuen Körper, in dem er steckte, um die Fortbewegung stehen mochte. Eine Weile war er ganz außerstande, sich von seinem irdischen Leichnam loszulösen. Eine ganze Weile schwankte und schaukelte sein neuer Wolkenkörper bloß – zog sich zusammen – dehnte sich wieder aus – drehte sich um sich selber und wand sich in seiner Anstrengung, sich freizumachen; dann – ganz plötzlich – schnappte die Fessel, die ihn band. Einen Augenblick lang verschwand alles hinter etwas, das ihm wie wirbelnde Ballen dunkeln Nebels vorkam; dann – durch eine momentane Lücke – sah er, wie sein vornüberfallender Körper schlaff zusammensank, wie sein lebloser Kopf auf die Seite fiel – – und fühlte gleich darauf, wie er gleich einer riesenhaften Wolke in einer seltsamen Welt schattenhafter Wolken dahintrieb, unter der in lichterfunkelndem Wirrwarr London ausgebreitet lag – wie ein Modell.

Aber nun merkte er auch, daß der fließende Nebel um ihn her mehr war als bloß Nebel; und in die tollkühne Erregung über seinen ersten Versuch mischte sich etwas wie Furcht. Denn er bemerkte – anfänglich undeutlich – dann immer deutlicher – daß er umgeben war von Gesichtern! Daß jedes Rollen und Drehen der scheinbaren Wolkenmaterie ein Gesicht war. Und was für Gesichter! Gesichter gleich verfließenden Schatten – Gesichter wie durchsichtiges Gas. Gesichter – ähnlich denen, die seltsam, fremdartig und unerträglich den Schläfer anstarren in den bösen Stunden seiner Träume. Böse, hungrige Augen, Augen voll einer zehrenden Neugier ... Gesichter mit finsteren Brauen und höhnisch grinsenden, lächelnden Lippen! Und die Schattenhände krallten nach Mr. Bessel, als er vorübertrieb, während die übrigen Körper nichts waren als unbestimmbare Streifen, die sich im Dunkel verloren ... Stumm zogen sie vorüber; kein Wort kam von den Lippen, die doch unablässig zu höhnen schienen. So umdrängten sie ihn ringsum – in traumhaftem Schweigen – fluteten ungehindert durch das dunstige Etwas, das seinen Körper bildete – sammelten sich immer zahlreicher um ihn an. Und der schattenhafte Mr. Bessel trieb – plötzlich von Furcht gepackt – mitten durch diese schweigende und bewegte Menge von Augen und klammernden Händen.

So menschenunähnlich waren diese Gesichter, so voll böser Absicht ihre starrenden Augen und klammernden, schattenhaften Gebärden, daß Mr. Bessel überhaupt gar nicht auf den Gedanken kam, sich diesen treibenden Geschöpfen irgendwie zu nähern. Narrenphantome schienen sie – Kinder eitler Begierde, ungeborene Wesen, denen der Quell des Seins verschlossen war, deren Daseinsäußerungen und Gebärden von nichts sprachen als von der Gier und der Sehnsucht nach Leben, die einzig sie an eine tatsächliche Existenz fesselten ...

Es spricht für Mr. Bessels Entschlossenheit, daß er mitten in der schwärmenden Wolke dieser lautlosen Geister doch noch immer an Mr. Vincey denken konnte. Er strengte seinen Willen aufs äußerste an und sah sich plötzlich – er weiß selber nicht wie – in Staple Inn, Vincey gegenüber, der wachsam, voller Eifer, in seinem Lehnsessel vor dem Kamin saß.

Und rings um ihn her drängten sich – so wie sie um alles, was da lebt und atmet, sich drängen – Mengen jener leeren, lautlosen Geister des Bösen und suchten und tasteten und sehnten sich voller Gier nach einem kleinen Schlupfloch ins Leben ...

Eine Weile versuchte Mr. Bessel vergebens, die Aufmerksamkeit seines Freundes auf sich zu lenken. Er versuchte, sich direkt vor seinen Blick zu bringen, die Gegenstände in seinem Zimmer zu ergreifen, ihn anzurühren. Aber Mr. Vincey blieb unbeeindruckt und ahnte nichts von dem Wesen, das sich so dicht neben ihm befand. Das seltsame Etwas, das Mr. Bessel mit einer Glasscheibe vergleicht, trennte sie undurchdringbar.

Endlich griff Mr. Bessel zu einem verzweifelten Mittel. Ich habe schon erzählt, daß er auf irgendeine seltsame Weise nicht nur das Äußere eines Menschen, so wie wir es sehen, zu sehen vermochte, sondern auch das Innere. Er streckte seine schattenhafte Hand aus und griff mit seinen schwarzen Schattenfingern, wie es scheint, mitten in das ahnungslose Gehirn des andern.

Daraufhin fuhr Mr. Vincey plötzlich auf, wie ein Mensch, der seine schweifenden Gedanken wieder zur Aufmerksamkeit zurückzwingt, und Mr. Bessel schien es, als ob ein kleiner, dunkelroter Körper im Mittelpunkt von Mr. Vinceys Gehirn dabei anfange zu schwellen und zu glühen. Er hat sich seitdem anatomische Abbildungen des Gehirns zeigen lassen und weiß jetzt, daß der kleine Körper das – wie die Ärzte behaupten, überflüssige – sogenannte Zirbeldrüsenauge war. Denn – so seltsam das auch vielen erscheinen mag – wir haben in unserem Gehirn – wo es niemals und unter keinen Umständen das irdische Licht zu erblicken vermag – ein Auge! Damals aber war dies – so wie überhaupt die ganze innere Anatomie des Gehirns – Mr. Bessel ganz neu. Aber als er bemerkte, wie sich der kleine Punkt veränderte, streckte er den Finger aus und berührte ihn – nicht ohne Bangen vor den möglichen Folgen –. Sofort fuhr Mr. Vincey auf – und Mr. Bessel wußte, daß er ihn sah!

Im selben Augenblick aber hatte Mr. Bessel das Gefühl, als ob seinem Körper etwas Schlimmes zugestoßen sei. Und siehe! Ein großer Wind wehte durch jene ganze Welt der Schatten und riß ihn hinweg. So stark war diese Überzeugung, daß er gar nicht mehr an Mr. Vincey dachte, sondern sich unverzüglich umwandte; und mit ihm trieben all die unzähligen Gesichter von dannen, gleich Blättern vor einem Sturm. Aber er kam zu spät. In einer Sekunde sah er, daß der Körper, den er leblos, zusammengesunken, vollständig mit dem Aussehen eines eben Gestorbenen verlassen hatte, auferstanden war – auferstanden kraft einer Macht und eines Willens, die nicht die seinen waren ... Da stand er – mit starrblickenden Augen – und reckte zögernd und halb zweifelnd die Glieder.

Eine Sekunde lang blickte Mr. Bessel in wilder Angst auf ihn hinunter; dann bückte er sich ... Aber die Glasfläche hatte sich wieder vor ihm geschlossen, und er war machtlos. Verzweifelt warf er sich dagegen, und rings um ihn her grinsten und höhnten die Geister des Bösen und deuteten mit Fingern auf ihn. Ein wütender Ingrimm packte ihn. Er vergleicht sich selber mit einem Vogel, der unbesonnenerweise in ein Zimmer geflattert ist und sich gegen eine Fensterscheibe, die ihn von der Freiheit trennt, die Flügel zerschlägt.

Und siehe da! Der kleine Körper, der einst der seine gewesen war, tanzte jetzt vor Entzücken! Er sah ihn schreien – obgleich er die Schreie nicht zu hören vermochte. Er sah, wie seine Bewegungen immer wilder und wilder wurden. Er sah, wie er – in tollem Lebensentzücken – seine ganze zärtlich geliebte Einrichtung über den Haufen schmiß, Flaschen zerschmetterte, in wilden Zügen aus den Scherben trank, in einem leidenschaftlichen Lebensbewußtsein herumwütete und um sich schlug. In einer Art halbgelähmter Verwunderung sah er das alles mit an ... Dann stürzte er sich noch einmal gegen die unerbittliche Schranke und eilte darauf, verfolgt von der Menge höhnender Geister, angstvoll, verwirrt, zu Vincey zurück, um ihm von dem Schimpf zu erzählen, der ihm angetan war ...

Aber Vinceys Gehirn war jetzt wieder verschlossen gegen Erscheinungen, und der entkörperte Mr. Bessel verfolgte ihn vergebens, während er auf der Suche nach einer Droschke in Holborn umherlief. Ohnmächtig, von Entsetzen überwältigt, eilte Mr. Bessel wieder zurück, um seinen entweihten Körper in glorreichster Raserei die Burlington Arkaden hinabstürmen zu sehen ...

Der aufmerksame Leser wird vielleicht jetzt nach und nach anfangen, Mr. Bessels Darstellung des ersten Teils dieser seltsamen Geschichte zu begreifen. Das Lebewesen, dessen wahnwitziger Sturmlauf durch London so viel Unheil und Verletzungen angerichtet hatte, war zwar Mr. Bessels Körper gewesen; aber nicht Mr. Bessel. Es war ein böser Geist aus jener seltsamen Welt des Jenseits, in die sich Mr. Bessel so tollkühn gewagt hatte. Zwanzig volle Stunden hielt er ihn in seinen Klauen; und zwanzig volle Stunden lang irrte der ausgetriebene Geistkörper Mr. Bessels in jener unbekannten Zwischenwelt der Schatten umher und suchte vergebens Hilfe ...

Stundenlang versuchte er, sich Mr. Vincey oder seinem Freund, Mr. Hart, zu offenbaren. Und wie wir wissen, gelang es seinen Bemühungen auch, alle beide aufzurütteln. Aber er kannte keine Sprache, die jenen Helfern seine Lage über den Abgrund hin hätte erklären können; seine schwachen Finger tasteten machtlos und vergeblich in ihrem Gehirn herum. Einmal allerdings, wie gesagt, gelang es ihm, Mr. Vincey so weit zu bringen, daß er dem gestohlenen Körper in seinem Dahinstürmen begegnete; aber was eigentlich geschehen war, das konnte er ihm nicht klarmachen; und so half ihm jenes Zusammentreffen auch nichts.

Und während all jener Stunden empfand Mr. Bessel immer fester und fester die Überzeugung, daß sein Körper in kürzester Frist von dem jetzigen, rasenden Besitzer getötet werden und daß er für immer in seinem gegenwärtigen Schattenland werde bleiben müssen. So daß also die langen Stunden für ihn mehr und mehr zu einer Hölle der Angst wurden ... Und während er so hin und her hastete, in seiner sinnlosen und nutzlosen Erregung, umdrängten ihn die zahllosen Geister der Welt, in der er jetzt lebte, und verwirrten seine Sinne. Und drunten folgte ein neidischer und beifallklatschender Haufe dem glücklichen Genossen auf seiner erfolgreichen und ruhmvollen Laufbahn ...

Denn das – so scheint es – ist das Leben der körperlosen Geschöpfe jener Welt, die ein Schatten unserer Welt ist. Ewig liegen sie auf der Lauer nach einem Weg in einen sterblichen Körper – um sich in ihn zu stürzen – als Furien, als Wahnwitzgebilde, als leidenschaftliche Begierden und tolle, seltsame Lüste – – selig in dem Körper, den sie erwischt haben ... Denn Mr. Bessel war nicht etwa die einzige menschliche Seele in jener Welt. Das bezeugt die Tatsache, daß er erst auf einen und dann auf noch mehrere Schatten von Menschen stieß, – von Menschen – von seinesgleichen – die ihre Körper verloren hatten – vielleicht just in derselben Weise wie er ... und die nun – verzweiflungsvoll – umherirrten in jener verlorenen Welt, die weder Tod noch Leben ist. Sprechen konnten sie nicht – – denn jene Welt ist stumm; aber er wußte doch, daß es Menschen waren – – sah es an ihren undeutlichen menschlichen Gestalten und an der Traurigkeit ihrer Gesichter ...

Aber wie sie in diese Welt gekommen waren oder wo die Körper, die sie verloren hatten, sein mochten, das wußte er nicht – ob sie noch auf Erden umherirrten, oder ob sie auf immer und unwiederbringlich dem Tod verfallen waren. Daß es Geister von Toten waren, das glaubt er so wenig, wie ich es glaube. Dr. Wilson Paget meint, es seien die vernunftbegabten Seelen von Menschen, die auf Erden dem Wahnsinn anheimgefallen sind ...

Schließlich gelangte Mr. Bessel ganz zufällig an eine Stelle, wo eine kleine Menge solch entkörperter, stummer Kreaturen versammelt war; er zwängte sich durch sie durch und erblickte unter sich ein hellerleuchtetes Zimmer und vier bis fünf Herren und eine Frau – eine ziemlich starke, in schwarzen Tüll gekleidete Frau, die in einer etwas seltsamen Stellung, mit zurückgelehntem Kopf, in einem Sessel saß. Er wußte auch gleich – den Photographien nach – daß es Mrs. Bullock, das Medium, war. Und er bemerkte, daß allerhand Fäden und Linien und Punkte in ihrem Gehirn glühten – genau so, wie das Zirbeldrüsenauge in Mr. Vinceys Gehirn geglüht hatte. Die Beleuchtung war ziemlich mangelhaft. Manchmal war es ein helles Flammen ... und dann wieder ein blasses Zwielicht; und immer wechselte es langsam durch ihr Gehirn ... Sie redete fortwährend und schrieb dabei mit einer Hand. Und Mr. Bessel sah, daß die Menschenschatten um ihn her und die ganze Menge der Schattengesichter jenes Schattenlandes alle danach drängten und strebten, die erleuchteten Teile ihres Gehirns zu berühren. Sooft es einem neuen gelang oder einer beiseite gedrängt wurde, wechselte ihre Stimme und ihre Handschrift. So daß alles, was sie sprach, in der Hauptsache zusammenhanglos und verworren war – ein Bruchstück von der Botschaft einer Seele, dann wieder eins von der Botschaft einer anderen; dann wieder stammelte sie die verrückten Launen der Geister des eitlen Verlangens hervor. Schließlich begriff Mr. Bessel, daß sie immer für den Geist sprach, der sie eben berührte, und er fing an, toll und blind nach ihr hinzustreben. Aber er befand sich im äußeren Ring der Menge und es gelang ihm nicht, sie zu erreichen; so daß er schließlich ängstlich wurde und ging, um nachzusehen, was mittlerweile mit seinem Körper geschehen war.

Lange Zeit suchte er überall umsonst und fürchtete schon, er könnte getötet worden sein. Endlich fand er ihn in der Tiefe des Versuchsschachtes in Baker Street, in wütenden Verrenkungen und fluchend vor Schmerzen. Ein Bein und ein Arm und zwei Rippen waren gebrochen. Dazu war der böse Geist höchst übler Laune, weil seine Zeit so kurz gewesen war und der Schmerzen wegen, und warf seinen Körper in den heftigsten Bewegungen herum ...

Bei diesem Anblick kehrte Mr. Bessel mit verdoppelter Entschlossenheit nach dem Raum zurück, wo die séance abgehalten wurde. Kaum hatte er den Ort erblickt, als er auch schon bemerkte, wie einer der Herren, die das Medium umgaben, nach der Uhr sah, als halte er es für geboten, die séance bald aufzuheben. Eine ganze Anzahl von Schatten, die zu dem Medium hingestrebt hatten, wandten sich bei diesem Augenblick mit Gebärden der Verzweiflung ab. Aber der Gedanke, daß die séance gleich zu Ende sein würde, bestärkte Mr. Bessel nur in seiner Entschlossenheit, und er kämpfte mit seiner ganzen Willenskraft so unverzagt gegen die anderen an, daß es ihm wirklich gelang, bis zum Gehirn der Frau vorzudringen. Das glühte zufällig in diesem Moment ganz besonders hell auf, und in diesem Augenblick schrieb sie denn auch die Botschaft nieder, die Dr. Wilson Paget noch aufbewahrt. Gleich darauf hatten die anderen Schatten und die Wolke von bösen Geistern um ihn her Mr. Bessel weggedrängt, und für den Rest der séance vermochte er nicht mehr, sich der Frau zu bemächtigen.

Er kehrte darum zu dem Schacht zurück und hielt Wache neben seinem gestohlenen Körper, den der böse Geist zerschmettert hatte und in dem er fluchend und sich windend gefangen saß und weinend und stöhnend die bittere Lektion des Schmerzes lernte. Und gegen Morgen geschah, worauf er gewartet hatte: das Gehirn glühte hell auf, und der böse Geist fuhr aus, und Mr. Bessel schlüpfte wieder in seinen Körper, den je wieder sein eigen zu nennen er schon die Hoffnung aufgegeben hatte. Und mit einem Male hörte das Schweigen – das brütende Schweigen – auf. Er hörte den Lärm des Verkehrs, hörte die Stimmen der Menschen über sich; und die rätselhafte Welt, die der Schatten unserer Welt ist, und die dunkeln stummen Schatten eitlen Verlangens, die Schatten der Verlorenen schwanden – ganz und gar ...

Etwa drei Stunden lag er noch dort, eh' man ihn fand. Und trotz der Schmerzen und Qual seiner Wunden und des düstern, feuchten Orts, an dem er lag – trotz der Tränen, die sein physischer Zustand ihm auspreßte, war sein Herz voller Freude in dem Bewußtsein, daß er doch noch einmal wieder in unserer Welt war – in der vertrauten Welt der Menschen.


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