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Mr. Ledbetters Urlaub

Mein Freund Ledbetter ist ein kleiner Mann mit einem runden Gesicht. Die natürliche Milde seiner Augen wird durch Brillengläser ins Riesenhafte gesteigert, und die tiefe, langsame Stimme geht nervösen, empfindlichen Leuten häufig auf die Nerven. Von seinen Erzieherjahren her ist ihm auch als Pfarrer – er ist Landpfarrer – eine gewissenhaft ausgefeilte Deutlichkeit der Aussprache geblieben und dabei eine gewisse nervöse Entschlossenheit, in allen Dingen, einerlei ob von Belang oder nicht, stets bestimmt und korrekt zu sein. Er ist Schachspieler, und manche haben ihn sogar im Verdacht, daß er sich insgeheim mit der höheren Mathematik beschäftigt – beides zwar achtenswerte, aber nicht gerade interessante Liebhabereien. Er redet gern und viel und lang und ergeht sich mit Vorliebe in unbedeutenden Einzelheiten. Viele nennen ihn sogar – um es mit dürren Worten zu sagen – langweilig; und manche tun mir die Ehre an, sich zu wundern, daß ich mit ihm verkehre. Andererseits wieder ist da auch eine große Partei, die es erstaunlich findet, daß er mit einem so ungeschliffenen, verrufenen Menschen wie mir verkehrt. Die wenigsten nur scheinen unsere Freundschaft mit Gleichmut hinzunehmen. Das kommt aber nur davon her, daß sie nichts wissen von dem Band, das uns verbindet, und das mir – via Jamaika – die angenehme Bekanntschaft von Mr. Ledbetters Vergangenheit vermittelt hat. Mr. Ledbetter ist in bezug auf diese Vergangenheit von fast ängstlicher Bescheidenheit. »Ich weiß nicht, was ich anfinge, wenn es bekannt würde!« sagt er. Immer wieder sagt er es, voller Nachdruck: »Ich weiß nicht, was ich anfinge.« Übrigens – ich zweifle sehr daran, ob er etwas anfinge – außer rot werden bis über die Ohren!

Aber das wird sich später zeigen. Ich will auch hier nicht von unserer ersten Begegnung erzählen, da es nun einmal im allgemeinen die Regel ist – die ich allerdings die Gewohnheit habe zu brechen – das Ende einer Geschichte lieber nach dem Anfang zu bringen als vorher. Und der Anfang der Geschichte liegt weit, weit zurück! Ja wirklich – fast zwanzig Jahre ist es jetzt her, daß das Schicksal durch eine ganze Reihe von verwickelten und überraschenden Schachzügen mir Mr. Ledbetter sozusagen in die Hände spielte.

Ich lebte damals in Jamaika, und Mr. Ledbetter hatte eine Stellung als Erzieher in England. Seine theologischen Examina hatte er hinter sich und war schon damals genau derselbe, wie noch heute: dasselbe runde Gesicht, dieselbe oder jedenfalls eine ganz ähnliche Brille und derselbe leise Ausdruck der Verwunderung in seinen Zügen, wenn sie gerade unbeweglich waren. Natürlich – als ich ihn sah, war er ja in einem verwahrlosten Zustand – der Kragen sah weniger aus wie ein Kragen, als wie eine feuchte Binde, was dazu beigetragen haben mag, die natürliche Kluft zwischen uns beiden zu überbrücken ... Aber davon, wie gesagt, später.

Angefangen hat die Geschichte in Hithergate – einem kleinen Seebad –, und zwar mit Mr. Ledbetters Sommerferien. Er kam zur Erholung – die er recht notwendig brauchte – hin, mit einem strahlend braunen, F. W. L. gezeichneten Handkoffer, einem neuen weiß und schwarzen Strohhut und zwei Paar weißen Flanellhosen – voller Seligkeit, dem Schulzwang entronnen zu sein, denn er hing nicht besonders an den Jungens, die er zu unterrichten hatte. Nach Tisch geriet er in eine Unterhaltung mit einem redseligen Herrn, dem einzigen Mann, der in der Pension wohnte, in der er sich auf den Rat einer Tante hin eingemietet hatte. Die Unterhaltung drehte sich hauptsächlich um Dinge, wie, daß Abenteuer und Wunder in unseren Tagen leider mehr und mehr ausstürben – daß die Menschen immer reisewütiger würden – daß es vor lauter Dampf und Elektrizität überhaupt keine Entfernungen mehr gäbe – daß das Reklamewesen immer pöbelhafter würde – und daß die Menschheit vor lauter Zivilisation immer mehr entarte. Insbesondere erging sich der Redselige über das Aussterben jeglichen persönlichen Mutes infolge der allgemeinen öffentlichen Sicherheit. Mr. Ledbetter gab ihm – etwas gedankenlos – recht hierin: auch er fand diese Sicherheit beklagenswert. Er hatte sich – im ersten Entzücken über seine Freiheit und vielleicht vor lauter Eifer, sich als Mann von Welt und als guter Gesellschafter zu zeigen, den vortrefflichen Whisky, den der redselige Herr zum besten gab, ein bißchen mehr als gut war, schmecken lassen. Aber betrunken sei er nicht gewesen – behauptete er.

Nur gesprächiger war er als sonst, und sein Urteil war nicht mehr ganz so scharf. Und nach dem Gespräch über die alten schönen Zeiten des Rittertums, die für immer dahin waren, wanderte er einsam durch das mondbeglänzte Hithergate und den Weg über die Klippen, wo eine Villa sich an die andere reiht. Er hatte das Schicksal angeklagt, das ihn zu einem so ereignislosen Dasein, wie dem eines Pädagogen, bestimmt hatte. Und noch immer klagte er es an, während er den schweigsamen Weg hinanwandelte. Wie prosaisch war das Leben, das er führte! Wie versumpft! Wie farblos! Sicher – regelmäßig – jahraus, jahrein! Was brauchte es dazu Tapferkeit und Mut! Neidvoll gedachte er der abenteuervollen mittelalterlichen Zeiten – so nah und doch so fern! – Der Raubritter, der Streifzügler und Kondottieri – der Kämpfe, die mit dem Schwert in der Hand ausgefochten wurden! Und plötzlich sprang in ihm ein Zweifel auf – ein fürchterlicher Zweifel, der irgendeinem zufälligen Gedanken an Folter und Tortur entstieg und die ganze Pose, in die er sich heute abend hineingeredet hatte, über den Haufen warf.

War er – Mr. Ledbetter – denn wirklich so mutig, wie er tat? Wäre es ihm tatsächlich so angenehm gewesen, wenn Eisenbahnen, Polizei, persönliche Sicherheit plötzlich von der Erde verschwunden wären? Der redselige Herr hatte voll Neid vom Verbrechertum gesprochen. »Der Einbrecher,« hatte er gesagt, »ist heutzutage noch der einzige wahre Abenteurer auf Erden! Denken Sie an seinen Kampf – mutterseelenallein – gegen eine ganze zivilisierte Welt!« Und Mr. Ledbetter hatte ihm als getreues Echo beigepflichtet. »Die verstehen's noch, das Leben zu genießen!« hatte er behauptet. »Die wohl eigentlich einzig und allein. Stellen Sie sich vor – das Gefühl – über einen Stachelzaun zu klettern – –!« Und er hatte teuflisch dazu gelacht. Jetzt – in der ungestörten Intimität seines Selbstgesprächs merkte er auf einmal, wie er Vergleiche anstellte zwischen seinem eigenen Mut und dem eines gewerbsmäßigen Verbrechers. Er versuchte, all diesen heimtückischen Fragen einfach eine glatte Bejahung gegenüberzustellen.

»Ich könnte das alles auch!« sagte Mr. Ledbetter. »Ich möcht' es sogar. Nur – ich gebe meinen verbrecherischen Instinkten nicht nach. Mich hält mein moralischer Mut davon zurück.«

Aber während er sich das einredete, war doch der Zweifel da ... Eben kam er an einer großen, vereinzelt dastehenden Villa vorüber. Über einem stillen, leicht zu erkletternden Balkon gähnte äußerst einladend ein schwarzes, weitoffenes Fenster. Im Moment bemerkte er es kaum; aber das Bild verfolgte ihn, wurzelte in seinen Gedanken fest. Er sah sich selber an dem Balkon hinaufklettern, sich ducken – in das dunkle, geheimnisvolle Innere dringen ... »Ah bah! Du würdest es nie wagen!« sagte der Geist des Zweifels. »Die Pflicht gegen meine Nebenmenschen verbietet es mir!« sagte Mr. Ledbetters Selbstachtung ...

Es war gegen elf Uhr. In dem kleinen Seebad war schon alles still. Die Welt schlummerte im Glanz des Mondes. Nur eine einzige längliche Fensterscheibe weit unten am Weg sprach noch von wachem Leben.

Er kehrte um und ging langsam nach der Villa mit dem offenen Fenster zurück. Eine Weile blieb er vor dem Gitter stehen – eine Beute der widerstreitendsten Empfindungen. »Wollen wir doch einmal die Probe machen!« sagte der Zweifel. »Nur um diesen unerträglichen Zweifel zu beschwichtigen – zeig', daß du es wagst! Simuliere einen Einbruch! Das ist ja doch kein Verbrechen.«

Sachte öffnete und schloß er das Gittertor und schlüpfte in den Schatten des Strauchwerks. »Du bist ein Narr!« flüsterte Mr. Ledbetters Vorsicht. »Na ja, sag' ich's nicht!« stichelte der Zweifel.

Sein Herz schlug gewaltig. Aber Angst hatte er nicht. Nein, Angst hatte er wirklich nicht. Er blieb ziemlich lang im Schatten stehen ...

Das Erklettern des Balkons – das war ganz klar – mußte auf einen Streich vor sich gehen; denn er lag im vollen Mondlicht und war vom Weg aus leicht zu sehen. Ein starker, mit jungen Blüten übersäter Kletterrosenstrauch lockte geradezu zum Hinaufsteigen. Droben, im schwarzen Schatten der steinernen Blumenurne, konnte man sich dann niederkauern und sich die Bresche in dieser häuslichen Festung, das offene Fenster, näher besehen. Eine Weile war Mr. Ledbetter still wie die Nacht um ihn her; dann siegte der Whisky. Er machte einen Satz – und mit hastigen, krampfhaften Bewegungen kletterte er an dem Rosenstamm empor, schwang seine Beine über den Balkonrand und ließ sich schweratmend in den Schatten niedergleiten – genau, wie er es geplant hatte. Er zitterte an allen Gliedern – sein Atem kam stoßweise – das Herz klopfte ihm fast hörbar; aber er war in gehobenster Stimmung! Laut hinausschreien hätt' er können vor Wonne, daß er so gar keine Angst hatte!

Eine Versstrophe, die er kürzlich irgendwo gelesen hatte, fiel ihm ein, während er so dakauerte. »Wie dem Kater ist mir zu Sinne, der auf dem Dachfirst schleicht!« flüsterte er vor sich hin. Weit, weit ging das über alle Erwartungen – diese jauchzende Freude! Ihm taten ordentlich alle die Menschen leid, die den Genuß des Einbrechens nicht kannten. Nichts geschah ihm. Er fühlte sich vollkommen sicher. Und er benahm sich so tapfer!

Jetzt zum Fenster hinein, um den Einbruch wirklich vollends auszuführen! Ob er das tatsächlich mußte? Die Lage über der Haustüre ließ darauf schließen, daß es ein Korridor- oder Treppenfenster war. Nirgends Spiegel oder sonstige Merkmale eines Schlafzimmers. Auch kein anderes Fenster im ersten Stock war zu erblicken, hinter dem man möglicherweise einen Schläfer vermuten konnte. Eine Weile lauschte er unter der Brüstung. Dann hob er den Kopf zum Sims und spähte in das Innere. Dicht vor ihm auf einem Sockel stand eine fast lebensgroße Bronze mit erhobenen Armen ... Im Moment war das ein bißchen unheimlich. Er duckte sich schnell; und nach einer Weile spähte er wieder hinein. Hinter der Bronze war ein geräumiger Korridor, der schwach erglänzte; ein durchsichtiger Perlenvorhang, hinter dem sich schwarz und scharf ein zweites Fenster abhob, eine breite Treppe, die sich nach unten zu in einem Meer von Dunkelheit verlor, und eine andere, die nach dem zweiten Stockwerk emporführte. Er blickte hinter sich; nichts unterbrach die Stille der Nacht. »Ein Verbrecher!« flüsterte er. »Ein Verbrecher!« Und rasch und unhörbar kletterte er über den Fenstersims ins Haus. Seine Füße sanken lautlos in einen Fellteppich. Also es war geschehen! Er war ein Einbrecher!

Eine Zeitlang duckte er sich wieder – ganz Auge und Ohr. Draußen ertönte ein Rascheln und Huschen. Und einen Augenblick lang wollte er schon sein Unternehmen bereuen. Ein kurzes Miauen, ein Fauchen und plötzlich wiedereintretende Stille beruhigten ihn. Katzen! Sein Mut schwoll. Er richtete sich auf. Alles schlief schon, wie es schien. Wie leicht es war, einzubrechen, wenn man nur wollte! Er war froh, daß er es ausprobiert hatte. Er beschloß, irgendeine wertlose kleine Siegesbeute mitzunehmen, bloß um zu beweisen, wie gänzlich frei er war von jeder kriecherischen Furcht vor dem Gesetz, und dann auf demselben Weg, auf dem er gekommen war, wieder abzuziehen.

Er blickte sich um und plötzlich stieg ein Geist der Kritik wieder auf in ihm. Einbrecher begnügten sich nicht mit solch primitivem Anfang. Sie drangen in die Zimmer ein – sie brachen Schlösser auf. Na, schön! Er hatte keine Angst! Schlösser aufbrechen – das konnte er nicht. Das wäre denn doch zu taktlos und rücksichtslos gewesen seinen unbekannten Gastfreunden gegenüber. Aber in irgendein Zimmer eindringen, – die Treppe hinaufsteigen – warum nicht? Und noch mehr! Er wiederholte es sich immer wieder: er war ja absolut sicher. Dieses unbewohnte Haus konnte ja gar nicht ruhiger sein. Trotzdem krampfte er die Hände zusammen und mußte seine ganze Entschlossenheit zu Hilfe rufen, ehe er ganz leise die halbdunkle Treppe hinaufschlich. Auf jeder Stufe hielt er einen Augenblick inne ...

Oben befand er sich in einem viereckigen Korridor mit einer offenen und ein paar geschlossenen Türen. Das Haus war totenstill. Einen Augenblick blieb er stehen und überlegte, was wohl geschehen würde, wenn irgendwo plötzlich ein Schläfer aufwachte und auf der Bildfläche erschiene. Durch die offene Tür sah man in ein vom Mond erhelltes Schlafzimmer und ein weißes, unberührtes Bett ... Er schlich sachte hinein – drei ganze lange, endlose Minuten brauchte er dazu ... ergriff ein Stück Seife als Beute und Siegestrophäe – und machte kehrt, um womöglich noch vorsichtiger als er gekommen war sich wieder zu entfernen. Nichts leichter als das! ...

Sß! ...

Schritte! ... Im Kies vor dem Haus ...

Gleich darauf das Geräusch eines Schlüssels im Schloß – das Offnen und Zufallen einer Tür – – das Aufzischen eines Streichholzes drunten in der Halle ... Und Mr. Ledbetter erstarrte zu Stein. Mit einemmal ging ihm die volle Erkenntnis seines tollen Unternehmens auf.

»Wie um Himmels willen komm' ich wieder hinaus!« sagte er.

Kerzenschein erhellte das Treppenhaus – etwas Schweres stieß gegen den Schirmständer ... Schritte kamen herauf ... und blitzartig überkam es Mr. Ledbetter: der Rückzug war ihm abgeschnitten.

Einen Augenblick lang stand er ganz still – ein jammervolles Bild der Reue und Bestürztheit. »Herrgott! Was bin ich für ein Schafskopf gewesen!« flüsterte er. Dann sprang er in einem Satz über den Korridor und in das leere Schlafzimmer, aus dem er soeben gekommen war. Lauschend und zitternd stand er dort still. Die Schritte hatten den Treppenabsatz des ersten Stockwerks erreicht.

Wenn nun dies gerade das Zimmer des Spätkömmlings war! Fürchterlicher Gedanke! Da war keine Sekunde zu verlieren. Mr. Ledbetter kroch lautlos unters Bett und dankte in seinem Herzen Gott inbrünstig für die Fransen des Bettvorhangs ... Aber auch keine Sekunde zu früh war er dran. Er blieb regungslos auf Händen und Knien – und schon fiel Kerzenlicht durch die dünnen Fäden des Gewebes ... Schatten huschten durcheinander – und wurden endlich, nachdem die Kerze irgendwo hingestellt war, starr und regungslos ...

»Donnerwetter! War das ein Tag!« sagte der Neuankömmling. Dabei schneuzte er sich sehr geräuschvoll und legte etwas – augenscheinlich Schweres – auf einen Tisch, den Mr. Ledbetter der Unterpartie nach als Schreibtisch einschätzte. Der unsichtbare Zimmergenosse ging darauf zur Tür, schloß sie ab, untersuchte sorgfältig die Fensterriegel, ließ die Rollgardinen herab und kam dann zum Bett zurück, auf dem er sich mit erstaunlicher Wucht niederließ ...

»War das ein Tag!« wiederholte er. »Donnerwetter!« Und schneuzte sich wieder. Mr. Ledbetter hatte das Gefühl, als müsse er sich dabei das Gesicht wischen ... Feste, solide Stiefel hatte er an; die Schatten seiner Beine auf dem Bettvorhang ließen auf eine recht beträchtliche Körperlichkeit schließen. Nicht lange darauf fing er an, sich auszuziehen. Erst – so däuchte es Mr. Ledbetter – legte er Rock und Weste ab und schleuderte sie über das Fußende des Bettes. Darauf saß er eine Weile ganz still. Der Atem wurde weniger hastig; er schien sich nach und nach ein bißchen abzukühlen. Ab und zu brummte er ein paar Worte vor sich hin. Einmal lachte er auch vergnügt.

»Bei allen Göttern Griechenlands,« sagte Mr. Ledbetter, ... »was um Himmels willen fang' ich an?«

Die Aussicht, die er genoß, war naturgemäß eine beschränkte. Zwar ließen die Fransen da und dort ein winziges bißchen Licht zu; aber einen Ausblick gestatteten sie nicht. Die Schatten auf dem Vorhang waren mit Ausnahme der scharf umrissenen Beine ziemlich rätselhafter Natur und verloren sich noch zudem im Blumenmuster des Stoffs. Ganz unten war noch ein Stückchen Teppich zu sehen; und mit allergrößter Vorsicht brachte Mr. Ledbetter es schließlich so weit, den ganzen Fußboden zu überblicken. Der Teppich war kostbar – das Zimmer geräumig ... und – allem nach, was er sehen konnte – gut eingerichtet.

Im übrigen hatte er wirklich keine Ahnung, was er nun eigentlich anfangen sollte. Warten, bis der Mensch im Bett war und schlief – – dann nach der Tür schleichen – aufschließen – und Hals über Kopf über den Balkon hinunterflüchten ... das schien noch die einzige Möglichkeit. Ob man im Notfall einfach hinunterspringen konnte? Gefährlich war es jedenfalls. Verzweiflung überkam Mr. Ledbetter, wenn er an all die Gefahren dachte, die da vor ihm lagen. Er war drauf und dran, seinen Kopf neben den Beinen des Dicken herauszustrecken – er hätte nötigenfalls sogar husten können, um sich bemerkbar zu machen, und dann höflich lächelnd in wenigen gewählten Worten sein unglückseliges Eindringen zu erklären ... Aber wie diese Worte wählen? »Ich kann mir denken, mein Herr, daß mein Erscheinen Ihnen überraschend kommt ...« Oder: »Ich hoffe, Sie werden entschuldigen, mein Herr, daß ich so gänzlich unmotiviert hier unten auftauche ...« Aber das war auch alles, was ihm einfiel.

Allerhand ernsthafte Erwägungen stellten sich ein. Wenn man ihm nun nicht glaubte? Was konnte man ihm eigentlich anhaben? Sein tadelloser Ruf – ob der gar nicht in Betracht kam? Einfach sachlich genommen war und blieb er ein Einbrecher – darüber ließ sich nicht streiten. Und während er den Gedanken weiterspann, entwarf er eine geradezu glänzende Verteidigungsrede für sein rein sachlich begangenes Verbrechen, die er vor dem Gerichtshof halten wollte ...

Plötzlich erhob sich der Dicke und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. Er schob Schiebladen auf und zu, und einen Augenblick lang hoffte Mr. Ledbetter, er würde sich endlich ausziehen. Aber nein! Er setzte sich an den Schreibtisch und fing an zu schreiben und Schriftstücke zu zerreißen. Und gleich darauf drang der brenzliche Geruch verbrannten Papiers, vermischt mit dem Duft einer Zigarre, in Mr. Ledbetters Nase.

»Meine Lage,« sagte Mr. Ledbetter, als er mir die Geschichte erzählte, »war wirklich in vieler Beziehung eine recht unangenehme. Unten am Bett war eine Querleiste, die mir den Kopf herunterdrückte, so daß ich fast mit meinem ganzen Gewicht auf den Händen lag. Nach und nach fühlte ich, wie mir der Nacken immer steifer wurde. Die Hände taten mir weh auf dem rauhen Teppich ... Und auch die Knie ... meine Hosen strammten so. Ich trug damals noch höhere Kragen als jetzt – mindestens sieben Zentimeter – und ich merkte auf einmal – meiner war unter dem Kinn ausgefranzt ... Aber das Ärgste war ... mein ganzes Gesicht juckte entsetzlich ... und ich konnte mir keine Erleichterung verschaffen ... höchstens durch krampfhaftes Grimassenschneiden. Einmal versuchte ich, die Hand aufzuheben; aber mein Ärmel machte ein Geräusch, und ich kriegte es mit der Angst. Nach einer Weile mußte ich sogar das Gesicht stillhalten, weil ich – zum Glück – noch merkte, daß mir durch die Grimassen die Brille rutschen wollte. Wenn sie heruntergefallen wäre – ich wäre ja geliefert gewesen. So blieb sie noch halbwegs sitzen – aber es war eine recht unsichere Geschichte. Zu allem hatte ich einen Katarrh und immerfort das Bedürfnis, zu niesen oder mich zu räuspern. Ich kann Ihnen sagen – dieses körperliche Unbehagen wurde bald ganz unerträglich – auch ohne die peinliche Lage, in der ich mich befand. Aber was half's? Ich durfte mich nicht rühren!«

Eine endlose Zeit verfloß; dann kam ein klingender Laut, der immer mehr zu einem Rhythmus ward: kling-kling-kling – – fünfundzwanzig Mal hintereinander ... Dann ein Schurren auf der Schreibtischplatte ... und ein Brummen vom Besitzer der stämmigen Beine. Nach und nach ging es Mr. Ledbetter auf, daß das Klirren ein Klirren von Gold war. Als es immer weiter ging, ward er schließlich ungeheuer neugierig. Mehr und mehr steigerte sich diese Neugier. Wenn es wirklich so war, so mußte ja dieser merkwürdige Mensch schon mindestens Hunderte von Pfund aufgezählt haben. Mr. Ledbetter konnte zuletzt nicht mehr widerstehen. Mit äußerster Vorsicht begann er, die Arme übereinanderzulegen und den Kopf fast bis auf den Boden zu ducken, in der Hoffnung, auf diese Weise unter dem Vorhang durchblicken zu können. Er bewegte dabei ein klein bißchen die Füße, und ein leise scharrendes Geräusch entstand. Sofort hörte das Klirren auf. Mr. Ledbetter erstarrte zu Stein. Nach einer Weile begann das Klirren von neuem. Dann hörte es wieder auf, und alles war still – mit Ausnahme von Mr. Ledbetters Herz, das wie eine Pauke hämmerte.

Die Stille hielt an. Mr. Ledbetters Kopf lag jetzt auf dem Boden, und er sah die stämmigen Beine bis zu den Waden. Sie standen ganz still; die Füße ruhten auf den Zehen und waren unter den Stuhl gezogen. Alles war still. In Mr. Ledbetter regte sich eine wilde Hoffnung, der Unbekannte sei vielleicht vom Schlag gerührt oder tot – und liege mit dem Kopf auf der Schreibtischplatte da. ...

Immer noch dauerte die Stille fort. Was war geschehen? Der Wunsch nachzusehen wurde unwiderstehlich. Mit äußerster Behutsamkeit schob Mr. Ledbetter eine Hand vor, streckte langsam einen Finger aus und hob die Vorhangfranse gerade über seinem Auge. Nichts unterbrach die Stille. Jetzt sah er die Knie des Fremden, die Hinterseite des Schreibtischs und – – starrte in den Lauf eines Revolvers, der sich dicht über dem Schreibtischaufsatz gegen seine Stirn richtete.

»Heraus mit dir, Halunke!« sagte die Stimme des Dicken in ruhig entschlossenem Ton. »Heraus da! Vorwärts! Keine Faxen!«

Mr. Ledbetter kroch auch sofort heraus – vielleicht ein bißchen widerwillig, aber doch ganz, wie ihm geheißen ward – ohne Faxen!

»Auf die Knie! Hände hoch!« kommandierte der Dicke.

Und der Vorhang fiel hinter Mr. Ledbetter, während er sich aufrichtete und die Hände in die Höhe streckte. »Als Pfaff verkleidet! Hol' mich der Henker,« sagte der Dicke. »Und was für ein Knirps noch dazu! Halunke, du! Reitet dich denn der Teufel, daß du gerade heute nacht hier sein mußt? Unter meinem Bett? Was?«

Antwort schien er keine zu erwarten, sondern fuhr ruhig in seiner wenig schmeichelhaften Kritik über Mr. Ledbetters äußere Erscheinung fort. Er selber war zwar auch nicht besonders groß; dem armen Ledbetter aber kam er kräftig genug vor. Er war – seinen stämmigen Beinen entsprechend – recht wohlbeleibt, hatte ein volles, blasses Gesicht mit ziemlich scharf ausgeprägten kleinen Zügen und mindestens drei Kinne. Seine Stimme hatte einen wispelnden Unterton.

»Was, Teufels, frage ich, hast du denn unter meinem Bett zu schaffen?«

Mr. Ledbetter lächelte krampfhaft – ein blasses, demütiges Lächeln. Dann hustete er.

»Ich kann ja wohl begreifen ... sagte er.

»Und was in aller Welt ... Seife? Heda, Schurke! Stillgehalten die Hand!«

»Ja, Seife,« sagte Mr. Ledbetter. »Von Ihrem Waschtisch ... Wenn ich bloß ...«

»Maul halten!« sagte der Dicke. »Daß es Seife ist, seh' ich. Nicht zu glauben!«

»Wenn ich Ihnen erklären dürfte ...«

»Nichts da Erklärungen! Die wären ja doch bloß erlogen – und zu Erklärungen hab' ich keine Zeit. Was wollt' ich gleich sagen? Ja so! Hast du Helfershelfer?«

»Wenn Sie mir ein paar Minuten lang ...«

»Sind noch mehr da? Zum Henker – ob noch mehr da sind! Kein Gefasele, oder ich schieße! Sind noch mehr da?«

»Nein,« sagte Mr. Ledbetter.

»Wird ja wohl erlogen sein,« sagte der Dicke. »Aber wenn – so sollst du mir's bezahlen! Was, Teufels, hast du mich denn nicht auf der Treppe über den Haufen geschossen? Na – damit ist's jetzt vorbei. Unters Bett kriechen! Nicht zu glauben! Na ja, für Gelichter wie du mag das ja der beste Unterschlupf sein!«

»Ein Alibi kann ich freilich nicht nachweisen,« bemerkte Mr. Ledbetter, dem vor allem daran lag darzutun, daß er ein Mann von Bildung war. Eine Pause entstand. Mr. Ledbetter bemerkte, daß auf seinem Stuhl neben seinem Peiniger eine große schwarze Handtasche und auf dem Schreibtisch zerrissene und halbverbrannte Papiere lagen. Davor, pünktlich am Tischrand entlang aufgeschichtet, standen unzählige Reihen kleiner, gelber, runder Häufchen – hundertmal mehr Gold, als Mr. Ledbetter in seinem ganzen Leben je gesehen hatte. Das Licht von zwei Kerzen in silbernen Leuchtern funkelte darauf. Noch immer dauerte die Pause fort.

»Es ist etwas anstrengend, die Hände so hoch zu halten,« sagte Mr. Ledbetter mit einem flehenden Lächeln.

»Schon recht!« sagte der Dicke. »Aber was ich eigentlich mit dir anfangen soll, das weiß der Kuckuck.«

»Ich weiß – meine Lage ist etwas ... prekär ...«

»Donnerwetter!« sagte der Dicke. »Prekär! Und dabei hat er die gestohlene Seife in der Hand und läuft in einem verdammten Pfaffenkragen herum! Du bist mir schon der abgefeimteste Spitzbube, der mir in meinem ganzen Leben vorgekommen ist!«

»Um mich genau auszudrücken ...«, begann Mr. Ledbetter. Da rutschte ihm plötzlich die Brille herunter und schlug klirrend gegen seine Westenknöpfe.

Der Dicke richtete sich energisch auf. Ein Zug wilder Entschlossenheit flog über sein Gesicht. Seine Linke fuhr nach dem Revolver und ein Knacken ward vernehmbar. Dann blickte er Mr. Ledbetter an, worauf seine Augen nach der heruntergerutschten Brille glitten.

»So!« sagte er nach einer kurzen Pause. »Der Hahn ist gespannt! Wenn du einmal in deinem Leben schon fast ein toter Mann gewesen bist, so war's in dieser Sekunde! Herrgott! Wahrhaftig! Ich bin fast froh! Wäre der Hahn vorhin schon gespannt gewesen, – du lägst jetzt tot vor mir!

Mr. Ledbetter sagte gar nichts; aber er fühlte, wie das ganze Zimmer sich um ihn drehte.

»Na – aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Aber ein Glück war's doch – für beide Teile. Donnerwetter!« Und der Dicke schneuzte sich geräuschvoll. »Darum brauchst du aber noch lange nicht so käsweiß zu werden! Wegen so einer Bagatelle!«

»Ich versichere Sie, mein Herr ... stieß Mr. Ledbetter hervor.

»Es gibt nur einen Ausweg hier. Ruf' ich die Polizei, so bin ich geliefert und mein ganzer Plan dazu. Also das ist nichts. Häng' ich dich auf und mach' mich davon, – wer weiß – so kommt's schon morgen heraus. Morgen ist Sonntag – Montag ist Feiertag. Ich hatte auf drei volle Tage gerechnet. Wenn ich dich über den Haufen schieß' oder aufhänge, so ist das ein Mord. Und verdirbt mir außerdem mein eigenes Spiel. Der Kuckuck soll mich holen, wenn ich weiß, was da der beste Ausweg ist!«

»Wenn Sie mir gestatten möchten ...«

»Salben tust du, als wärst du ein waschechter Pfaff, hol' dich der Kuckuck! Von allen Halunken, die mir unter die Finger gekommen sind, bist du der ... Was? Nein, nichts da! Dazu ist keine Zeit. Wenn du noch einmal loslegst, schieß' ich dir ein Loch in den Bauch! Verstanden! Hallo! Jetzt hab' ich's! Jetzt hab' ich's! Vor allem einmal, mein Wertester, werd' ich dich gründlich nach etwaigen verborgenen Waffen durchsuchen. Jawohl, nach verborgenen Waffen durchsuchen! Und hör' zu: wenn ich dir sage, was du zu tun hast – keine Fisematenten! Sondern fix!«

Und unter Beobachtung aller Vorsichtsmaßregeln, den Revolver immer auf Mr. Ledbetters Stirn gerichtet, durchsuchte der Dicke seinen Gefangenen nach Waffen. »Was?« sagte er dann. »Und das will ein Einbrecher sein? Du bist ja der helle Dilettant! Nicht mal einen Pistolensack in den Hosen! Nichts da! Halt's Maul!«

Sobald dieses Ergebnis festgestellt war, befahl der Dicke Mr. Ledbetter, den Rock auszuziehen, die Hemdärmel aufzukrempeln und sich an das Geschäft des Einpackens zu machen, das sein Erscheinen vorhin unterbrochen hatte. Vom Standpunkt des Dicken aus erschien das wirklich der einzige Ausweg; hätte er selber gepackt, so hätte er den Revolver aus der Hand legen müssen. So mußte Mr. Ledbetter sogar das Verpacken des Goldes auf dem Tisch anvertraut werden. Recht eigenartig war es, dies nächtliche Packen. Dem Dicken kam es augenscheinlich vor allem darauf an, das Gewicht des Goldes so unauffällig wie möglich auf seine Gepäckstücke zu verteilen. Und es war keineswegs so unbeträchtlich, dieses Gewicht. Es waren – so behauptet Mr. Ledbetter – alles in allem beinahe 18 000 Pfund Gold in der schwarzen Handtasche und auf dem Tisch. Dazu eine Menge kleiner Rollen zu je fünf Pfund in Banknoten. Je 25 Pfund wickelte Mr. Ledbetter in Papier und verstaute sie sorgfältig in Zigarrenkisten, die auf Koffer, Handtasche und Hutschachtel verteilt wurden. Ungefähr 6000 Pfund wurden in einer Büchse voll Tabak in der Handtasche untergebracht. 10 Pfund in Gold und einen Haufen Fünfpfundnoten steckte der Dicke ein. Dabei erging er sich des öfteren in Verwünschungen über Mr. Ledbetters Ungewandtheit, trieb ihn zur Eile an und fragte, wieviel Uhr es eigentlich sei.

Mr. Ledbetter schloß Koffer und Tasche und übergab dem Dicken die Schlüssel. Es war jetzt zehn Minuten vor Zwölf. Der Dicke befahl ihm, sich auf die Reisetasche zu setzen, während er selber in sicherer Entfernung, den Revolver in der Hand, auf dem Koffer Platz nahm. So wartete er, bis es Mitternacht schlug. Er schien jetzt etwas friedlicher gestimmt, und nachdem er Mr. Ledbetter eine Zeitlang beobachtet hatte, bemerkte er:

»Ihrer Sprechweise nach scheinen Sie mir nicht ganz ohne Bildung zu sein. Still doch! Fangen Sie nur nicht wieder mit Ihren Auseinandersetzungen an! Ich seh's Ihnen ja an, wie langstielig Sie würden! Und ich bin selber ein viel zu alter Lügner, als daß die Lügen anderer mich interessieren könnten! Also, – was ich sage: Sie sind ein gebildeter Mensch. Es ist ganz schlau von Ihnen, sich als Pfarrer zu verkleiden. Sogar unter besseren Leuten könnte man Sie für einen halten.«

»Ich bin Pfarrer,« sagte Mr. Ledbetter, »oder wenigstens ...«

»– Tun Sie so – ich weiß! Aber aufs Einbrechen hätten Sie sich lieber nicht verlegen sollen. Dazu sind Sie nicht der Mann. Sie sind – entschuldigen Sie, daß ich mir die Freiheit nehme und es ausspreche – man wird es Ihnen auch schon vor mir gesagt haben – Sie sind feig.«

»Sehen Sie,« sagte Mr. Ledbetter mit einem letzten Versuch, sich zu erklären – »gerade das war es ja ...«

Der Dicke winkte ihm zu schweigen.

»Sie vergeuden bloß Ihre gute Erziehung mit Ihrer Einbrecherei. Sie müssen sich entscheiden. Entweder Falschmünzer oder Unterschlagungen. Ich mache in Unterschlagungen. Jawohl, Unterschlagungen. Was bilden Sie sich denn ein, was ein Mann sonst mit so viel Gold täte? ... Still! Mitternacht! ... Zehn – elf – zwölf ... Merkwürdig wirkt das immer auf mich, dieses langsame Stundenschlagen. Zeit und Raum! Was für Geheimnisse das sind! Was für Geheimnisse! ... Jetzt aber an den Aufbruch! Stehen Sie auf!«

Hierauf bedeutete er Mr. Ledbetter freundlich aber bestimmt, sich die eine Tasche an einem Riemen umzuhängen, den Koffer auf die Achseln zu laden und – trotz stöhnenden Protestes – die andere Reisetasche mit der noch freien Hand zu tragen. Also belastet stolperte Mr. Ledbetter mühselig die Treppe hinunter. Der Dicke folgte ihm mit seinem Überzieher, der Hutschachtel und dem Revolver und unter fortwährenden abfälligen Bemerkungen über Mr. Ledbetters Leistungsfähigkeit.

»Nach der Hintertür!« befahl er. Mr. Ledbetter wankte durch ein Gewächshaus. Ein Trümmerfeld von zerbrochenen Blumentöpfen bezeichnete seine Spur. »Zum Henker mit dem Zeug!« sagte der Dicke. »Das ist gut für den Handel! Wir müssen warten hier bis Viertel. Sie können die Sachen abstellen. Ach so – Sie haben schon ...«

Mr. Ledbetter sank keuchend auf den Koffer nieder. »Und vorige Nacht um die Zeit,« stöhnte er, »lag ich in meiner kleinen Stube und schlief und ließ mir nicht träumen ...«

»Sie haben's nicht nötig, sich noch schlechter zu machen, als Sie sind,« bemerkte der Dicke und untersuchte, vor sich hinsummend, den Verschluß des Revolvers. Mr. Ledbetter nahm einen Anlauf zum Reden, besann sich aber eines Bessern.

Gleich darauf klingelte es, und Mr. Ledbetter öffnete auf Befehl des Dicken die Hintertür. Ein blonder Mann im Jachtanzug trat ein. Als er Mr. Ledbetter erblickte, stutzte er, trat hastig zurück und fuhr mit der Hand nach hinten. Dann sah er den Dicken. »Bingham,« rief er, »wer ist das?«

»Bloß ein kleiner philanthropischer Einfall von mir – ein Einbrecher, den ich bekehren will. Hab' ihn soeben unter meinem Bett vorgezogen. Im übrigen ist alles in Ordnung. Er ist ein grandioser Schafskopf. Und wir können ihn ganz gut brauchen – als Träger.«

Der Neuankömmling schien anfänglich geneigt, Mr. Ledbetters Gegenwart recht übel zu nehmen; aber der Dicke beruhigte ihn.

»Er ist tatsächlich solo. Keine Bande auf der ganzen Welt würde sich zu dem bekennen. Still doch! So fangen Sie bloß um Himmels willen nicht wieder mit Ihrem Gewäsch an!«

Die Drei traten hinaus in den dunkeln Garten. Auf Mr. Ledbetters Achseln lastete wieder der Koffer. Der Mann im Jachtanzug schritt mit der Tasche und einem Revolver voran; darauf folgte Mr. Ledbetter – als Atlas; und zuletzt kam Mr. Bingham – wie vorhin mit Überzieher, Hutschachtel und Revolver. Das Haus war eines von denen, deren Gärten unmittelbar an die Klippen stoßen. Eine steile Holztreppe führte zu einer Badehütte, die undeutlich drunten am Strand sichtbar war. Dahinter lag ein Boot, und neben diesem stand stumm ein kleiner Kerl mit einem dunkeln Gesicht. »Wenn Sie mich nur einen Augenblick anhören möchten,« flehte Mr. Ledbetter. »Ich versichere Sie ...« Er spürte einen Fußtritt und verstummte.

Mit dem Koffer auf der Schulter watete er hinüber zu dem Boot; an Schultern und Haaren ward er an Bord gezerrt, es schwirrte nur so von »Halunke!« und »Einbrecher!« Aber wenigstens sprachen seine beiden Peiniger leise, so daß das allgemeine Publikum nicht Zeuge seiner Erniedrigung ward. Schließlich wurde er an Bord einer mit fremdartigen, unsympathischen Orientalen bemannten Jacht gezerrt und gelangte, halb gestoßen, halb selber vorwärts stolpernd, durch einen dunklen Gang in einen noch dunkleren, scheußlichen Raum, in dem er viele, viele Tage lang blieb – wie viele, das weiß er selber nicht, weil ihm unter anderem während der Seekrankheit auch jegliche Zeitrechnung abhanden kam. Man fütterte ihn mit Zwieback und unverständlichen Worten; man gab ihm Wasser zu trinken – sehr gegen seinen Wunsch mit Rum vermischt. Mauerasseln wimmelten überall um ihn herum – Tag und Nacht – nachts kamen auch noch Ratten dazu. Die Orientalen leerten ihm die Taschen und stahlen ihm seine Uhr; das heißt, die nahm – als er sich beschwerte – Mr. Bingham selber an sich. Fünf- oder sechsmal fischten ihn die fünf Laskaren – wenn es Laskaren waren – und der Chinese und der Neger, die die Mannschaft bildeten, aus seinem Loch heraus und schleppten ihn hinauf zu Bingham und dessen Freund. Mit denen mußte er dann Karten spielen und ihrem Geschwätz und Geprahle zuhören und sich noch obendrein den Anschein geben, als interessiere ihn das alles.

Die beiden verkehrten mit ihm wie mit einem gewerbsmäßigen Verbrecher. Auf Auseinandersetzungen ließen sie sich überhaupt nicht ein, trotzdem sie ihm immer wieder sehr deutlich zu verstehen gaben, daß er der lächerlichste Einbrecher sei, der ihnen je vorgekommen wäre. Immer aufs neue sagten sie ihm das. Der Blonde war mehr schweigsamer Natur – sehr reizbar beim Spiel; aber bei Mr. Bingham entpuppte sich – nachdem er der augenfälligen Sorge, wie seine Abreise von England sich gestalten würde, enthoben war, mehr und mehr eine Neigung zu heiterer Philosophie. Er erging sich über die Geheimnisse von Zeit und Raum, er zitierte Kant und Hegel – oder behauptete wenigstens, er täte es. Ein paarmal glückte es Mr. Ledbetter tatsächlich anzufangen: »Meine Lage unter Ihrem Bett, sehen Sie ...« Aber sofort war dann gerade das Geben an ihm, oder er mußte die Gläser auffüllen, oder irgendeine ähnliche Unterbrechung kam. Nachdem er zum drittenmal so gescheitert war, schien der Blonde geradezu darauf zu lauern, daß er wieder anfangen möchte; und sobald Mr. Ledbetter von da an den Mund auftat, lachte er schallend auf und schlug ihm derb auf die Achsel: »Immer die alte Leier! Famoser Spitzbub!«

Viele Tage – wohl an die zwanzig – hatte Mr. Ledbetter so zu leiden. Dann – eines Abends – schaffte man ihn samt ein paar Konservenbüchsen ins Boot und setzte ihn auf einer kleinen Felseninsel aus. Mr. Bingham begleitete ihn noch, gab ihm die ganze Fahrt über gute Ratschläge und vereitelte seine letzten Versuche zu einer Aufklärung.

»Ich bin wirklich kein Einbrecher!« sagte Mr. Ledbetter.

»Und werden auch nie einer. Freut mich, daß Sie endlich anfangen, das einzusehen. Wer einen Beruf ergreifen will, muß sein eigenes Temperament kennen. Sonst geht's ja doch schief – früher oder später. Nehmen Sie zum Beispiel mich. Ich bin Bankbeamter gewesen mein Lebtag – hab' Karriere gemacht – bin sogar Bankdirektor geworden. Und war ich dabei etwa glücklich? Nein. Warum nicht? Weil ich das Temperament nicht hab' zu dem Beruf. Abenteuer muß ich haben ... Abwechslung. Also hab' ich die Geschichte einfach aufgesteckt. Ich glaube kaum, daß ich noch einmal Bankdirektor werd' in meinem Leben. Und wenn sie – selbstverständlich – noch so goldfroh wären an mir! Aber

Aber ich weiß nun einmal, was mir liegt ... Nee ... Bankdirektor ... Nie wieder!

Sehen Sie ... Und Sie haben kein Verbrechertemperament, genau so wenig, wie mir das Anständigsein liegt! Ich hab' Sie kennen gelernt so nach und nach; und ich würd' Ihnen nicht mal mehr zum Falschmünzer raten. Werden Sie bloß wieder ehrlich, Mensch! Ihr Gebiet ist einfach die Philanthropie ... glauben Sie mir!

Sie mit Ihrer Stimme ... Etwa ein Verein zur Förderung jugendlicher Frömmelei ... oder so was der Art! Überlegen Sie sich's! Was? Die Insel, auf die ich Sie jetzt da bringe, scheint keinen Namen zu haben. Wenigstens auf der Karte steht keiner. Sie können sich ja einen ausdenken – in Ihren Mußestunden dort. Das Wasser ist trinkbar, soviel ich weiß. Es ist eine von den Grenadinen ... den Windward-Inseln. Dort hinten ... ganz fern und blau ... liegen noch andere. Massen von Grenadinen gibt es ... Aber die meisten sieht man nicht von hier aus. Ich hab' mich oft gewundert, wozu die Inseln eigentlich da sind. Sehen Sie ... jetzt weiß ich's. Die eine jedenfalls ist für Sie da! Früher oder später wird irgendwo ein Eingeborener auftauchen und Ihnen forthelfen. Dann sagen Sie ruhig von uns, was Sie mögen ... schimpfen Sie ... Meinetwegen! Was schert uns das? ... Da ... da haben Sie eine halbe Krone in Silber. Verschwenden Sie's aber nicht gleich, wenn Sie wieder in zivilisierte Gegenden kommen! Wenn Sie's auch bloß halbwegs vernünftig anfangen, so kann das für Sie der Beginn eines ganz neuen Lebens sein. Und ... He! Schafsköpfe! Nicht anlegen! Er kann waten! ... Und nun vergeuden Sie nur nicht die kostbare Einsamkeit in unnützem Grübeln! Wenn Sie's halbwegs vernünftig angreifen, so kann das ein Wendepunkt werden in Ihrem Leben. Nur nie vergeuden ... nicht Zeit ... und nicht Geld! Dann sterben Sie auch einmal als steinreicher Mann! Tut mir leid ... Aber Ihr Gepäck müssen Sie schon selber an Land schaffen. Nein doch ... tief ist es gar nicht. So schweigen Sie doch, zum Henker, mit Ihren verdammten Auseinandersetzungen! Dazu ist wirklich keine Zeit! Nein doch, nein! Ich will nichts hören! Machen Sie, daß Sie fortkommen!«

Die sinkende Nacht fand Mr. Ledbetter – der geklagt hatte, daß die Zeit der Abenteuer dahin sei, – zusammengekauert neben ein paar Konservenbüchsen ... das Kinn auf die hochgezogenen Knie gestützt ... den bebrillten Blick in milder Wehmut über das leuchtende, einsame Meer schweifen lassend.

Drei Tage später entdeckte ihn ein eingeborener Fischer und brachte ihn nach St. Vincent. Und von St. Vincent gelangte er ... soweit halfen ihm noch seine letzten paar Groschen ... nach Kingston auf Jamaika. Dort war er nah am Untergang. Er ist ja heutigen Tags noch kein praktischer Mensch. Und damals war er hilfloser als ein Kind. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was er anfangen sollte. Das einzige, zu dem er sich noch aufschwang, war, daß er sämtliche Pastoren aufsuchte, um sich Geld zur Überfahrt zu borgen. Aber er war viel zu heruntergekommen und schäbig. Kein Mensch glaubte ihm seine Geschichte. Zufällig lief er mir in die Hände. Es war gleich nach Sonnenuntergang, und ich machte, wie immer nach der Siesta, einen Spaziergang, als ich ihm begegnete. Mir war just recht gelangweilt zumut, und ich hatte keine Ahnung, was ich mit meinem Abend anfangen sollte. Und das war sein Glück. Er trottete sehr trübselig nach der Stadt zu. Und sein wehmutsvolles Aussehen und der halb geistliche Schnitt des schmutzstarrenden, verstaubten Anzuges fielen mir auf. Unsere Blicke begegneten sich. Er blieb stehen. »Lieber Herr!« sagte er mühselig ... »möchten Sie mir ein paar Sekunden schenken? Es ist ja freilich eine Geschichte, die Ihnen ganz unglaublich vorkommen wird ...«

»Wieso unglaublich?« fragte ich.

»Ach doch ... ganz und gar« sagte er voll Eifer. »Es glaubt mir's ja niemand ... ich mag's vorbringen, wie ich will. Und dabei kann ich Sie versichern, Herr ...« Er verstummte verzweiflungsvoll. Aber die ganze Sprechweise des Mannes reizte meine Phantasie. Er schien wirklich ein ganz seltsamer Kauz. »Ja,« sagte er, »es ist schon so ... ich bin einer der unglücklichsten Menschen auf Erden.«

»Vermutlich haben Sie heute noch nichts gegessen,« sagte ich. Der Gedanke kam mir ganz plötzlich.

»Heute nicht ... und seit vielen Tagen nicht!« sagte er.

»Nachher werden Sie mir das alles viel besser erzählen können,« sagte ich und führte den Ausgehungerten ohne weiteres in eine kleine Kneipe, die ich kannte, und in der sein merkwürdiger Aufzug kein Aufsehen erregte.

Und so erfuhr ich so nach und nach die ganze Geschichte. Erst noch ein bißchen lückenhaft, später vollständig. Anfangs war mein Glaube ziemlich schwach; aber als die Wärme des Weins den leisen Anstrich von Kriecherei verwischte, den die unglückseligen Umstände ihm wohl aufgezwungen hatten, fing ich doch allmählich an, ihm zu glauben. Schließlich war ich wenigstens so weit von seiner Ehrlichkeit überzeugt, daß ich ihm ein Nachtquartier verschaffte und am nächsten Tag durch meinen Bankier in Jamaika bei seinem mir als Referenz angegebenen Bankhaus in England telegraphisch Erkundigungen einziehen ließ. Die Auskünfte lauteten günstig. Seine erstaunliche Geschichte war also wahr! Ich besorgte ihm eine neue Ausstattung, und drei Tage später schiffte er sich nach England ein.

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen genug danken soll,« schrieb er mir von dort, »für all Ihre Güte, einem landfremden Menschen gegenüber.« In diesem Tone ging das so eine Weile fort. »Ohne Ihre großmütige Hilfe hätte ich meine Lehrpflichten nicht rechtzeitig wieder aufnehmen können, und die paar Minuten tollen Leichtsinns hätten mich auf immer ruiniert. Auch so muß ich mich noch durch ein ganzes Netz von Lügen und Ausflüchten durchwinden, um meine Abwesenheit und mein sonnverbranntes Aussehen zu erklären. Ich habe in der Dummheit ein paar voneinander abweichende Geschichten erzählt, ohne lange zu überlegen, zu was für Verwicklungen das später führen muß. Einfach die Wahrheit zu sagen, das getrau ich mich nicht. Ich habe im Britischen Museum die verschiedensten Gesetzbücher studiert – und es kann gar kein Zweifel sein – ich habe mich der Mithilfe bei Ausführung eines schweren Verbrechens schuldig gemacht. Bingham, der Schurke, war Bankdirektor in Hithergate und hat die unerhörtesten Unterschlagungen begangen. Bitte, bitte – verbrennen Sie ja diesen Brief sogleich! Ich verlasse mich darauf! Das schlimmste bei der Sache ist – meine Tante und ihre Freundin, die die Pension in Hithergate hat, schenken meiner Geschichte – so weit ich sie ihnen erzählen konnte – keinen Glauben. Meine Tante hat mich im Verdacht, ich hätte mich auf irgendein anrüchiges Abenteuer eingelassen – was für eins, das erklärt sie mir nicht näher. Sie sagt, sie könnte mir alles verzeihen; nur beichten müßte ich ihr alles. Und ich habe ihr ja auch alles gesagt – und noch mehr! Aber sie ist immer noch nicht zufrieden. Die ganze Wahrheit einzugestehen ist ja natürlich unmöglich; also habe ich gesagt, ich sei am Strand überfallen und geknebelt worden. Aber meine Tante wünscht fortwährend zu erfahren, wozu man mich überfallen und geknebelt und an Bord einer Jacht geschleppt und entführt hat. Ich weiß es nicht! Können Sie mir vielleicht irgendeinen Grund angeben? Ich kann überhaupt nicht mehr denken. Wenn Sie schreiben – könnten Sie nicht auf zwei Bogen schreiben, so, daß ich ihr den einen zeigen könnte? Es müßte daraus deutlich hervorgehen, daß ich wirklich letzten Sommer in Jamaika war und dort von einem Schiff unmittelbar an Land gesetzt worden bin. Sie würden mir einen großen Gefallen damit erweisen! Natürlich würde das die Last meiner Verpflichtungen Ihnen gegenüber noch verzehnfachen – Verpflichtungen, die ich ja niemals werde abtragen können, fürchte ich. Aber wenn die Dankbarkeit eines Menschen ...« usw. usw.

So endet die denkwürdige Geschichte von Mr. Ledbetters Urlaub. Der Bruch mit der Tante war nicht von langer Dauer. Die alte Dame hatte sich vor ihrem Tod längst wieder mit ihm ausgesöhnt.


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