Georg Weerth
Englische Reisen
Georg Weerth

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Londoner Nebel

Wir fuhren nach der Eisenbahn, ich und mein Mantelsack – in einem Einspänner, Nummer hundertundelf. Es ging in vollem Galopp. Ich wollte London noch etwas beschauen und lehnte mich aus dem Wagenfenster. »Wo bist du, London, schöne Stadt von zwei Millionen Einwohnern! Wo bist du?« Aber London war nicht zu sehen, denn London war im Nebelschleier verborgen. Graugelbe Finsternis umhüllte die Pfade, und der Kutscher konnte kaum den Weg finden.

An St. Pauls Kirche mußten wir haltmachen; ich pfiff eine Arie aus dem Freischütz, der Kutscher schimpfte auf englisch, und unser Roß ließ den Kopf hängen, als ob es über sein Pferdeschicksal nachdächte. Um uns herum entwickelte sich aber ein nebelhaft schönes Schauspiel. Nachmittags um vier Uhr, wo in Deutschland die Kinder aus der Schule kommen, wo die alte Tante ihre sechste Tasse Kaffee trinkt – ich sage: nachmittags um vier Uhr ging in London plötzlich die Sonne auf! Dies kam sehr unerwartet, denn man dachte gar nicht daran, daß die gute Frau heute noch erscheinen würde. Ein Schrei der Verwunderung entfuhr mehreren Kehlen, so daß ich erschrocken von meinem Sitz aufsprang, den Wagenschlag herunterdrückte und mich nach allen Seiten umsah. Anfangs bemerkte ich keineswegs den Grund dieses plötzlichen Entzückens. Auf dem Platz vor uns brannten die zwei großen Laternen, zwei trüben Talglichtern ähnlich, und ringsherum lagen die finstern Häuser wie lauter alte Stammgäste, die auf dem Schenkentische einschliefen. Die Kuppel der Paulskirche leuchtete dazwischen durch wie die kahle Glatze eines verschollenen Spießbürgers. Da teilten sich aber mit einem Male die Wolkenmassen, und herein schaute mit ihrem Flammenauge die ewige, die ewig schöne Sonne. Wie nach der alten Sage von dem Kuß des Ritters plötzlich die Bewohner des verzauberten Schlosses erwachten, wie die grauen Heldengestalten sich in den Nischen emporhoben, die Streitrosse wieherten, die Vögel sangen und der Koch dem Küchenjungen die seit Jahrhunderten zugedachte Ohrfeige endlich im Erwachen mit aller Vehemenz applizierte, so traten auch jetzt von dem Kuß der Sonne alle Gestalten der ungeheuren Stadt in reißender Schnelligkeit aus dem Dunkel hervor in ein frisches, fröhliches Leben; und waren es auch keine geharnischten Helden, welche rasch die Szene belebten, so sah man doch wenigstens ein paar Hundert spitznasige Engländer in Frackröcken und Filzhüten mit einem Male über die Gassen springen. Kerzen und Gaslichter erloschen. Hier und dort öffneten sich die Fenster: blaue Vergißmeinnichtaugen blickten in die Straße hinunter, Orgeldreher sangen, Mohrenjungen bettelten, und eine zephyrleicht wandelnde Lady stahl aus lauter treuer Schwesterliebe einem dicken Lord den Lyoner Foulard.

Über Alt-England war die Sonne aufgegangen. Mein Kutscher ließ sich noch ein Glas Brandy reichen, unsere Rosinante hob sich auf die Hinterbeine, und fort ging es, fort durch die entnebelte Weltstadt! Nach einer halben Stunde waren wir auf dem Birminghamer Bahnhof, wo ich das Vergnügen hatte, die Lokomotive eben mit einem Gefolge von sechzehn Wagen abreisen zu sehen. Mein Kutscher tröstete mich mit der Erinnerung, daß ich ihm fünf Schillinge für seinen Einspänner schulde, und überließ mich dann meinem Kummer. »Guten Abend!« sagte er. »Item!« sagte ich und blickte ihm wehmütig nach. Die Nummer seines Wagens schimmerte noch einige Male durch die Dämmerung; die Zahl hundertundelf nahm sich aus wie die Gesellschaft von drei Ausrufungszeichen: !!! Mein einziger Trost in jenem schrecklichen Augenblick war eine alte Dame in grasgrünem Kleide, die mein Schicksal teilte. Sie setzte ihren Nachtsack auf das Steinpflaster, steckte ihre Hände in den Pelzmuff und bemerkte mir, daß es heute abend sehr kalt sei. »Ohne Zweifel«, erwiderte ich ihr, »übrigens nur für den, der entweder keinen Muff hat, wie Sie ihn besitzen, oder der nicht ein Mittel gegen die Kälte erfunden hat wie ich.« – »Ein Mittel gegen die Kälte?« fragte die grasgrüne Dame. – »Jawohl, ein Mittel, radikal und vollkommen! Sehen Sie, ich bilde mir in diesem Augenblick ein, ich hätte 2000 Stück Pistolen auf der Bank in Wiesbaden verloren und gerate darüber in eine völlige Verzweiflung. Ich denke mir, die Männer mit den langen Stöcken, welche das Geld hin und her schieben, lachten mich höhnisch an, die übrigen Spieler spöttelten, die Aufwärter grinsten, und blaß, mit fliegenden Haaren verließe ich den Saal. Draußen, denke ich mir, wäre alles heiter, alles froh, nur ich wäre erschrecklich unglücklich, vor der ganzen Welt verlassen und liefe wie von Furien gepeitscht im Taunusgebirge herum und so weiter. Sehen Sie, verehrteste Reisegefährtin, dies alles stelle ich mir so lebhaft vor, daß mein Blut in Wallung gerät, ich zittre vor Wut und Verdruß, und trotzdem daß ich weder Muff, Pelzstiefel noch Bärenfelle habe, gerate ich bei dieser kühlen Dezemberluft dennoch in vollkommene Hitze und befinde mich, wie Sie sehen, in einer höchst angenehmen Temperatur!« Die grasgrüne Engländerin beschaute mich mit ein paar Augen, welche grenzenloses Mitleid ausdrückten, aber kein Wort kam über ihre Lippen. Sie faßte mit der einen Hand ihren Reisesack, mit der andern den Regenschirm, und fort schwebte die grüne Dame, gleich einem Grashalm, davongetragen vom Nordwind. An der Tür des Bahnhofes stand ein Mann in blauen Kleidern mit einer Nummer am Halse. »That's a German gentleman«, sagte er zu der Dame und zeigte mit dem Finger nach mir. Dann schüttelten beide mit den Köpfen.


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