Georg Weerth
Englische Reisen
Georg Weerth

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Eine fromme Familie

Ich liebe den Mond. Nicht, weil er mich einmal zu einer erbärmlichen Elegie begeisterte, der sogar das Wochenblatt die Aufnahme weigerte; nein, ich liebe den Mond nur seines holden Selbst wegen und habe deshalb eine unauflösliche Freundschaft mit ihm geschlossen; der Mond ist meine Leidenschaft, ich schwärme für ihn, und fast möchte ich glauben, daß er eine ebenso große Zuneigung zu mir gefaßt hat. Ich habe sogar die besten Gründe, dies zu vermuten. Mache ich ihm Vorwürfe und sage: »Mond, schäme dich, du bist voll!«, da schämt er sich und gibt seinen zunehmenden Lebenswandel auf, um schon nach kurzer Zeit wieder als ein vernünftiges längliches Gestirn am Himmel herumzuspazieren.

In Deutschland sah ich den Mond zuletzt, als er gerade untergehen wollte. »Halt!« rief ich ihm zu. »Ich reise jetzt nach England. Gott weiß, wie es mir dort ergehen wird; alte Bekannte findet man nicht überall. Wie wäre es, teurer Freund, wenn du dich zu einer gleichen Reise entschlössest, wenn wir über einige Wochen bei einer Flasche Rurton-Ale wieder zusammenträfen, wenn wir uns plötzlich in einer Grafschaft Alt-Englands wiedersähen? Sprich, was meinst du ? Bringe deine Familienverhältnisse in Ordnung und, lieber Mond, sei kein Narr, streife ebenfalls über den Kanal hinüber. Man reist ja heutzutage so schnell; am Morgen in Köln, am Abend in Ostende, den folgenden Tag bist du schon in London und amüsierst dich in der darauffolgenden Nacht im Park zu Windsor! Topp!« Da verschwand der Mond hinter den Bergen.

Tage und Wochen vergingen, da wandelte ich eines Abends in einer kleinen Stadt Yorkshires umher und führte keinen andern Gedanken, als eine hübsche Wohnung zu mieten, in der ich während der nächsten Zeit ruhig und ungestört die drei ersten Kapitel des »Tristram Shandy« lesen könnte. Viele schöne Häuser lagen zu beiden Seiten der Straße, hell erleuchtete Läden und dann und wann auf grünen Rasenplätzen eine Kirche, eine Kapelle oder ein Bethaus. Lange wollte sich aber kein Gebäude zeigen, von dem ich vermuten durfte, daß es mich in seinen Räumen aufnehmen würde.

Bald war ich am Ende der Straße und blieb unwillkürlich vor dem letzten Hause stehen. Sollst du, oder sollst du nicht? Die Leute können höchstens ein verächtliches Gesicht schneiden und dich deiner Wege gehen heißen; also frisch die Klingel gerührt! Ich schritt an die Tür: »Woodcock« las ich auf einem Schilde – also »Schnepfe« zu deutsch. Gut, ich will bei dieser Schnepfe einkehren! Im Innern tönte gleich darauf ein lustiges Klingeln, noch einen Augenblick, und die Tür wurde geöffnet. Ein, junges Mädchen streckte mir den Kopf entgegen und sprach einige Worte, die ich nicht verstand. Ich gab übrigens auch gar nicht darauf acht, denn plötzlich stiegen so viele glückliche Gedanken, so herrliche Schlüsse und Folgerungen in mir auf, daß ich genug mit mir selbst zu tun hatte und schleunig in ein tiefes Sinnen geriet.

Wo ein junges Mädchen im Hause ist, können ein Paar schöne Augen darin sein; wo schöne Augen sind, wird es auch rote Lippen geben; wo rote Lippen sind, kann ein Kuß nicht fehlen; wo man küßt, da liebt man; wo man liebt, da laß dich ruhig nieder! – Ergo, ich miete diese Wohnung, ich bleibe hier! Ergo... »Ach verzeihen Sie,teure Miß«, denn die Miß stand noch immer in der offenen Haustür und wartete mit einiger Ungeduld ab, daß ich meine Wünsche kundgäbe, »verzeihen Sie, nicht wahr, hier wohnt die Frau Schnepfe?« – »Yes!« sagte die Miß. »Very well!« sagte ich und wollte eben eine zierliche Redephrase beginnen, da hinderte mich der Zufall. In vollem Glanze strich nämlich zu derselben Minute mein sehr geliebter Freund aus Deutschland, der Mond, über die Dächer herüber und blickte lächelnd in die Gasse herunter. Man kann sich meine Freude denken. Also hast du Wort gehalten, treues Geschöpf, bist den vaterländischen Wäldern entlaufen und durch die salzige Flut mir nachgeschwommen? Tausend Dank! Sieh, ich bin eben im besten Zuge, mich in schöner Nähe niederzulassen; gestehe, dieses Mädchen ist wert, die Tochter einer Schnepfe zu sein; sieh diese braunen Haare, diese zauberischen Augen, diesen schlanken Wuchs! Und im Anschauen versunken, bemerkte ich gar nicht die steigende Verlegenheit des liebenswürdigen Kindes. Endlich stampfte sie mit dem kleinen Fuße, öffnete noch einmal weit die Tür, als wollte sie sagen: Entweder oder! Herein oder heraus! Ja oder nein!

Da wurde ich wirklich wach und wollte eben mein ganzes Herz ausschütten, als der Mond, der nämlich langsam in die Straße hereingetreten war, mit hellem Lichte über den Weg zitternd, seine Strahlen bis in den kleinen Hof vor dem Hause, jetzt bis zur Tür dringen ließ und im Nu die jugendliche Schöne mitten in ihr holdes Gesicht küßte. Während dieses kritischen Augenblickes griff ich unwillkürlich nach dem Türschlüssel, der von einer weichen Hand gehalten wurde, und hatte der Mond einen so raschen Angriff wagen dürfen, weshalb konnte ich es nicht ebenfalls? Was dem einen recht ist, das ist dem ändern billig! Hei, du schönes Schnepfenkind, Gott zum Gruße! – Da hörte man ein seltsames Geräusch und alles war vorüber.

Bei der Frau Schnepfe wohne ich sehr gut. Mein Wohnzimmer geht nach dem Garten hinaus, der sehr reinlich gehalten wird und also eine angenehme Aussicht darbietet. Im Innern ist alles sehr komfortabel eingerichtet. Teppich, Sofa, Lehnstuhl, sämtlich im besten Zustande; auf dem kleinen Tisch an der einen Seite chinesische Krüge und Vasen, an der ändern Seite der Kamin, in welchem ich trotz der gelinden Witterung stets ein helles Feuer unterhalte. Eine englische Wohnung ist nichts ohne den hell flammenden Kamin. Bücher, Pfeifen und Fidibus liegen auf den Stühlen umher. Ich wäre fast glücklich in diesem Bereich, aber leider haben meine Hausleute erfahren, daß ich ein Deutscher bin, leider bilden sie sich ein, alle Deutschen seien musikalisch und ganz närrisch – und nun hört auch das Singen den ganzen Tag nicht auf! Kaum bin ich morgens um acht Uhr mit andächtiger Seele dem Bette entstiegen und bereite mir den Tee, froh darüber, an dem heutigen Tage noch nichts Böses getan zu haben, da hat auch schon der älteste Sohn meine Nähe verspürt. Er legt die Zeitung fort und setzt sich an das Piano. Erst ein Vorspiel in sanften und feierlichen Akkorden – es geht vortrefflich vonstatten –, es ist der Anfang irgendeines Stückes, das er sich schon seit Jahren einzupauken sucht; er spielt sogar rasch und fertig, wenn er glücklich die eigentliche Melodie erreicht hat. Jetzt ist er in der Mitte des Notenblattes; zwei-, dreimal sind schon die Finger auf die unrechten Tasten geraten, eine gewisse Bangigkeit ergreift ihn – man kann es deutlich hören –, die Töne stolpern durcheinander wie Bauernjungen, welche die Kirchentreppe hinunterfallen. Es geht nicht mehr, die Verzweiflung kommt, immer wilder und schneller jagen die Hände über das stöhnende Instrument, die Verwirrung wird mit jedem Augenblick größer, das Piano ächzt, als litte es an der galoppierenden Schwindsucht, die Melodie tut noch einen Sprung, aber es ist auch der letzte, denn sie verendet plötzlich mit einem herzzerreißenden Schrei, mit der grimmigsten Dissonanz. Der musikalische Brite sieht ein, daß er sich noch nicht zur Vollendung durchgerungen hat, und schweigt. Ich atme erquickt auf und träume eben von der Glückseligkeit, jetzt allen Schrecknissen entgangen zu sein, da beginnt die heilige Musika von neuem. Kann man keinen Walzer trommeln, so kann man doch wenigstens das »God save the Queen« aufspielen. So denkt der älteste Sohn und läßt seiner Begeisterung freien Lauf. Das Nationallied ist die Losung zu einem allgemeinen Jubel. Im untern Raume des Hauses schlägt die Küchenmagd nach dem Takt mit den Löffeln zusammen, die Frau Schnepfe gibt ihre Morgenbefehle und singt in demselben Tone, die schöne Tochter trillert wie eine Bachstelze, und der Hausvater, der gerade zu seinen Geschäften aus der Tür geht, murmelt noch auf der Straße: »God save, God save the Queen!« Wehe dem, der dies Konzert anhören muß! Erhabener Geist, du gabst ihnen alles, du hast ihnen Shakespeare und Milton gegeben, du gabst ihnen die Westminster-Abtei, du gabst ihnen Flotten und Meere, du gabst ihnen Indien und China, du hast sie groß gemacht vor allen Völkern. Erhabener Geist, du gabst ihnen alles – nur keine Musik! Die Engländer können nicht singen. Ein Engländer lernt eher eine Million Pfund Sterling verdienen als eine schöne Melodie behalten. Nur zwei oder drei Lieder, die ihnen an der Wiege schon gesungen wurden, nehmen sie mit ins Leben hinein, das andere bleibt ihnen verschlossen. Daß dies wirklich der Fall ist, beweist das ewige Wiederholen auch nur dieser zwei oder drei Lieder, es beweisen dies die wenigen Ausnahmen, welche als musikalische Talente unter dem Volke, unter dem so zahlreichen Volke auftauchten, und es beweisen dies die ungeheuren Anstrengungen, welche der Engländer macht, um nur ein klein bißchen musikalisch zu erscheinen.

Aber das ist ja ganz einerlei. Es muß einem jedoch in England auffallen, wie die Menschen – bei aller ihrer Unfähigkeit zum Gesange – immer auf die lächerlichste Weise behaupten, auch hierin den Nationen den Rang abgelaufen zu haben. Jeder Engländer wird darauf schwören, sie hätten den größten Komponisten der Welt, weil Karl Maria von Weber bei ihnen begraben sei. Die Sucht, musikalisch zu sein, scheint sich in England bis auf das Tierreich zu erstrecken. Unter meinem Fenster weidet nämlich auf dem Bleichplatz ein schneeweißer Esel. Dieses ausgezeichnet schöne Tier ist mir schon bei meinem Eintritt in das Haus der Frau Schnepfe vorzüglich lieb geworden. Noch mehr bewundere ich es übrigens, seit ich neulich im Londoner »Punch« las, man habe die Entdeckung gemacht, die Esel seien unsterblich. »Freilich«, fügte der Redakteur hinzu, »die Leute denken nicht an eine Ausnahme, welche in der Geschichte vorkommt: sie denken nicht an den toten Esel in ›Yoricks empfindsamer Reise‹!« Wie dem auch sei, genug, mir ist es von der höchsten Bedeutung, einen weißen unsterblichen englischen Esel zu meinem Nachbarn zu haben; denn möglicherweise könnte dieser doch unsterblich sein. Die Grazie, mit welcher das liebe Vieh durch die Blumen wandelt, die Anmut, mit welcher mein Esel in den Morgenhimmel hinaufblickt, hatten mir gleich in den Kopf gesetzt, es müsse etwas sehr Besonderes hinter ihm verborgen sein. Lange konnte ich mit mir nicht einig darüber werden. Da stehe ich gestern, als der älteste Sohn eben sein Piano zur Veränderung malträtiert, am Fenster und zähle, wie oft er das »God save the Queen« wiederhole, und rufe zu meiner eigenen Verwunderung: »Schon hundertundeinmal! Das ist stark! Nein, alles hat seine Grenzen!«, als mich eine kräftige Baritonstimme unterbricht. Ich springe erschrocken auf. Weiß Gott, ich irrte mich, nein, huntertundzweimal! Da sehe ich aber, wie schmählich ich mich getäuscht habe. Es war der weiße Esel, welcher, von musikalischer Wut ergriffen, seinen Gefühlen im Gesänge Luft machte, und es klang, Gott weiß, wie das »God save ...«, das mir noch in den Ohren fortsummte.

Gestern kommt Miß Woodcock oder, mit andern Worten, Fräulein Schnepfe zu mir herein und erkundigt sich, wo eigentlich Deutschland läge. – Deutschland? Deutschland? Das solltest du kennen! Ich besinne mich einen Augenblick: »Ach, jawohl, es liegt seitwärts, etwas nach der linken Seite hin, wissen Sie.« – »Indeed?« ruft das junge Mädchen aus. »Das muß ein närrisches Land sein.« – »Wieso?« frage ich. – »Sehen Sie, lieber Herr, ich habe hier etwas über Deutschland. Mein Bruder brachte einige Zeitungen mit, ich sehe nie hinein, aber weil Sie ein Deutscher sind und in unserm Hause wohnen, so suchte ich nach, um etwas über Ihr Vaterland zu erfahren, und ich habe gefunden!« Da legte das freundliche Kind den großen Bogen auf den Tisch, rückte einen Lehnstuhl heran, setzte sich hinein und fuhr bald mit dem Zeigefinger durch die weiten Spalten. »Deutschland! Hier ist es, sehen Sie!« – »Wolfsjagden in Germany«, lese ich. »Deutschland, von unermeßlichen Wäldern bedeckt, zeichnet sich vor allen andern Gegenden durch seine herrlichen Jagden aus. Manch tüchtiger Nimrod wandelt dort noch unter den grünen Buchen, und nichts gibt es, woran er lieber seinen Mut erprobt, als an dem Fang der Wölfe. Diese gefräßigen Tiere rennen in Herden von 40 bis 50 Stück fortwährend durch die Täler, und nicht zufrieden mit dem, was sie den Hirten rauben, wagen sie sich sogar in die Dörfer und erwürgen kleine Kinder. Ist solch ein Anfall geschehen, da läßt der erste Konstabler des Ortes eine Mannschaft zusammentreten. Man bewaffnet sich und setzt den Wölfen nach. Nicht selten ist es, daß man ihrer einige erschlägt; die Ohren werden ihnen dann abgeschnitten und dem Gouvernement ausgeliefert, welches eine Prämie darauf gesetzt hat.« – Es fuhr mir ein kalter Schauder durch alle Glieder. Ich drehte das Blatt herum und sah nach dem Namen der Zeitung. Es war »Tom Spring's Life« in London. »Und das nennen Sie närrisch, meine liebe Miß?« Das junge Mädchen schaute mich verwundert an. »Aber ist es denn wirklich wahr?« – »Leider nur zu sehr!« erwiderte ich ihr mit dem möglichsten Ernste. »Es gibt sehr viele Wölfe in Deutschland.« Die schöne Schnepfentochter schwieg einige Augenblicke. Da legte sie plötzlich die Hand vertrauensvoll auf meinen Arm, sah mich mit ihren großen Augen recht feierlich an und fragte: »Sagen Sie mir doch, if you please, kennt man in Deutschland auch schon die Bibel?« – »Seit kurzem!« antwortete ich. – »Indeed? Aber ist es auch dieselbe Bibel?« – »Ganz dieselbe, auf ein Haar!« – »Oh, das ist beautiful!« rief meine Hausgenossin aus und tanzte vor Freude in der Stube umher. »Jetzt habe ich die Deutschen noch einmal so lieb!«

Das Geständnis, daß man in Deutschland die Bibel kenne, hat meine Lage in dem Hause der Frau Woodcock um ein bedeutendes geändert. Gestern abend hörte ich die Familie im großen Speisezimmer eine eifrige Unterredung führen; mehrere Male wurde mein Name genannt, und als ich ein wenig horchte, konnte ich deutlich vernehmen, wie der älteste Sohn sagte: »To be sure, er kennt nicht nur die Bibel, nein, er hat sie sogar unter seinen eigenen Büchern, und mit meinen Augen habe ich gesehen, daß er darin herumblätterte.« Die ganze Familie begrüßte diese Nachricht mit dem lautesten Jubel.

Vierundzwanzig Stunden sind seitdem verflossen; ich habe mir den Kopf hin und her zerbrochen, um zu verstehen, was es mit der Geschichte auf sich haben möchte. Endlich habe ich es erraten – und nicht nur erraten, nein, es ist zur völligen Gewißheit geworden! Man weiß zwar, daß ich aus Deutschland bin, wo alles noch wild und voller Wölfe ist, aber man weiß auch, daß ich trotzdem eine gewisse religiöse Grundlage mit nach England gebracht habe; auf dieser will man weiter fortbauen, es koste, was es wolle! Es ist kein Zweifel mehr, man will mich episkopalisch bekehren! Die ersten Anstalten sind bereits gemacht. Mein Tristram Shandy, in dessen zweites Kapitel ich eben mit Macht hineinsteuere, war aufgeschlagen auf dem Tische liegengeblieben. Heute morgen finde ich ihn sanft beiseite geschoben, und siehe da, eine Pilgrims-Geschichte mit goldenem Schnitt blickt darunter hervor. Kaum hatte ich einige Seiten darin gelesen, als der Sohn der Schnepfe im Nebenzimmer das Piano zu einem Choral rührte. Merkwürdigerweise ging es heute besser als je damit; er kam fast bis zum Schluß, und nur die Gewohnheit mochte es tun, daß die Melodie dennoch zuletzt in das »Gott segne die Königin« überschlug. Als er hierdurch mein Gemüt in die gehörige Stimmung versetzt glaubte, trat der älteste Sohn mit einem holden Lächeln zu mir herein. Sonntagsfrack und Weste saßen ihm herrlich, und das spitze Kinn bewegte sich graziös über dem Rande der weißen Krawatte.

Er drückte mir seine Freude aus, daß ich schon so früh mit der Pilgrims-Geschichte beschäftigt sei, und bemerkte noch, daß ich überhaupt stets gut in England gelitten sein würde; denn gern hätten sie gesehen, daß ich dem Beispiel anderer Fremder nicht gefolgt sei und seit dem Einzug in ihr Haus keine Karten berührt habe. Dann lud er mich ein, seine Familie in die Pfarrkirche zu begleiten.

Aus der Pfarrkirche komme ich eben zurück. Alles war herrlich. Voran schritt Mister Woodcock mit seiner Gattin, dann kam der älteste Sohn mit dem jüngern Bruder, zuletzt ich mit der schönen Fanny. Die Orgel brauste, die Engländer sangen. Wir standen in dem großen Kirchenstuhl, Mister Woodcock schüttelt mir die Hände und ruft: »You see, das ist unsere altenglische Kirche.« Der Sohn legt mir sein Gesangbuch vor, Fanny blickt mich mit triumphierenden Augen an; aber voller Entzücken, einen Deutschen aus dem wilden Lande der Wölfe zur Seligkeit episkopalischen Kirchendienstes eingeführt zu haben, reißt die Frau Schnepfe ihren eigenen Wollsack vom Sitze und legt mir ihn unter. Einstweilen ging die Sache gut, aber ...

»Shut the door! Machen Sie die Tür zu, mein lieber Herr Woodcock. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, der Vicar von Wakefield ist ein herrliches Buch.« – »Aber es ist eine Fiktion«, erwiderte der älteste Sohn, »und alles, was eine Fiktion ist, mag es noch so gut sein, es kann doch wieder schlecht darum stehen.« – »Das sollen Sie mir nicht umsonst gesagt haben!« erwiderte ich ihm. »Sie haben den Vicar of Wakefield geschmäht, und das vergesse ich Ihnen nicht.« Da drehte ich mich zornig auf dem Stuhle herum, und der Herr Woodcock verließ ebenso zornig das Zimmer. Seit jenem Augenblick sind wir geschiedene Leute. Ich sinne auf Rache. Die Pilgrims-Geschichte habe ich bereits in einen großen Bogen blaues Papier gewickelt, einen Bindfaden darum gewunden und beiseite gelegt. Ein abscheulich häßlicher Engel von Holz, den man mir auf den Kamin gesetzt hatte, ist ebenfalls entfernt; ein Kartenblatt – Pique-Dame – habe ich an den Spiegel gesteckt und meinen Tristram Shandy aufgeschlagen auf den Tisch gelegt. So ausgerüstet, will ich allen fernern Bekehrungsversuchen widerstehen; denn darin, daß ich diesen widerstehe, soll eben meine Rache ihren Anfang nehmen. Was es für ein Ende haben wird, kann ich nicht sagen, jedenfalls wird es aber eine allgemeine Hausrevolution nach sich ziehen. Schon zeigen sich drohende Symptome: Fanny ist seit drei Tagen nicht mehr in meinem Zimmer erschienen, gestern präsentierte mir die Frau Schnepfe den Tee mit abgewandtem Gesicht, der Hausvater Woodcock lief auf der Straße an mir vorüber und tat, als wenn er mich gar nicht sähe. Der älteste Sohn rührt das Piano nicht mehr. Was aber allem die Krone aufsetzte, will ich jetzt erzählen. In dem Leben und den Meinungen des unvergleichlichen Tristram Shandy war ich bis zum Schluß des dritten Kapitels vorgerückt, da überwältigte mich die Macht der Begebenheiten, ich konnte nicht weiter. Stunden, abendelang brütete ich über den letzten Zeilen, und diese heißen folgendermaßen: »›Aber ach‹, fuhr er fort und schüttelte seinen Kopf zum zweiten Male, indem er eine Träne fortwischte, welche von seiner Wange herunterrieselte, ›ach, meines Tristrams Mißgeschick begann schon neun Monate vor seiner Geburt!‹ – Meine Mutter, welche in der Nähe saß, blickte auf, aber sie wußte es nicht besser als ihre backside, was mein Vater meinte, aber mein Onkel Mr. Toby Shandy, dem die Geschichte oft erzählt wurde, verstand ihn very well!«

Diese Stelle schien mir von solcher Bedeutung zu sein und von so hoch tragischer Wirkung, daß ich beschloß, ein eigenes Studium darüber zu beginnen. Um sie mir recht einzuprägen, schrieb ich also die Passage in deutscher, englischer und französischer Sprache sauber und nett an den Gipfel eines Blattes Propatria-Papiers.

Es war am letzten Tage des Monats Februar, als ich um Mitternacht meiner Schlafstube zueilte. Die Angst beflügelte meine Schritte, denn eben war mir zu meinem Schrecken eingefallen, daß ich am Nachmittag das besagte Blatt auf dem Waschtisch hatte liegenlassen. Ich trat ein. Eine dumpfe Schwüle drang mir entgegen, geisterhaft flackerte das tief heruntergebrannte Talglicht und warf irre Streifflammen in einen zerbrochenen Spiegel, aus dem mir tausend höhnische Gesichter zuzugrinsen schienen. Jetzt stand ich vor dem verhängnisvollen Tische. Still wie ein unschuldiges Lamm ruhte mein Propatria-Bogen neben der Wasserflasche. Schon stieg die Hoffnung in mir auf, niemand habe ihn bemerkt, alles sei glücklich vorübergegangen, da wirbelte die Flamme meiner Kerze höher empor und ließ mich in den Abgrund meines ganzen Unheils schauen. Ein fingerbreiter Strich mit roter Kreide durchschnitt meine Übersetzungen und Notizen von oben bis unten, und bei der Stelle, wo es in dem armen Tristram Shandy heißt: »Meine Mutter, welche in der Nähe saß, blickte auf, aber sie wußte nicht besser, als...«, da erblickte ich zu meinem Jammer die vernichtenden Donnerworte, ebenfalls in roter Kreide: »O horrible, most horrible!« O schrecklich, sehr schrecklich!

Es war kein Zweifel mehr, man hatte mein Manuskript entdeckt, man hatte es gelesen; es war aus, es war vorbei, und die üblen Folgen meiner Nachlässigkeit stiegen drohend vor meinem Geiste empor. Morgen mit der Morgenröte wird Mister Woodcock kommen, begleitet von seiner ganzen Familie. Da wird der älteste Sohn sprechen: »Vertreibt ihn, den Fremdling, denn er hat über meinen Choral gelacht.« Da wird Fanny sagen, die schöne Fanny, mit Tränen in den Augen: »Hebe dich von dannen, der du im Lande der Wölfe geboren bist!« Da wird die Frau Schnepfe ausrufen: »Entfleuch, der du ein Kartenblatt im Wappen führst!« Und da wird dieser Mister Woodcock mit großen Schritten herbeilaufen, den Zeigefinger auf meinen Propatria-Bogen legen und zum Schlusse beginnen: »Ziehe hin! Sieh, Jüngling aus Deutschland, wir glaubten dich auf einem guten Wege, wir liebten dich und führten dich in die grauen Hallen unserer Episkopal- Kirche. Wir dachten, es würde Früchte bringen, und freuten uns, als wir vernahmen, du schriebest Betrachtungen über jene Pilgrims-Geschichte. Aber du bist entlarvt, nicht pilgrimsche Betrachtungen, nein, unnütze Gedanken über eine ... hast du zu Papier gebracht. Wir sind geschieden.« Und ehe ich mich versehe, werde ich samt meiner Bagage vor der Tür stehen, und der weiße unsterbliche englische Esel wird mir den Abschiedsgruß singen. Aber dies soll nimmer geschehen. Leb wohl, du Brite, der du wie Tausende deinesgleichen noch in den lächerlichsten Vorurteilen steckst, der du mitten im Lande deiner Freiheit noch so unduldsam bist!

Und als ich das im Zorne gesprochen, zog ich meinen Koffer unter dem Bett hervor, nahm meinen Mantelsack, nahm Kleider und Wäsche, packte alles miteinander ein, legte Bücher und Pfeifen darüber, trank den Rest aus einer Flasche Porter, welche unten im Hause stand, näherte mich noch einmal Fannys Zimmer. »Schlaf wohl, liebes Mädchen«, rief ich hinein, »träume von den deutschen Wölfen!«, stellte dann das Talglicht an die hölzerne Engelstatue, so daß der Rauch gerade die Nasenspitze schwärzen konnte, nahm dann meinen Koffer auf den Nacken, den Mantelsack unter den einen Arm, den Tristram unter den andern, ließ die Miete für den laufenden Monat auf dem Tische zurück, öffnete leise die Tür: »Ade, Frau Schnepfe!« und wandelte die stille Straße hinunter. An der nächsten Ecke empfing mich mein teurer Freund aus Deutschland, der Mond, den ich mit lautem Jubel begrüßte und der sich sofort bereit erklärte, mich auf meiner fernern Wanderschaft zu begleiten.


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