Frank Wedekind
Tod und Teufel
Frank Wedekind

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Szenerie

Ein Zimmer mit verhängten Fenstern, in dem einander gegenüber zwei rote Polstersessel stehen. Im rechten sowie im linken Proszenium befindet sich je eine kleine Efeuwand, hinter der sich jemand verbergen kann, ohne gegen die Zuschauer verdeckt zu sein und ohne von der Bühne aus gesehen zu werden. Hinter diesen Efeuwänden stehen zwei rotgepolsterte Hockerl. Mitteltür, Seitentüren.

Elfriede von Malchus sitzt in einem der Polstersessel. Man sieht ihr an, daß sie sich unbehaglich fühlt. Sie trägt ein modernes Reformkleid, dazu Hut, Mantel und Handschuhe.

Elfriede: Wie lange will man mich hier noch warten lassen! (Lange Pause, in der sie unbeweglich sitzen bleibt.) Wie lange will man mich hier noch warten lassen! (Lange Pause wie vorher.) – Wie lange will man mich hier noch warten lassen! (Nach einer Pause erhebt sie sich, zieht den Mantel aus und legt ihn über den Polstersessel, nimmt den Hut ab und legt ihn auf den Mantel. Darauf geht sie in sichtlicher innerer Erregung zweimal auf und ab. – Stehen bleibend): – Wie lange will man mich hier noch warten lassen!

Auf ihr letztes Wort tritt der Marquis Casti Piani durch die Mitteltür ein. Er ist ein Mann von hoher Statur, mit kahlem Schädel, hoher Stirn, großen, melancholischen, schwarzen Augen, starker Adlernase und starkem, herabhängendem schwarzen Schnurrbart. Er trägt schwarzen Gehrock, dunkle Phantasieweste, tiefgraue Beinkleider. Lackstiefel und schwarze Krawatte mit Brillantnadel.

Casti Piani (mit Verbeugung): Sie wünschen, gnädige Frau?

Elfriede (erregt): Das habe ich vorhin der – Dame schon so klar wie nur irgendwie menschenmöglich auseinandergesetzt, weshalb ich hier bin.

Casti Piani: Die – Dame hat mir gesagt, weshalb Sie hier sind. Die Dame sagte mir auch, Sie seien Mitglied des »Internationalen Vereins zur Bekämpfung des Mädchenhandels«.

Elfriede: Das bin ich allerdings! Ich bin Mitglied des »Internationalen Vereins zur Bekämpfung des Mädchenhandels«. Aber wenn ich es auch nicht wäre, hätte ich mir diesen Weg doch um keinen noch so hohen Preis ersparen können. Seit dreiviertel Jahren bin ich auf der Spur dieses unglücklichen Geschöpfes. Überall, wohin ich bis jetzt gekommen bin, hatte man das Mädchen immer kurz zuvor wieder in eine andere Stadt verschleppt. Aber in diesem Hause ist sie! Sie ist jetzt noch hier! Das hat mir die – Dame, die eben hier war, auch ohne Umschweife zugestanden. Die Dame gab mir die Versicherung, sie werde das Mädchen hierher in dieses Zimmer schicken, damit ich hier ungestört unter vier Augen mit ihm sprechen könne. Ich warte hier jetzt nur auf das Mädchen. Ich habe keine Lust und keine Veranlassung dazu, hier noch ein zweites Verhör über mich ergehen zu lassen.

Casti Piani: Ich bitte Sie, gnädiges Fräulein, sich nicht noch mehr zu erregen. Das Mädchen möchte Ihnen – anständig gekleidet vor Augen treten. Die Dame bat mich, aus Furcht, Sie könnten sich in Ihrer Aufregung zu irgendeiner überflüssigen Gewaltmaßregel hinreißen lassen, Ihnen das zu sagen, und Ihnen über die Beklommenheit, die Ihnen das Warten in diesen Räumlichkeiten verursachen muß, möglichst hinwegzuhelfen.

Elfriede (aufgeregt auf und ab gehend): Ich bitte Sie, sich Ihre liebenswürdige Unterhaltung zu ersparen. Die Atmosphäre, die hier herrscht, hat für mich nichts Neues mehr. Als ich solch ein Haus zum ersten Male betrat, hatte ich mit physischer Übelkeit zu kämpfen. An jenem Tage wurde mir erst klar, welch einen unerschwinglichen Aufwand von Selbstüberwindung ich durch meinen Eintritt in den Verein zur Bekämpfung des Mädchenhandels auf mich genommen hatte. Vorher waren mir unsere Bestrebungen ein eitler Zeitvertreib gewesen, den ich mitmachte, nur um nicht als nutzloses Geschöpf alt und grau zu werden.

Casti Piani: Diese Äußerung erweckt so viel Teilnahme in mir, daß ich mich versucht fühle, Sie um die Ehre zu bitten, sich in Ihrer Eigenschaft als Mitglied des Internationalen Vereins zur Bekämpfung des Mädchenhandels mir gegenüber legitimieren zu wollen. Erfahrungsgemäß drängen sich eine Menge Personen zu diesem Beruf, die ganz andere Ziele als die Rettung gefallener Mädchen verfolgen. Wenn es Ihnen um die Erreichung Ihrer hohen Ziele ernst ist, muß Ihnen die strenge Kontrolle, die wir auszuüben genötigt sind, im höchsten Maße willkommen sein.

Elfriede: Ich bin seit nun schon bald drei Jahren Mitglied unseres Vereins. Mein Name ist – Fräulein von Malchus.

Casti Piani: Elfriede von Malchus?

Elfriede: Ja. Elfriede von Malchus. – Woher wissen Sie meinen Vornamen?

Casti Piani: Wir lesen doch die Jahresberichte des Vereins. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie sich auf der vorjährigen Jahresversammlung in Köln auch als Rednerin hervorgetan?

Elfriede: Gott sei's geklagt, habe ich volle zwei Jahre lang immer nur geschrieben und geredet und geredet und geschrieben, ohne in mir den Mut zu einer direkten Bekämpfung des Mädchenhandels zu finden, bis der Mädchenhandel schließlich sein Opfer unter meinem eigenen Dach, in meiner eigenen Familie fand!

Casti Piani: An diesem Unglück waren aber doch, wenn ich recht unterrichtet bin, nur Ihre eigenen Papiere, Bücher und Zeitschriften schuld, die Sie allem Anschein nach vor dem jungen Geschöpf, um dessen Rettung willen Sie augenblicklich hier sind, nicht sorgfältig genug verwahrt hielten?

Elfriede: Darin haben Sie vollkommen recht! Leider Gottes kann ich Ihnen darin nicht widersprechen! Nacht für Nacht, wenn ich mich mit mir selbst und der Welt zufrieden zu einem zehnstündigen, durch keine menschliche Regung gestörten Schlaf unter meine Bettdecken gestreckt hatte, schlich sich das siebzehnjährige Geschöpf, ohne daß ich mir das geringste davon träumen ließ, in mein Arbeitszimmer und tränkte seine liebesdurstige Einbildungskraft aus meinen aufgestapelten Büchern über die Bekämpfung des Mädchenhandels mit den verführerischsten Bildern des Sinnengenusses und der furchtbarsten Laster. Und ich dumme Gans sah es trotz meiner achtundzwanzig Jahre dem Mädchen am nächsten Morgen gar nicht an, daß es übernächtig war! Ich hatte in meinem Leben keine schlaflosen Nächte gekannt! Wenn ich morgens wieder zu meinen Arbeiten kam, fragte ich mich nicht einmal, wodurch denn die haarsträubende Verwirrung unter meinen Papieren entstanden sein könnte!

Casti Piani: Das Mädchen, mein gnädiges Fräulein, war, wenn ich nicht irre, von Ihren Eltern zur Verrichtung der leichteren Hausarbeit in Dienst genommen?

Elfriede: Zu ihrem Verderben! Ja! Mama sowohl wie Papa waren von ihrem bescheidenen, sittsamen Wesen bezaubert. Papa, der doch Ministerialbeamter und Bureaukrat vom reinsten Wasser ist, empfand ihre Anwesenheit in unserem Hause wie einen Lichtblick. Nach ihrem plötzlichen Verschwinden nannten Papa sowohl wie Mama meine Vereinstätigkeit nicht mehr altjüngferliche Überspanntheit, sondern sie nannten sie geradeheraus ein strafwürdiges Verbrechen!

Casti Piani: Das Mädchen ist das uneheliche Kind einer Waschfrau? – Wissen Sie vielleicht, wer ihr Vater war?

Elfriede: Nein, danach hatte ich sie nie gefragt. Aber wer sind Sie denn eigentlich? Woher wissen Sie das alles?

Casti Piani: Hm – das Mädchen hatte in einem Ihrer Vereinsberichte gelesen, daß in den Tageszeitungen gewisse Inserate veröffentlicht würden, durch die die Mädchenhändler junge Mädchen unter den und den bestimmten falschen Vorspiegelungen an sich lockten, um sie dem Liebesmarkt zuzuführen. Das Mädchen suchte daraufhin in der ersten besten Zeitung nach einem derartigen Inserat und schrieb, nachdem sie eins gefunden hatte, einen sehr korrekten Brief, in dem sie sich erbot, in die Stellung, die in dem Inserat fälschlich vorgespiegelt war, einzutreten. Auf diese Weise wurde ich mit ihr bekannt.

Elfriede: Und das wagen Sie mit solchem Zynismus auszusprechen?!

Casti Piani: Das, mein gnädiges Fräulein, wage ich mit solcher Sachlichkeit auszusprechen!

Elfriede (in höchster Erregung, mit geballten Fäusten): Das Ungeheuer, das dieses Mädchen der Schande überantwortet hat, sind also Sie!!

Casti Piani (wehmütig lächelnd): Wenn Sie ahnten, mein gnädiges Fräulein, woraus die Ursachen Ihrer höllischen Aufgeregtheit eigentlich bestehen, dann wären Sie vielleicht gerade klug genug dazu, gegenüber einem solchen Ungeheuer, wie ich es Ihnen zu sein scheine, vollkommen ruhig zu bleiben.

Elfriede (kurz): Das verstehe ich nicht. Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen!

Casti Piani: Sie – sind noch – – Jungfrau?

Elfriede (keuchend): Wer erlaubt Ihnen, eine solche Frage an mich zu richten!

Casti Piani: Wer auf Gottes weiter Welt will mir das verbieten! – Aber lassen wir das. Jedenfalls haben Sie sich nicht verheiratet. Sie sind, wie Sie mir eben selber mitteilten, achtundzwanzig Jahre alt. Diese Tatsachen beweisen Ihnen zur Genüge, daß Sie im Vergleich zu anderen Frauen – um von dem Menschenkinde, zu dessen Rettung Sie hergekommen sind, ganz zu schweigen – nur ein sehr geringes Maß von sinnlichem Empfinden haben.

Elfriede: Darin mögen Sie recht haben.

Casti Piani: Ich sage das natürlich nur unter der Voraussetzung, daß ich Ihnen mit dieser Erörterung nicht lästig falle. Ich bin auch weit davon entfernt, Sie für krankhaft oder unnatürlich veranlagt zu halten. Aber wissen Sie, mein Fräulein, wodurch Sie Ihre, wie Sie zugeben, allerdings sehr schwachen sinnlichen Empfindungen befriedigt haben?

Elfriede: Nun?

Casti Piani: Durch Ihren Eintritt in den Internationalen Verein zur Bekämpfung des Mädchenhandels.

Elfriede (mit verhaltenem Ingrimm): Wer sind Sie, mein Herr?! – Ich komme hierher, um ein unglückliches Geschöpf aus den Krallen des Lasters zu befreien! Ich komme nicht hierher, um Ihre geschmacklosen Vorlesungen anzuhören.

Casti Piani: Das habe ich auch nicht vorausgesetzt. Aber sehen Sie, von diesem Standpunkt aus betrachtet, stehen wir beide einander näher, als Sie es sich in Ihrem kleinbürgerlichen Tugendstolz jemals träumen ließen. Ihnen hat die Natur nur eine äußerst kärgliche Sinnlichkeit verliehen. Mich haben die Stürme des Lebens längst zu einer schauerlichen Einöde gemacht. Aber was für Ihre Sinnlichkeit die Bekämpfung des Mädchenhandels ist, das ist für meine Sinnlichkeit, falls Sie mir etwas der Art noch zugestehen wollen, der Mädchenhandel selbst.

Elfriede (empört): Heucheln Sie doch nicht so schamlos, Sie nichtswürdiger Mensch! Glauben Sie, Sie könnten mich, die ich wie eine gehetzte Hündin von Lasterhöhle zu Lasterhöhle hinter dem Geschöpf her bin, durch Ihren abenteuerlichen Gefühlshokuspokus einschläfern?! Ich bin jetzt nicht Mitglied des Vereins zur Bekämpfung des Mädchenhandels! Ich bin als eine unselige Verbrecherin hier, die, ohne etwas zu ahnen, ein blutjunges Leben in Elend und Verzweiflung gebracht hat! Ich lasse mir, solang ich atme, keinen Bissen mehr schmecken, wenn ich das Kind seinem Verderben nicht entreißen kann! Sie wollen mich glauben machen, daß mich unlautere Neugier in dieses Haus treibt! Sie sind ein Lügner! Sie glauben an Ihre eigenen Worte nicht! Sie haben das Mädchen nicht aus unbefriedigter Sinnlichkeit verhandelt, sondern aus Geldgier! Sie haben das Mädchen verhandelt, um ein gutes Geschäft dabei zu machen!

Casti Piani: Ein gutes Geschäft! Selbstverständlich! Aber gute Geschäfte beruhen auf beiderseitigem Vorteil! Andere Geschäfte als gute mache ich überhaupt nicht. Jedes andere Geschäft ist unmoralisch! – Oder glauben Sie vielleicht, der Liebesmarkt sei für das Weib ein schlechtes Geschäft?

Elfriede: Wie meinen Sie das?

Casti Piani: Das meine ich einfach so: – Ich weiß nicht, ob Sie in diesem Augenblick gerade in der Stimmung sind, mir mit einiger Aufmerksamkeit zuzuhören?

Elfriede: Ersparen Sie sich nur um Gottes willen die Einleitung!

Casti Piani: Ich meine das also so: Wenn sich ein Mann in Not befindet, dann bleibt ihm oft keine andere Wahl mehr übrig als zu stehlen oder zu verhungern. Wenn sich dagegen ein Weib in Not befindet, dann bleibt ihm außer dieser Wahl noch die Möglichkeit, seine Liebesgunst zu verkaufen. Dieser Ausweg bleibt dem Weibe nur deshalb noch übrig, weil das Weib bei der Gewährung seiner Liebesgunst nichts zu empfinden braucht. Seit Erschaffung der Welt hat das Weib von diesem Vorzug Gebrauch gemacht. Von allem übrigen zu schweigen, ist der Mann von Natur aus dem Weibe schon aus dem einen Grunde himmelweit überlegen, weil das Weib unter Schmerzen Kinder gebiert . . .

Elfriede: Das ist ja gerade der himmelschreiende Widerspruch! Das sage ich ja immer! Kinder zur Welt bringen ist Qual und Sorge; Kinder in die Welt setzen gilt als Zeitvertreib. Und trotzdem hat die gütige Schöpfung, die auch sonst vielfach an Verrücktheit leidet, den Schmerz und die Sorgen dem schwächeren Geschlecht aufgebürdet!

Casti Piani: Darin, mein Fräulein, sind wir vollkommen einer Ansicht! – Und nun wollen Sie Ihren unglücklichen Schwestern den geringen Vorzug, den ihnen die – verrückte Schöpfung vor dem Manne gewährt hat, den Vorzug, in äußerster Not ihre Liebesgunst verkaufen zu können, rauben, indem Sie diesen Verkauf als eine unauslöschliche Schande hinstellen?! Sie sind mir eine schöne Frauenrechtlerin!

Elfriede (fast unter Tränen): Als ein unaussprechliches Unglück, als ein ewiger Fluch lastet die Möglichkeit, sich verkaufen zu können, auf unserem bedrückten Geschlecht!

Casti Piani: Unsere Schuld ist es aber – das weiß Gott im Himmel! – nicht, daß der Liebesmarkt als ein ewiger Fluch auf dem weiblichen Geschlecht lastet! Wir Händler haben gar kein idealeres Ziel, als daß sich der Liebesmarkt so offenkundig, so unbehelligt abspielt, wie jeder andere ehrliche Markt! Wir Händler haben gar kein idealeres Ziel, als daß die Preise auf dem Liebesmarkt so hoch wie nur irgend möglich sind! Schleudern Sie Ihre Vorwürfe, wenn Sie die Bedrückung Ihres unglücklichen Geschlechts bekämpfen wollen, der bürgerlichen Gesellschaft ins Gesicht! bekämpfen Sie, wenn Sie die Naturrechte Ihrer Schwestern verteidigen wollen, zuerst den Internationalen Verein zur Bekämpfung des Mädchenhandels!

Elfriede (aufbrausend): Ich lasse mir hier von Ihnen nicht länger blauen Dunst vormachen! Ich bin fest überzeugt, daß Sie im Ernste gar nicht daran denken, dem Mädchen die Freiheit zu geben! Während ich albernes Geschöpf mir hier soziale Vorträge von Ihnen halten lasse, wird die Unglückliche womöglich in eine Droschke gepackt, nach dem Bahnhof gebracht und irgendwohin transportiert, wo sie vor den Mitgliedern des Vereins zur Bekämpfung des Mädchenhandels Zeit ihres Lebens sicher ist! – Nun gut, ich weiß, was ich zu tun habe! (Sie nimmt Hut und Mantel.)

Casti Piani (lächelnd): Wenn Sie ahnten, mein Fräulein, wie Ihr Wutausbruch Ihre hausbackene Erscheinung verschönert, dann hätten Sie es nicht so eilig, sich zu entfernen.

Elfriede: Lassen Sie mich hinaus! Es ist die höchste Zeit!

Casti Piani: Wohin gedachten Sie denn jetzt zu gehen?

Elfriede: Das wissen Sie geradesogut wie ich, wohin ich jetzt gehe!

Casti Piani (packt Elfriede bei der Gurgel, drückt ihr die Kehle zu und nötigt sie in einen der Polstersessel): Sie bleiben hier! Ich habe noch ein Wort mit Ihnen zu sprechen! Versuchen Sie doch bitte, zu schreien! Hier ist man an alles nur irgendwie mögliche menschliche Geschrei gewöhnt! Schreien Sie bitte, so laut Sie schreien können! (Sie freilassend): Nimmt mich wunder, ob ich Sie nicht noch zu Verstand bringe, bevor Sie aus diesem Hause direkt aus die Polizei laufen!

Elfriede (keuchend, tonlos): – Es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich eine derartige Vergewaltigung erfahre!

Casti Piani: Sie haben in Ihrem Leben so unendlich viel Unnützes zur sittlichen Hebung der Freudenmädchen getan! Tun Sie doch endlich einmal etwas Nützliches zur sittlichen Hebung der Freude! Dann brauchen Ihnen die armen Geschöpfe nicht mehr leid zu tun! Weil der Freudenmarkt als der gemeinste, schandbarste aller Berufe gebrandmarkt ist, geben sich die Mädchen und Frauen der guten Gesellschaft einem Manne lieber umsonst hin, als daß sie sich ihre Gunst bezahlen lassen! Dadurch entwürdigen diese Mädchen und Frauen ihr eigenes Geschlecht in der gleichen Weise, wie ein Schneider sein Gewerbe entwürdigt, der seinen Kunden die Kleider umsonst liefert!

Elfriede (noch wie betäubt): Ich begreife von alledem kein Sterbenswort. – Ich bin mit meinem sechsten Jahr in die Schule gekommen und bin bis zu meinem fünfzehnten Jahre in der Schule geblieben. Später habe ich noch einmal drei Jahre auf der Schulbank gesessen, um mein Lehrerinnenexamen zu machen. Solange ich jung war, verkehrten in meinem Elternhause Herren aus den besten Gesellschaftskreisen. Ich erhielt einen Heiratsantrag von einem Manne, der ein Rittergut von zwanzig Quadratmeilen geerbt hatte, und der mir, wenn ich es von ihm verlangt hätte, bis ans Ende der Welt gefolgt wäre. Aber ich fühlte, daß ich ihn nicht lieben konnte. Vielleicht war es nicht richtig von mir. Vielleicht fehlte mir nur das kleine bißchen Leidenschaftlichkeit, das zum Heiraten unter allen Umständen nötig ist.

Casti Piani: Sind Sie jetzt endlich zahm?

Elfriede: Erklären Sie mir jetzt nur noch eines: Wenn das Mädchen nun bei diesem Leben, das sie hier führt, ein Kind zur Welt bringt, wer sorgt dann für das Kind?

Casti Piani: Sorgen doch Sie dafür! Oder haben Sie als Frauenrechtlerin vielleicht etwas Wichtigeres in dieser Welt zu tun? Solange ein Weib unter Gottes Sonne noch fürchten muß, Mutter zu werden, bleibt die ganze Frauenemanzipation leeres Geschwätz! Mutterwerden ist für das Weib eine Naturnotwendigkeit wie Atem und Schlaf. Dieses angeborene Recht hat die bürgerliche Gesellschaft dem Weibe in barbarischer Weise verkürzt. Ein uneheliches Kind ist schon eine beinahe ebenso große Schmach wie der Liebesmarkt! Dirne hin, Dirne her! Der Name Dirne bleibt der Mutter eines unehelichen Kindes so wenig erspart wie einem Mädchen in diesem Hause! Wenn mir etwas an Ihrer Frauenbewegung von jeher zum Ekel war, dann war es die Sittlichkeit, die Sie Ihren Zöglingen auf den Lebensweg einimpfen! Glauben Sie denn, der Liebesmarkt wäre je in der Weltgeschichte als Schande verschrien worden, wenn der Mann auf diesem Markte mit dem Weibe konkurrieren könnte?! Brotneid! Nichts als Brotneid! Dem Weibe gewährte die Natur den Vorzug, mit seiner Liebe handeln zu können, deshalb möchte die bürgerliche Gesellschaft, die vom Manne regiert wird, diesen Handel immer und immer wieder gern als das schmachvollste aller Verbrechen hinstellen!

Elfriede (steht auf und entledigt sich ihres Mantels, den sie über den Stuhl legt; auf und ab gehend): Ich bin in diesem Augenblicke, offen gesagt, ganz außerstande, Ihre Behauptungen daraufhin zu untersuchen, ob sie richtig oder unrichtig sind. – Aber wie in aller Welt ist es denn möglich, daß ein Mann von Ihrer Bildung, von Ihren sozialen Anschauungen, von Ihrer geistigen Überlegenheit sein Leben unter den würdelosesten Elementen der menschlichen Gesellschaft verbringt! – Gott weiß, vielleicht hat mich nur Ihre viehische Brutalität dazu gezwungen, Ihre Auseinandersetzungen ernst zu nehmen! Aber ich fühle ganz deutlich, daß Sie mir auf lange Zeit hin allerhand zu denken gegeben haben, worauf ich selber in meinem Leben nie gekommen wäre. Seit Jahren höre ich Winter für Winter zwölf bis zwanzig Vorträge von allen weiblichen und männlichen Autoritäten über Frauenbewegung. Ich kann mich nicht erinnern, je ein Wort gehört zu haben, das so wie Ihre Behauptungen der Sache auf den Grund ging!

Casti Piani (skandierend): Seien wir uns im Leben immer sonnenklar darüber, mein gnädiges Fräulein, daß wir auf einem Dachfirst nachtwandeln und daß uns jede unvorhergesehene Erleuchtung das Genick brechen kann.

Elfriede (ihn anstarrend): Wie meinen Sie das wieder? – Sie denken sich etwas Ungeheuerliches dabei?!

Casti Piani (sehr ruhig): Ich sage das nur in bezug auf Ihre Ansichten, bei denen Sie sich bis jetzt so unbedingt sicher fühlten, daß Sie Urteile wie »anständig« und »würdelos« freigebig austeilten, als wären Sie ganz allein von Gott dazu beauftragt, über Ihre Mitmenschen zu Gericht zu sitzen.

Elfriede (ihn anstarrend): Sie sind ein großer Mensch! – Sie sind ein edler Mensch!

Casti Piani: Ihre Worte treffen die Todeswunde, die ich mit auf die Welt gebracht habe und an der ich voraussichtlich einmal sterben werde. (Er wirft sich in einen Sessel.) – – Ich bin – – – Moralist!

Elfriede: Und darüber wollen Sie sich bei Ihrem Schicksal beklagen?! Darüber, daß Ihnen die Macht verliehen wurde, andere Menschen glücklich zu machen?! (Sich ihm nach kurzem inneren Kampf zu Füßen werfend): Heiraten Sie mich doch um Gottes Barmherzigkeit willen! Ich habe mir, bevor ich Sie sah, die Möglichkeit niemals denken können, daß ich mich einem Manne hingebe! Ich bin noch vollkommen unerfahren; das kann ich Ihnen mit den heiligsten Eiden schwören. Ich habe bis zu dieser Stunde nicht geahnt, was das Wort Liebe bedeutet. Bei Ihnen hier fühle ich es zum erstenmal! Die Liebe hebt den Menschen über sein unseliges Selbst empor. Ich bin ein alltägliches Durchschnittsweib, aber meine Liebe zu Ihnen macht mich so frei und kühn, daß es nichts Unmögliches für mich gibt! Schreiten Sie in Gottes Namen von Verbrechen zu Verbrechen; ich gehe Ihnen voran! Gehen Sie ins Zuchthaus; ich gehe Ihnen voran! Gehen Sie aus dem Zuchthaus auf das Schafott; ich gehe Ihnen voran! Lassen Sie sich – ich beschwöre Sie! – die günstige Gelegenheit nicht entgehen! Heiraten Sie mich! Heiraten Sie mich! Heiraten Sie mich! – so ist uns beiden armseligen Menschenkindern geholfen!

Casti Piani (streichelt ihr, ohne sie anzusehen, den Kopf): Ob Sie braves Tier mich lieben oder ob Sie mich nicht lieben, das ist mir vollkommen gleichgültig. – Sie können ja allerdings nicht wissen, wieviel tausendmal ich schon die gleichen Gefühlsausbrüche über mich habe ergehen lassen müssen! Ich unterschätze die Liebe gewiß nichts Leider aber muß die Liebe auch all den unzähligen Weibern als Rechtfertigung herhalten, die nur ihre Sinnlichkeit befriedigen, ohne den geringsten Entgelt dafür zu fordern, und die uns durch ihre würdelose Preisgabe nur den Markt verderben.

Elfriede: Heiraten Sie mich! Es ist für Sie immer noch Zeit, ein neues Leben zu beginnen! Die Ehe macht einen geordneten Menschen aus Ihnen. Sie können sozialistischer Zeitungsredakteur, Sie können Reichstagsabgeordneter werden! Heiraten Sie mich, dann erfahren doch auch Sie einmal in Ihrem Leben, welch übermenschlicher Opfer ein Weib in seiner grenzenlosen Liebe fähig ist!

Casti Piani (ihr das Haar streichelnd, ohne sie anzusehen): Ihre übermenschlichen Opfer würden mir im besten Falle die Eingeweide umkehren. Zeit meines Lebens liebte ich Tigerinnen. Bei Hündinnen war ich immer ein Stück Holz. Mein Trost ist nur der, daß die Ehe, die Sie so begeistert preisen und für die die Hündinnen gezüchtet werden, eine Kultureinrichtung ist. Kultureinrichtungen entstehen, um überwunden zu werden. Die Menschheit wird die Ehe so gut überwinden, wie sie die Sklaverei überwunden hat. Der freie Liebesmarkt, auf dem die Tigerin ihre Triumphe feiert, gründet sich auf ein urewiges Naturgesetz der unabänderlichen Schöpfung. Und wie stolz steht das Weib in der Welt, sobald es das Recht erkämpft hat, sich, ohne gebrandmarkt zu werden, zum höchsten Preis, den der Mann ihm bietet, verkaufen zu können! Uneheliche Kinder sind bei der Mutter dann besser versorgt als die ehelichen beim Vater. Stolz und Ehrgeiz des Weibes sind dann nicht mehr der Mann, der ihm seine Stellung anweist, sondern die Welt, in der es sich den höchsten Platz erkämpft, den sein Wert ihm ermöglicht. Welch herrlichen, lebensfrischen Klang dann das Wort Freudenmädchen erhält! In der Geschichte des Paradieses steht, daß der Himmel dem Weib die Macht der Verführung verlieh. Das Weib verführt, wen es will. Das Weib verführt, wann es will. Es wartet nicht auf Liebe. Diese höllische Gefahr für unsere heilige Kultur bekämpft die bürgerliche Gesellschaft damit, daß sie das Weib in künstlicher Geistesumnachtung erzieht. Das heranwachsende Weib darf nicht wissen, was ein Weib zu sein bedeutet. Alle Staatsverfassungen könnten darüber den Hals brechen! Kein Henkerskniff ist der bürgerlichen Gesellschaft zu ihrer Verteidigung zu gemein! Mit jedem Kulturfortschritt dehnt sich der Liebesmarkt aus. Je klüger die Welt wird, um so größer der Liebesmarkt. Und diese Millionen von Freudenmädchen weist unsere gefeierte Kultur im Namen der Sittlichkeit auf den Hungertod hin oder raubt ihnen im Namen der Sittlichkeit Ehre und Lebensberechtigung, stößt sie im Namen der Sittlichkeit ins Tierreich hinab! Wie manches Jahrhundert lang soll noch himmelschreiende Unsittlichkeit die Welt mit dem Henkerbeile der Sittlichkeit verwüsten!

Elfriede (tonlos wimmernd): Heiraten Sie mich! Sie stehen außerhalb der Welt! Ich trage meine Hand heute zum erstenmal einem Manne an.

Casti Piani (ihr das Haar streichelnd, ohne sie anzusehen). Brotkorbkultur! Brotkorbkultur! – Was wüßte die Welt von der ganzen Sittlichkeit, wenn der Mann die Liebe kommandieren könnte, wie er die Politik kommandiert!

Elfriede: Ich erhoffe von unserer Ehe gar kein höheres Glück, als zeit meines Lebens so vor Ihnen auf den Knien liegend, Ihren Worten lauschen zu dürfen!

Casti Piani (ohne sie anzusehen): Haben Sie sich denn je gefragt, was die Ehe ist?

Elfriede: Ich hatte bis zu dieser Stunde keine Ursache, danach zu fragen. (Sich erhebend): Sagen Sie es mir! Ich werde alles tun, um Ihren Anforderungen gerecht zu werden.

Casti Piani (zieht sie auf seine Knie): Kommen Sie, mein Kind. Ich werde es Ihnen erklären. (Da sich Elfriede einen Augenblick ziert): Halten Sie bitte still!

Elfriede: Ich habe nie auf dem Knie eines Mannes gesessen.

Casti Piani: Geben Sie mir einen Kuß!

Elfriede (küßt ihn).

Casti Piani: Danke. (Sie zurückdrängend): Sie möchten wissen, was die Ehe ist? – Sagen Sie mir, wer stärker ist: ein Mensch, der einen Hund hat, oder ein Mensch, der keinen Hund hat?

Elfriede: Der Mensch, der einen Hund hat, ist stärker.

Casti Piani: Und nun sagen Sie mir noch, wer stärker ist: ein Mensch, der einen Hund hat, oder ein Mensch, der zwei Hunde hat?

Elfriede: Ich glaube, daß der Mensch, der einen Hund hat, stärker ist, denn zwei Hunde müssen eigentlich notwendig schon eifersüchtig aufeinander werden.

Casti Piani: Das wäre das wenigste. Aber zwei Hunden muß er zu fressen geben, sonst laufen sie davon, während der eine Hund für sich selber sorgt und seinen Herrn, wenn's not tut, auch noch bei Raubanfällen verteidigt.

Elfriede: Und mit diesem abscheulichen Gleichnis wollen Sie das selbstlose untrennbare Zusammenhalten von Mann und Weib erklären?! Du barmherziger Gott, was müssen Sie für Erfahrungen gemacht haben!

Casti Piani: Der Mann mit einer Frau ist wirtschaftlich stärker, als wenn er keine hat. Er ist aber auch wirtschaftlich stärker, als wenn er für zwei oder mehr Frauen sorgen muß. Das ist der Grundstein der Ehe. Das Weib wäre nie im Traum auf diese geistreiche Erfindung verfallen!

Elfriede: Sie armer bedauernswürdiger Mensch! Haben Sie denn je ein väterliches Haus gekannt? Haben Sie eine Mutter gehabt, die Sie pflegte, wenn Sie krank waren, die Ihnen während Ihrer Genesung Märchen vorlas, der Sie sich anvertrauen konnten, wenn Ihnen irgend etwas das Herz bedrückte, und die Ihnen immer, immer, immer geholfen hat, auch wenn Sie längst glaubten, daß es auf Gottes Welt gar keine Hilfe mehr für Sie gäbe?

Casti Piani: Was ich als Kind erlebt habe, das erlebt kein menschliches Geschöpf, ohne daß seine Tatkraft bis zum Grabe gebrochen ist. Können Sie sich in einen jungen Menschen hineindenken, der mit sechzehn Jahren noch geprügelt wird, weil ihm der Logarithmus von Pi nicht in den Kopf will?! Und der mich prügelte, war mein Vater! Und ich prügelte wieder! Ich habe meinen Vater totgeprügelt! Er starb, nachdem ich ihn zum erstenmal geprügelt hatte. – Aber das sind Kleinigkeiten. Sie sehen, unter welchen Kreaturen ich hier lebe. Ich habe unter diesen Kreaturen nie die Beschimpfungen mehr gehört, die während meiner ganzen Kindheit meiner Mutter zuteil wurden und um die sie sich täglich mit neuen Unwürdigkeiten bewarb. Aber das sind Kleinigkeiten. Die Ohrfeigen, Faustschläge und Fußtritte, in denen Vater, Mutter und ein Dutzend Lehrer zur Entwürdigung meines wehrlosen Körpers wetteiferten, waren Kleinigkeiten im Vergleich mit den Ohrfeigen, Faustschlägen und Fußtritten, in denen die Schicksale dieses Lebens miteinander wetteiferten, um meine wehrlose Seele zu entwürdigen.

Elfriede (küßt ihn): Wenn du ahnen könntest, wie innig ich dich um dieser furchtbaren Erlebnisse willen liebe!

Casti Piani: Das menschliche Leben ist zehnfacher Tod vor dem Tode! Nicht nur für mich. Für Sie! Für alles, was Atem holt! Für den einfachen Menschen besteht das Leben aus Schmerzen, Leiden und Qualen, die sein Körper erduldet. Und ringt sich der Mensch zu höherem Sein empor, in der Hoffnung, den Qualen des Körpers zu entrinnen, dann besteht das Leben für ihn aus Schmerzen, Leiden und Qualen, die seine Seele erduldet, und gegen die die Qualen des Körpers Wohltaten waren. Wie grauenvoll dieses Leben ist, das zeigt sich schon darin, daß sich die Menschen ein Wesen ausdenken mußten, das aus nichts als Güte, aus nichts als Liebe, aus nichts als Wohltat besteht, und daß die ganze Menschheit, nur um das Leben ertragen zu können, täglich, stündlich zu diesem Wesen beten muß!

Elfriede (ihn liebkosend): Wenn du mich heiratest, dann haben körperliche Qualen und Seelenqualen ein Ende! Du brauchst dich mit all diesen entsetzlichen Fragen nicht mehr zu beschäftigen. Meine Mama hat ein Privatvermögen von sechzigtausend Mark, von dem trotz ihrer fünfundzwanzigjährigen, glücklichen Ehe Papa sich bis heute noch gar nichts träumen läßt. Lockt dich die Aussicht nicht, daß du, wenn du mich heiratest, plötzlich sechzigtausend Mark bar zur Verfügung hast?

Casti Piani (sie zurückdrängend, nervös): Sie verstehen sich nicht auf Liebkosungen, mein Fräulein! Sie benehmen sich wie der Esel, der den Schoßhund spielen will. Ihre Hände tun mir weh! Das kommt nicht etwa daher, daß sie nichts gelernt haben. Das kommt, weil sie dem geknechteten Liebesleben der bürgerlichen Gesellschaft entstammen! Sie haben keine Rasse im Leib. Es fehlt das nötige Zartgefühl! Das Zartgefühl und das Schamgefühl! Es fehlt Ihnen das Gefühl für die Wirkung Ihrer Liebkosungen; ein Gefühl, das jedes Rassegeschöpf schon als kleines Kind mit auf die Welt bringt!

Elfriede (empört aufspringend): Und das wagen Sie mir in diesem Hause zu sagen?!

Casti Piani (hat sich gleichfalls erhoben): Das wage ich Ihnen in diesem Hause zu sagen!

Elfriede: In diesem Hause?! Daß es mir an dem nötigen Zartgefühl, an dem nötigen Schamgefühl fehlt?!

Casti Piani: Daß es Ihnen an dem nötigen Zartgefühl und Schamgefühl fehlt! In diesem verrufenen Hause sage ich Ihnen das! – Überzeugen Sie sich doch einmal davon, mit welch feinem Takt diese Geschöpfe ihrem verrufenen Handwerk obliegen! Das letzte Mädchen in diesem Haus kennt die menschliche Seele genauer als der berühmteste Psychologieprofessor an der berühmtesten Universität. Sie, mein Fräulein, würden hier allerdings die gleichen Enttäuschungen erfahren, die Ihnen Ihre Vergangenheit bereitet hat. Die Frau, die für den Liebesmarkt geschaffen ist, erkenne ich auf den ersten Blick daran, daß ihre freien, regelmäßigen Gesichtszüge unschuldige Glückseligkeit und glückselige Unschuld ausstrahlen. (Elfriede musternd): In Ihren Gesichtszügen, mein verehrtes Fräulein, ist weder irgend etwas von Glückseligkeit noch irgend etwas von Unschuld zu lesen.

Elfriede (zögernd): Glauben Sie denn nicht, Herr Baron, daß ich bei meinem eisernen Fleiß, bei meiner Energie, bei meiner unüberwindlichen Begeisterung für alles Schöne das Zartgefühl und den feinen Takt, von dem Sie sprechen, noch lernen könnte?

Casti Piani: Nein, nein, mein Fräulein! Bitte nein! Schlagen Sie sich diese Gedanken nur gleich aus dem Kopf!

Elfriede: Ich bin von der sittlichen Bedeutung alles dessen, was Sie sagen, so tief überzeugt, daß mir das größte Opfer, durch das ich meine kleinbürgerliche Hilflosigkeit überwinden könnte, nicht zu groß wäre!

Casti Piani: Nein, nein, dafür bin ich nicht zu haben! Das würde grauenvoll! Das Leben ist grauenvoll genug! Nein, mein Fräulein! Lassen Sie Ihre fürchterliche Hand von dem einzigen göttlichen Lichtstrahl, der die schauerliche Nacht unseres martervollen Erdendaseins durchdringt! Wofür lebe ich denn! Wofür betätige ich mich in unserer Zivilisation! Nein, nein! Die einzige reine Himmelsblume in dem von Schweiß und Blut besudelten Dornendickicht des Lebens soll nicht von plumpen Fußtritten zerstampft werden! Glauben Sie mir bitte, daß ich mir schon vor einem halben Jahrhundert eine Kugel durch den Kopf gejagt hätte, wenn nicht über dem zum Himmel emporgellenden Jammergeheul aus Geburtswehen, Daseinsschmerzen und Todesqualen dieser eine klare Stern leuchtete!

Elfriede: Die äußerste geistige Anstrengung ermöglicht mir nicht, den Sinn Ihrer Worte zu erraten! Was ist der Lichtstrahl, der die Nacht unseres Daseins durchdringt? Was ist die einzige reine Himmelsblume, die nicht zu Schmutz zerstampft werden soll?

Casti Piani (Elfriede bei der Hand nehmend, geheimnisvoll flüsternd): Das ist der Sinnengenuß, mein gnädiges Fräulein! Der sonnige, lachende Sinnengenuß! Der Sinnengenuß ist der Lichtstrahl, die Himmelsblume, weil er das einzige ungetrübte Glück, die einzige reine, lautere Freude ist, die das Erdendasein uns bietet. Glauben Sie mir, daß mich seit einem halben Jahrhundert nichts mehr in dieser Welt zurückhält, als die selbstlose Anbetung dieses einzigen aus voller Kehle auflachenden Glückes, das im Sinnengenuß den Menschen für alle Qualen des Daseins entschädigt!

Elfriede: Ich glaube, da kommt jemand.

Casti Piani: Das wird Lisiska sein!

Elfriede: Lisiska? – Wer ist denn Lisiska?

Casti Piani: Das ist das Mädchen, das bei Ihnen zu Hause die Bücher über die internationale Bekämpfung des Mädchenhandels studiert hat! Jetzt können Sie sich gleich davon überzeugen, ob ich den Mund zu voll genommen habe! Wir sind hier gottlob für solche Gelegenheiten eingerichtet. (Er führt sie ins rechte Proszenium.) Nehmen Sie nur hinter dieser Efeuwand Platz! Von hier aus können auch Sie einmal das lautere, ungetrübte Glück zweier Kreaturen beobachten, die der Sinnengenuß zusammenführt!


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