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VI. Parlamentarisierung und Föderalismus

Es wurde seinerzeit vorgeschlagen, die Wahlrechtsfrage der Einzelstaaten von Reichs wegen insofern zu regeln, daß jedem, der im Felde gestanden hat, in jedem Bundesstaat mit Klassenwahlrecht das Wahlrecht bester Klasse oder Art zustehen sollte. Das schonte, weil es formal nur eine zeitweilige Änderung der Reichsverfassung bedeutete, das föderalistische Prinzip und ließ sich so formulieren, daß nötigenfalls jedes Anrufen des preußischen Landtags unnötig wurde. Widerstand gegen diese Lösung war zu gewärtigen.

Mit Erstaunen aber las man in einigen Berliner Blättern die Behauptung: die preußische Wahlrechtsfrage sei eine rein innerpolitische preußische Angelegenheit, mit der sich zu beschäftigen von seiten anderer Reichsangehöriger eine »Einmischung« oder gar der Versuch einer »Mediatisierung« Preußens sei. Es soll hier ganz davon abgesehen werden, daß der deutsche Reichstag, der dies Gesetz zu beschließen hätte, ja in seiner überwiegenden Mehrheit aus preußischen Abgeordneten besteht, – nur freilich nicht aus Abgeordneten der preußischen Plutokratie. Um den Wert solcher Redewendungen zu beleuchten, genügt es aber, sich die Stellung des preußischen Landtages im Deutschen Reiche klarzumachen. Sie versteckt sich freilich hinter einem dichten Schleier staatsrechtlicher Formeln. Bekanntlich übt der Kaiser und König von Preußen die ihm im Reich zustehenden Rechte teils als Kaiser unter Verantwortung des Reichskanzlers aus, teils als König von Preußen durch Instruktion der preußischen Bevollmächtigten zum Bundesrat unter Verantwortung des preußischen Ministeriums. Der Reichskanzler ist formell nur dem Reichstag, die preußischen Minister sind formell nur dem preußischen Landtag verantwortlich. Soweit scheint alles in Ordnung und stimmt mit der Rechtslage der anderen Bundesstaaten überein. Und da Preußen über kaum halb so viel Stimmen im Bundesrat verfügt, wie nach seiner Größe ihm zukämen, scheint sogar eine außerordentliche Selbstbescheidung vorzuliegen. Erst bei näherem Zusehen zeigt sich, daß der preußische Landtag und gewisse rein preußische Behörden gegenüber allen anderen einzelstaatlichen Parlamenten und Behörden eine prinzipiell völlig abweichende privilegierte Sonderstellung einnehmen.

Preußen genießt, abgesehen von dem ihm zustehenden »Präsidium des Bundes«, eine Sonderstellung zunächst kraft der Verfassungsvorschrift (R.V. Art. 5 Abs. 2, Art. 37), daß seine Stimmen im Bundesrat ganz allein genügen, um jede Änderung der Gesetzgebung nicht nur über Militärwesen und Marine, sondern über alle Zölle und die Verbrauchssteuern des Art. 35, also auch über die Handelspolitik und alle dahingehörigen Verwaltungsmaßnahmen des Reichs zu verhindern. Auch dann zu verhindern, wenn alle anderen Bundesregierungen und der gesamte Reichstag einmütig für Abänderung eintreten sollten. Bezüglich der Finanzen bestand dies Privileg Preußens im Norddeutschen Bunde nicht, sondern ist eine Neuerung zuerst des mit Baden geschlossenen Versailler Vertrags. Für die Instruktion der mit solchen privilegierten Machtbefugnissen ausgestatteten Bundesratsstimmen ist die preußische Regierung formell lediglich dem preußischen Landtag verantwortlich. Wie der bekannte Steuerantrag der preußischen Konservativen zeigt, trägt der preußische Landtag auch keinerlei Bedenken, von seinen Machtbefugnissen Gebrauch zu machen.

Preußen hat ferner das Recht des Stichentscheids. Der Bundesrat zählt 61 Stimmen. Die Stimmen von Elsaß-Lothringen werden aber vom Statthalter instruiert, den der Kaiser und König von Preußen nach Ermessen ein- und absetzt. Einer der Zwergstaaten (Waldeck) wird aus finanziellen Gründen von Preußen jetzt schon verwaltet und vertreten. Alle drei Königreiche, alle sechs Großherzogtümer, alle drei Hansestädte und das größte Herzogtum (Braunschweig) zusammen sind also nicht imstande, die Mehrheit zu erlangen, wenn Preußen außer Elsaß-Lothringens Stimmen nur noch den Rest der Zwergstaaten auf seiner Seite hat. Ginge der konservative Antrag durch: das Defizit des Reichs künftig durch Umlagen auf die Bundesstaaten zu bestreiten, so wären alle kleineren und manche mittleren Staaten genötigt, es künftig praktisch ebenso zu machen wie Waldeck. Überdies verfügt bekanntlich der preußische Eisenbahnminister über Machtmittel, diese Regierungen gefügig zu machen. Wenn es sich nicht um rein dynastische Fragen oder streng partikularistische Interessen handelt, also in allen positiven Fragen der Reichspolitik, hatte und hat Preußen denn auch immer die feste Mehrheit, da die Zwergstaaten eine Art von Stimmenträger Preußens waren und dies in Zukunft aus Finanzgründen erst recht sein werden. Nicht die Verantwortlichkeit vor dem deutschen Reichstag, sondern die vor dem preußischen Landtag bestimmt also nach der Verfassung durchweg die Haltung der im Bundesrat ausschlaggebenden Präsidialmacht und damit die Politik des Reichs.

Aber damit noch nicht genug. Bekanntlich haben wir verfassungsmäßig kein einheitliches Heer, sondern ein Kontingentsheer unter kaiserlichem Oberbefehl. Der König von Preußen hat aber in Abänderung dieses Zustands mit den Kontingentsherren der kleineren Bundesstaaten seinerzeit Militärkonventionen abgeschlossen, welche deren Militärhoheit meist fast ganz auf ihn übertrugen. Die mit Baden verwandelte z. B. das badische Heer in das Königlich Preußische XIV. Armeekorps. Ein preußischer Bezirkskommandeur sitzt in jeder größeren badischen Stadt, in Karlsruhe ein preußisches Generalkommando; eine preußische Intendantur, preußische Proviantämter, preußische Garnison-, Lazarett- und andere wirtschaftliche Verwaltungen verfügen über alle ökonomischen Anschaffungen, und die badischen Gewerbetreibenden und Handelskreise haben deren Macht im Kriege zu fühlen bekommen. Die badischen Landeskinder werden durch Offiziere in den Krieg geführt, die durch preußisches Patent auf Vorschlag des preußischen Militärkabinetts ernannt werden ohne jegliche Einmischung einer badischen Instanz und unter Ausschaltung auch des badischen Monarchen. Der preußische Kriegsminister ist Kriegsminister auch für Baden. Ähnlich in den anderen Bundesstaaten, außer einigen der größten.

Für die auf Grund dieser Konventionen getroffenen Verfügungen gibt es formell keinerlei parlamentarische Verantwortlichkeit, soweit nicht Etatsrechte berührt werden und also der Reichskanzler sie wenigstens mit kontrasigniert. Denn im übrigen zeichnet sie der Kriegsminister, und publiziert werden sie im preußischen Armeeverordnungsblatt. Der Kriegsminister ist aber weder dem Reichskanzler unterstellt noch (formell) dem Reichstag verantwortlich, da er preußischer Beamter ist. Aber in Preußen wiederum gibt es kein sachliches Objekt, für welches man ihn zur Verantwortung ziehen könnte, und auch kein Mittel, dies wirksam zu tun: denn nicht der preußische Landtag, sondern der Reichstag ist die Stätte der Beschlußfassung über das Militärbudget.

Auch mit diesem erstaunlichen Zustand sind aber die Privilegien Preußens nicht erschöpft. Der dem Reichstag verantwortliche Reichskanzler hat als solcher im Bundesrat nur die formale Leitung. Eine Stimme hat er dort nur in seiner Eigenschaft als (gemäß Art. 15 in Verbindung mit Art. 11) unvermeidlich preußischer Bevollmächtigter. Als solcher ist er aber formell streng an die Weisungen der preußischen Regierung gebunden und folglich dem Reichstag formell für diese seine Abstimmung nicht verantwortlich. Sondern das ist die preußische Regierung dem preußischen Landtag, der dadurch für jeden ernsthaft politischen Akt des Reichs ausschlaggebend wird, sobald er seine Macht gebrauchen will. Der Reichskanzler muß unvermeidlich zugleich preußischer Minister des Auswärtigen sein. Daß er auch preußischer Ministerpräsident sei, ist nicht unvermeidlich und nicht immer der Fall gewesen. Ist er es nicht, so ist er als bloßer preußischer Stimmenträger im Bundesrat politisch machtlos und dem preußischen Ministerium untergeordnet. Ist er es aber, so muß er auch als Reichskanzler auf die Haltung seiner preußischen Kollegen Rücksicht nehmen. Und vor allem: auf die Haltung des preußischen Landtags.

Dem Reichstag ist der Reichskanzler nur als »Reichsminister« verantwortlich für Entschließungen »des Kaisers« als solchen, mithin für dessen, kraft Verfassung oder besonderen Gesetzes getroffene, seiner Gegenzeichnung bedürftige Willensäußerungen. Prinzipiell ist für die Reichsgesetzgebung der Kaiser nur das Publikationsorgan des Bundesrats ohne eigenes Vetorecht. Zahlreiche Gesetze bestimmen aber, daß bestimmte Verfügungen »vom Kaiser mit Zustimmung des Bundesrats« zu treffen seien. In anderen Fällen erklären sie den Kaiser allein für die, unter Verantwortung des Reichskanzlers, maßgebende Stelle. Von hochpolitischen Angelegenheiten gehört nach der Verfassung des Reichs dahin die äußere Politik. Internationale Verträge, Kriegserklärungen und Friedensschlüsse können nur unter Mitwirkung eines auch dem Bundesrat gegenüber selbständigen Willensentschlusses des Kaisers zustandekommen (Art. 11). Von hochpolitischen Akten der inneren Politik bedarf eines solchen verfassungsmäßig die Auflösung des Reichstags (Art. 24). Und gerade für hochpolitische Entschlüsse tritt hier – ganz abgesehen von der für Kriegserklärungen und die meisten Verträge und für Reichstagsauflösungen notwendigen Zustimmung des Bundesrats, also wieder: Preußens – in fast allen Fällen der Umstand in Wirkung, daß das Reich keine vorberatende Institution von der Art des preußischen Kronrats besitzt. Denn der Bundesrat ist eine Abstimmungsmaschinerie, und wie sollte der »Rat« der Staatsmänner von Schwarzburg-Rudolstadt ins Gewicht fallen? Da die Art der Zusammensetzung des Kronrats eine preußische Angelegenheit ist, kann die nachträgliche Verantwortlichkeit des Reichskanzlers gegenüber dem Reichstag, zumal bei dem Mangel jeglicher gesetzlicher Handhabe, sie zur Geltung zu bringen, an diesem den Gang der Politik oft bestimmenden Einfluß einer rein preußischen Instanz nichts ändern. Eine kollegiale Erörterung der Chefs der Reichsämter ist nicht vorgesehen. Die Reichsämter stehen als selbständige Ressorts nebeneinander, und zwischen ihnen herrscht chronisch der Kampf der »Ressort«-Satrapen. Künftige Historiker werden vermutlich in den Archiven über jede Frage, die jetzt im Kriege auftauchte (Belgien, Polen), zahlreiche vorzügliche Denkschriften aller Reichsämter finden, jeder der anderen widersprechend. Diese Widersprüche sind nur zum Teil sachlich bedingt. Denn hinter ihnen verbirgt sich der persönliche Kampf der Verwaltungschefs. Kommt es aber politisch zum Klappen, so wird regelmäßig das alles Makulatur: für die Art, wie im November 1916 die Polenpolitik inauguriert wurde, war, wie öffentlich erklärt worden ist, die Heeresleitung maßgebend, für die Art des weiteren Verlaufes aber war zweifellos auch der Einfluß von Preußens Landtag und seiner Minister mitverantwortlich.

Es mag auf eine Verlängerung der Liste verzichtet werden. Von den weittragenden rein persönlichen Machtbefugnissen des Kaisers als solchen ist hier ganz abgesehen worden, obwohl natürlich die Art, wie mit Rücksicht auf den preußischen Landtag die preußische Regierung zusammengesetzt ist, auch auf diese Entschlüsse überall zurückwirkt. Wird nun der preußische Landtag nach einem anderen Wahlrecht zusammengesetzt als der Reichstag, so ist die Berliner Regierung genötigt, sich politisch ein doppeltes Konto einzurichten, im Reichstag z.+B. »Freie Bahn jedem Tüchtigen« als Parole zu proklamieren, im Landtag aber für die Nobilitierung der Kriegsgewinne eine Erleichterung der Fideikommißbildung vorzuschlagen. Das Odium dieser erzwungenen Doppelzüngigkeit aber trägt ohne allen Zweifel: die Krone. Die verhängnisvolle Halbheit zahlreicher Schritte der Reichsregierung entstammt zum sehr großen Teil der gleichen Quelle. Auch davon ganz abgesehen aber steht nach dem Gesagten jedenfalls fest:

1. daß rein preußische Behörden fortgesetzt in die Lebensfragen des Reichs nicht nur, sondern anderer Staaten und ihrer Angehörigen eingreifen. Ferner:

2. daß die preußische Regierung, welche formell dem preußischen Landtag allein verantwortlich ist, von ihrer faktischen Übermacht abgesehen, auch derart rechtlich privilegiert ist, daß die Stellung des preußischen Landtags zum Reich in der Stellung irgendeines anderen Landtags keinerlei Analogie und auch keinerlei politische Kompensation findet, soweit nicht einzelne Bundesstaaten, wie namentlich Bayern, sich rein negativ durch besondere »Reservatrechte« dagegen geschützt haben. Dem politischen Sachverhalt nach ist es also durchaus zutreffend, wenn man die in solcher Lage befindlichen Staaten, insbesondere Baden, als von Preußen und seinen Organen, vor allem auch seinem Landtag, mediatisierte Staaten bezeichnet. Wenn dieser Sachverhalt hier einmal unverhüllt festgestellt wird, so hat dies keinerlei »antipreußische« Spitze. Der Schreiber dieser Zeilen selbst hat die preußische Staatsangehörigkeit nicht aufgegeben. Den Versailler Vertrag und die Militärkonvention mit Preußen hat seinerzeit ein von mir hochverehrter badischer Staatsmann abgeschlossen. Die Unzuträglichkeiten, welche die letztere seinerzeit im Gefolge gehabt hat, mögen gern unerwähnt bleiben. Niemand wünscht sie rückgängig zu machen, denn sie ist sachlich zweckmäßig im Interesse der einheitlichen Wehrkraft des Reichs. Wir treiben sachliche und keine Eitelkeitspolitik. Aber: wenn jetzt von einer kleinen Klique von preußischen Wahlrechtsprivilegierten uns die Behauptung entgegengehalten wird: die Art des preußischen Wahlrechts »gehe uns nichts an«, so ist das angesichts jener Verhältnisse eine so dreiste Herausforderung, daß darauf in Fraktur geantwortet werden müßte. Die Hegemoniestellung Preußens im Reich wünscht niemand anzutasten. Aber wir verlangen, daß die in allen Fragen der Reichspolitik ausschlaggebende preußische Bundesratsstimme einem Parlament des preußischen Volkes verantwortlich ist und nicht irgendeiner privilegierten Kaste, wie immer sie zusammengesetzt sein möge, wenn wir jene Zustände fernerhin ertragen sollen. Vasallen preußischer privilegierter Kasten zu sein, lehnen wir auf das bestimmteste ab.

Wie sich der preußische Landtag für innerpreußische Angelegenheiten einrichtet, ist natürlich ganz und gar eine preußische Frage. Sie betrifft die Zusammensetzung des Herrenhauses. Die Frage aber nach der Art, wie diejenige Kammer, in deren Händen das Budgetrecht liegt und welche also die hochpolitischen Entschließungen Preußens bezüglich der Leitung des Reichs entscheidend beeinflußt, zusammengesetzt wird, ist – weil die materielle Macht Preußens weit über seine formelle Stellung hinausgeht und weil schon diese eine weitgehend privilegierte, für alle hohe Politik schlechthin ausschlaggebende ist – eine Lebensfrage des Reichs, die uns alle ebenso angeht, wie nur irgendeinen Wähler zum preußischen Landtag. Geht der jetzige Zustand: daß ein Pferd vor und eins hinter den Wagen gespannt wird und ein preußisches Privilegienparlament den Reichstag konterkariert und den Reichskanzler zu stürzen unternehmen kann, weiter, so hat in der öffentlichen Meinung unfehlbar die Krone die Kosten zu tragen. Das möge wohl bedacht werden.

Nun muß man sich natürlich klarmachen, daß das Problem der Beziehungen zwischen dem Reich und Preußen: die Notwendigkeit des Ausgleichs durch Kompromiß zwischen ihnen, dauernd und auch nach der erhofften Änderung des preußischen Wahlrechts, welche ja nur einen Gegensatz der inneren Struktur forträumt, weiterbesteht. Solange die heutige Gestaltung Deutschlands erhalten bleibt, kann der deutsche Bundesrat niemals so konstruiert werden wie etwa der Senat der Vereinigten Staaten, dessen Mitglieder gewählte Vertreter des Volks der Einzelstaaten sind und daher nach ihrer individuellen und Parteiüberzeugung abstimmen. Die Bevollmächtigten zum Bundesrat sind dagegen von den Regierungen der Einzelstaaten delegiert und erhalten von ihnen Instruktionen, an welche sie als an »imperative Mandate« gebunden sind. Dies würde so bleiben auch dann, wenn die Regierungen, welche jene Instruktionen erteilen, noch so vollständig parlamentarisiert und durch demokratisierte Parlamente noch so wirksam kontrolliert würden. Es entstände also dann das Problem, wie sich die Parlamentarisierung der Einzelstaaten, vor allem aber: Preußens, zu der Parlamentarisierung der Reichsregierung verhalten würde. Zu seinem Verständnis ist zunächst das im vorstehenden gegebene Bild der Beziehung Preußens zum Reich noch etwas zu ergänzen. Denn das bisher dargestellte formale Recht erschöpft nicht den politischen Sachverhalt.

Wenn die Reichspolitik in sehr viel weitergehendem Umfang, als die Verfassung erkennen läßt, durch Preußen bestimmt wird, so umgekehrt auch die Haltung der preußischen Regierung durch die Verhältnisse im Reich. In Preußen war dank der Wahlrechtsplutokratie seit Jahrzehnten die konservative Partei allmächtig. Daß ein Verwaltungsbeamter andere politische Anschauungen habe als solche, welche der konservativen Partei zum mindesten unschädlich erschienen, war völlig ausgeschlossen. Die Masse aller Beamten aber mußte schlechterdings konservativ sein, weil diese sich sonst schon rein gesellschaftlich nicht behaupten konnten. Ebenso die Minister, einige farblose »Konzessionsliberale« abgerechnet, welche beim Eintritt in das Ministerium ihre Vergangenheit schleunigst zu verleugnen trachten mußten. In Preußen herrschte also – was die Literatenphrase gern verhüllt – eine so ausgeprägte Parteiherrschaft wie nur in irgendeinem parlamentarischen Lande der Erde. Wo immer die materiellen oder die sozialen Machtinteressen der hinter der herrschenden Partei stehenden Kreise im Spiel waren, blieb auch die Krone stets gänzlich machtlos und außerstande, ihre entgegenstehenden Wünsche durchzusetzen. Lächerlicherweise wird als Beweis gegen den plutokratischen Charakter des preußischen Staates gern die Miquelsche Einkommensteuer angeführt. Allein sie war in ihrer Entstehung nur ein klassischer Ausdruck der Übermacht der Großgrundbesitzer innerhalb dieser Plutokratie. Denn ihre Einführung wurde erkauft durch Preisgabe einer den Grundbesitz belastenden, dabei aber sicheren und wichtigen staatlichen Steuer: der Grundsteuer, in der Form der sogenannten »Überweisung«. Die Einführung der Einkommensteuer bedeutete eine gewaltige relative Steuerentlastung des hypothekenbelasteten Grundbesitzes und eine Mehrbelastung des beweglichen Vermögens. Und sie hatte für die ländlichen Interessenten vollends nichts Bedrohliches unter Verhältnissen, bei denen die Einschätzung der Großgrundbesitzer in den Händen von Instanzen lag, welche politisch und gesellschaftlich gänzlich von ihnen abhingen. Es war Miquels großes Geschick, diese agrarischen Interessen als Vorspann einer technisch ausgezeichneten Steuer benutzt zu haben. Alle Reformen, bei welchen solche Trinkgelder an die Interessenten der herrschenden Partei nicht heraussprangen, sind gescheitert.

Die Angst der bürgerlichen Plutokratie vor der »Demokratie«, die sie im Reichswahlrecht und Reichstag verkörpert sahen, stützte diese Parteiinteressen in Preußen. Freilich besteht auch im Reichstag, wenn man den größeren Teil des Zentrums und den rechten Flügel der Nationalliberalen der Rechten zuzählt, eine Mehrheit gegen die Linke. Immerhin ist sie nicht parteikonservativ, und die Mehrheitsbildung nach links ist in zahlreichen wichtigen Fragen praktisch geworden. Hätte aber die preußische Landtagsmehrheit die Entschließungen der Präsidialstimme im Bundesrat und des Reichskanzlers, der ja stets zugleich preußischer Minister, meist Ministerpräsident ist, in der Leitung der Reichspolitik eindeutig bestimmt – und der Wortlaut der Reichsverfassung schlösse das nicht aus –, so wäre das Reich rein parteikonservativ regiert worden. Allein das kann die Landtagsmehrheit nicht unternehmen, weil sie auf einem plutokratischen Wahlrecht ruht. Dieser Umstand, der sie gegenüber dem demokratisch gewählten Reichstag schwächte, gab diesem ein Übergewicht in den Fragen der Reichspolitik und machte die »Verantwortlichkeit« gegenüber dem Reichstag zu einer wenigstens begrenzt effektiven.

Das Budgetrecht des Reichstags zwingt den Reichskanzler, sich nicht nur als Reichsminister, sondern auch als Träger der Präsidialstimme und Vertreter des Hegemoniestaats für die von daher beeinflußte Leitung der Reichspolitik vor dem Reichstag zu verantworten, das heißt praktisch: ihm Rede zu stehen. Das gleiche gilt für die Kriegsminister, ebenfalls: weil das Militärbudget Reichsangelegenheit ist. Vor allem für den preußischen Kriegsminister, der tatsächlich wie ein Organ des Reichs im Reichstag auftritt. Andere Machtmittel als das Budgetrecht besitzt der Reichstag freilich nicht, um seiner Stellungnahme Nachdruck zu verleihen. Und die direkte Ausnutzung dieses Rechts zum Zweck der Beseitigung eines parteigegnerischen Kanzlers oder Kriegsministers ist seit der preußischen Konfliktszeit in Deutschland (außerhalb Bayerns) nicht üblich gewesen und würde, zumal bei den Literaten, »patriotische« Entrüstung erregen. Immerhin genügt die Möglichkeit, die politische Arbeit eines ausgesprochen parteigegnerischen politischen Leiters zu obstruieren, um es unmöglich zu machen, daß ein Reichskanzler oder Kriegsminister sich bei ausgesprochener Gegnerschaft einer in dieser Gesinnung verharrenden, durch Neuwahlen nicht zu beseitigenden Reichstagsmehrheit dauernd im Amt behaupten könnte. Ein Zusammenarbeiten des Reichstags mit dem Reichskanzler als Träger der Präsidialstimme wäre aber überhaupt unmöglich, wenn tatsächlich die konservative Parteiherrschaft in Preußen mit der für innerpreußische Verhältnisse üblichen Rücksichtslosigkeit auch auf die Führung der Reichspolitik erstreckt würde. Und selbst eine allzu unbedingte und offene Identifikation eines als Reichskanzler fungierenden preußischen Ministerpräsidenten mit der konservativen Partei in seiner preußischen Politik wäre aus diesem Grunde nur schwer durchführbar. Rücksichtnahme auf die Zusammensetzung des Reichstags ist daher in der preußischen Führung der Reichspolitik und unter Umständen sogar in der Art der Führung der preußischen Politik immer unumgänglich gewesen.

Eine gewisse Selbständigkeit der Reichspolitik gegenüber Preußen ist ferner schon dadurch gegeben, daß das Reich über einen selbständigen Beamtenapparat verfügt. Die Reichsämter rekrutieren sich nicht einfach durch Übernahme preußischer Beamter. Die eigentümliche Schwäche der Reichsbürokratie beruht allerdings darauf, daß die Mehrzahl der Zentralinstanzen des Reichs, vor allem die bisher politisch wichtigste: das Reichsamt des Innern, nicht einem bis zum Boden hinabreichenden eigenen, mit Zwangsgewalt versehenen Beamtentum übergeordnet ist, wie jedes Ministerium des Innern in einem Einzelstaat. Gegen Preußen fand die Reichsbürokratie einen Rückhalt ihrer Selbständigkeit im Reichstag. Parteimäßig machte sich infolgedessen die andere Zusammensetzung des Reichstags gegenüber dem preußischen Landtag bei ihr geltend: die Bedeutung der Zentrumspatronage für ihre Zusammensetzung war nicht unbeträchtlich. Auf das ganze Problem dieses Verwaltungsapparates des Reichs soll indessen hier nicht eingegangen werden, sondern lediglich: auf die Art von dessen Willensbildung bei Gesetzen und allgemeinen Verwaltungsanordnungen, für welche der Bundesrat zuständig ist.

Die Regel ist, daß die Vorlagen für den Bundesrat in den Reichsämtern ausgearbeitet werden. Dann werden die Stimmen Preußens durch Verhandlungen mit den preußischen Ministerien dafür geworben. Nach der nicht immer leichten Herstellung eines Einvernehmens durch Kompromiß oder Anpassung an die preußischen Wünsche pflegt über den fertiggestellten Entwurf noch eine Erörterung mit Bayern gepflogen zu werden. Alle übrigen Bundesstaaten werden in der Regel vor die vollendete Tatsache der Vorlage im Bundesrat gestellt. Um nun die Stimmen Preußens leichter gewinnen zu können, wurden bisher einige der wichtigsten Staatssekretäre des Reichs regelmäßig zugleich zu preußischen Ministern ohne Portefeuille ernannt. Dies konnte bei hochpolitisch wichtigen und daher der Abstimmung des preußischen Staatsministeriums unterbreiteten Entschließungen auch die innerpolitischen Verhältnisse Preußens beeinflussen. So ist nach bisher meines Wissens nicht bestrittenen Pressenachrichten die Annahme jener königlichen Kabinettsorder, welche das gleiche Wahlrecht versprach, nur mit einer Stimme Mehrheit und nur dadurch zustande gekommen, daß außer dem Reichskanzler zwei Staatssekretäre des Reichs als nebenamtliche preußische Minister dafür stimmten. – Alle Staatssekretäre sind andererseits, nach bisher fester Regel, preußische Bevollmächtigte zum Bundesrat. Das gleiche gilt aber auch für die preußischen Staatsminister, mit Einschluß vor allem des politisch wie ein Reichsorgan, rechtlich aber als preußischer Beamter fungierenden Kriegsministers, der ohne diese Bevollmächtigung zum Bundesrat überhaupt nicht in der Lage wäre, sein Ressort im Reichstag aus eigenem Recht als Verwaltungschef zu vertreten. Bei seiner Verantwortung vor dem Reichstag geht natürlich der Kriegminister, ganz ebenso wie der Reichskanzler, stets nur so weit, als es die politische Lage ihm unumgänglich aufnötigt. Als ein Mittel, sich weitgehende Kontrollfreiheit zu sichern, steht ihm dabei der in seiner Tragweite unbestimmte Begriff der kaiserlichen »Kommandogewalt «, als einer vom Parlament unantastbaren Prärogative, zur Verfügung, hinter welchem alles gedeckt wird, was der Kontrolle durch das Parlament entzogen werden soll. –

Das Resultat von alledem ist: die innere Politik Preußens bleibt vom Reich her unbeeinflußt, soweit nicht hochpolitische Rücksichten in Ausnahmefällen einmal eine Einflußnahme erzwingen. In der Reichshegemoniepolitik Preußens findet eine gegenseitige Beeinflussung der vom Reichstag her beeinflußten bürokratischen Leitung des Reichs und der vom Landtag her beeinflußten Regierung Preußens sowohl in personaler wie in sachlicher Hinsicht statt. Je nachdem dabei mehr die unter dem Druck des Reichstags stehenden Instanzen der Reichsleitung oder mehr die unter dem Druck des preußischen Landtags stehende Leitung Preußens den Ausschlag gibt, ist der Hegemoniestaat in seiner reichspolitischen Haltung von den Reichsorganen her bestimmt oder ist umgekehrt das Reich »großpreußisch« geleitet. Die innere Struktur des Reichs und seiner Einzelstaaten aber sorgt dafür, daß im allgemeinen diese letztere Richtung: der großpreußische Charakter der Reichsleitung, überwiegt. Welche Interessen sind es, die dahin drängen?

Die Einzelstaaten sind, außer den Hansestädten, Monarchien mit einer an Bedeutung und Schulung stetig wachsenden Bürokratie. Vor der Gründung des Reichs hatten viele von ihnen den Weg zu einer parlamentarischen Regierung und Verwaltung ziemlich weitgehend zurückgelegt. Mit durchaus befriedigendem Erfolg. Jedenfalls ist es angesichts der damaligen Verhältnisse höchst lächerlich, wenn die Literaten behaupten: dies Regierungssystem sei für Deutschland fremder Import und habe sich bei uns noch »nicht bewährt«. – Die Reichsgründung änderte das. Für die Höfe sowohl wie für die einzelstaatlichen Bürokratien lag der Gedanke nahe: im Reich vor allem eine Versicherungsanstalt für die eigene Stellung zu sehen, die Throne als durch das Reich garantierte Pfründen und das Verhältnis zu Preußen als den Rückhalt kontrollfreier Beamtenherrschaft auch in den übrigen Einzelstaaten zu behandeln. So sehr Bismarck gelegentlich den Reichstag als Druckmittel gegen widerspenstige Einzelregierungen in der Hinterhand hielt, so sehr nutzte er andererseits jene Tendenz der einzelstaatlichen Höfe und Beamtenkörper aus, um als deren Schutzherr zu erscheinen. Die Nachwirkungen dieser Tradition reichen bis heute. Denn eine dynastisch-bürokratische Pfründenversicherung, praktisch sich äußernd in einer Garantie weitgehender Kontrollfreiheit der Bürokratie, war und ist das, was hinter dem Schlagwort vom »Schutz des Föderalismus« in Deutschland stand und steht. Kontrollfreiheit auch und vor allem: innerhalb der einzelstaatlichen Verwaltung. Sehr bald nach Gründung des Reichs ging die Bürokratie der Einzelstaaten zur möglichsten Eliminierung der Kontrolle der einzelstaatlichen Parlamente zugunsten eines kontrollfreien Regiments »kraft landesherrlicher Prärogative« über, wie man sich aus ihrer innerpolitschen Entwicklung seit den siebziger Jahren leicht überzeugen kann. Mit dem Erfolg: daß die Bedeutung und damit das geistige Niveau der einzelstaatlichen Parlamente meist ähnlich sank wie beim Reichstag. Aus jener Gegenseitigkeitsversicherung aber erklärt sich das Verhalten der einzelstaatlichen Bürokratie gegenüber den Verhältnissen in Preußen und umgekehrt Preußens zu denen in den Einzelstaaten. In den Einzelstaaten begann in den letzten zwanzig Jahren eine allmähliche Demokratisierung der Wahlrechte. Aber die kontrollfreie Stellung der Bürokratie blieb dabei unangetastet. Sie fand ihren inneren Rückhalt an den politischen Verhältnissen in Preußen und an Preußens Einfluß im Reich. Vor allem das preußische Dreiklassenwahlrecht konnte die einzelstaatliche Bürokratie nur mit der größten Besorgnis verschwinden sehen. Denn es schien doch gut, daß dort in Berlin für vorkommende Fälle einer Bedrohung der eigenen Kontrollfreiheit durch die einzelstaatlichen Parlamente ein großer konservativer Knittel bereitstand und dafür sorgte, daß der Machtstellung der Bürokratie als solcher nichts Ernstliches widerfahren konnte. Die preußische parteikonservative Bürokratie und mit ihr die preußischen Wahlprivilegsinteressenten andererseits ließen die einzelstaatlichen Bürokratien getrost etwas »Demokratie spielen«, unter der Bedingung, daß nicht nur kein Versuch zugelassen würde, vom Reich her die unglaubliche innerpolitische Struktur Preußens anzutasten, sondern daß die einzelstaatliche Bürokratie, mit Ausnahme allenfalls der bayrischen Regierung, auch auf jegliche effektive Teilnahme an der Macht im Reich verzichtete, das Reich also im wesentlichen großpreußisch regieren ließ. Die ganze Art des Betriebs der Bundesratsgeschäfte wurde dadurch bestimmt, und dies stillschweigende Kompromiß muß man sich stets gegenwärtig halten, um zu verstehen, was »Föderalismus« bisher bedeutete und welche Interessen dahinter standen.

Der Bundesrat, die gemeinsame Vertretung der Höfe und Ministerien, führte infolgedessen im ganzen ein behagliches und einträchtiges Stilleben. Der Charakter seiner Beratungen entzieht sich bei der Geheimhaltung der Protokolle der Kritik. Da verfassungsmäßig die imperativen Instruktionen allein maßgeblich waren, mußte die persönliche Stellungnahme der Mitglieder stets unmaßgeblich und unter Vorbehalt der Ansicht der eigenen Regierung, also gewichtlos, bleiben. Eine Stätte für die Wirksamkeit von Staatsmännern oder für deren Schulung war daher der Bundesrat nie (sehr im Gegensatz zum Frankfurter Bundestag!). Gewiß kam es vor, daß Regierungen ihren Bevollmächtigten die Abstimmung bei einer Frage freigaben. So manche von ihnen gelegentlich des Lippeschen Erbfolgestreits, schon um das Odium der peinlichen Stellungnahme von sich abzuwälzen. In eigentlich politischen Fragen hielt Preußen seine durch die Stimmen der Zwergstaaten garantierte Suprematie unbeugsam fest. In anderen wichtigen Dingen war die Abstimmung, so sehr ihre Möglichkeit von Bismarck als ultima ratio gegen die Regierungen ausgenutzt wurde, doch wesentlich formal: Verhandlung und Kompromiß mit den Höfen und Ministerien, vor allem Bayerns, hatten die Lage vorher geklärt. Auf diese diplomatischen, kabinettspolitischen Mittel hatte Bismarck, wie im wesentlichen die äußere, so auch die innere Politik abgestellt. Im Prinzip blieb dies nachher so, mochte auch die Methode, nicht immer sehr zum Vergnügen der Einzelstaaten, sich ändern. Machte der Bundesrat dennoch einmal unerwartete Seitensprünge, so wußte Bismarck ihn zur Unterwerfung zu bringen. Das Mittel des Demissionsgesuchs (bei einem formell unerheblichen Anlaß) wirkte bei ihm zuverlässig: der Bundesrat nahm seinen Beschluß zurück. Aber er ist gelegentlich auch über Beschlüsse des Bundesrats stillschweigend zur Tagesordnung übergegangen, ohne daß aus dessen Mitte gewagt worden wäre, an die Reichsverfassung zu appellieren. Nach ihm ist von ernsthaften Konflikten nichts bekanntgeworden. Vorhandene Schwierigkeiten äußerten sich naturgemäß mehr in Stillstand und Stagnation der betreffenden Probleme als in offenen Gegensätzen.

Man muß sich nun klarmachen, daß dieses Stilleben in Zukunft zu Ende geht. Ganz ebenso, wie Monarchenzusammenkünfte und kabinettspolitische Mittel, wie sie Bismarck namentlich in Petersburg und Wien benutzen konnte, an Bedeutung zurückgetreten sind, so wird es auch innerpolitisch gehen. Schon bei den finanz- und wirtschaftspolitischen Fragen, die uns im Frieden bevorstehen, hört die Gemütlichkeit des alten Regimes auf. Alle Einzellandtage, an der Spitze der preußische, werden künftig ihr formelles Recht der Beeinflussung der Bundesratsabstimmung und der Hinwirkung auf Ausübung des Rechts, im Bundesrat Anträge zu stellen, zunehmend geltend machen. Dem badischen Landtag liegt ein entsprechender Antrag vor. Der preußische Landtag könnte so, vermöge der ökonomisch bedingten und künftig sich verstärkenden Herrschaft Preußens über die norddeutschen Zwergstaaten, Initiative und Herrschaft in der Reichspolitik an sich reißen. Denn die bisherige Zurückhaltung war eben ein Produkt seiner Schwäche, die aus dem Klassenwahlrecht gegenüber dem demokratisch gewählten Reichstag folgte. Sie wird mit der Demokratisierung des preußischen Wahlrechts vermutlich fortfallen, und das Schwergewicht Preußens wird sich dann wesentlich verschärft geltend machen. Gewiß wird sich die Bürokratie aller [Einzel-]Staaten gegenüber dieser wie gegenüber jeder anderen Konsequenz der Parlamentarisierung solidarisch fühlen. Und gewiß ist die vereinigte Bürokratie des Reichs, Preußens und der Einzelstaaten eine Macht, welche, mit den Höfen hinter sich, die Entwicklung zur Parlamentarisierung obstruieren kann. Aber man sei sich klar: dann ist der Weg zu einer friedlichen innerpolitischen Entwicklung sowohl wie zu einer die äußere Machtstellung des Reichs stützenden politischen Mitarbeit und Erziehung der Nation verrammelt. Wer das nicht will, muß die Frage von vornherein so stellen: wie ist die Parlamentarisierung Deutschlands mit gesundem, das heißt: aktivem, Föderalismus zu vereinigen?

Das Prinzip scheint klar: 1. Der Strom der Parlamentarisierung muß vor allem in die Kanäle des Reichs geleitet werden. – 2. Der legitime Einfluß der außerpreußischen Bundesstaaten auf die Reichspolitik muß gestärkt werden. Wie soll das geschehen? Wir stoßen da wieder auf die schon früher besprochene mechanische Schranke des Art. 9 letzter Satz der Reichsverfassung, welcher formell dem ersten, tatsächlich aber, wie sich zeigen wird, meist dem zweiten dieser Postulate im Wege steht. Praktisch bedeutet diese Bestimmung folgendes: die einzelstaatlichen Bundesratsbevollmächtigten, einschließlich des Reichskanzlers und der Staatssekretäre, können Mitglieder einzelstaatlicher Parlamente, insbesondere des preußischen Landtags sein. Der Reichskanzler ferner muß, die Staatssekretäre sollen nach fester Regel preußische Bundesratsbevollmächtigte sein, sind also in jedem Fall vom preußischen Landtag beeinflußt. Dagegen ist es den Regierungen verboten, ein Reichstagsmitglied, welches sein Mandat beibehält, zum Reichskanzler oder zum Bundesratsbevollmächtigten zu ernennen: also sind dadurch der Reichskanzler und die dem Bundesrat angehörigen Staatssekretäre vom Reichstag ausgeschlossen.

Vorbedingung, zwar nicht der Parlamentarisierung, wohl aber einer gesunden Parlamentarisierung im Reich ist der Fortfall dieser Bestimmung. Entweder könnte man sie – und das wäre an sich das Zweckmäßigste – nur für den Reichskanzler und die Staatssekretäre (oder wenigstens für die politisch wichtigsten Staatssekretäre, vor allem die des Inneren und des Reichsschatzamts) außer Kraft setzen. Dadurch würde ermöglicht, daß Parteiführer als solche die verantwortliche Leitung der Reichspolitik auf sich nehmen und zugleich worauf es hier ankommt – ihre Partei im Reichstag mit der Verantwortlichkeit belasteten. Denn innerhalb der Parteien würden sie ja Stellung und Einfluß behalten. Nur auf diesem Wege kann offenbar der lediglich »negativen« Politik der Parteien im Reichstag ein Ende gemacht werden. Oder man hebt, um der »Parität« der Bundesstaaten willen, die Vorschrift ganz und gar auf, so daß nicht nur preußische Bevollmächtigte, sondern auch solche anderer Bundesstaaten dem Reichstag entnommen werden und in ihm verbleiben dürfen. Dies ist der Vorschlag, welchen der Verfassungsausschuß des Reichstags angenommen hat. Er ist Gegenstand lebhafter Angriffe gewesen.

Überhaupt nicht ernst zu nehmen ist von diesen das von konservativer Seite erhobene formale Bedenken: Reichstagsmitglieder, die zugleich Bundesratsbevollmächtigte seien, kämen, da sie im Reichstag nach eigener Überzeugung, im Bundesrat aber nach Instruktionen abstimmen müßten, in »Gewissenskonflikte«. Für die Landräte im preußischen Abgeordnetenhaus, welche nach dem Puttkamerschen Erlaß, 1882. als Beamte »die Politik der Regierung zu vertreten« haben, könnte dies Argument allenfalls zutreffen. Man spürt jedoch bei ihnen wenig von solchen »Gewissenskonflikten«, und die konservative Partei jedenfalls hat sich durch deren Möglichkeit nicht stören lassen. Aber vor allem: preußische Minister und Staatssekretäre des Reichs, welche Bundesratsbevollmächtigte Preußens waren, haben wiederholt im preußischen Abgeordnetenhause gesessen und können dies auch heute tun. Als Abgeordnete aber haben sie das Recht nicht nur, sondern auch die Pflicht, »nach eigener Überzeugung« die Instruktionen zu kritisieren, welche ihnen, als Bundesratsbevollmächtigten, ihre eigene Regierung gab. Auch diese »Gewissenskonflikte« hat die konservative Partei nicht tragisch genommen. Allein dieser naive moralistische Begriff dient überhaupt nur zur Irreführung der Spießbürger. Denn in Wahrheit steht die Sache so: daß ein Politiker, welcher als Bundesratsbevollmächtigter eine Instruktion erhält, die er zu vertreten sich nach seiner eigenen Überzeugung nicht in der Lage sieht, sein Amt zu quittieren hat. Das gebietet ihm die Ehre und politische Verantwortlichkeit, die nun einmal eine andere ist als die eines Beamten. Sonst ist er ein »Kleber«. Dies dem leitenden Beamten, vor allem dem Reichskanzler einzuschärfen, wäre gerade einer der politischen Zwecke der Aufhebung jener Bestimmung. Eben deshalb aber perhorresziert die Bürokratie diese Aufhebung.

Indessen, man hat weit schwereres Geschütz aufgefahren. In der »Bayerischen Staatszeitung« wurde die Parlamentarisierung als »Zentralismus« bekämpft, ein Teil der bayrischen Presse und ihr nach konservative Literaten malten allen Ernstes eine »Abwendung Bayerns vom Reich« an die Wand. Diese Drohung ist zunächst töricht: aus der Zollgemeinschaft führt für Bayern kein gangbarer Weg, und es ist unklug, die wirklichen Zentralisten an diese Tatsache zu erinnern, welche im Ernstfall ihnen sofort (in Bayern selbst) das Spiel in die Hand geben würde.

Der Kampf für Art. 9 Satz 2 ist aber auch für die Zukunft sehr kurzsichtig. Denn der Fortbestand jener Bestimmung wird dem Zentralismus, und zwar in einer sehr viel bedenklicheren Form als in der der Parlamentarisierung vom Reich her, erst recht Vorschub leisten. Machen wir uns die Lage klar. Die Reservatrechte und ebenso die verfassungsmäßigen Singularrechte der Bundesstaaten sind nachdem Schlußartikel der Reichsverfassung ohne ihre eigene Zustimmung überhaupt nicht abänderbar. Alle ihre anderen verfassungsmäßigen Kompetenzen, einschließlich des jetzigen Umfanges ihrer inneren Autonomie nur dann, wenn nicht 14 Stimmen – das sind die Stimmen der drei Königreiche oder zweier Königreiche und zweier Großherzogtümer – dagegen sich zusammenfinden, was stets der Fall sein wird, wenn Vergewaltigung droht. Hinreichende Freiheit vom Reich ist ihnen also gesichert. Was fehlt, ist hinlänglicher Einfluß im Reich, auf die Leitung der Reichspolitik. Gerade dieser aber wird in Zukunft wichtig. Denn ohne solchen kann ihnen das Reich selbstverständlich trotz aller Erhaltung ihrer Rechte wirtschafts- und finanzpolitisch den Hals zuschnüren. Dieser Einfluß im Reich aber wird denn doch ganz gewiß nicht dadurch geschmälert, daß es durch Aufhebung der Verbotsbestimmung des Art. 9 Satz 2 den Bundesstaaten gestattet wird, einflußreiche Reichstagsabgeordnete zu Bundesratsbevollmächtigten zu ernennen! Der Einfluß Bayerns im Reich wäre ganz gewiß nicht gesunken, wenn seinerzeit etwa der Freiherr von Franckenstein zugleich seine Stellung in der Reichstagspartei behalten und statt eines Beamten Bayrischer Bundesratsbevollmächtigter gewesen wäre. Gerade das Schreckgespenst einer Majorisierung Preußens im Bundesrat durch die Kleinstaaten: – indem nämlich nun etwa Lippe, Reuß und andere solche Mitglieder sich Führer großer Reichstagsparteien als Bundesratsbevollmächtigte kaufen würden, – malen ja (lächerlicherweise in einem Atem mit der Warnung vor »zentralistischer« Vergewaltigung der außerpreußischen Bundesstaaten!) die literarischen Gegner der Aufhebung an die Wand. Von diesem Unsinn nachher ein Wort. Hier ist vorweg festzustellen was denn wirklich hinter diesen offenkundigen Phrasen an Besorgnissen steckt. Zunächst und vor allem: die Angst um das Ämtermonopol der Bürokratie. »Wenn man Parlamentarier zu Ministern mache, so würden künftig die strebsamen Beamten sich der Karriere in der Großindustrie zuwenden«, wurde sehr offenherzig im bayrischen Landtag erklärt. Allein: der Ernennung einzelstaatlicher Parlamentarier zu Bundesratsbevollmächtigten trotz Beibehaltung ihres Mandats steht der Art. 9 ja schon jetzt nicht im mindesten entgegen. Und ebenso verbietet er nicht: daß auf dem Wege über eine Parlamentslaufbahn, als deren Endpunkt, Minister- und Staatssekretärposten (einschließlich der Zugehörigkeit zum Bundesrat) erlangt werden. In der Vergangenheit und jüngsten Gegenwart ist dies stets erneut geschehen. Nur mußte der betreffende Abgeordnete alsdann aus dem Reichstag ausscheiden. Und gerade dies: daß die Zugehörigkeit zum Reichstag eine »Karriere«, ein Weg zur Erlangung von Ämtern werde, daß »begabten« und »strebsamen« Parlamentariern die Ämter eröffnet werden, finden die literarischen Gegner der Aufhebung jener Bestimmung höchst erwünscht! Mit einem Reichstag, welcher dem »Ehrgeiz« seiner Mitglieder diese Chancen biete, werde sich, meinen sie, weit »besser« arbeiten lassen. In der Tat: wenn die Lösung des Problems des deutschen Parlamentarismus darin bestände: das Parlament mit Strebern und Amtsjägern anzufüllen, dann wäre dies alles in schönster Ordnung. Neben die jetzigen kleinen Patronage-Trinkgelder träten dann die großen! Aber das ist allenfalls ein Bürokratenideal, – und dabei kein erfreuliches. Mit diesem schon praktizierten System sind wir, wie sowohl die früheren wie die jüngsten Erfahrungen zeigten, nicht weitergekommen. Politischer Zweck einer Parlamentarisierung ist doch: das Parlament zu einer Auslesestätte für Führer zu machen. Ein politischer Führer aber erstrebt nicht das Amt und dessen pensionsfähiges Gehalt und auch nicht die möglichst kontrollfreie Ausübung einer Amtskompetenz, sondern politische, und das heißt: politisch verantwortliche Macht, gestützt auf das Vertrauen und die Gefolgschaft einer Partei, an deren Spitze oder in deren Mitte er daher als Minister zu bleiben wünschen muß, schon um Einfluß auf sie zu behalten. Dies letztere ist mindestens so wichtig wie alles andere. Und die Beseitigung der mechanischen Schranke des Art. 9 Satz 2 bezweckt daher, neben der Ermöglichung legitimen Parteieinflusses auf die Regierungsgeschäfte (statt des jetzigen oft ebenso großen, aber verantwortungslosen und daher illegitimen Einflusses), auch umgekehrt und mindestens im gleichen Maße die Ermöglichung legitimen Einflusses der Regierung auf das Parlament (statt des jetzigen durch Trinkgelder-Patronage vermittelten illegitimen Einflusses). Der Kampf gegen die Reform aber ist ganz und gar bedingt durch das Streben nach Niederhaltung des politischen Ansehens des Reichstags im Prestigeinteresse der Bürokratie. Von diesem Standpunkt aus muß natürlich jene Schranke zwischen Bundesrat und Reichstag erhalten werden, denn die stereotype hochmütige Wendung: »Die verbündeten Regierungen werden niemals« usw. gehört zu jenem Schatz von »Gesten«, aus denen leider die Beamtenherrschaft ihr traditionelles Selbstgefühl speist, und würde wegfallen, wenn Reichstag und Bundesrat nicht mehr durch eine Barriere getrennt sind.

Blicken wir nun dem Schreckgespenst der Parlamentarisierung des Bundesrats noch etwas näher ins Auge, um über deren verschiedene Möglichkeiten und in Verbindung damit über die positive Bedeutung der Aufhebung des Art. 9 Satz 2 noch klarer zu werden. Diese Aufhebung räumt an sich ja nur ein mechanisches Hemmnis aus dem Wege. Sie schafft Entwicklungs möglichkeiten, mehr nicht. Denn es bleibt ja auch weiterhin die Möglichkeit für die Einzelregierungen bestehen, von der neuen Erlaubnis, Reichstagsmitglieder, die ihr Mandat beibehalten, in den Bundesrat zu delegieren, keinen Gebrauch zu machen. Sie werden das nicht tun, sofern für sie kein politischer Vorteil dabei herausspringt. Und es ist auch durchaus nicht wünschenswert, daß hier ein- für allemal schematisch verfahren wird. Selbst bei vollster Durchführung des parlamentarischen Systems wäre es keinesfalls erwünscht und wird auch sicher nicht geschehen: daß die leitenden Stellen sämtlich und ausschließlich mit Parlamentsmitgliedern besetzt werden, und Beamte, welche Führerqualitäten besitzen, davon ausgeschlossen bleiben. Ebenso kann man dem Wunsch des Abg. Stresemann, daß die Fachministerien in Preußen nicht prinzipiell parlamentarisiert werden möchten, nur zustimmen. Gerade bisher aber war da nicht Fachqualifikation, sondern Parteistellung entscheidend: oder was für eine Fachqualifikation hatten die Herren Graf Zedlitz, Studt, v. Trott zu Solz dazu, Unterrichtsminister zu werden? Zuverlässige Parteimänner waren sie! Aber, sagt man, die Aufhebung des Art. 9 Satz 2 entfesselt jedenfalls das Streben nach Parlamentarisierung des Bundesrats, und dies, meint man, gefährdet das föderalistische Gefüge des Reichs. Sehen wir zu, wie es damit steht. Nehmen wir also einmal an: die Tendenz zur Parlamentarisierung sei irgendwann ganz restlos, sowohl in den Einzelstaaten wie im Reich, Sieger geworden. Und nehmen wir ferner an (so absolut unwahrscheinlich dies ist): sie sei in dem Sinn bis in ihre theoretischen Konsequenzen durchgeführt worden, daß tatsächlich nur Parlamentarier in die leitenden Stellungen, einschließlich der Sitze im Bundesrat, berufen würden. Welche Möglichkeiten der Gestaltung der politischen Machtverteilung bieten sich alsdann dar, je nachdem Art. 9 Satz 2 der Reichsverfassung bestehen bleibt oder nicht?

Bliebe die Bestimmung unter jenen Verhältnissen bestehen, so hätte dies zur Folge: daß der Reichskanzler niemals zugleich Mitglied oder Führer einer Reichstagspartei sein und also niemals einen gesicherten Einfluß innerhalb einer solchen haben könnte. Ferner: daß die Staatssekretäre, wenn sie sich diesen Einfluß sichern und also im Reichstag sitzen wollen, außerhalb des Bundesrats bleiben müßten. Auf der anderen Seite würde bei durchgeführter Parlamentarisierung der Einzelstaaten Preußen die Vertrauensmänner der dort herrschenden Parteien in den Bundesrat delegieren, die übrigen Einzelstaaten solche der bei ihnen herrschenden Parteien. Der Reichskanzler und die etwa im Bundesrat sitzenden Staatssekretäre wären dann preußische Parteipolitiker, die Vertreter der anderen Bundesstaaten Parteipolitiker der dortigen Einzelparlamente. Eine Parlamentarisierung des Bundesrats wäre mithin durch den Art. 9 nicht im mindesten gehindert. Sie wäre nur zwangsläufig in die Bahn einer Partikularisierung des Bundesrats gelenkt. Diese Partikularisierung würde jedoch keineswegs eine Stärkung des positiven Einflusses der Einzelstaaten im Bundesrat oder ihre Sicherung gegen Majorisierung bedeuten. – Denn die ökonomische und finanzpolitische Machtstellung Preußens würde die Zwergstaaten nach wie vor dazu verurteilen, preußisches »Stimmvieh« zu sein. Nur die Macht des Reichstags böte ein Gegengewicht gegen die von Preußen beherrschte Bundesratsmajorität. Der Reichskanzler nun könnte, wie gesagt, nicht Reichstagsmitglied sein. Bei den Staatssekretären aber, welche verfassungsmäßig nicht im Bundesrat sitzen müssen, bestände kein Hindernis gegen ihre Reichstagsmitgliedschaft, sofern sie nur außerhalb des Bundesrats bleiben, wie es jetzt der Abgeordnete v. Payer anfänglich erwogen zu haben scheint. Das würde bei Fortbestand des Art. 9 vermutlich geschehen. Denn die zu Staatssekretären berufenen Reichstagspolitiker würden auf ihre Stellung innerhalb ihrer Reichstagsparteien schon deshalb nicht verzichten können, um gegenüber dem parlamentarischen Rückhalt des Reichskanzlers und der Bundesratsbevollmächtigten in den einzelstaatlichen Parlamenten, vor allem im preußischen Landtag, auch ihrerseits das nötige Gegengewicht hinter sich zu haben. Denn andernfalls würde es ihnen ergehen wie den Abgeordneten Schiffer und Spahn. Der Reichstag würde also die außerhalb des Bundesrats bleibenden Staatssekretärstellen mit seinen Vertrauensleuten besetzen, die dem Bundesrat gegenüber solidarisch wären. Der Druck der Reichstagsparteien auf die Reichsregierung würde dabei nicht geschwächt, sondern nur, infolge des Ausschlusses der Staatssekretäre vom Bundesrat, in die Bahnen eines Mißtrauensverhältnisses gelenkt und jede legitime Beeinflussung der Reichstagsparteien durch die im Bundesrat sitzenden Regierungsmitglieder ausgeschaltet. Die Staatssekretäre, welche als Reichstagsmitglieder nicht in den Bundesrat eintreten würden, wären zwar rechtlich dem Reichskanzler unterstellt und nur seine »Stellvertreter«. Politisch aber wären sie die Vertrauensmänner des Reichstags. Und daher müßte der Reichskanzler, als Vertrauensmann des preußischen Landtags, wohl oder übel mit ihnen als mit selbständigen politischen Mächten rechnen, beraten und paktieren, weil ja sonst seine Regierung die Unterstützung der betreffenden Reichstagsparteien verlöre. Ein kollegiales »Reichsministerium« kennt die Reichsverfassung nicht, so wenig wie die offizielle englische Rechtssprache das »Kabinett « kennt. Aber die Reichsverfassung verbietet keineswegs den tatsächlichen Zusammentritt des Reichskanzlers mit den Staatssekretären zu kollegialen Beratungen. Und ein solches Kollegium würde sich faktisch aus diesen Verhältnissen heraus unfehlbar entwickeln und die Regierungsgewalt an sich ziehen. Die Staatssekretäre würden den Reichstag, der Reichskanzler den preußischen Landtag darin vertreten und beide auf Kompromisse angewiesen sein. Der Bundesrat aber stände diesem Kollegium als einer außerhalb seiner selbst stehenden politischen Gewalt gegenüber und wäre einerseits durch die preußische Majorität beherrscht, andererseits zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Der föderalistische Einfluß der nichtpreußischen Staaten wäre ausgeschaltet. –

Im Fall der Aufhebung des Verbots des Art. 9 Satz 2 würde dagegen eine Parlamentarisierung des Bundesrats vermutlich anders verlaufen. Der Reichskanzler in aller Regel und stets ein Teil der Staatssekretäre würden dem Reichstag entnommen und ihre Mandate beibehalten. Dem Bundesrat würden sie formell als preußische Bevollmächtigte, politisch als Vertrauensmänner des Reichstags angehören. Ein anderer Teil der Staatssekretäre und gelegentlich vielleicht auch der Reichskanzler würden preußische Parlamentarier sein. Die übrigen Einzelstaaten würden Vertreter ihrer Parlamente, bei Verfügung über eine Mehrzahl von Stimmen aber vielleicht auch Reichstagsabgeordnete, am liebsten wohl solche eigenen Parlamentarier, welche zugleich dem Reichstag angehören, in den Bundesrat schicken. Darüber, daß die Vertretung im Bundesrat mindestens dem Schwerpunkt nach in den Händen eigener Mitglieder läge, würden die außerpreußischen Parlamente sicherlich mit steigender Eifersucht wachen. Schon deshalb wäre gerade bei voller Parlamentarisierung und Aufhebung des Art. 9 Satz 2 ganz und gar keine Gefahr, daß jenes Schreckgespenst einer »Majorisierung« Preußens durch Delegation von Parteiführern seitens irgendwelcher Zwergstaaten sich realisierte. Wie gedankenlos dieser Einwand aber überhaupt ist, zeigt sich, wenn man erwägt, daß das befürchtete Resultat: die Etablierung der politischen Parteien im Bundesrat, ja heute schon ebenso möglich ist. Wie von konservativer Seite zu Caprivis Zeit gedroht wurde, Fürst Bismarck werde sich durch Mecklenburg-Strelitz in den Bundesrat delegieren lassen, so kann auch heute jede einzelstaatliche Regierung jeden beliebigen einzelstaatlichen Parteiführer: – Bayern z.+B. gegen einen liberalen Reichskanzler ein Mitglied des bayrischen Zentrums, Reuß j. L. einen Sozialdemokraten – in den Bundesrat schicken, ohne daß die Verfassung dagegen etwas einzuwenden hätte. Im Fall der Durchführung einer »partikularisierenden« Parlamentarisierung des Bundesrats bei Bestehenbleiben des Art. 9 Satz 2 würde unfehlbar etwas Ähnliches in irgendwelchem Umfang geschehen.

Wir hätten also bei Fortbestand des Art. 9 Satz 2 den Zustand: daß im Bundesrat einander feindliche Parteivertreter aus den Einzelparlamenten, die zugleich deren partikularistische Interessen zu vertreten hätten, aufeinanderstießen. Die Beseitigung der Schranke des Art. 9 ermöglichte dagegen gerade die Temperierung jener Partikularisierung durch das Hineinwirken der Reichseinheit in den Bundesrat. Denn wenn im Bundesrat, statt ausschließlich einzelstaatliche Parlamentarier, mindestens auch Vertreter der Reichstagsparteien sitzen, so ermöglicht es der Zusammenhalt dieser Parteien über das Reich hin, diese regionalen Differenzen innerhalb ihres Schoßes weitgehend auszugleichen.

Im Interesse sowohl der Einzelstaaten als des Reichs liegt es jedenfalls, daß die parlamentarisierten Repräsentanten der drei Mächtegruppen: Kaiserliche Regierung und Reichstag-Königlich Preußische Regierung und preußischer Landtag – Bundesfürsten und Landtage der kleineren Staaten – ihren Kräfteausgleich tunlichst innerhalb des Bundesrats suchen, wie dies nur der Eintritt der parlamentarisierten höchsten Beamten des Reichs in diesen ermöglicht. Der Strom der Parlamentarisierung ist dann in das Bett der Reichseinheit geleitet und zugleich der lebendige Einfluß der Einzelstaaten auf den Gang der Reichsgeschäfte gesichert. Denn es ist nicht wahr, daß, was dem Reich gegeben wird, eben dadurch den Einzelstaaten genommen werde. Vielmehr kommt es darauf an, mit welchem Gewicht die Einzelstaaten innerhalb des Reichs zur Geltung gelangen. Eben dies Gewicht aber kann durch eine richtig gelenkte Parlamentarisierung nur gesteigert werden. Bismarck hat in einer berühmten Rede vor Unterschätzung des Bundesrats gewarnt und nachdrücklich betont, daß z.+B. der sächsische Gesandte dort nicht als Individuum, sondern als Resultante und Repräsentant »aller politischen Kräfte« Sachsens in die Waagschale falle. Unter einem System der Beamtenherrschaft konnten nun freilich unter diesen »Kräften« nur allenfalls der Hof und die Bürokratie verstanden sein. Eben darin aber würde die Parlamentarisierung Wandel schaffen. Über die Stellungnahme eines Repräsentanten einer festen und voraussichtlich dauernden Mehrheit des bayerischen Parlaments z.+B. würde man in einem parlamentarisierten Bundesrat nicht leicht zur Tagesordnung übergehen, sondern vor dem Appell an die ultima ratio der Abstimmung einen Ausgleich suchen, weil das Odium auf die Partei zurückfiele, die rücksichtslos verführe. Dieser Ausgleich würde dann aber naturgemäß im Schoß der universell verbreiteten großen Parteien vorbereitet werden. Schon in den verflossenen Jahrzehnten hat die Zentrumspartei wiederholt in ihren internen Erörterungen Kompromisse zwischen Reichsinteressen und einzelstaatlichen Interessen gezeitigt, und auch bei anderen Parteien ist ähnliches vorgekommen. Eben dies wird erschwert, wenn man die Parlamentarisierung durch Aufrechterhaltung der Schranke des Art. 9 Satz 2 in die Bahn einer »großpreußischen« Entwicklung lenkt und dadurch die Vertreter der anderen parlamentarisierten Regierungen in die partikularistische Bahn der Parole: »möglichste Freiheit vom Reich«, d.+h. von Großpreußen, drängt. Das möge wohl bedacht werden.

Nun arbeitet ja diese ganze Darstellung der künftighin einmal möglichen Wirkung des Fortbestandes oder der Aufhebung jener Schranke des Art. 9 Satz 2 absichtlich mit der vorerst gar nicht gegebenen Voraussetzung: daß eine vollständige Parlamentarisierung sowohl im Reich wie in den Einzelstaaten tatsächlich erfolgen werde, – einer Voraussetzung, deren Eintritt durchaus unsicher ist. Sie beabsichtigt zunächst nur: zu zeigen, daß auch bei voller Durchführung des parlamentarischen Systems im Sinn der verantwortlichen Parteiregierung der Föderalismus der Reichsverfassung nicht nur zu seinem Recht kommen kann, sondern daß er sogar gerade dann erst zu seinem vollen Recht gelangen würde. Sicher ist nun wohl, daß dieser hier vorausgesetzte Zustand voller Durchparlamentarisierung aller Einzelstaaten und des Reichs selbst keinesfalls mit einem Schritt erreicht werden wird. Und auch insofern ist die ganze Konstruktion unaktuell, als sie eine Umbildung der inneren Struktur der Parteien voraussetzt, die in ihrem Gegenwartszustand ja gar nicht ohne weiteres »regierungsfähig« sein würden. Aber man sei sich darüber klar: jeder Schritt auf dem Wege der Parlamentarisierung kann entweder in der Richtung zur großpreußischen oder zur echt föderalistischen Lösung führen. Und bei dieser Frage spielt, wie sich nun wohl gezeigt hat, der unscheinbare letzte Satz des Art. 9 eine recht erhebliche Rolle. Deshalb sollte man schon bei den ersten Schritten sich darüber klar sein, welche der beiden Lösungen durch sie gefördert wird. –

Enthielte nun, um auch das zu erörtern, eine Parlamentarisierung des Bundesrats jene »Mediatisierung Preußens«, welche von den Gegnern der freiheitlichen Entwicklung Deutschlands, abwechselnd mit der Gefährdung der föderativen Grundlagen des Reichs, ins Treffen geführt wird? Die Zeiten, wo man von einem »Aufgehen Preußens in Deutschland« sprach, sind vorüber. Richtig ist allerdings, daß jetzt der Übergang zum gleichen Wahlrecht, wenn überhaupt, nur unter einem scharfen Druck von Seiten des Reichs erfolgt. Und richtig ist ferner, daß, nach der hier vorgetragenen Überzeugung, wenn dieser Druck nicht genügen sollte, ein unmittelbares Eingreifen des Reichs durch ein Notgesetz in Form einer zeitweiligen Verfassungsänderung eine unumgängliche politische Notwendigkeit wäre. Aber was dabei in Frage steht, ist etwas ganz anderes als eine »Mediatisierung Preußens«. Um im Reich führen zu können, muß sich die Regierung Preußens die entsprechende Breite ihrer inneren Basis schaffen. Ganz ebenso wie jeder Staat sich den Aufgaben seiner Außenpolitik in seiner inneren Struktur anpassen muß. Diese Notwendigkeit der Anpassung an die Führerrolle ist der Sinn, in welchem allerdings die preußische Wahlreform eine eminent deutsche und nicht nur eine preußische Frage ist. In allen Bundesstaaten der Erde gilt der Grundsatz, daß gewisse ganz fundamentale Strukturgrundlagen der zugehörigen Staaten von Bundes wegen als wesentlich und daher als Bundessache angesehen werden, So in Amerika: republikanische Staatsform und gewisse Wahlrechtsgrundsätze. unbeschadet der weitestgehenden Autonomie und Kompetenzteilung zwischen Bund und Einzelstaat. Dieser und nur dieser Grundsatz bundesstaatlicher Politik wird hier auf den Hegemoniestaat Preußen angewendet. Im übrigen gehen die inneren Fragen Preußens natürlich diesen Staat allein an, und von einer »Mediatisierung« im Sinn der Einmischung anderer Bundesstaaten in innerpreußische Dinge kann keine Rede sein und ist nie die Rede gewesen. Probleme entstehen erst bei der Beziehung Preußens zur Reichspolitik. Und zwar entstehen diese Probleme ganz und gar dadurch: daß eben Preußen innerhalb des Reichs, wie im Eingang dieses Kapitels dargelegt wurde, eine hochgradig privilegierte Stellung einnimmt, wie man sich an der Hand der dort aufgeführten Prärogativen nochmals verdeutlichen möge. Aus dieser privilegierten Stellung kann unter Umständen die Pflicht für Preußen folgen, gewisse Privilegia odiosa in den Kauf zu nehmen. So bisher: die Einstellung von Staatssekretären des Reichs in sein Ministerium. Dagegen wird sich vielleicht der parlamentarisierte preußische Staat der Zukunft sträuben. Aber die Notwendigkeit eines Ausgleichs zwischen Hegemoniemacht und Macht des Reichstags wird auch dann fortbestehen. Der Reichskanzler wird auch in Zukunft preußischer Minister sein müssen, und die Instruktion der Präsidialstimme wird auch dann nicht rein nach innerpreußischen Parteikonstellationen erfolgen können, wenn nicht schwere Konflikte mit dem Reichstag eintreten sollten.

Die tatsächliche politische Lage ist heute die: daß die Art der Instruktion der Präsidialstimme unter dem doppelten Druck von Preußen einerseits und andererseits vom Reichstag her steht, und daß der Reichskanzler über diese formal nur vor das Forum des preußischen Landtags gehörigen Instruktionen tatsächlich nach beiden Seiten hin Rede zu stehen sich aufgefordert sieht und auch tatsächlich Rede steht. Bindende Verfassungsübung hat jedenfalls seine »Verantwortlichkeit« gegenüber dem Reichstag dahin interpretiert: daß dies dort zu geschehen hat. Und politisch wäre das Gegenteil auch ganz unmöglich. Es kann künftig nicht anders sein. Wenn jemals ein preußischer Landtag versucht hätte, die Kontrolle über die Instruktion der Präsidialstimmen systematisch und gegen den Reichstag an sich zu reißen, dann wären Verhältnisse entstanden, durch welche Krone und Reichskanzler genötigt worden wären, über den Kopf der preußischen Instanzen hinweg die Reichsverfassung, tatsächlich oder auch ausdrücklich, im Sinne des Grundsatzes zu interpretieren: »die Instruktion der Präsidialstimme erfolgt unter alleiniger Verantwortung des Reichskanzlers gegenüber dem Reichstag«. Das wäre zwar keine Mediatisierung, wohl aber eine Deklassierung Preußens gewesen, von der es erfreulich ist, daß sie niemals provoziert worden ist. Aber unzweifelhaft war dies zum Teil Folge jener stillschweigenden Gegenseitigkeitsversicherung, und also: des Dreiklassenwahlrechts und des Fehlens der Parlamentarisierung. Wie wird es künftig sein, wenn wir eine Steigerung der Parlamentsmacht im Reich und in Preußen bei Herrschaft des gleichen Wahlrechts, hier wir dort, annehmen?

Auf Kompromissen zwischen der parlamentarisch gestützten Macht der preußischen Bundesratsstimmen und der Macht der durch den Reichstag gestützten Reichsregierung wird auch künftig und gerade bei voller Parlamentarisierung der Gang der Reichspolitik ruhen. Es fragt sich, wie leicht oder schwer sich dies Kompromiß bei voller Parlamentarisierung gestalten würde. Von vornherein klar ist, daß es leichter zu erzielen sein wird, als wenn etwa der jetzige Klassenlandtag Preußens die Kontrolle über die preußischen Stimmen an sich gerissen hätte: das würde geradezu unabsehbare Konsequenzen gehabt haben und vollends künftig haben müssen. Die Zusammensetzung des Reichstags und des preußischen Landtags werden im Fall der Durchführung des gleichen Wahlrechts – wenn sie wirklich und nicht nur scheinbar geschieht – unter allen Umständen in Zukunft einander ähnlicher werden. Wie sie freilich im einzelnen sich gestalten wird, läßt sich nicht sagen. So viel scheint allerdings sicher: die Parteigegensätze innerhalb des preußischen Landtags würden dann vorerst stärker sein als im Reichstag. »Konservative« im preußischen Sinne des Wortes gibt es außerhalb Preußens und Mecklenburgs ja kaum: es fehlt eben außerhalb Preußens der schroffe Gegensatz des Großgrundbesitzes gegen Arbeiterschaft und Bürgertum. Ebenso fehlt, nicht ganz aber fast ganz, die preußische Schwerindustrie und der stark durch sie geprägte Charakter der preußischen Mittelparteien. Ebenso die schwerindustrielle Tonart im Zentrum. Ebenso der nationale Gegensatz gegen die Polen. Und ebenso ist die radikalste Tonart der Sozialdemokratie außerhalb Preußens fast nur noch in Sachsen stark vertreten. Gerade sie ist aber, gerade jetzt im Klassenlandtag, in Preußen vertreten. Antimonarchische Strömungen sind in den süddeutschen Staaten ungleich schwächer vorhanden. Aller Voraussicht nach würde also, bei gleichem Wahlrecht, mit dem Reichstag leichter zu regieren sein als mit dem preußischen Landtag, so sehr zu hoffen und (bei etwas Geduld!) auch sicher zu erwarten ist, daß die endliche Beseitigung der verhaßten Wahlprivilegien auch dort die Schärfe der Gegensätze mildern wird. Solange dies aber nicht der Fall ist, wird der Reichstag wahrscheinlich rein staatspolitisch überlegen sein. Dies nur um so mehr, wenn den Interessenten zuliebe etwa der politische Fehler gemacht würde, das preußische Herrenhaus als eine Art Überbau der Wahlprivilegsinteressenten über einer Kammer des gleichen Wahlrechts zu konstruieren und ihr gleichzuordnen. Das würde die Schärfe der Gegensätze in Form der Spannung zwischen erster und zweiter Kammer wieder aufleben lassen und dem Radikalismus Nahrung geben. Erst recht freilich würde die Position des Landtags geschwächt, falls das Wahlrecht zwar formal gleich, tatsächlich aber unter Entrechtung von Teilen der Unterschicht (durch einen langen Aufenthaltszensus) konstruiert würde. Bei gleichem Wahlrecht würden dagegen solche Gegensätze im Charakter einer und derselben Partei, wie sie jetzt die nationalliberale Reichstagsfraktion und die preußische nationalliberale Fraktion gegeneinander zeigen, nicht dauernd fortbestehen.

Das jeweils nötige Kompromiß aber zwischen dem Reich und Preußen würde natürlich bei voller Parlamentarisierung innerhalb der großen dem Reich und Preußen gemeinsamen Parteien vorbereitet und, bei Aufhebung der Schranke des Art.9 Satz 2, formell innerhalb des Bundesrats zum Abschluß gelangen. Immer aber, auch bei durchgeführter Parlamentarisierung, werden zwei Figuren dabei eine ausschlaggebende Rolle spielen, welche Preußen mit dem Reich gemeinsam angehören: der Kaiser, der zugleich König von Preußen ist, und der Reichskanzler, der zugleich Chef der preußischen Stimmenträger und Mitglied des preußischen Ministeriums sein muß und in aller Regel dessen Präsident sein wird.

Solange die innere Struktur Deutschlands nicht völlig umgestürzt und unitarisch neu aufgebaut würde – und dazu besteht vorerst nicht die mindeste Aussicht –, ist für das Reich die Dynastie, eben wegen des Dualismus zwischen dem Reich und Preußen, ganz ebenso unentbehrlich wie, aus ganz anderen Gründen, in dem dualistischen Österreich-Ungarn. Auch ein rein parlamentarischer Kaiser und König wird als Kriegsherr des Heeres, d.+h. des Offizierkorps, als letztlich entscheidend für die auswärtige Politik und endlich als diejenige innerpolitische Instanz, welche in Ermanglung einer Einigung der Reichsinstanzen mit den preußischen die Entscheidung gibt, eine gewaltige tatsächliche Macht in Händen haben. Gerade dann, wenn er es sich zur Pflicht macht, nach Art des letztverstorbenen Habsburger Monarchen, welcher der mächtigste Mann seines Reiches war, nur in streng parlamentarischen Formen aufzutreten und es dabei ebenso wie dieser und wie, noch besser, König Eduard VII. verstehen wird, auf dem Instrument des modernen Staatsmechanismus zu spielen, ohne daß man den Spieler bei jeder Gelegenheit als solchen in Aktion treten sieht. Es bedarf das keiner weiteren Ausführung. – Was dagegen zu wünschen und von der Parlamentarisierung zu hoffen ist, ist ein Zurücktreten der rein militärischen Einflüsse in der Politik, der auswärtigen sowohl wie der inneren. Viele der schwersten politischen Mißerfolge Deutschlands sind dadurch verschuldet worden, daß die militärischen Instanzen auch rein politische Entscheidungen maßgebend beeinflußten, obwohl die politische Taktik und Strategie nun einmal mit gänzlich anderen Mitteln zu arbeiten hat als die militärische. Außenpolitisch ist dadurch namentlich ein für uns lebenswichtiges Problem: die polnische Frage, in höchst bedenklicher Weise präjudiziert worden. Denn der Fehler lag ganz und gar in dem Verlangen der Militärs nach Schaffung eines polnischen Heeres (also: Offizierkorps), ehe durch feste Abmachungen mit einer zur Vertretung legitimierten polnischen Instanz die Stellung Polens zu Deutschland völlig geklärt war. Daß die Akzeptierung eines »Ehrenwechsels« durch die Monarchenproklamation der Weg dazu sein könnte, entsprach gleichfalls lediglich militärischen Vorstellungen. Die Art der Reaktion der Polen auf solche schweren Fehler war nur selbstverständlich. Und innerpolitisch waren die traurigen Vorgänge im Reichstag unter der Kanzlerschaft des Herrn Dr. Michaelis ein Beweis dafür, wie übel beraten militärische Instanzen sind, wenn sie sich vor die Wagen der Parteipolitik spannen lassen und dabei der alten Vorstellung nachgehen: »national« und parteikonservativ seien ein und dasselbe, wie sie dem Offizier nach seiner Herkunft nun einmal naheliegt. Auf militärischem Gebiet kann keine Instanz der Erde sich eines so grenzenlosen Vertrauens einer Nation rühmen wie unsere Heerführer; und das mit Recht. Mögen sie aber dafür sorgen, daß ihnen nicht künftig gesagt werden muß: »Was ihr mit dem Schwerte gut gemacht habt, das habt ihr durch Extratouren auf dem Glatteis der Politik wieder verdorben.« Es ist durchaus notwendig, daß in allen politischen Angelegenheiten die militärischen Autoritäten der politischen Leitung untergeordnet sind, für deren politische Entschließungen selbstverständlich ihr Gutachten über die militärische Lage stets entscheidend mit ins Gewicht fällt, niemals aber allein ausschlaggebend sein darf. Das hat Bismarck mit Recht stets scharf und in schweren Kämpfen festgehalten.

Politischer Leiter des Reiches wird der Reichskanzler auch künftig bleiben und seine zentrale Stellung im ganzen Zusammenspiel der politischen Kräfte beibehalten. Und zwar zweifellos, irgendwie ähnlich wie jetzt, als ein den Staatssekretären gegenüber präeminenter Einzelminister ohne formell gleichgeordnete Kollegen. Zwar der Kriegsminister, der ihm ja schon heute nicht formell untergeordnet ist, und, sooft der Reichskanzler nicht diplomatischer Herkunft ist, der Staatssekretär des Auswärtigen werden unvermeidlich eine weitgehende Selbständigkeit behalten. Aber für ein eigentlich kollegiales Reichsministerium ist gerade, wenn die Parlamentarisierung voll durchgeführt wird, kein Platz. Zum mindesten dann nicht, wenn die Schranke des Art. 9 Satz 2 fällt. Das muß man sich, entgegen früheren liberalen Lieblingsideen, klarmachen. Es ist doch kein Zufall, daß in parlamentarischen Staaten überall die Entwicklung auf eine Steigerung der Stellung des Kabinettchefs hinausläuft. So offenkundig in England und Frankreich. In Rußland hat die Beseitigung der Selbstherrschalt seinerzeit augenblicklich den leitenden Ministerpräsidenten entstehen lassen. Auch in Preußen kontrolliert bekanntlich der Ministerpräsident die Vorträge seiner Kollegen an den König, und diese zeitweilig unter Caprivi, auf Verlangen des Königs, aufgehobene Bestimmung mußte später wieder hergestellt werden. Im Reich ergibt sich aber die Sonderstellung und Präeminenz des Reichskanzlers schon aus seiner verfassungsmäßigen Leitung des Bundesrats und aus seiner unvermeidlichen, für die Staatssekretäre dagegen nur zufälligen und zweckmäßigen, nicht aber unentbehrlichen Stellung im preußischen Ministerium. Eine Entwicklung der Staatssekretäre zu politisch selbständig dem Reichskanzler gegenübertretenden Mächten würde zwar im Fall der »partikularisierenden« Parlamentarisierung (bei Fortbestand des Art. 9 Satz 2) unvermeidlich sein, weil dann sie die Vertrauensmänner der Reichstagsparteien würden, im Gegensatz zum Reichskanzler und Bundesrat als Trägern der Einzelparlamentsmacht. Aber auch dann entstände zwar die Nötigung zum Paktieren, nicht aber notwendiger- oder auch nur zweckmäßigerweise ein »Kollegium« mit Abstimmung. Jedenfalls aber beruht der Wunsch danach wesentlich auf der jetzigen mechanischen Scheidung zwischen Bundesrat und Parlament und würde mit Fortfall dieser Schranke gegenstandslos werden. Es ist nicht zu leugnen, daß die Entstehung eines abstimmenden Ministerkollegiums außerhalb des Bundesrats diesen an Bedeutung zurückzudrängen geeignet wäre, und daß es daher vom föderalistischen Standpunkt aus vorzuziehen ist: durch Parlamentarisierung des Bundesrats den Ausgleich der verschiedenen das Reich tragenden Mächte in dessen Mitte hinein zu verlegen.

Erwünscht wäre sicherlich, daß der jetzige Hergang vor politisch wichtigen Entschließungen, welcher zu einem Satrapenkampf der Ämter miteinander führt, Noch dazu zu einem solchen mit einer gegenseitigen Pressedemagogie, wie wir sie seit Anfang 1916 und dann wieder 1917 und Anfang 1918 erlebten. Die damaligen Vorgänge konnten jedermann zeigen, daß »Demagogie« schlimmster Art: eine Pöbelherrschaft des Sykophantentums, auch ohne alle Demokratie, ja gerade infolge des Fehlens einer geordneten Demokratie, sich findet. dem System regelmäßiger gemeinsamer kollegialer Besprechung wichtiger Fragen des Reichskanzlers mit allen Staatssekretären Platz macht. Aber eine formelle Abschwächung der allgemeinen Verantwortlichkeit des Reichskanzlers und seiner Sonderstellung überhaupt ist jener föderalistischen Bedenken wegen unwahrscheinlich und wäre auch schwerlich nützlich. Dagegen ist gerade vom föderalistischen Standpunkt aus allerdings zu fragen: ob nicht im Reich eine kollegiale Instanz geschaffen werden sollte, welche wichtige Entscheidungen der Reichspolitik, unter Zuziehung der Vertreter der wichtigsten innerpolitischen Machtfaktoren und der sachlich informierten Chefs der Verwaltung vorberaten könnte. Die öffentlichen Reden der Parteiführer im Reichstag sind offizielle Parteierklärungen vor dem Lande, welche erst nach Stellungnahme der Partei erfolgen. Die maßgeblichen Parteiberatungen und eventuellen Verhandlungen zwischen den Parteien erfolgen ohne Zuziehung der Vertreter der Einzelstaaten. Die Beratungen im Plenum des Bundesrats endlich, einer Abstimmungskörperschaft, sind unmaßgeblich und im Grunde Zeittotschlag. Es ist erwünscht, daß eine den endgültigen formellen Entschließungen der einzelnen Instanzen nicht vorgreifende, von Rücksichten auf die öffentlichen Wirkungen im Lande freie Aussprache persönlicher Ansichten erfahrener Staatsmänner vor der Herbeiführung wichtiger Entscheidungen ermöglicht wird. Wir sind diesem Problem schon wiederholt begegnet und fragen jetzt nur noch: an welche bestehenden oder neu entstehenden Organisationen könnte ein solches Gebilde anknüpfen?, und kämen überhaupt eine oder kämen vielleicht mehrere solcher nebeneinander in Betracht?

Der Krieg hat an neuen beratenden Gremien geschaffen: 1. den Hauptausschuß (die ausgestaltete Budgetkommission des Reichstags); – 2. den Siebenerausschuß (seinerzeit bestellt durch die Regierung, aber beschickt von den großen Parteien); – 3. die »interfraktionellen Beratungen« (beschickt anläßlich der letzten Krisen von denjenigen Parteien, welche der jetzigen Regierung die Wege ebneten: Nationalliberalen, Zentrum, Freisinnigen, Sozialdemokraten). Die beiden ersten Gebilde sind schon besprochen. Der offizielle Hauptausschuß des Reichstags mit seinen künftigen Unterausschüssen käme in Friedenszeiten als Träger der laufenden Verwaltungskontrolle in Betracht. Interfraktionelle Beratungen der jeweils die Regierung stützenden Parteien würden bei fortschreitender Parlamentarisierung sich zweifellos als das Mittel entwickeln, die Regierung in Konnex mit den betreffenden Parteien zu halten. Sie sind nötig, solange infolge des Art. 9 Satz 2 die Parteiführer als solche nicht innerhalb der Regierung sitzen, und würden insoweit entbehrlich, sobald dies der Fall wäre. Ihre künftige Wichtigkeit oder Unwichtigkeit hängt im übrigen von Umständen ab, die sich jetzt nicht übersehen lassen. Sie waren u.+a.. auch ein Ausdruck dafür, daß zur Zeit überragende Führer in den Parteien nicht vorhanden sind. Es ist zu verlangen, daß in Zukunft bei einem Wechsel im Kanzleramt oder einem Staatssekretariat alle Parteiführer, durch den Monarchen, nicht nur durch den Thronfolger, persönlich angehört werden, und daß die damalige Rolle des Chefs des Zivilkabinetts sich nicht wiederholt: Wenn freilich diesem Beamten der Vorwurf gemacht wird: er habe den Kaiser systematisch vom freien Zutritt abgesperrt, so konnte die »Ära Stumm« und die »Zuchthausrede« lehren: welchen Kreisen dieser »freie Zutritt« und die verantwortungslose Beeinflussung des Monarchen zugute kam. Nur verantwortliche Staatsmänner und verantwortliche Parteiführer (alle!) sollen das Ohr des Monarchen haben. Aber inwieweit die Fraktionen untereinander zu Beratungen zusammentreten, läßt sich nicht bestimmen, und einen »offiziellen« Charakter können diese natürlich nicht gewinnen. Es bleibt: der Siebenerausschuß, der zur Zeit tatsächlich eingeschlafen ist und in Wahrheit ja auch nur dem Umstand sein Leben verdankte, daß der Reichskanzler Dr. Michaelis ohne vorheriges Einvernehmen mit den Parteien sein Amt übernahm und sich zweideutig äußerte, die Parteien daher eine Art von Überwachungsinstanz über sein Verhalten in der Friedensfrage verlangten. Über die Unzweckmäßigkeit seiner damaligen Gestaltung ist schon geredet. Er würde völlig überflüssig, wenn die Parteiführer im Bundesrat sitzen würden. Immer wieder also läuft das Problem darauf hinaus: den Bundesrat in dem Sinne zu »parlamentarisieren«, daß die Führer der jeweils die Regierung stützenden Parteien des Reichstags und der großen Einzelparlamente als Bevollmächtigte darin sitzen könnten. Der Bundesrat selbst aber muß dann die Möglichkeit dafür schaffen, daß in Anlehnung an einen oder einige seiner Ausschüsse Körperschaften entstehen, welche in wichtigen politischen Fragen wie ein Staatsrat des Reichs vorberatend mit den militärischen und Verwaltungschefs verhandeln. Es wäre nur erwünscht, daß dies gegebenenfalls auch in der Form eines Kronrats, also in persönlicher Anwesenheit des Kaisers und mindestens derjenigen Bundesfürsten geschehen könnte, welche die Kontingentsherrlichkeit über ihr Heer: Offiziersernennung und eigenes Kriegsministerium, behalten haben. Schon gesprochen wurde über die Mindestkompetenz: Vorberatung der Opportunität von Veröffentlichungen monarchischer Kundgebungen, insbesondere aller solchen, welche die auswärtige Politik berühren. Im »Bundesratsausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten« ist die Vertretung der Mittelstaaten schon jetzt verfassungsmäßig vorgesehen; das neue Gebilde könnte, wie vorgeschlagen, an dessen Umbildung anknüpfen. In jedem Fall aber könnte, falls Art. 9 Satz 2 beseitigt wird, diese Neuschöpfung ohne alle Verfassungsänderungen erfolgen. An gesetzlichen Neuordnungen würde dann nur die Bestimmung erforderlich: daß fortan Veröffentlichungen jener Art bei Strafe nur nach erfolgter und bescheinigter Gegenzeichnung zulässig sind, und ferner: daß die Gegenzeichnung in solchen Fällen erst nach Anhörung eines beim Bundesrat zu bildenden Staatrats erfolgen soll.

Die Parlamentarisierung in Verbindung mit solchen aus dem Bundesrat heraus zu entwickelnden Beratungskörperschaften gibt also bei richtiger Gestaltung dem Föderalismus alles, was ihm nottut: statt bloßer Freiheit vom Reich einen gesicherten Einfluß im Reich. Ein Wiederaufleben der alten unitarischen Tendenzen wäre durchaus unerwünscht. Die Ideale Treitschkes liegen weit hinter uns. Im Gegensatz zu ihm halten wir heute den Fortbestand der Einzeldynastien nicht nur für rein staatspolitisch nützlich, sondern wünschen sie auch aus allgemein kulturpolitischen Gründen. Die Förderung vor allem der künstlerischen Kultur Für die Wissenschaft ist dagegen von einem Eingreifen der Monarchen ebensowenig zu erwarten wie von einem Hineinziehen des Parlaments. Wo immer ein persönliches Eingreifen der Monarchen in akademischen Stellenbesetzungen sich geltend machte, ist es fast nur bequemen Mittelmäßigkeiten zugute gekommen. in den zahlreichen historischen Zentren des deutschen Kulturlebens, durch deren Existenz es sich von Frankreich unterscheidet, kann in weit besserer Obhut stehen, wenn, wie jetzt, in zahlreichen kleinen Residenzen die mit ihnen verwachsenen Dynastien Hof halten, als wenn etwa statt dessen überall ein Präfekt der Zentrale säße. Freilich ist nicht zu leugnen, daß bei der Mehrzahl der deutschen Fürstenhöfe die rein militärische Erziehung, ein Produkt des staatspolitisch ganz wertlosen Wunsches der Fürsten: als General die Stellung eines Militärinspekteurs einzunehmen, dieser naturgemäßen kulturpolitischen Leistung entgegenwirkt. Und nur eine Minderzahl von ihnen hat geschulten Geschmack. So erwünscht nun eine militärische Information und Erziehung des dynastischen Nachwuchses ist, so schafft das ausschließliche Gewicht, welches jetzt auf sie gelegt wird, im Ernstfall doch nur Verlegenheiten. Die mit seltenen Ausnahmen ( Prinz Friedrich Carl) doch unbegabten fürstlichen nominellen Oberbefehlshaber an der Spitze von Armeen belasten nutzlos die Bewegungsfreiheit und Zeit des wirklichen Feldherrn und werden gefährlich, wenn sie ihre formalen Rechte ernst nehmen. Ein wirklich militärisch begabter und interessierter Prinz aber gehört in die Stellung, welche seinem Alter und seinen wirklichen Fähigkeiten entspricht. Es ist zu hoffen, daß hier künftig ein Wandel eintritt, wie ihn der verstorbene Thronfolger in Österreich herbeigeführt hatte. Jedenfalls aber besteht doch wenigstens die Möglichkeit jener kulturpolitischen Leistungen und ist in manchen Fällen zur Tatsache geworden. Mit steigender Parlamentarisierung aber würden zweifellos die Interessen der Dynastien zunehmend in diese ihnen angemessene Bahn geleitet werden. Im übrigen gilt auch in den Einzelstaaten bei der Zersplitterung des deutschen Parteiwesens zugunsten des Vorhandenseins einer dynastischen Spitze jenseits des Parteikampfs ähnliches – wenn auch nicht so zwingend – wie in der Beziehung Preußens zum Reich.

Auch jemand, dem die deutsche Nation und ihre Zukunft in der Welt turmhoch über allen Fragen der Staatsform steht, wird also den Bestand der Dynastien nicht antasten wollen, selbst wenn das in Frage stünde. Aber allerdings wird er beanspruchen müssen: daß die Bahn für eine Neuordnung Deutschlands nicht durch sterile und sentimentale Reminiszenzen an die Regierungsgepflogenheiten des alten Regimes obstruiert werde. Auch nicht durch theoretisches Suchen nach einer spezifisch »deutschen« Staatsform. Der deutsche Parlamentarismus wird zweifellos anders aussehen als der jedes anderen Landes. Aber die literatenhafte Eitelkeit: vor allem darum besorgt zu sein, daß der deutsche Staat den anderen parlamentarischen Staaten der Erde, zu denen fast alle germanischen Völker gehören, Denn wenn hier wiederholt auf England (statt auf einen dieser anderen Staaten) Bezug genommen wurde, so geschah dies nur: um dem stupiden Haß der »Straße« nicht einmal diese Konzession zu machen. nicht gleiche, entspricht nicht dem Ernst unserer Zukunftsaufgaben. Diese, und diese allein, haben über die Staatsform zu entscheiden.

Das Vaterland liegt nicht als Mumie in den Gräbern der Ahnen, sondern es soll leben als das Land unserer Nachfahren.

In welcher Art die parlamentarische Machtverteilung sich in der Realität künftig gestalten wird, das wird davon abhängen: an welcher Stelle und in welcher Rolle politische Persönlichkeiten mit Führerqualitäten auftreten. Es ist unzweifelhaft nötig, vor allem Geduld zu haben und warten zu können, bis die unvermeidlichen Kinderkrankheiten überwunden sind. Für Führernaturen war bisher in den Parlamenten einfach kein Platz. Es ist das sterile und billige Vergnügen des Ressentiments akademischer Literaten gegen alles nicht von ihnen examinierte Menschentum, über alle Fehlschritte, die der, nach dreißigjähriger Unterbrechung, langsam wieder neu in Gang kommende parlamentarische Betrieb in seiner »Regie« tut und noch tun wird, zu jubeln: »Man sieht, die Nation ist nicht reif dafür.« Das werden wir noch oft erleben, und darauf ist zu erwidern: 1. wer den deutschen Parlamenten das Machtmittel, sich die Kenntnis der Tatsachen zu verschaffen und das erforderliche Fachwissen zugänglich zu machen: das Enqueterecht also, verweigert, und dann doch über »Dilettantismus« und schlechte Arbeit eben dieser Parlamente schilt, – oder wer 2. die nur »negative« Politik der Parlamente benörgelt, ihnen aber den Weg versperrt, überhaupt Führernaturen zu verantwortlicher, auf Parlamentsgefolgschaft gestützter Macht und positiver Arbeit gelangen zu lassen: – der ist politisch unehrlich. Über die politische »Reife« aber sind wahrlich die heutigen deutschen Literaten die allerletzten, denen ein Urteil zustände. Fast alle Fehler der deutschen Politik vor dem Kriege und allen Mangel an Augenmaß, den während des Kriegs eine verantwortungslose Demagogie nährte, haben sie beifallspendend mitgemacht. Wo waren sie denn, als die schweren Fehler des alten Regimes gemacht wurden?, – so offenkundig schwere Fehler, daß, wie erinnerlich, die konservativen Vertrauensmänner Preußens an den Monarchen gemeinsam öffentlich die Bitte richteten: er möge die Politik in Übereinstimmung mit den Ratschlägen seiner berufenen Ratgeber führen? Damals war es an der Zeit: Jeder sah, was geschah und wo die Fehler lagen. Ohne allen Unterschied der Parteimeinung waren darüber alle einig. Wo also blieben sie? Eine öffentliche Erklärung von einigen tausend akademischen Lehrern wäre damals wohl am Platz und sie wäre zweifellos eindrucksvoll und auch den alten Traditionen entsprechend gewesen. Gewiß: für Staatspfründner ist es weit billiger, auf die Parteien des Reichstags zu schelten, wie jetzt. Alle die Herren haben damals geschwiegen. Also mögen sie gefälligst auch fortan schweigen: »Du hast ausgeläutet, herunter vom Glockenturm.« Andere Schichten werden die politische Zukunft Deutschlands in ihre Obhut nehmen müssen. Das Examensdiplom oder die Würde des Professors der Physik oder Biologie oder welches wissenschaftlichen Fachs auch immer verleiht keinerlei politische Qualifikation, und noch weniger garantiert sie politischen Charakter. Und wo die Angst um das Prestige der eigenen Schicht: des Diplom-Menschentums, hineinspielt und sie steckt hinter allem Gezeter gegen »Demokratie« und »Parlamentsdilettantismus« –, da war und ist diese Schicht ewig blind, von ihren Instinkten statt von sachlichen Erwägungen geleitet und wird es bei uns, ihrer Masse nach, immer bleiben. –

Kehrt: das alte Regime nach dem Krieg zurück – und von selbst kommt die Parlamentarisierung nicht, es gehört allseitiger guter Wille dazu –, dann möge man auch die Erwartung begraben, daß die oft beklagte Haltung der Deutschen draußen in der Welt sich ändern werde. Nationaler Stolz ist nun einmal Funktion des Maßes, in welchem die Angehörigen einer Nation, wenigstens der Möglichkeit nach, aktiv an der Gestaltung der Politik ihres Landes mitbeteiligt sind.

Daß der Deutsche draußen, wenn er das gewohnte Gehäuse bürokratischer Bevormundung um sich herum vermißt, meist jede Steuerung und jedes Sicherheitsgefühl verliert – eine Folge davon, daß er zu Hause sich lediglich als Objekt, nicht aber als Träger der eigenen Lebensordnungen zu fühlen gewohnt ist –, dies eben bedingt ja jene unsichere Befangenheit seines Auftretens, welche die entscheidende Quelle seiner so viel beklagten »Fremdbrüderlichkeit« ist. Und seine politische »Unreife« ist, soweit sie besteht, Folge der Unkontrolliertheit der Beamtenherrschaft und der Gewöhnung der Beherrschten daran, sich ohne eigene Anteilnahme an der Verantwortlichkeit und folglich ohne Interesse an den Bedingungen und Hergängen der Beamtenarbeit ihr zu fügen. Nur ein politisch reifes Volk ist ein »Herrenvolk«: ein Volk heißt das, welches die Kontrolle der Verwaltung seiner Angelegenheiten in eigener Hand hält und durch seine gewählten Vertreter die Auslese seiner politischen Führer entscheidend mitbestimmt. Das hatte sich die Nation durch die Art, wie sie auf die politische Herrschergröße Bismarcks reagierte, verscherzt. Ein einmal herabgewirtschaftetes Parlament ist nicht von einem zum anderen Tage wieder emporzubringen, auch nicht durch einige Verfassungsparagraphen. Es ist natürlich gar nicht daran zu denken, daß irgendein solcher Paragraph, welcher etwa die Berufung und Entlassung des Reichskanzlers an ein Parlamentsvotum knüpfen würde, plötzlich »Führer« aus der Erde stampfen würde, deren jahrzehntelange Ausschaltung aus dem Parlament durch dessen Machtlosigkeit bedingt war. Wohl aber lassen sich die unerläßlichen Vorbedingungen dafür organisatorisch schaffen, und davon, daß dies geschieht, hängt jetzt in der Tat alles ab.

Nur Herrenvölker haben den Beruf, in die Speichen der Weltentwicklung einzugreifen. Versuchen das Völker, die diese Qualität nicht besitzen, dann lehnt sich nicht nur der sichere Instinkt der anderen Nationen dagegen auf, sondern sie scheitern an dem Versuch auch innerlich. Unter einem »Herrenvolk« verstehen wir dabei nicht jenes häßliche Parvenügesicht, welches Leute daraus machen, deren nationales Würdegefühl ihnen gestattet, von einem englischen Überläufer, wie Herrn H. St. Chamberlain, sich und die Nation darüber unterrichten zu lassen: was »Deutschtum« ist. Aber freilich: eine Nation, die nur gute Beamte, schätzbare Bürokräfte, ehrliche Kaufleute, tüchtige Gelehrte und Techniker und – treue Diener hervorbrächte und im übrigen eine kontrollfreie Beamtenherrschaft unter pseudomonarchischen Phrasen über sich ergehen ließe, – die wäre kein Herrenvolk und täte besser, ihren Alltagsgeschäften nachzugehen, anstatt die Eitelkeit zu haben, sich um Weltschicksale zu kümmern. Von »Weltpolitik« möge man uns, wenn die alten Zustände wiederkehren, nicht mehr reden. Und vergebens werden Literaten, welche konservativen Phrasen verfallen sind, darauf warten, daß Deutsche im Ausland echtes Würdegefühl entwickeln, wenn sie im Inland ausschließlich das Betätigungsfeld einer, sei es auch rein technisch noch so tüchtigen, reinen Beamtenherrschaft bleiben und sich sogar gefallen lassen, daß satte gelehrte Pfründner darüber diskutieren, ob die Nation für diese oder jene Regierungsform »reif« genug sei.

Der »Wille zur Ohnmacht« im Innern, den die Literaten predigen, ist mit dem »Willen zur Macht« in der Welt, den man in so lärmender Weise hinausgeschrien hat, nicht zu vereinigen. Die Frage, ob die Nation sich reif fühlt, die Verantwortung eines Siebzigmillionenvolkes vor den Nachfahren zu tragen, beantwortet sich in gleichem Sinn und Schritt mit der Frage der inneren Neuordnung Deutschlands. Wagt sie das eine nicht, so mag sie auch das andere von sich ablehnen. Denn es führt dann politisch zu nichts. Dann in der Tat wäre dieser Krieg: ein Kampf um die Teilnahme auch unserer Nation an der Verantwortung für die Zukunft der Erde, »sinnlos« und ein bloßes Gemetzel gewesen, und jeder künftige deutsche Krieg wäre es erst recht. Wir müßten unsere Aufgaben anderwärts suchen und uns in diesem Sinne »umorientieren«.

Der typische Snobismus vieler Literaten freilich (auch ganz intelligenter Literaten) findet diese nüchternen Probleme der Parlaments- und Parteireform unendlich subaltern: »technische Eintagsfragen« seien das im Verhältnis zu allerhand Spekulationen über die »Ideen von 1914« oder über den »wahren Sozialismus« und ähnliche Literateninteressen. Nun: eine »Eintagsfrage«, die in kurzem erledigt sein wird, ist auch die nach dem Ausgang dieses Krieges. Die Umgestaltung der Wirtschaftsordnung wird ja, wer auch immer der Sieger sei, ihren Gang gehen. Dafür bedarf es weder des deutschen Sieges, noch der freiheitlichen politischen Neuordnung des Reiches. Ein nationaler Politiker wird den Blick gewiß auch auf jene universellen Entwicklungstendenzen gerichtet heilten, die über die äußere Ordnung des Lebensschicksals der Massen in Zukunft Gewalt haben werden. Aber wie ihn als Politiker das politische Schicksal seines Volkes bewegt (demgegenüber jene universellen Entwicklungstendenzen sich ja völlig gleichgültig verhalten), so rechnet er auch für politische Neugestaltungen mit den nächsten zwei bis drei Generationen: denen, die über das entscheiden, was aus seinem Volk wird. Verfährt er anders, so ist er ein Literat und kein Politiker. Er möge sich dann für die ewigen Wahrheiten interessieren und bei seinen Büchern bleiben, nicht aber auf den Kampfplatz der Gegenwartsprobleme treten. Auf diesem wird darum gerungen: ob unsere Nation innerhalb jenes ganz universellen Prozesses entscheidend mitspricht. Der Aufgabe, dies zu können, hat sich die innere Struktur, auch die politische, anzupassen. Die bisherige war dafür nicht geeignet, sondern nur: für eine technisch gute Verwaltung und für vorzügliche militärische Leistungen. Daß diese für eine rein defensive Politik ausreichen, nicht aber für politische Weltaufgaben, – das hat uns das ungeheure Geschick lehren können, welches über uns hereinbrach.


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