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III. Verwaltungsöffentlichkeit und Auslese der politischen Führer

Die ganze Struktur des deutschen Parlaments ist heute zugeschnitten auf eine lediglich negative Politik: Kritik, Beschwerde, Beratung, Abänderung und Erledigung von Vorlagen der Regierung. Alle parlamentarischen Gepflogenheiten entsprechen dem. Leider fehlt, infolge des geringen Interesses der Öffentlichkeit daran, neben guten juristischen Arbeiten über die Geschäftsordnung jegliche politische Analyse der wirklichen Lebensvorgänge des Reichstags, wie solche für außerdeutsche Parlamente vorliegen. Man mache aber den Versuch und bespreche irgendeine wünschenswerte Art von innerer Organisation des Reichstags und seines Geschäftsganges mit einem Parlamentarier, und man wird sofort auf allerhand konventionelle Gepflogenheiten und Rücksichten stoßen, welche lediglich auf die Bequemlichkeiten, Eitelkeiten, Bedürfnisse und Vorurteile verbrauchter Parlamentshonoratioren zugeschnitten sind und jeder politischen Aktionsfähigkeit des Parlaments Steine in den Weg rollen. Schon die einfache Aufgabe einer wirksamen fortlaufenden Verwaltungskontrolle der Beamten wird dadurch gehemmt. Ist diese Kontrolle etwa überflüssig?

Glänzend bewährt hat sich das Beamtentum überall da, wo es an amtlichen, festumschriebenen Aufgaben fachlicher Art sein Pflichtgefühl, seine Sachlichkeit und seine Kraft der Beherrschung organisatorischer Probleme zu beweisen hatte. Wer selbst aus einer Beamtenfamilie stammt, wird der allerletzte sein, Flecken auf seinen blanken Schild kommen zu lassen. Aber hier handelt es sich um politische, nicht »dienstliche«, Leistungen, und die Tatsachen selbst rufen die von keinem Wahrheitsliebenden zu verhehlende Erkenntnis in die Welt: Gänzlich versagt hat die Beamtenherrschaft da, wo sie mit politischen Fragen befaßt wurde. Das ist kein Zufall. Es wäre umgekehrt erstaunlich, wenn innerlich ganz fremdartige Fähigkeiten innerhalb desselben politischen Gebildes zusammentreffen würden. Es ist wie gesagt, nicht Sache des Beamten, nach seinen eigenen Überzeugungen mitkämpfend in den politischen Streit einzutreten und, in diesem Sinn, »Politik zu treiben«, die immer: Kampf ist. Sein Stolz ist es im Gegenteil, die Unparteilichkeit zu hüten und also: seine eigenen Neigungen und Meinungen überwinden zu können, um gewissenhaft und sinnvoll durchzuführen, was allgemeine Vorschrift oder besondere Anweisung von ihm verlangen, auch und gerade dann, wenn sie seinen eigenen politischen Auffassungen nicht entsprechen. Die Leitung der Beamtenschaft, welche ihr die Aufgaben zuweist, hat dagegen selbstverständlich fortwährend politische: – machtpolitische und kulturpolitische – Probleme zu lösen. Sie darin zu kontrollieren, ist die erste grundlegende Aufgabe des Parlaments. Und nicht nur die den höchstgestellten Zentralinstanzen zugewiesenen Aufgaben, sondern jede einzelne noch so rein technische Frage in den Unterinstanzen kann politisch wichtig und die Art ihrer Lösung durch politische Gesichtspunkte bestimmt werden. Politiker müssen der Beamtenherrschaft das Gegengewicht geben. Dagegen aber wehrt sich das Machtinteresse der leitenden Instanzen einer reinen Beamtenherrschaft, welche stets der Neigung zu möglichst unkontrollierter Freiheit und vor allem: zur Monopolisierung der Ministerstellen für das Beamtenavancement nachgehen werden.

Die Möglichkeit, das Beamtentum wirksam zu kontrollieren, ist an Vorbedingungen geknüpft.

Die Machtstellung aller Beamten ruht, außer auf der arbeitsteiligen Technik der Verwaltung als solcher, auf Wissen. Einem Wissen von zweierlei Art. Zuerst: dem durch Fachschulung erworbenen im weitesten Sinne des Wortes »technischen« Fachwissen. Ob es auch im Parlament vertreten ist oder sich Abgeordnete im Einzelfall privatim bei Spezialisten Auskunft einholen können, ist Zufall und Privatsache. Niemals ersetzt dies für die Verwaltungskontrolle das systematische (eidliche) Kreuzverhör von Sachverständigen vor einer Parlamentskommission unter Zuziehung der betreffenden Ressortbeamten, welches allein Kontrolle und Allseitigkeit der Befragung garantiert. Dem Reichstag fehlt das Recht dazu: er ist verfassungsmäßig zur dilettantischen Dummheit verurteilt.

Aber das Fachwissen allein begründet nicht die Beamtenmacht. Dazu tritt die durch die Mittel des amtlichen Apparates nur dem Beamten zugängliche Kenntnis der für sein Verhalten maßgebenden konkreten Tatsachen: das Dienstwissen. Nur wer sich diese Tatsachenkenntnis unabhängig vom guten Willen des Beamten beschaffen kann, vermag im Einzelfall die Verwaltung wirksam zu kontrollieren. Je nach den Umständen kommen Akteneinsicht, Augenscheineinnahme, äußerstenfalls aber wiederum: das eidliche Kreuzverhör der Beteiligten als Zeugen vor einer Parlamentskommission in Betracht. Auch dieses Recht fehlt dem Reichstag. Er ist geflissentlich außerstande gesetzt, sich die zur Verwaltungskontrolle erforderlichen Kenntnisse zu beschaffen, also, außer zum Dilettantismus, auch zur Unkenntnis verurteilt.

Aus schlechthin keinen sachlichen Gründen. Sondern ausschließlich deshalb, weil das wichtigste Machtmittel des Beamtentums die Verwandlung des Dienstwissens in ein Geheimwissen durch den berüchtigten Begriff des »Dienstgeheimnisses« bildet: letztlich lediglich ein Mittel, die Verwaltung gegen Kontrolle zu sichern. Während die unteren Staffeln der Amtshierarchie durch die übergeordneten kontrolliert und kritisiert werden, versagt bei uns gerade gegenüber den obersten, also den mit der »Politik« befaßten, Stellen alle Kontrolle, technische wie politische überhaupt. Die für ein selbstbewußtes Volk nach Form und Inhalt nicht selten schmähliche Art, wie der parlamentarischen Vertretung gegenüber von Seiten der Verwaltungschefs Anfragen und Kritiken beantwortet werden, ist nur möglich, weil dem Parlament die Mittel versagt sind, sich durch Handhabung des sogenannten »Enqueterechts« jederzeit jene Kenntnis der Tatsachen und der technischen Fachgesichtspunkte zu verschaffen, welche allein ihm fortlaufende Mitarbeit und Einfluß auf die Richtung der Verwaltung ermöglichen würde. Zu allererst hier muß Wandel eintreten. Nicht etwa soll künftig der Reichstag in seinen Kommissionen sich in umfangreiche Studien vertiefen und darüber dicke Bände veröffentlichen: – dafür, daß dies nicht geschieht, sorgt übrigens seine Arbeitslast. Sondern das Enqueterecht ist als gelegentliches Hilfsmittel zu gebrauchen und bietet im übrigen: eine Rute, deren Vorhandensein die Verwaltungschefs zwingt, in einer Art Rede zu stehen, die seine Anwendung unnötig macht. In dieser Art der Verwertung dieses Rechts liegen die allerbesten Leistungen des englischen Parlaments. Die Integrität des englischen Beamtentums und der hohe Stand der politischen Erziehung des englischen Volkes beruhen wesentlich mit darauf, und man hat oft betont, daß in der Art, wie die Komiteeverhandlungen von der englischen Presse und deren Leserkreis verfolgt werden, der beste Maßstab für den politischen Reifegrad gegeben ist. Denn dieser äußert sich ja nicht in Mißtrauensvoten, Ministeranklagen und solchen Spektakelstücken des französisch-italienischen unorganisierten Parlamentarismus, sondern darin: daß eine Nation über die Art der Führung ihrer Geschäfte durch das Beamtentum orientiert ist, sie fortlaufend kontrolliert und beeinflußt. Nur Ausschüsse eines mächtigen Parlaments sind die Stätten und können sie sein, von wo jener erzieherische Einfluß ausgeübt werden kann. Das Beamtentum als solches aber kann dadurch im Endeffekt nur gewinnen. Selten und jedenfalls nicht bei parlamentarisch geschulten Völkern ist das Verhältnis des Publikums zum Beamtentum so verständnislos wie in Deutschland. Kein Wunder. Die Probleme, mit welchen die Beamten bei ihrer Arbeit zu ringen haben, treten ja bei uns nirgends sichtbar hervor. Ihre Leistung kann niemals verstanden und bewertet, das an Stelle positiver Kritik stehende sterile Schimpfen über den »heiligen Bürokratius« niemals überwunden werden, wenn der jetzige Zustand unkontrollierter Beamtenherrschaft anhält. Und auch die Machtstellung des Beamtentums würde da, wo sie hingehört, nicht geschwächt. Der spezialistisch eingeschulte »Geheimrat« ist seinem Minister (auch, und oft, gerade dem aus dem Fachbeamtentum hervorgegangenen Minister) im Fachbetrieb überall überlegen, in England ebenso (aber im ganzen nicht mehr) wie bei uns. Das soll so sein. Denn Fachschulung ist unter den modernen Verhältnissen unentbehrliche Voraussetzung für die Kenntnis der technischen Mittel zur Erreichung politischer Ziele. Aber politische Ziele zu setzen, ist keine Fachangelegenheit, und die Politik soll der Fachbeamte nicht rein als solcher bestimmen.

Die äußerlich ziemlich unscheinbare Änderung, welche durch eine vermittels des Enqueterechts gesicherte, fortlaufende Kontrolle und Mitarbeit der Parlamentausschüsse mit und gegenüber der Verwaltung bei uns eingeführt würde, ist die grundlegende Vorbedingung aller weiteren Reformen im Sinn einer Steigerung der positiven Leistungen des Parlaments als Staatsorgan. Sie ist insbesondere auch die unentbehrliche Voraussetzung dafür: daß das Parlament zur Auslesestätte für politische Führer wird. Das modische Literatengerede bei uns diskreditiert die Parlamente gern als Orte, wo nur »geredet« wird. Ähnlich, freilich weit geistvoller, hat Carlyle vor drei Generationen in England gegen das dortige Parlament gewettert, und doch wurde es immer mehr der ausschlaggebende Träger der englischen Weltmacht. Heute ist nun einmal nicht das eigene Dreinschlagen mit dem Schwert, sondern sind ganz prosaische Schallwellen und Tintentropfen: geschriebene und gesprochene Worte, die physischen Träger des leitenden (politischen und: militärischen!) Handelns. Es kommt nur darauf an, daß Geist und Kenntnisse, starker Wille und besonnene Erfahrung diese Worte: Befehle oder werbende Rede, diplomatische Noten oder amtliche Erklärungen im eigenen Parlament formen. In einem Parlament, welches nur Kritik üben kann, ohne sich die Kenntnis der Tatsachen verschaffen zu können, und dessen Parteiführer niemals in die Lage gesetzt werden, zeigen zu müssen, was sie selbst politisch leisten können, führen nur entweder kenntnislose Demagogie oder routinierte Impotenz (oder beide zusammen) das Wort. Es gehört zu jenem Kapital politischer Unreife, welches ein ganz unpolitisches Zeitalter bei uns aufgespeichert hat, daß der deutsche Spießbürger politische Gebilde wie das englische Parlament mit diesen, ihm von den jetzigen eigenen Verhältnissen her blindgewordenen Augen anzusehen gewohnt ist und darauf von der Höhe seiner eigenen politischen Ohnmacht selbstgefällig herabblicken zu können glaubt, – ohne zu bedenken, daß doch schließlich diese Körperschaft die Stätte der Auslese jener Politiker gewesen ist, welche es verstanden haben, ein Viertel der Menschheit zur Unterordnung unter die Herrschaft einer winzigen staatsklugen Minderheit zu bringen. Und zwar – die Hauptsache! – zu einem immerhin erheblichen Teil zur freiwilligen Unterordnung. Wo hat der vielgepriesene deutsche Obrigkeitsstaat denn ähnliche Leistungen aufzuweisen? Die politische Schulung für sie wird natürlich nicht in den ostensiblen und dekorativen Reden im Plenum eines Parlaments erworben. Sondern innerhalb der Parlamentslaufbahn nur in stetiger scharfer Arbeit. Keiner der bedeutenden englischen Parlamentsführer ist in die Höhe gekommen, ohne sich in der Arbeit der Komitees geschult zu haben und von dort aus oft durch eine ganze Reihe von Ressorts der Verwaltung hindurchgegangen und in ihre Tätigkeit eingeführt worden zu sein. Nur jene Schule intensiver Arbeit an den Realitäten der Verwaltung, welche der Politiker in den Kommissionen eines mächtigen Arbeitsparlamentes durchzumachen hat und in der er sich bewähren muß, machen eine solche Versammlung zu einer Auslesestätte nicht für bloße Demagogen, sondern für sachlich arbeitende Politiker, als welche das englische Parlament (was ehrlicherweise niemand verkennen darf) bis heute unerreicht dasteht. Nur diese Art des Zusammenwirkens von Fachbeamtentum und Berufspolitikern garantiert die fortwährende Kontrolle der Verwaltung und durch sie die politische Erziehung und Schulung von Führern und Geführten. Durch effektive Parlamentskontrolle erzwungene Publizität der Verwaltung ist das, was als Vorbedingung jeder fruchtbaren Parlamentsarbeit und politischen Erziehung der Nation zu fordern ist. – Der Weg dazu ist auch bei uns beschritten.

Die Not des Krieges, die mit so manchen konservativen Phrasen aufräumte, hat den »Hauptausschuß des Reichstags« entstehen lassen: in der Art seines Arbeitens und seiner Publizität ein technisch und politisch noch höchst unvollkommenes, aber immerhin in der Richtung der Entwicklung eines Arbeitsparlaments liegendes Gebilde.

Die Unvollkommenheit für politische Zwecke lag schon in der ganz verkehrten und unorganisierten Form von Publizität, welche hier der Erörterung hochpolitischer Probleme gegeben wurde, schon durch den viel zu großen Umkreis, innerhalb dessen und vor welchem sie – in notwendig emotionaler Art – verhandelt wurden. Es war denn doch ein gemeingefährlicher Unfug, wenn »vertrauliche« militärtechnische (U-Boot-Frage!) und diplomatische Probleme Hunderte von Mitwissern besaßen, infolgedessen teils unter der Hand weitererzählt wurden, teils verunstaltet oder in sensationellen Andeutungen ihren Weg in die Presse fanden. Aktuelle Erörterungen der Außenpolitik und des Krieges gehören zur Beratung zunächst vor einen kleinen Kreis von Vertrauensmännern der Parteien. Und da Politik überhaupt stets von wenigen gemacht wird, dürfen eben auch die Parteien für hochpolitische Zwecke nicht nach Art von »Zünften«, sondern nur nach Art von »Gefolgschaften« organisiert sein. Ihre politischen Vertrauensmänner müssen also »Führer« sein, das heißt: unbeschränkte Vollmacht für wichtige Entschließungen haben (oder innerhalb weniger Stunden von jederzeit zusammenzurufenden Ausschüssen einholen können). Man hat ja mit dem Siebenerausschuß des Reichstags für einen Einzelzweck einen Schritt getan, der scheinbar in dieser Richtung lag. Der Eitelkeit der Verwaltungschefs wurde Rechnung getragen, indem die Einrichtung nur als »provisorisch« bezeichnet und zunächst auch versucht wurde, die Parlamentarier nicht als »Parteivertreter« zu behandeln, – was der ganzen Einrichtung den politischen Sinn nahm und erfreulicherweise scheiterte. Allein so sachgemäß es an sich war, daß diese sieben Parteivertreter mit Regierungskommissaren an einem Tisch zusammensitzen und beraten sollten, so wären natürlich statt der sieben Bundesratsbevollmächtigten drei oder vier Vertreter der größten Mittelstaaten, und statt der übrigen die vier oder fünf ausschlaggebenden militärischen und innerpolitischen Verwaltungschefs oder ihre Vertreter die geeignete Ergänzung. Jedenfalls kann nur ein kleines Gremium mit Diskretionspflicht wirklich politische Entscheidungen in hochgespannter Lage beratend vorbereiten. Für die Kriegszeit war vielleicht die Schaffung dieses, mit den Regierungsvertretern die Vertreter aller großen Fraktionen vereinigenden gemischten Ausschusses angebracht. Ebenso könnte im Frieden für die Beratung bestimmter hochpolitischer Stellungnahmen, insbesondere in der Auslandspolitik, eine Zuziehung von Parteivertretern auf ähnlicher Grundlage vielleicht nützlich sein. Im übrigen ist aber dieses System von begrenzter Bedeutung, weder ein Ersatz für eine echte Parlamentarisierung des Regierungsbetriebes, noch ein Mittel für die Schaffung eines einheitlichen Regierungswillens. Denn dieser könnte, wo eine Mehrzahl von Parteien ihn stützen soll, nur durch freie zwischenparteiliche Konferenzen lediglich der für die Mehrheitsbildung jeweilig ausschlaggebenden Parteien mit den Regierungsleitern geschaffen werden. Ein Ausschuß, in dem ein Vertreter der Unabhängigen Sozialisten und ein solcher der Konservativen beieinander sitzen, kann den Sinn, jene Art der Willensbildung zu ersetzen, schon rein an sich nicht haben. Das wäre ein politischer Ungedanke. Für die einheitliche Orientierung der Politik leisten solche Gebilde nichts.

Dagegen könnte für die normale Verwaltungskontrolle der Friedenszeit die Entwicklung gemischter Spezialausschüsse im Anschluß an den Hauptausschuß recht wohl ein geeignetes Instrument werden, vorausgesetzt, daß für eine gute fortlaufende Berichterstattung gegenüber der Öffentlichkeit gesorgt und eine geeignete Geschäftsordnung mit Wahrung der Einheitlichkeit bei Spezialisierung der Verhandlungsgegenstände der Unterausschüsse, zu denen die Bundesrats- und Ressortvertreter zuzuziehen wären, geschaffen würde. Was die mögliche politische Wirkung einer solchen Ausgestaltung betrifft, so wird sie ganz davon abhängen, wie in Zukunft die Stellung des Parlaments im Reiche und damit die Struktur seiner Parteien geartet sein wird. Bleibt alles beim alten, bleibt also insbesondere die mechanische Hemmung des Art. 9 der Reichsverfassung bestehen und bleibt überhaupt das Parlament auf »negative Politik« beschränkt – und die Tendenz des Beamtentums geht offenbar dahin, dies zu erreichen –, dann werden die Parteien ihre Vertreter in den Ausschüssen vermutlich an kleinliche imperative Mandate binden, jedenfalls ihnen keine Führervollmacht überlassen, wird auch im übrigen jede ihren eigenen Weg gehen, ausschließlich kleine Sondervorteile für ihre Schützlinge zu erhandeln trachten, und die ganze Einrichtung wird ein nutzloses und zeitraubendes Hemmnis der Verwaltung, nicht aber ein Mittel politischer Schulung und sachlich fruchtbarer Zusammenarbeit werden. Als positives Resultat könnte dann äußerstenfalls etwas Ähnliches herausspringen wie bei der Proportionalpatronage der Parteien in manchen Schweizer Kantonen: eine friedliche Verteilung von Bruchteilen des Einflusses auf die Verwaltung unter die einzelnen Parteien, und insoweit also: ein Abflauen des Parteikampfes. (Obwohl übrigens schon dies negative Resultat in einem Massenstaat mit hochpolitischen Aufgaben sehr weit davon entfernt ist, sicher erreichbar zu sein. Über die positiven praktischen Wirkungen sind die Schweizer meines Wissens geteilter Ansicht. Auch diese sind natürlich in einem Großstaat absolut anders einzuschätzen). Indessen, so unsicher jene idyllischen Perspektiven sind, – wem die Ausschaltung des politischen Parteikampfes das unbedingt höchste Gut ist, der wird sich an ihnen sicherlich erfreuen, und das Beamtentum seinerseits wird daraus Gewinn für die Sicherung der eigenen Machtstellung durch Fortsetzung des Systems der kleinen Trinkgelder erhoffen. Träte dazu dann noch irgendeine Art proportionaler Verteilung der Amtspfründen unter die verschiedenen »hoffähigen« Parteirichtungen, – so wäre das Resultat: »lauter vergnügte Gesichter«, wohl noch in gesteigertem Grade zu erzielen. Allein die absolute Unwahrscheinlichkeit einer wirklichen Durchführung dieser friedlichen Pfründenverteilung auf dem Gebiet der inneren Verwaltung: Landräte, Regierungs- und Oberpräsidenten, in Preußen gegenüber dem Ämtermonopol der konservativen Partei ist klar. Und rein politisch würde jedenfalls auch nicht sehr viel mehr als dies dabei herauskommen: Partei beamten und nicht: Partei führern wären Chancen, nicht der politischen Macht und Verantwortung, sondern des Pfründenbesitzes, eröffnet, – gewiß kein geeignetes Mittel für die Hebung des politischen Niveaus des Parlaments. Die Frage, ob etwa dadurch die Verwaltungskontrolle wirksamer gestaltet und ob die Reife der Bevölkerung für die Beurteilung der Verwaltungsleistung gesteigert würde, muß vollends ganz offen bleiben.

Unentbehrliche Garantie einer zweckentsprechenden Erörterung auch der einfachsten verwaltungstechnischen Fragen, selbst in einem solchen bürokratisierten Ausschuß, ist aber dessen Recht, nach Bedarf sich jederzeit das Fach- und Dienstwissen durch eigene Erhebung kurzerhand zu beschaffen. Ausschließlich und allein ganz unsachliche Prestige- oder deutlicher gesagt: Eitelkeits-Interessen und der Wunsch nach Unkontrolliertheit auf seiten des Beamtentums stehen dieser Forderung, die ja an sich noch keinerlei Entscheidung über die Frage der »parlamentarischen Regierung« bedeutet, sondern nur eine Vorbedingung ihrer zweckmäßigen Gestaltung enthält, im Wege.

Als einziges sachlich beachtliches Bedenken gegen das Enqueterecht pflegt von Staatsrechtslehrern geltend gemacht zu werden: daß der Reichstag in der Gestaltung der Geschäftsordnung gänzlich autonom sei, die jeweilige Mehrheit also eine Erhebung einseitig unterlassen oder so gestalten könne, daß das nicht festgestellt werde, was ihr unwillkommen sei. Zweifellos paßt die (indirekt) aus der englischen Theorie kritiklos übernommene Geschäftsordnungsautonomie (Artikel 27 R. V.) für dies Recht nicht. Vielmehr ist durch gesetzliche Normen die Garantie für die Verläßlichkeit zu schaffen. Insbesondere muß das Recht unbedingt als Minoritätsrecht (sagen wir etwa: auf Verlangen von 100 Abgeordneten) und natürlich mit dem Recht der Minderheit auf Vertretung, Fragestellung, Nebenbericht geschaffen werden. Schon um gegen jede künftig einmal mögliche parlamentarische »Mehrheitswirtschaft« und ihre bekannten Gefahren jenes Gegengewicht der Publizität zu bieten, welches in anderen Staaten fehlt und in England bisher nur durch die gegenseitige Parteicourtoisie gegeben war. Garantien sind aber nötig auch in anderen Richtungen. Solange es nun einmal konkurrierende Industrien, zwischen verschiedenen Ländern zumal, gibt, wird es unumgänglich sein, ihre technischen Betriebsgeheimnisse wenigstens vor tendenziöser Publikation hinlänglich zu schützen. Erst recht: militärtechnische Geheimnisse. Und endlich auch: schwebende Erwägungen der auswärtigen Politik. Diese gehören in diesem Stadium unbedingt vor ein mit Garantie der Diskretion umgebenes kleines Gremium. Denn es ist natürlich ein gerade jetzt durch die Tatsachen verspotteter Irrtum einzelner, namentlich russischer, Literaten: daß der Betrieb der auswärtigen Politik, etwa ein sachlicher Friedensschluß kriegführender Länder, durch öffentlich meistbietende Proklamation allgemeiner »Prinzipien« herbeigeführt werden könne statt durch sachliche Verhandlung über den bestmöglichen Ausgleich der doch nun einmal kollidierenden Interessen der Staaten und Nationen, die sich hinter jenen angeblichen »Prinzipien« verbergen. Ganz andere Mittel sind es jedenfalls, mit denen auf diesem Gebiet die Axt an die Fehler unserer Vergangenheit gelegt werden muß, als diese dilettantischen Literatenideen. Die in demokratischen Kreisen vielfach verbreitete Ansicht: daß die Publizität gerade der Diplomatie ein Allheilmittel sei, vor allem: stets für den Frieden wirke, ist in dieser Verallgemeinerung mißverständlich. Für endgültige, vorher überlegte Stellungnahmen hat sie ihr Recht. Für die Erwägungen selbst – solange es konkurrierende Staaten gibt – sowenig wie etwa für konkurrierende Industrien. Im geraden Gegensatz zu Fragen der inneren Verwaltung kann sie in diesem Stadium die Sachlichkeit und Unpräjudiziertheit der schwebenden Erwägungen schwer stören und den Frieden geradezu gefährden oder hindern. Die Erfahrungen dieses Krieges zeigen das auf das deutlichste. – Indessen, von der Außenpolitik ist noch gesondert zu reden.

Hier sei nur noch darauf hingewiesen, wie sich das Fehlen der parlamentarischen Führerschaft heute in Fällen innerer »Krisen« äußert. Dafür war der Verlauf des Erzbergerschen Vorstoßes im Juli dieses Jahres 1917. und der beiden späteren Krisen lehrreich. Es zeigte sich da in allen drei Fällen: was für Folgen es hat, wenn 1. Regierung und Parlament als zwei getrennte Organe einander gegenüberstehen und dabei das Parlament nur eine Repräsentation der Beherrschten und deshalb auf »negative Politik« (im obigen Sinne) eingestellt ist, – 2. die Parteien zunftartige Gebilde sind, weil politische Führer innerhalb des Parlaments keinen Beruf und daher in den Parteien keinen Platz finden, und wenn endlich – 3. die offiziellen Führer des Staats: die leitenden Beamten, den Parlamentsparteien nicht als deren Führer angehören, auch nicht kontinuierlich mit deren Führern in Berührung bleiben und die schwebenden Fragen vorberaten, sondern außerhalb ihrer, der konventionellen Prestige-Phrase nach: »über ihnen«, stehen und sie deshalb nicht zu leiten vermögen. Als eine starke Reichstagsmehrheit auf einem positiven Entschluß der Reichsregierung bestand, versagte das System sofort an allen Enden. Die ratlosen Regierungsvertreter mußten die Zügel am Boden schleifen lassen, weil sie keinen Fuß in den Parteiorganisationen hatten. Der Reichstag selbst bot in seiner politischen Führerlosigkeit das Bild voller Anarchie, weil die (sogenannten) Parteiführer niemals ihren Platz am Regierungstisch gehabt hatten und auch damals als künftige Leiter der Regierung nicht in Betracht kamen. Die Parteien sahen sich vor eine Aufgabe gestellt, die bisher nie in ihren Gesichtskreis getreten war, und der sie daher weder nach ihrer Organisation, noch nach ihrem Personalbestand gewachsen waren: eine Regierung aus sich zu bilden. Dazu erwiesen sie sich selbstverständlich als völlig unfähig, machten gar nicht den Versuch dazu und konnten ihn auch gar nicht machen. Denn von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken verfügte keine einzige Partei über einen Politiker, der als Führer anerkannt gewesen wäre, – ganz ebensowenig wie das Beamtentum selbst.

Alle Parteien waren seit vierzig Jahren darauf eingestellt, daß der Reichstag lediglich die Aufgabe habe, »negative Politik« zu treiben. Erschreckend deutlich zeigte sich als Wirkung der Erbschaft Bismarcks jener »Wille zur Ohnmacht«, zu dem durch ihn die Parlamentsparteien verdammt waren. Aber nicht einmal mitwirkend bei der Bestimmung der neuen Führer der Nation spielten die Parteien eine Rolle. Das Prestigebedürfnis oder deutlicher: die Eitelkeit der Beamtenherrschaft ertrug selbst dies und selbst in diesem kritischen Augenblick nicht, obwohl es die einfachste Klugheit geboten hätte. Anstatt von sich aus die Parteien vor die verfängliche Frage zu stellen: wen sie denn nun ihrerseits für die leitenden Stellen im Reich als Kandidaten zu präsentieren hätten?, oder wenigstens die weit praktischere: wie sie sich zu den Persönlichkeiten der einzelnen, als möglich in Betracht kommenden künftigen Leiter der Reichspolitik stellen würden?, verharrte die Bürokratie auf dem Prestige-Standpunkt: daß das eine Angelegenheit sei, welche die Volksvertretung nichts angehe. Außerparlamentarische Mächte griffen ein und bestellten die neue Regierung. Und diese trat nun nicht an die Parteien mit einem bestimmten sachlichen Vorschlag und der kategorischen Aufforderung heran: dazu mit »ja« oder »nein« Stellung zu nehmen. Der neue Reichskanzler mußte sich über den entscheidenden Punkt, wie erinnerlich, mehrere untereinander verschiedene Erklärungen abdringen und die Überwachung des Siebenerausschusses für eine außenpolitische Handlung gefallen lassen: – alles deshalb, weil er das Vertrauen des Parlaments nicht besaß. Und es verstand sich von selbst, daß die Geschwätzigkeit der Literaten durch das unerfreuliche und dem Ansehen Deutschlands nur abträgliche Schauspiel mit Genugtuung sich in ihrer beruhigenden Überzeugung bestätigt fand: daß der Parlamentarismus in Deutschland »unmöglich sei«. Das Parlament habe »versagt«. In Wahrheit versagte etwas ganz anderes: der Versuch der Führung des Parlaments durch ein außer Beziehung zu ihm stehendes Beamtentum, eben jenes System, welches unter dem Beifall der Literaten seit Jahrzehnten dahin gewirkt hat, das Parlament im Interesse der Unkontrolliertheit der Beamtenschaft zu positiven politischen Leistungen unfähig zu machen. Bei jeder Regierungspraxis, welche die Verantwortlichkeit ganz oder doch wesentlich mit auf die Schultern der Parteiführer legte und dadurch politischen Führernaturen die Möglichkeit böte, im Parlament die Geschicke des Landes mitbestimmend zu leiten, wäre die Lage völlig anders. Die Parteien hätten dann eine derart kleinbürgerliche und zünftlerische Organisation sich gar nicht gestatten können, wie sie jetzt im Reichstag besteht. Sie hätten unter dem absoluten Zwang gestanden, sich Führern unterzuordnen, und nicht, wie namentlich das Zentrum es tat, fleißigen Beamtennaturen, welchen im Augenblick, wo sie Führereigenschaften hätten entwickeln müssen, die Nerven versagten. Die Führer ihrerseits aber hätten im Fall einer solchen Krise unter dem Zwange gestanden, eine Koalition zu bilden, welche dem Monarchen ein positives Programm und bestimmte führende Persönlichkeiten vorgeschlagen hätte. Bei dem bestehenden System konnte nichts anderes eintreten als die Konsequenz der rein negativen Politik.

Der außerparlamentarisch bestimmte neue Leiter des Reichs fand nur ein Durcheinander vor, welches alsbald die gleiche Lage wieder schuf. Denn die Übernahme einiger sehr tüchtiger Parlamentarier in Regierungsämter bedeutete, zufolge des Art. 9 der R. Verf., nur: daß sie den Einfluß in ihrer Partei verloren und diese also geköpft oder desorientiert wurde. Genau so war es auch bei den Krisen im August und Oktober [1917]. Das wiederum völlige Versagen der Regierung war die Folge davon, daß die leitenden Staatsmänner hartnäckig an dem Prinzip festhielten: die ständige Fühlung mit den Parteiführern und die Vorberatung der in der bevorstehenden Tagung zu erörternden Probleme mit den Vertretern mindestens derjenigen Parteien, die sie für sich zu gewinnen hoffen durften und wünschten, zu vermeiden. Schon der bloße Umstand: daß der im November neu ernannte Reichskanzler, auf Verlangen der Mehrheitsparteien des Reichstages, vor Übernahme des Amtes mit ihnen Fühlung nahm, und der fernere Umstand: daß nunmehr die rein politischen Ministerien mit geschulten Parlamentariern besetzt wurden, genügte, um endlich ein leidliches Funktionieren wenigstens der innerpolitischen Maschinerie zu ermöglichen, obwohl der Fortbestand des Art. 9 Satz 2 auch jetzt wieder seinen schädlichen Einfluß übte. Die Januarkrise 1918. bewies auch dem blödesten Auge: daß nicht das Parlament Quelle der innerpolitischen Krisen bei uns ist. Sondern zwei Umstände. Einmal der, daß der stets streng festgehaltene Grundsatz der Bismarckschen Politik verlassen wurde, wonach der Heerführer den Krieg führt nach militärischen Gesichtspunkten, der Politiker aber den Frieden schließt nach politischen Gesichtspunkten (unter denen rein technisch strategische Fragen einen – aber nur einen – Punkt bilden). Dann aber und vor allem der Umstand: daß irgendwelche subalternen Höflinge es nützlich und mit einer angeblich »monarchischen« Regierung vereinbar fanden, interne Erörterungen der hohen Politik in die Presse zu lancieren. Aus parteipolitischem Interesse.

Denn unsere Zustände können jeden lehren: daß eine reine Beamtenherrschaft um dieser Eigenschaft willen nicht etwa schon: keine Parteiherrschaft bedeutet. Andere als konservative Landräte sind in Preußen unmöglich, und der deutsche Scheinparlamentarismus beruht in allen seinen Folgen auf dem seit 1878 (nach der Unterbrechung der elf fruchtbarsten Jahre der deutschen Parlamentsarbeit) bestehenden, von den Parteiinteressenten gepflegten Axiom: daß jede Regierung und ihre Vertreter naturnotwendig »konservativ« sein müßten, einige Konzessionen an die Patronage der preußischen Bourgeoisie und des Zentrums in den Kauf nehmend. Dies und gar nichts anderes bedeutet bei uns die »Überparteilichkeit« der Beamtenherrschaft. Die Lehre des Krieges in allen Ländern: daß alle Parteien »national« werden, welche Anteil an der verantwortlichen Macht im Staat haben, hat daran bei uns nichts geändert. Die Parteiinteressen der im Machtbesitz befindlichen konservativen Beamtenschaft und der ihr angegliederten Interessentenkreise allein beherrschen die Leitung. Die unvermeidlichen Früchte dieses »cant« sehen wir vor uns, und sie werden sich auch nach dem Frieden einstellen. Nicht etwa das Parlament allein, sondern die Staatsgewalt als solche wird die Kosten zu tragen haben. –

Wer überhaupt die Zukunftsfrage der deutschen Staatsordnung anders stellt als dahin: wie macht man das Parlament fähig zur Macht?, der stellt sie von vornherein falsch. Denn alles andere ist Nebenwerk. –

Man muß sich nun klarmachen, daß dazu neben den erwähnten äußerlich unscheinbaren, aber praktisch wichtigen Ergänzungen seiner Machtbefugnisse und der Hinwegräumung des mechanischen Hindernisses des Art. 9 sowie starken Änderungen der Geschäftsordnung und der heutigen Konventionen des Parlaments vor allem eines gehört: die Entwicklung eines geeigneten Berufsparlamentariertums.

Der Berufsparlamentarier ist ein Mann, der das Reichstagsmandat ausübt nicht als gelegentliche Nebenpflicht, sondern – ausgerüstet mit eigenem Arbeitsbüro und -personal und mit allen Informationsmitteln – als Hauptinhalt seiner Lebensarbeit. Man mag diese Figur lieben oder hassen, sie ist rein technisch unentbehrlich, und sie ist daher schon heute vorhanden. Nur, der subalternen Stellung des Parlaments und den subalternen Chancen der Parlamentslaufbahn entsprechend, gerade in ihren einflußreichsten Exemplaren meist in ziemlich subalterner Form und: hinter den Kulissen. – Der Berufspolitiker kann ein Mann sein, der lediglich von der Politik und ihrem Getriebe, ihren Einflüssen und Chancen lebt. Oder ein solcher, der für die Politik lebt. Nur im letzteren Fall kann er ein Politiker großen Zuschnittes werden. Er kann das natürlich um so leichter, je mehr er durch Vermögen unabhängig und dadurch »abkömmlich«, also nicht betriebsgebunden (Unternehmer), sondern: Rentner ist. Von den betriebsgebundenen Schichten sind nur die Advokaten »abkömmlich« und zu Berufspolitikern geeignet. Sowenig nun gewiß eine reine Advokatenherrschaft erwünscht wäre, so töricht ist doch die bei unsern Literaten meist übliche Minderschätzung der Qualifikation des Advokatentums für die politische Leitung. In einem Zeitalter der Juristenherrschaft ist der große Advokat der einzige Jurist, der – im Gegensatz zum Beamten – im Kampf und in der wirksamen Vertretung einer Sache durch Kampf geschult ist, und unseren öffentlichen Kundgebungen möchte man wesentlich mehr Geschultheit im (vornehm sachlichen) Advokatentum wünschen. Aber nur wenn das Parlament Führerstellungen mit Führerverantwortung in Aussicht stellt, werden nicht nur Advokaten großen Stils, sondern überhaupt unabhängige Persönlichkeiten für die Politik leben wollen. Sonst nur: besoldete Parteibeamte und Interessenvertreter.

Das Ressentiment der Partei-Beamtennaturen gegen echtes politisches Führertum spielt bei der Haltung mancher Parteien gegenüber der Frage der Parlamentarisierung, und das heißt: der parlamentarischen Führerauslese, stark mit. Es verträgt sich natürlich vortrefflich mit den gleichgesinnten Interessen der Bürokratie. Denn der Berufsparlamentarier an sich ist den Instinkten der bürokratischen Verwaltungschefs ein Dorn im Auge. Schon als unbequemer Kontrolleur und als Prätendent einer, immerhin, gewissen Anteilnahme an der Macht. Vollends aber, wenn er in einer Gestalt auftritt, um als möglicher Konkurrent um die leitenden Stellungen in Betracht zu kommen (was bei den Interessenvertretern eben nicht der Fall ist). Daher auch der Kampf für Erhaltung der Unwissenheit des Parlaments. Denn nur qualifizierte Berufsparlamentarier, welche durch die Schule intensiver Ausschußarbeit eines Arbeitsparlaments gegangen sind, können verantwortliche Führer, nicht bloße Demagogen und Dilettanten aus sich hervorgehen lassen. Auf solche Führer und ihre Wirksamkeit muß die ganze innere Struktur des Parlaments zugeschnitten werden, wie es in ihrer Art diejenige des englischen Parlaments und seiner Parteien seit langem ist. Dessen Konventionen sind freilich für uns nicht übertragungsfähig. Wohl aber das Strukturprinzip. Alle Einzelheiten jener Änderungen der Geschäftsordnung und Konventionen, welche nötig wären, gehören nicht hierher: die ergeben sich sehr leicht, sobald der Zwang für die Parteien besteht, verantwortliche und nicht nur »negative« Politik zu treiben. Vielmehr ist hier kurz noch einer oft, aber meist in schiefer Art, besprochenen, in der Tat ernsten Hemmung zu gedenken, welche die Konstellation des deutschen Parteiwesens der Parlamentarisierung in den Weg legt.

Es ist ja zweifellos, daß die bequemste Grundlage für diese ein solches Zweiparteiensystem ist, wie es bis vor kurzem, mit immerhin schon sehr fühlbaren Durchbrechungen, in England bestand. Aber es ist keineswegs dafür unentbehrlich, und in allen Ländern, auch in England, geht die Entwicklung dahin, zu Parteikoalitionen zu nötigen. Weit wichtiger ist eine andere Schwierigkeit: parlamentarische Regierung ist nur möglich, wenn die größten Parteien des Parlaments prinzipiell zur Übernahme der verantwortlichen Leitung der Staatsgeschäfte überhaupt bereit sind. Und das war freilich bisher bei uns keineswegs der Fall. – Vor allem die größte Partei: die Sozialdemokratie, war nicht nur durch die aus der Verfolgungszeit überkommenen pseudorevolutionären Konventionen (gegen die »Hofgängerei«), sondern auch durch gewisse evolutionistische Theorien daran gehindert, sich unter irgendwelchen Bedingungen zum Eintritt in eine Koalitionsregierung (oder, wo sie, wie in einem Kleinstaat, zeitweise allein die Mehrheit hatte, zur Übernahme der Regierung) bereitfinden zu lassen. Wesentlich mehr aber noch als jene theoretischen Beängstigungen wirkte und wirkt gerade jetzt bei ihr die Besorgnis: durch die unvermeidliche Gebundenheit jeder Regierung an die Existenzbedingungen einer auf absehbare Zeit hinaus kapitalistischen Gesellschaft und Wirtschaft bei den eigenen Klassengenossen diskreditiert und entwurzelt zu werden. Diese Lage veranlaßte ihre Führer, die Partei jahrzehntelang in eine Art von politischer Ghettoexistenz einzuschachteln, um jede befleckende Berührung mit dem Treiben eines bürgerlichen Staatsmechanismus zu meiden. So, trotz allem, auch jetzt. Der Syndikalismus, die unpolitische und antipolitische heroische Brüderlichkeitsethik, steht in einer Periode des Wachstums, und die Führer scheuen den Bruch der Klassensolidarität, welche später die Stoßkraft der Arbeiterschaft im ökonomischen Kampf vermindern würde. Zumal sie keinerlei Gewähr dafür haben, daß nach dem Krieg nicht die altüberlieferte Haltung der Bürokratie wieder auflebt. Es ist eine Grundfrage unserer Zukunft, wie sich die Haltung der Partei in Zukunft gestalten wird: ob bei ihr der Wille zur Macht im Staate oder ob die unpolitische Brüderlichkeitsethik der Klassengenossen und der nach dem Krieg sicherlich überall verstärkt emporschießende Syndikalismus die Oberhand behält. – Aus etwas anderen Gründen stand auch die zweitgrößte deutsche Partei: das Zentrum, dem Parlamentarismus bisher skeptisch gegenüber. Eine gewisse innere Wahlverwandtschaft der eigenen autoritären Gesinnung mit dem Obrigkeitsstaat kommt bei ihm den Interessen der Bürokratie entgegen. Wichtiger aber ist etwas anderes. Als geborene Minderheitspartei fürchtete es bei parlamentarischer Regierung auch in die parlamentarische Minderheit gedrängt und dadurch in seiner Machtstellung und in der Vertretung derjenigen Interessen, welchen es heute praktisch dient, gefährdet zu werden. Seine Machtstellung beruht in erster Linie auf außerparlamentarischen Mitteln: der Herrschaft des Klerus auch über die politische Haltung der Gläubigen. Innerhalb des Parlaments aber diente die Ausnützung der Chancen, welche der Betrieb der »negativen Politik« bot, den materiellen Interessen seiner Anhänger. Nach Erreichung aller wesentlichen, jedenfalls aller in Deutschland dauernd zu behauptenden kirchenpolitischen Ziele wurde das Zentrum aus einer ideologischen Weltanschauungspartei in der Praxis in zunehmendem Maße eine Patronageversicherung für katholische Amtsanwärter und andere katholische Interessenten, die sich – es ist hier gleichgültig, ob mit Recht – seit der Kulturkampfzeit benachteiligt fühlen. Darauf beruht heute ein erheblicher Teil seiner Macht. Gerade die Art seiner Stellung in den Parlamenten: als Zünglein an der Waagschale, ermöglichte es ihm, diese privaten Interessen seiner Schützlinge zu fördern. Denn das Beamtentum fügte sich dieser Patronage und »wahrte« dabei doch »sein Gesicht«: sie blieb unoffiziell. Die Patronageinteressenten in der Partei fürchten nun nicht nur, daß die Parlamentarisierung und Demokratisierung ihre Chancen für Perioden, in denen das Zentrum sich bei der Minorität befindet, gefährden werde, sondern noch etwas anderes. Unter dem jetzigen System blieb der Zentrumspartei jene Verantwortlichkeit erspart, welcher sie sich nicht hätte entziehen können, wenn ihre Führer formell der Regierung angehört hätten. Bequem wäre diese Verantwortung nicht immer gewesen. Denn während das Zentrum auch heute noch unter seinen Politikern eine Reihe sehr fähiger Köpfe zählt, finden sich unter den von ihm patronisierten Beamten neben brauchbaren Leuten auch so offenbare Talentlosigkeiten, wie sie eine verantwortlich in der Regierung sitzende Partei schwerlich mit Beamtenposten betraut hätte. Solche Persönlichkeiten können nur bei verantwortungs loser Patronage vorwärts kommen. Als offiziell regierende Partei hätte das Zentrum begabtere Kandidaten zu präsentieren.

Die unoffizielle Patronage ist, da sie unverantwortlich bleibt, eben die übelste, Mittelmäßigkeit begünstigende Form der parlamentarischen Patronage überhaupt, und sie ist Folge der konservativen Beamtenherrschaft, deren Fortbestand auf diesem Trinkgeldersystem ruht. Daß sich freilich die konservative und der spezifisch großkapitalistische Teil der heutigen nationalliberalen Partei bei den bestehenden Zuständen recht wohl befinden, nimmt nicht wunder. Über die Ämterpatronage entscheiden dabei ja nicht Politiker und Parteien, welche vor der Öffentlichkeit verantwortlich gemacht werden könnten, sondern private Konnexionen aller Art, von den sehr wichtigen studentischen Couleurbeziehungen angefangen bis zu den gröberen und feineren Formen kapitalistischer Empfehlungen. Der Großkapitalismus, den die blöde Unkenntnis unserer Ideologen als Verbündeten des verketzerten Parlamentarismus vermutet, steht daher wie ein Mann auf seiten der Erhaltung der unkontrollierten Beamtenherrschaft. Er weiß gut: warum.

Dies ist derjenige Zustand, welchen die Literatenphrase bei uns mit verbissener Wut gegen die von ihr als »korrupt« und »undeutsch« perhorreszierte offene Parteiverantwortlichkeit für die Ämterpatronage zu verteidigen sich gewöhnt hat. In Wahrheit sind es einfach mächtige materielle Pfründnerinteressen in Verbindung mit kapitalistischer Ausnutzung von »Konnexionen«, aber wahrhaftig nicht »der deutsche Geist«, welche gegen die Parlamentarisierung der Patronage engagiert sind. Und es ist gar kein Zweifel, daß nur der Druck absolut zwingender politischer Umstände hier überhaupt Wandel schaffen könnte. »Von selbst« kommt die Parlamentarisierung gewiß nicht. Vielmehr ist nichts sicherer, als daß die denkbar stärksten Mächte ihr entgegenwirken. In allen genannten Parteien finden sich zwar neben jenen subalternen Patronageinteressenten und den einfachen Parlamentsroutiniers Ideologen und rein sachliche Politiker. Aber unter dem gegebenen System haben die ersteren schlechterdings die Oberhand. Und wenn diese Pfründentrinkgelder auf andere Parteien erstreckt würden, so würde sich das nur verallgemeinern. –

Die Nutznießer des bestehenden Zustandes und jene Literaten, welche arglos in den Dienst ihrer Phrasen treten, pflegen schließlich triumphierend die Eigenschaft Deutschlands als eines Bundesstaats als einen schon rein formell durchgreifenden Ausschließungsgrund des Parlamentarismus geltend zu machen. Hier soll zunächst der rechtliche Sinn der Frage auf dem Boden der geltenden geschriebenen Verfassung betrachtet werden. Da ist es denn doch geradezu unglaublich, daß diese Behauptung gewagt wird. Nach der Verfassung (Art. 18) steht dem Kaiser ganz allein, ohne jegliche Einmischung des Bundesrats, die Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers und aller Reichsbeamten zu. Ihm allein schulden sie, innerhalb des Rahmens der Reichsgesetze, Gehorsam, und niemandem sonst. Solange dies gilt, ist jener föderalistische Einwand verfassungswidrig. Denn wenn der Kaiser von seinem Recht in der Art Gebrauch macht, daß er den oder die Führer der jeweiligen Parlamentsmehrheit zur Leitung der Reichspolitik beruft und zu Bevollmächtigten beim Bundesrat ernennt und sie ebenso auf Grund des Votums einer ausgesprochenen festen Mehrheit des Reichstags entläßt, oder wenn er zunächst wenigstens die Parteien bei der Ernennung maßgeblich zu Rate zieht, so kann dies nach der Verfassung niemand hindern. Keine Bundesratsmehrheit hat das Recht, den Reichskanzler zu stürzen oder ihn auch nur zu nötigen, politisch in der Art Rede zu stehen, wie er dies dem Reichstag gegenüber nach unbestrittener Auslegung des Art. 17 Satz 2 verfassungsmäßig zu tun verpflichtet ist. Der neuerdings gemachte Vorschlag: den Reichskanzler für nicht nur dem Reichstag, sondern auch dem Bundesrat verantwortlich zu erklären, wäre, so gewiß er auf seine politische Zweckmäßigkeit hin geprüft zu werden verdient (und weiterhin zu besprechen ist), eine Neuerung, ganz ebenso wie die hier vorgeschlagene Aufhebung des Art. 9 Satz 2. Wir werden uns später vergegenwärtigen müssen: daß die wirklichen Probleme der Parlamentarisierung, aber nicht nur dieser, sondern der Reichsverfassung überhaupt, nicht sowohl in den verfassungsmäßigen Rechten der anderen Bundesstaaten als vielmehr in deren Beziehungen zum Hegemoniestaat Preußen liegen. Vorher aber ist hier noch zu veranschaulichen: wie das bisherige Regierungssystem auf dem wichtigen Gebiet der auswärtigen Politik funktionierte. Denn gerade hier lassen sich die innerlichen Grenzen der Leistungsfähigkeit einer reinen Beamtenherrschaft und auch der furchtbare Preis deutlich aufzeigen, welchen wir dafür zu zahlen hatten, daß wir sie über uns ergehen ließen.


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